Hemera
Ich betrachte die Energiestränge, die in meinem Heim zusammenlaufen. Aiter steht hinter mir und beobachtet mich bei meiner Arbeit. Er ist der Gott aller Götter. Mein Ehemann. Doch er sieht mich an, als sei ich seiner Aufmerksamkeit nicht würdig. Ich knurre leise und richte meinen Blick wieder auf das Energiegeflecht.
»Gaia«, zische ich. Wieder ein Fehler meiner Tochter, den ich richten muss, damit er nicht in das große Ganze übergeht.
Ich sehe zu Aiter. Er liebt Gaia. Mehr als mich. Mehr als irgendetwas anderes.
Er sieht den Fehler und … lächelt! Wut kocht siedend heiß in mir hoch. Wenn ich einen Fehler mache, schreit er mich an, aber seine geliebte Gaia darf das? Ich atme tief durch, versuche mir nichts anmerken zu lassen und entwirre den Fehler, so gut es geht, bevor ich den Energiestrang ins Herz des Ethers weiterfließen lasse. Dank Gaia und ihren Söhnen ist das Gesamtwerk, mein Werk, nicht mehr fehlerlos. Ich hasse sie. Sie und ihre eigene Welt, die sie sich erschaffen hat.
»Reg dich nicht so auf«, sagt Aiter, der mich durchschaut hat.
»Schau dir doch an, was sie aus dem Ether gemacht hat!«, protestiere ich.
»Manchmal liegt Perfektion in Unebenheiten und kleinen Fehlern.« Aiter betrachtet mein Werk mit einem Stirnrunzeln. »Gaia weiß das und deshalb war es ihr auch möglich, Großes zu schaffen.«
»Du meinst diese dumme Erde?«
»Ja.«
»Sie sollte uns darüber herrschen lassen, aber sie hat es geschafft, diesen Ort so zu kreieren, dass wir darauf keinen Einfluss haben.« Schnell bemerke ich meinen Fehler. »Ich meine natürlich, dass sie dich darüber regieren lassen sollte. Du bist der Schöpfer.«
»Nein. Die Erde und diese Wesen, die sie darauf geschaffen hat, sind ihr Werk. So wie meines der Ether ist.«
»Der dank ihr neuerdings Fehler und Macken aufweist.«
»Ist das nicht so mit Kindern? Sie verändern alles.« Aiter wirkt nachdenklich. Mit einem Lächeln auf den Lippen macht er Anstalten zu gehen.
»Darf ich unsere Tochter besuchen?«, frage ich ganz unschuldig. Aiter überlegt einen Moment.
»Wieso nicht? Vielleicht könnt ihr ja euren alten Groll aus der Welt schaffen.«
Ich wünschte, ich hätte dieses Kind nicht bekommen. Seit sie existiert, habe ich Aiters Liebe verloren. Vielleicht vermag ich nicht auf ihre Erde zu gehen, aber ich habe einen Plan. Ich werde Gaia und ihre lächerliche Welt zerstören und mir meinen Mann zurückholen. Ihre ach so zauberhaften Söhne sind der Schlüssel.
Aviv
Anfangs war es nur Wut.
Und Enttäuschung.
Heiß und glühend.
Dann starb Jesien.
Trauer, von der Art, die einem den Atem raubt.
Zähflüssig mischte sie sich zur Wut.
Es entstand tiefe Dunkelheit …
… in der ich zu ertrinken drohe.
Sie zieht mich tiefer … und tiefer.
Hier unten ist kein Licht.
Kein Halt.
Gar nichts.
Ein paar Kirschblütenblätter fallen auf die Marmorstufen der Treppe, als ich mein Reich verlasse und das meiner Mutter betrete. Eigenartig wieder hier zu sein. Vielleicht hätte ich nicht so lange warten sollen.
Ich betrachte die Blüten zwischen meinen nackten Füßen. Auf dem kalten Stein sehen sie genauso verloren aus, wie ich mich fühle. Wie lange ist es her, dass ich zum letzten Mal hier gewesen bin? Es müssen bald fünfhundert Jahre sein, seit …
Meine Hände ballen sich zu Fäusten und ich atme tief durch.
… seit Mutter die Wahlen abgeschafft und mich gezwungen hat mich zwischen meinem besten Freund, dem Tiergeist Nutty, und der Liebe zu entscheiden. Liebe oder Freundschaft. Eine Gefährtin darf ich nur haben, wenn sie, außer an wenigen Tagen im Monat, in Gestalt eines Tiergeists bleibt.
Ich sehe mich in der Empfangshalle um. Alles in Mutters Welt besteht aus Energie. Bunte Wellen in allen Farben. Schon die kleinste Störung dieser Energie kann alles aus dem Gleichgewicht bringen. Genau wie in der Natur. Ein kleiner Fehler von mir, und die Menschen haben nichts, was sie im Herbst ernten können. Alles muss seine Ordnung haben. Aus diesem Grund darf jeder von uns Jahreszeiten nur einen Tiergeist haben. Das Aufleben der Liebe bedeutet also den Tod der Freundschaft.
Das kann ich nicht.
Niemals werde ich Nutty der Liebe wegen opfern.
Ich lasse mich auf die Stufen fallen und stütze meinen Kopf in die Hände. Bin ich wirklich schon wieder bereit den anderen unter die Augen zu treten? Sol hatte Mutters Entscheidung, die Wahlen ausfallen zu lassen, so glücklich gemacht. Ich will ihm das nicht nehmen. Wenn Mutter sieht, dass es mich so sehr mitnimmt, mich so wütend und traurig macht, dann … Nein, das kann ich Sol nicht antun. Ich atme erneut tief durch. Stark sein, erinnere ich mich. Lass dir nicht anmerken, dass man dir die Hoffnung genommen hat.
Ich bin schon öfter längere Zeit alleine gewesen.
Noch nie so lange, erinnert mich eine kleine traurige Stimme in meinem Kopf, die ich in letzter Zeit ständig höre. Und es gab immer die Hoffnung auf die nächste Wahl. Doch jetzt ist alles …
»Hoffnungslos«, murmele ich und reibe mir über das Gesicht, um mich dann auf meine Unterarme zu stützen. Ich bin noch nicht bereit mich mit meiner Familie an den Tisch zu setzen. Das Glück in ihren Augen zu sehen. Und Jesiens Züge in Espens Gesicht
Jesien.
Die traurige Stimme in mir schreit laut auf, beklagt den verlorenen Bruder und treibt mir Tränen in die Augen. Nein, ich kann nicht. Ich muss zurück. Doch bevor ich mich auch nur regen kann, spüre ich, wie plötzlich Kälte meinen Rücken überzieht und mich innehalten lässt. Zu den Kirschblüten gesellen sich Schneeflocken, die sofort zu kleinen Pfützen schmelzen.
Nein, nicht er.
Nicht ausgerechnet Nevis.
Der lebende Beweis für mein Versagen als Bruder.
Ich kann spüren, wie erstaunt er über meinen Anblick ist, auch wenn ich ihn nicht sehe. Er verharrt auf der Stufe. Die Kälte verschwindet, als sich das Portal zu seiner Welt schließt. Komm schon, lach mich aus. Sag mir, dass es genau das ist, was du so lange ertragen hast: Einsamkeit. Halt mir vor, dass ich, als ältester Bruder, dich, unseren Jüngsten, im Stich gelassen habe. Verdammt, ich hätte für dich da sein müssen.
Nevis’ Leid war zum Greifen nah und ich … ich war nur daran interessiert, meine eigene Einsamkeit mit der Buhlerei um eine Frau zu bekämpfen. Ich war nie für ihn da. Ohne etwas zu sagen, setzt Nevis sich neben mich. Seine Kleidung ist noch so mit Kälte aufgeladen, dass sie bis zu mir abstrahlt. Aus dem Augenwinkel sehe ich seine blassen Hände und den hellblauen Pullover, den er für Mutter trägt. Sie liebt es, wenn wir die Farben unserer Jahreszeit tragen. Ich wende meinen Kopf von ihm ab und starre eine Wand an, auf der Mutters Energie in bunten Wellen wabert. Jetzt sag schon etwas, denke ich.
Doch er schweigt.
Dann legt er plötzlich eine Hand auf meine und … drückt sie.
Ich erwidere es, ohne ein Wort zu verlieren. Zu sprechen würde mir ohnehin nicht gelingen. Ich bin vollauf damit beschäftigt, nicht allzu zittrig und verräterisch zu atmen. Nevis soll nicht sehen, wie es mir geht. Neben ihm habe ich kein Recht auf Trauer. Oder Wut. Er hat so viel mehr … so viel länger … durchgemacht.
»Es ist schön, dich zu sehen, Aviv«, sagt er schließlich und beim Klang seiner Stimme presse ich meine Lider fest zu, um das aufbrausende Gefühl in mir zu halten. Es droht über meine Augen nach draußen zu brechen.
»Tu das nicht, Nevis«, presse ich krächzend hervor. Er soll mich nicht trösten. Ich habe es nie … niemals … für ihn getan. Und er ist mein kleiner Bruder.
Seine Hand ruht nach wie vor in meiner. Vorsichtig wage ich es, sie anzusehen. Dabei fängt Nevis meinen Blick von der Seite ein und ich schaue zu ihm auf. Eisblaue Augen mustern mich.
»Bleib nie wieder so lange allein«, sagt er. »In Ordnung?«
»Ich … ich kann …« Mehr fällt mir nicht ein. Ich muss seinem Blick wieder ausweichen. »Es tut mir so leid, Nevis.«
»Was denn?« Seine Stimme klingt aufrichtig. Er hat keine Ahnung. Ich bin dankbar, dass seine Seele nach dieser harten Zeit so freundlich und rein ist … und dass sein gebeuteltes Herz wieder zum Leben erwacht ist.
»Dass ich nie für dich da gewesen …« Das fehlende Wort schaffe ich nicht mehr und muss schlucken. »… bin«, beende ich schließlich meinen Satz.
»Ich hatte große Angst um dich«, sagt er und jetzt ist es seine Stimme, die brüchig klingt. »Als Jesien dann …«
»Nicht«, falle ich ihm ins Wort, lasse dabei seine Hand los und starre ihn an. »Sprich nicht von ihm.«
Nevis nickt, aber ich kann sehen, dass seine Eisaugen flüssig werden. Jesien war ihm am nächsten. Er war der Einzige von uns, der für ihn da gewesen ist. Meine Fäuste ballen sich vor Wut und Selbsthass.
»Er war der Beste von uns allen«, sage ich und reibe mir mit dem Ärmel über die Augen. Nevis nickt stumm und weicht nun meinem Blick aus. Ich höre ihn leise und zittrig seufzen.
»Sol ist auf der Erde, oder?«, wechsele ich das Thema. Gestern begann der Herbst und ich habe seine Abwesenheit gespürt. Nevis nickt und sieht dann wieder zu mir. Tränen stehen in seinen Augen. Das erste Mal in meinem Leben handele ich wie ein großer Bruder und nehme ihn in den Arm. Mit meinem Gesicht an seinem weißen Haar atme ich tief den Duft von Schnee ein. Klar und rein. Er löst sich wieder von mir und scheint etwas gefasster.
»Du solltest Espen richtig kennenlernen. Er fragt jedes Mal nach dir.«
»Ich komme jetzt wieder regelmäßig«, verspreche ich und Nevis lächelt.
»Söhne?«, unterbricht Mutter uns unerwartet. Sofort erheben wir uns und sehen zu ihr. Sie steht im Türrahmen, Espen hinter ihr. Ihr Blick ruht auf mir und ein trauriges, aber gütiges Lächeln ziert ihr Gesicht. Weiß sie, wie es mir geht?
»Eure Großmutter Hemera ist auf dem Weg hierher«, sagt Mutter schließlich und ich spüre Nevis’ fragenden Blick.
Tut mir leid, kleiner Bruder. Darauf habe auch ich keine Antwort.
Ilea
Ich sehe von meiner Näharbeit auf und schaue in die teichgrünen Augen meines besten Freundes. Yannis sucht meinen Blick, nur um dann wieder versonnen die Handarbeit in meinem Schoß zu betrachten, während er zufrieden an einem Grashalm kaut. Der Bach plätschert leise neben uns und die Sonne verschwindet hinter den Häusern und Bäumen Hemeras.
»Lass mich raten«, sagt Yannis, »du machst wieder etwas ganz anderes als bestellt.«
Ich lächele die Nadel an und blicke durch die Wimpern zu ihm hoch.
»Was denkst du?«, gebe ich zurück und Yannis lacht.
»Eines Tages bringst du deinen Vater mit deinem Sturkopf noch ins Grab.« Er stockt. »Verzeih, Ilea.«
»Schon in Ordnung, Yannis. Mutter hatte einen Unfall. Niemand kann etwas dafür.« Ich seufze und widme mich wieder meiner Näharbeit. »Aber ich habe sie schon ein wenig verrückt gemacht, oder?«
»Ein wenig – vielleicht«, bestätigt er und seine Stimme trieft nur so vor Sarkasmus. Ich sehe erneut zu ihm auf. Er hat die Augen geschlossen und hält sein Gesicht in die letzten Sonnenstrahlen. Yannis ist ein attraktiver Mann mit seinem pechschwarzen Haar und den Gesichtszügen einer klassischen griechischen Statue. Wenn er sich nur öfter rasieren würde … Ich frage mich ernsthaft, warum er sich noch keine Frau gesucht hat.
»Wir sollten so langsam aufbrechen, sonst verpassen wir das Abendessen«, reißt er mich aus meinen Gedanken und ich stimme ihm nickend zu. Wenn ich ihn nicht hätte, würde ich vermutlich die Zeit vergessen. Zum Glück ist auf Yannis’ Hunger immer Verlass.
»Wie kann man nur so schlank und gleichzeitig so verfressen sein?«, frage ich mich laut, woraufhin Yannis grinst.
»Guter Stoffwechsel.« Er zwinkert mir zu.
»Ich komme später wieder und arbeite die Nacht durch«, sage ich seufzend und lege das Kleid, an dem ich gerade nähe, vorsichtig in meinen großen Weidenkorb. Ich habe ihn immer dabei, wenn ich am Bach arbeite, weil er so praktisch ist. Darin hat alles Platz, was ich so brauche.
»Ich wünschte, ich könnte mir auch jederzeit draußen Licht machen«, grübelt Yannis. Er steht auf und reicht mir eine Hand.
Ich ergreife sie und lasse mir von ihm auf die Füße helfen, kann mir dabei aber ein freches Grinsen nicht verkneifen. »Tja, da hättest du dir ein paar Götter-Gene besorgen sollen.« Ich zwinkere ihm zu und hake mich bei ihm ein.
»Das Glück hat nicht jeder, Ilea Sola Sommerkind.«
Als er meinen Namen sagt, rufe ich einen kleinen warmen Wind, der ihm kräftig ins Gesicht pustet. Meine von Natur aus brünetten Haare leuchten kurz hellblond auf und die Locken wehen mir ins Gesicht. Ich stecke sie wieder hinter die Ohren und hoffe, dass sie wenigstens ein paar Sekunden lang dort bleiben.
»Daran werde ich mich nie gewöhnen«, sagt Yannis.
Ich lehne mich beim Gehen vorsichtig an seine Schulter. Als Kind habe ich es gehasst, den Namen Sommerkind zu tragen. Ich habe nie verstanden, warum wir Kinder der Jahreszeiten einen anderen Namen haben müssen als unsere Familien. Ich wollte eine Nachtblüte sein – so wie meine Mutter und mein Vater. Doch Großmutter hat sich in ihrer Jugend mit Sol eingelassen und eine Tochter bekommen. Meine Mutter. Sie besaß jedoch keine Fähigkeiten. Die hat sie freundlicherweise an mich weitergegeben und somit bin ich das einzige Sommerkind in Hemera. Es gibt noch einige Herbstkinder, die von Jesien und Dahlia abstammen, doch ihr Erbe liegt schon viele Generationen zurück. Sol für seinen Teil hat immer gut aufgepasst keine Nachfahren zu zeugen. Meine Mutter ist der einzige Unfall. Meinen göttlichen Großvater habe ich jedoch bisher noch nie gesehen. Ihm ist es zu verdanken, dass ich mich als Kind im Labor auf den Kopf stellen lassen musste. Man hat mir Blut abgenommen und an mir geforscht. Dafür habe ich Sol verflucht. Man wollte herausfinden, was ich alles kann und inwiefern ich mit den Herbstkindern verwandt bin. Das Ergebnis: keinerlei Verwandtschaft. Offensichtlich sind die vier Jahreszeiten nur im weitesten Sinne Brüder. Gaia, die Mutter aller Dinge, hat vier eigenständige Wesen erschaffen. Mit unterschiedlichen Kräften.
»Bist du heute mit deiner Arbeit fertig geworden?«, frage ich Yannis.
»Ja, es war nicht viel zu tun. Ich habe das Dach der alten Kirschbaum gemacht. Dafür hat sie mir Apfelkuchen gebacken.«
Ich halte an und boxe seinen Oberarm. »Und du hast mir kein Stück davon mitgebracht?« Ivetta Kirschbaum macht den besten Apfelkuchen der Welt, ich bin immer froh, wenn es Herbst wird.
»Meine Geschwister sind wie Holzwürmer darüber hergefallen und haben nicht mal Sägespäne hinterlassen.« Yannis gluckst.
»Magst du später nicht noch mal zum Bach kommen?«, frage ich.
»Soll ich für dich spielen?«
Ein Lächeln breitet sich über mein ganzes Gesicht aus. »Ja, bitte.«
Yannis spielt Geige wie kein Zweiter und es ist ein Hochgenuss, ihm dabei zuhören zu dürfen.
»Wenn mich deine braunen Augen so anfunkeln, kann ich nicht Nein sagen«, jammert Yannis und sieht kurz weg. »Na schön.«
Ich zupfe ihn freudig am Ärmel und stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben.
»Bis später«, trällere ich fröhlich.
»Bis später, Sommerkind.«
»Vergiss mich nicht, Tagwind«, schicke ich noch hinterher.
»Niemals.« Er grinst mich an und ich fühle mich wieder, als wäre ich noch acht Jahre alt – wie damals, als wir beste Freunde wurden. Vielleicht strecke ich ihm auch deswegen noch schnell im Weggehen die Zunge raus.
Seit wir uns kennen, verbringen wir jeden Tag zusammen. Wir lachen, zanken und spielen, als wären wir keinen Tag älter geworden. Ich liebe es, dass ich bei ihm wieder Kind sein darf. Besonders seit Mutter nicht mehr bei uns ist und die Erwartungen an mich gewachsen sind. Doch ich kann nicht aus meiner Haut. Die achtjährige Ilea lebt noch in mir und verlangt gelegentlich ihr Recht – auch wenn ich inzwischen zehn Jahre älter bin.
Yannis verschwindet in die Veilchengasse und ich schlendere weiter über das Kopfsteinpflaster zur Schneiderei meines Vaters. Unsere kleine Wohnung ist im selben Haus. Direkt über dem Laden. Als meine Mutter vor zwei Jahren starb, ist meine Großmutter zu uns gezogen, um meinem Vater zu helfen. Doch sie ist mittlerweile etwas gebrechlich geworden und gibt immer mehr Aufgaben an mich ab. Das hält mich aber nicht davon ab, vor dem Haus noch schnell ein Spiel aus dem Kopfsteinpflaster zu machen und darüberzuhüpfen. Vor der Tür halte ich an und richte meine Kleidung. Meinen Lockenkopf bändige ich mit einem Haarband, das ich um den Arm getragen habe. Ich betrete die Schneiderei, wo mich bereits eine glückliche Braut erwartet. Vater steht hinter ihr und betrachtet mich mit einem tadelnden Blick. Seine Augen strahlen jedoch auch Stolz aus und er wirkt gut gelaunt, weswegen ich nicht übermäßig getroffen bin.
»Es ist so schön geworden, Ilea«, schwärmt Jelanda und dreht sich in dem weißen Kleid.
»Ja, und das Beste ist, mit dem breiten gestickten Gürtel bleibt das Kleid deiner Mutter unter dem weiten Rock unversehrt.« Ich gehe zu ihr und ziehe das Kleid ein wenig zurecht, bis es richtig sitzt. Vor einigen Jahren waren noch kurze, enge Brautkleider modern, doch jetzt tragen die Bräute wieder ausladende Röcke. Jelanda wollte eigentlich, dass ich das Oberteil des Kleids ihrer Mutter abtrenne und es mit einem weiten Rock kombiniere, doch ich fand diese andere Lösung. Die Brautmutter stellt sich zu meinem Vater und sieht glücklich aus. Ihr Kleid liegt in meinem Korb am Bach. Auch daran habe ich ein paar persönliche Änderungen vorgenommen.
»Nach der Trauungszeremonie kannst du den Rock abnehmen und im Kleid deiner Mutter feiern«, sage ich und Jelanda betrachtet sich mit großen, glücklichen Augen im Spiegel.
»Es sieht wundervoll aus, Ilea. Man sieht gar nicht, dass der Rock nur drübergezogen ist.«
»Meine Nachtblüte macht zwar nie, was man ihr sagt, aber was sie anfasst, gelingt ihr«, meldet sich Vater zu Wort. Ich liebe es, wenn er mich seine Nachtblüte nennt. Auch wenn ich mich mittlerweile mit meinem tatsächlichen Nachnamen abgefunden habe.
»Es ist wirklich wundervoll, Herr Nachtblüte.« Die Brautmutter sieht zu mir. »Erstklassige Arbeit, Kind. Dein Vater muss sehr stolz auf dich sein.«
Er räuspert sich amüsiert.
»Ihr Kleid habe ich morgen fertig«, verspreche ich und verschweige vorerst, dass ich auch daran meinen eigenen Kopf durchgesetzt habe. »Ich habe so lange für den Gürtel gebraucht.«
»Keine Sorge, wir haben noch genügend Zeit«, sagt Jelandas Mutter. »Es hieß doch, dass die Kleider erst am Mittwoch fertig sind, und wir waren ganz verblüfft, dass wir das Brautkleid schon heute abholen konnten.«
Wir sehen alle zu Jelanda, die offensichtlich in Gedanken schon vor der Hüterin steht und Ja sagt.
»Ich gehe Großmutter mit dem Abendessen helfen«, entschuldige ich mich. Vater nickt und unsere Kundinnen bekommen es nicht einmal mit, weil Braut und Brautmutter in ihrem Hochzeitstraum schwelgen. Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht steige ich die Treppen hinauf und mir weht der Duft von Großmutters Kochkünsten in die Nase. Augenblicklich läuft mir das Wasser im Mund zusammen.
»Hey, Nanny«, begrüße ich sie.
»Ilea, Kind, da bist du ja. Kannst du den Tisch decken?«
Ich gebe ihr einen Kuss auf die raue faltige Wange und schnappe mir die Teller, die sie bereits aus dem Schrank geholt hat.
»Was gibt es Neues bei dir?«, will sie wissen.
»Der Braut gefällt das Kleid. Und der Gürtel auch.«
Meine Großmutter schnauft leise amüsiert. »Was sagt dein Vater dazu?«
»Ich glaube, er reißt mir nachher den Kopf ab, Nanny«, scherze ich und hole Besteck und Gläser.
»Das werde ich zu verhindern wissen! Der ist nämlich viel zu hübsch.«
»Ich hoffe, du hast dich an die Vorgaben für das Kleid der Mutter gehalten«, hakt Vater beim Abendessen nach. Nanny und ich tauschen einen Blick. Wir sitzen am großen Esstisch, der den Bereich unserer Küche vom Wohnzimmer trennt. Die mittlere Etage unseres Hauses ist ein großer Raum, der beides beherbergt.
»Sie wird es lieben, genau wie Jelanda ihres«, verspreche ich.
»Ilea«, seufzt Vater. Immer wenn er das tut, sieht er älter aus, als er eigentlich ist.
»Hey, es wird ihr viel besser stehen als das, was sie wollte!«
Vater will gerade Luft holen, als sich hinter uns der Fernseher einschaltet. Wir drehen uns um, denn das tut er nur, wenn es wichtige Neuigkeiten aus dem Orden gibt.
»Liebe Mitmenschen«, meldet sich die oberste Hüterin Wanja zu Wort. Ihr schwarzer Zopf fällt ihr über die Schulter und sie trägt die offizielle Robe des Ordens. »Ich freue mich von ganzem Herzen euch mitteilen zu können, dass wir das erste Mal seit fast fünfzig Jahren wieder göttlichen Besuch in Hemera haben. Soeben ist der zweitälteste Sohn unserer Göttin Gaia angekommen. Sol wird uns für einige Zeit hier Gesellschaft leisten. Er …« Sie spricht noch weiter, doch meine Aufmerksamkeit gilt Nanny. Ich glaube, dass sie die Liebelei mit dem Sommer nie ganz verarbeitet hat.
»Oh … das «, stammelt Vater und sieht mich an. »Er wird dich sicher sehen wollen, Nachtblüte.«
»Was?«, entfährt es mir. »Wieso?«
»Du bist seine Enkelin«, sagt Großmutter ruhig. »Aber ich weiß nicht, ob ihn das wirklich interessiert. Er liebt nämlich nur sich selbst. Und das mit solcher Inbrunst, dass für niemand anderen Platz in seinem Herzen bleibt.«
»Meinst du nicht, dass er sich geändert hat, Nandra?« Vater überlegt. »Ich meine, euer … Zusammentreffen … das ist doch Schnee von gestern.«
»Glaub mir, Paulek, mit Schnee hat der Kerl nichts am Hut. Der schmilzt sofort in seinem strahlenden Ego.«
Nanny bringt mich zum Lachen, ihr Gesichtsausdruck ist einfach köstlich. Vater sieht mich jedoch ernst an und ich kämpfe mit meinen Mundwinkeln.
»… bitten wir Ilea Sola Sommerkind, morgen Mittag in den Orden zu kommen. Sol wünscht sie zu sehen.« Wanjas Worte aus dem Fernseher reißen uns aus der Unterhaltung.
»Siehst du«, triumphiert Vater. Offensichtlich scheint es ihn zu freuen, dass Sol mich sehen will. Ich hingegen weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Mein Großvater, der Halbgott … Und er wird nicht einmal viel älter aussehen als ich.
»Ich gehe mit.« Nanny wirkt entschlossen.
»Sie sprach nur von Ilea.«
»Das ist mir egal, dem Kerl wasche ich den Kopf. Mit Gallseife und Bimsstein. Oder mit einer Drahtbürste. Ich nehme die vom Klo.«
»Nanny!«, rufe ich schockiert aus, während Vater hustet.
»Was? Der hat mich deine Mutter ganz alleine großziehen lassen und sich einen Fiedlerfurz darum geschert, was aus uns wurde. Er hat nicht mal mitbekommen, dass seine Tochter gestorben ist.«
»Das werden sie ihm wahrscheinlich eben erst gesagt haben.« Vaters Gesicht verdüstert sich. »Wenn sie nicht mit ihm über unsere Familie gesprochen hätten, wüsste er wahrscheinlich auch nichts von Ilea.«
»Wie ist Sol so?«, frage ich meine Großmutter. Vater hatte mir immer verboten sie auf ihn anzusprechen, aber nun wittere ich meine Chance, es doch zu tun. Nannys Gesicht nimmt einen abwesenden Zug an.
»Er ist … imposant und … einschüchternd.«
Ich schlucke, doch sie spricht weiter.
»Aber er hat ein heiteres Gemüt. Er lacht sehr gerne und man kann viel Spaß mit ihm haben. Zumindest wenn man kurz vergessen kann, dass er der Sohn unserer Göttin ist. Seine Nähe macht süchtig … Ich habe mich nie so wertvoll und beschützt gefühlt wie an seiner Seite.« Nanny schüttelt den Kopf und sieht mich ernst an. »Er ist ein guter Schauspieler.«
»Sol will mich nur kennenlernen«, beschwichtige ich sie. »Ich bin seine Enkelin und komme nicht als Beute in Frage.«
»Ilea«, zischt Vater.
»Was denn?« Nanny sieht ihn an. »Das Kind hat Recht, deshalb ist er hier: zum Beutezug.«
»Ihr solltet über einen Sohn der Göttin nicht so reden.« Vater rügt mich erneut mit einem Blick. Verlegen nippe ich an meinem Glas Wasser und unterdrücke verschämt den Wunsch, ein paar Blubberblasen hineinzupusten.
»Hemera ist für Sol nichts weiter als ein großes Freudenhaus.«
Fast hätte ich mein Wasser über den Tisch gespuckt.
»Nandra!« Vater sieht mich Hilfe suchend an, doch ich bin zu sehr damit beschäftigt, das Wasser in meinem Mund herunterzuschlucken, ohne daran vor Lachen zu ersticken. »Ich weiß schon, von wem Ilea ihren Kindskopf hat«, seufzt er schließlich.
Ich lache noch, als ich am Bach ankomme, wo Yannis bereits auf mich wartet. Mit der Geige in der Hand rutscht er nervös auf dem großen Stein herum, auf dem er immer zum Spielen Platz nimmt.
»Ilea!« Er steht auf und sieht mich gespannt an. »Wie geht es dir? Bist du aufgeregt?«
»Warum?«, gluckse ich amüsiert. »Weil ich meinen göttlichen Opa treffen werde?«
»Du wirkst erstaunlich gelassen.« Yannis sieht mich ungläubig an, weil er weiß, dass das nur rein äußerlich ist. Gemeinsam lassen wir uns am Bach nieder und er beobachtet staunend, wie ich das Licht des Mondes so breche, dass ich genug sehen kann. Das Kleid muss fertig werden, Sol hin oder her. Yannis nimmt kurz meinen durch die Magie hellblond gefärbten Zopf in die Hand, dann setzt er die Geige an. Er hat verstanden. Ich will nicht darüber reden. Stattdessen spielt er mein Lieblingslied. Ich stimme mit ein und vergesse Zeile für Zeile die Aufregung in meinem Bauch.
Es ist schon Mittag, als ich wach werde. Meine Familie kennt das von mir. In der Nacht kann ich am besten arbeiten, Schlaf brauche ich nur wenig. Vier Stunden reichen vollkommen aus. Das Kleid der Brautmutter habe ich in der Schneiderei fein säuberlich auf eine Puppe gezogen, als die Sonne bereits flammend am Horizont aufging. Vermutlich wurde es längst abgeholt.
Ich schlage die Bettdecke auf und stelle meine nackten Füße auf die quietschenden Holzdielen des Schlafzimmers. Es ist zu verführerisch, ich muss einfach mein Gewicht ein paarmal verlagern, um aus dem Quietschen eine Melodie zu machen. Lachend schüttele ich den Kopf über mich selbst und gehe zum Kleiderschrank. Aus dem Augenwinkel betrachte ich mich in dem großen Standspiegel meiner Großmutter Inres. Sie hat ihn mir vermacht, als ich sechzehn war. Das ist zwei Jahre her. Es war in dem Jahr, als meine Mutter starb. Sie meinte damals, dass ich nun eine Frau sei, und als Frau benötigt man einen Spiegel. Mein langes Haar habe ich über Nacht geflochten, damit es nicht verknotet. Der Zopf reicht bis zum Ende meiner Schulterblätter. Ich löse ihn und binde mir die Haare dann zu einem simplen Pferdeschwanz. So trage ich sie am liebsten. Na ja, eigentlich mag ich sie offen und wild, aber das würde Nanny nur aufregen. Ich ziehe das vom Schlaf zerknitterte Nachtkleid aus und hole mir eine Bluse und Reiterhosen aus dem Schrank. Den Weg zum Orden kenne ich in- und auswendig. Als Nachfahrin des Sommers musste ich ihn oft genug gehen, um den Hüterinnen meine Kräfte und deren Fortschritte zu präsentieren. Daher weiß ich, dass die Zeit drängt.
Nachdem ich mich gewaschen habe, ziehe ich mich an und gehe in die Küche, wo mir Nanny bereits ein Frühstück auf den Tisch gestellt hat. Mit Sicherheit ist sie unten in der Schneiderei. Ich beiße genüsslich in das selbst gebackene Brot und streiche mir etwas von der Butter darauf, die immer in einem kleinen Holzkasten neben dem Brotkorb steht. Sie ist salzig und ein Genuss. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich mich jetzt aber wirklich auf den Weg machen muss. Ich nehme meine Reiterstiefel aus dem Schuhschrank im Treppenhaus und schlüpfe hinein.
»So willst du doch wohl nicht gehen?«, erklingt Nannys Stimme aus der Schneiderei. Sie trägt eines ihrer schönsten Kleider und betrachtet mich mit aufgerissenen Augen.
»Wieso denn nicht?« Ich sehe an mir herunter.
»Zum einen triffst du heute einen Gott und zum anderen … Kind, du kannst doch nicht in Reitersachen gehen.«
»Ich trage eine Bluse«, verteidige ich mich. »Ich wusste nicht, dass ich mich für Sol schick machen soll. Er ist doch Familie, oder etwa nicht?«
Vater kommt aus der kleinen Kammer, in der wir die Stoffe im Dunkeln lagern, damit die Sonne sie nicht ausbleichen kann.
»Nachtblüte, du willst doch hoffentlich nicht in Reiterhose und Stiefeln zum Halbgott gehen, oder?«
Ich rolle mit den Augen. »Es bleibt keine Zeit mehr zum Umziehen.«
»Und ob dafür Zeit ist«, schimpft Nanny. »Ab nach oben, ich mache dir die Haare.«
»Dann kommen wir niemals pünktlich!« Ich sehe zur Schneiderpuppe. Das Kleid der Brautmutter ist weg.
»Jaja, es hat ihr gefallen«, knurrt mein Vater, der meinen Blick bemerkt hat. »Du hattest Recht, dein Schnitt stand ihr viel besser.«
Ich klatsche in die Hände und kann ein hämisches Grinsen nicht unterdrücken. Meine Großmutter gibt mir einen Klaps auf den Po.
»Ab! Nach oben. Und raus aus den Bauernlumpen!«
Ich gehorche, stampfe aber extralaut die Treppe hoch. Bauernlumpen! Also wirklich … Die Reiterhose ist zufällig sehr schick, ich habe sie selbst entworfen.
»Sol bekommt ja einen völlig falschen Eindruck von seiner Enkelin«, grummelt Nanny hinter mir.
»Ich dachte, du magst ihn nicht«, kontere ich oben angekommen. Ich setze mich auf eine Stufe und zerre mir die Stiefel vom Bein. »Wieso also der Aufwand? Man könnte glatt glauben, du legst Wert auf seine Meinung.«
Nannys Antwort verstehe ich nicht. Sie geht in Gemurmel unter, als sie die Wohnung betritt. Ich folge ihr grinsend, wohlwissend, dass sie schrecklich aufgeregt ist. Wie muss sie sich fühlen? Sie hat ihn sehr geliebt und er hat sie schwanger im Stich gelassen. Sich Jahrzehnte nicht gemeldet. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihm gegenübertreten soll. Was sage ich nur zu ihm? Hallo Großvater, alles klar im Tal des Sommers? Wohl kaum. Ich zerbreche mir den Kopf, während Nanny mir die Haare hochsteckt. Mittlerweile trage ich eine enge Stoffhose und einen breiten Taillengürtel aus Leder, darüber eine Hüftkette. Die sind gerade der letzte Schrei. Lediglich die Bluse durfte ich behalten. Großmutter drückt mir noch ihre goldenen Ohrringe in die Hand.
»Jetzt fahren wir aber wirklich auf«, sage ich erstaunt und stecke sie mir an. Sie fallen mir fast bis auf die Schulter und dank der halben Hochsteckfrisur sieht man sie sogar. Beim Gedanken daran, dass mir der Wind beim Reiten die Haare wieder zerzausen wird, muss ich unwillkürlich seufzen.
»Dann sattele ich mal die Pferde«, sage ich.
»Nichts da, wir gehen zu Fuß.«
Ich sehe Nanny fragend an.
»Er kann warten. Konnte ich ja auch – fast fünfzig Jahre lang.« Sie lächelt mir vielsagend zu. »Und wenn einer Zeit hat, dann ja wohl er. Er ist unsterblich.«
Ich verstehe. Und es gibt nichts, was ich darauf erwidern könnte. Sie hat absolut Recht.
»Komm, Kind. Wir haben Zeit.«
Lächelnd nehme ich ihre Hand und gemeinsam ignorieren wir Vater, der uns zur Eile drängt. Die Absätze meiner Schuhe klackern ein wenig auf dem Kopfsteinpflaster. Immer wieder begegnen wir Passanten, die den Kopf vor mir verneigen, und manche bekunden ihre Freude darüber, dass mein Großvater auf der Erde weilt. Viele Männer und Frauen sind damit beschäftigt, Häuser und Straßen zu reinigen. Hemera will sich dem Gott von seiner schönsten Seite präsentieren.
Wir verlassen die engen Gassen und den Trubel und kommen auf einen Waldweg, der zum Orden führt. Der Duft von Grillfleisch und Gewürzen, der so typisch für Hemera ist, verfliegt. Stattdessen füllt frische Waldluft meine Lungen. Ich atme tief durch. Ab und zu rattern Pferdekarren an uns vorbei. Wir grüßen die Bauern, die ihre Waren in die Stadt bringen oder Besorgungen erledigt haben. In der Landwirtschaft gibt es einige Herbstkinder. Ob Sol auch sie kennenlernen möchte? Immerhin sind sie Jesiens Nachfahren. Wobei … Sie sind nicht mit ihm verwandt. Zumindest nicht körperlich. Die Tests im Labor haben das ohne Zweifel ergeben. Wie sonst sollten die Jahreszeiten auch alle so unterschiedlich aussehen?
Nanny beginnt leise das Jahreszeitenlied zu singen und irgendwann falle ich mit ein.
»Bist du sehr aufgeregt?«, frage ich sie schließlich.
»Meine Hände zittern.« Sie zeigt mir ihre vom Leben gezeichneten Finger. Schnell nehme ich sie in meine Hände und wärme sie ein wenig.
»Wie war das damals? Wo hast du ihn getroffen?«
Nanny seufzt und ihr Blick schweift in die Ferne, wo man schon den Orden erkennen kann.
»Es war auf einem Fest in Hemera. Musik spielte und Laternen tauchten alles in ein schummriges Licht.« Nanny bleibt stehen. »Er war so schön, Ilea. Strahlend wie die Sonne am Himmel. Er zeigte zuerst keinerlei Interesse. Die hübschesten Mädchen pressten sich an seine Brust, doch er wirkte irgendwie abwesend.« Sie lächelt verträumt. »Ich gewann ihn für mich, weil ich mit ihm Witze machte.«
Da muss ich lachen. »Das passt zu dir, Nanny.« Sanft ziehe ich sie weiter.
»Lass dich von ihm nicht blenden, Kind«, warnt sie mich. »Denk dran, was er mir und deiner Mutter angetan hat.«
»Ach, du weißt doch«, sage ich und beginne zu singen, während wir uns den Mauern des Ordens nähern. »Sind die Nächte manchmal finster und die Wege viel zu steil, wie ein Vogel finde ich meinen Weg, zielsicher wie ein Pfeil. Ich lebe mein eigenes Leben, in dem mein Traum stets siegt. Bin so stark, wie die Wolken hoch sind, und so stolz, wie der Adler fliegt.«
»Du hast das Gemüt deiner Mutter«, sagt Nanny und betrachtet mich mit gütigen Augen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und verschränke die Hände hinter dem Rücken. Schlendernd gehe ich neben ihr weiter und genieße den Herbstwind in meinem Gesicht. Ob Espen uns beobachtet? Immerhin ist sein Onkel hier. Durch die erhabenen Baumkronen über uns sehe ich zum Himmel und bemerke erst gar nicht, dass Nanny stehen geblieben ist.
»Gütige Mutter«, murmelt sie und ich drehe mich im Gehen zu ihr um und … pralle gegen etwas. Jemanden.
»Hallo Ilea«, begrüßt mich eine warme, tiefe Stimme mit einem verborgenen Lächeln darin. Ich blicke auf und sehe … das Meer. So wie ich es von Bildern und Filmen kenne. Gefangen in einem Paar Augen. Ich weiche erschrocken zurück.
»Ich wusste, dass du mitkommen würdest, Nanny.« Sol lächelt und sein blondes Haar schimmert im Sonnenlicht wie gesponnenes Gold. Das Licht blendet ihn und er blinzelt.
»Sol«, begrüßt ihn meine Großmutter. Dass er sie mit ihrem Spitznamen angesprochen hat, irritiert mich, doch ich kann nicht lange darüber nachdenken, weil er mir eine Hand unter das Kinn legt. Er hebt mein Gesicht an und betrachtet es eingehend. Auch ich wage noch einen Blick. Noch nie habe ich so ebenmäßige Gesichtszüge und so reine Haut gesehen.
»Ich freue mich dich kennenzulernen, Ilea.«
»D-die Freude ist ganz meinerseits«, antworte ich und erröte.
»Sie kommt nach ihrem Vater, nehme ich an?« Sols Blick wandert zu Nanny.
»Blitzmerker«, grummelt sie zurück. Ich zucke zusammen, weil sie so mit ihm spricht, doch mein göttlicher Großvater lacht.
»Hat sie dein Temperament?«
»Sie steht vor dir, Sol! Es ist unhöflich, wenn du über sie sprichst, als wäre sie gar nicht da.«
Meine Augen werden groß. Nanny!
»Ich hätte nicht gedacht, dass diese Augen noch größer werden können.« Sol scheint amüsiert, doch dann tritt etwas anderes in sein Gesicht. Stolz? »Du bist ein wunderschönes Mädchen.«
»D-danke«, bringe ich nervös hervor.
»Zum Glück ist sie deine Enkelin und du musst die Finger von ihr lassen.« Großmutter ist zu uns herübergekommen und schlägt Sols Hand von meinem Kinn weg.
»Oh, ich bete zu meiner Mutter, dass du nur annähernd so unterhaltsam bist wie deine Großmutter, Ilea. Auch wenn du fast nur halb so groß bist.«
»Hey!«, protestiere ich. »Ich bin zwar klein, aber auch nicht so winzig!«
Sols Augen verengen sich mit einem amüsierten Schmunzeln zu Schlitzen. Er duftet gut, fällt mir auf. Was ist das? Wenn ich ihn so betrachte, kann ich Nanny gut verstehen.
»Würdet ihr mich mit nach Hemera nehmen? Ich möchte sehen, wie ihr lebt«, reißt er mich aus meinen Gedanken. Ich nicke. Wie könnte ich einem Sohn der Göttin diesen Wunsch auch abschlagen?
»Das könnte dir so passen, was?« Nanny klingt jetzt richtig wütend. »Wo warst du die ganze Zeit, während ich deine Brut großgezogen habe?«
»Ich habe von unserer Tochter gehört«, sagt der Sommer. »Es tut mir unendlich leid.«
»Du hast sie nie kennengelernt«, faucht Nanny. Ich hake mich bei ihr ein, damit sie sich an mir abstützen kann.
»Ich wusste nichts von ihr, Nanny.«
»Sie hat immer nach ihrem Vater gefragt! Ständig habe ich sie auf den nächsten Frühling, Herbst oder Winter vertröstet.«
Ich traue mich gar nicht den Halbgott anzusehen, während sich Nanny den Frust von der Seele redet.
»Hätte ich von ihr gewusst … Aber du hast Recht und ich möchte es wiedergutmachen«, sagt Sol und es klingt aufrichtig.
»Zu spät, deine Tochter ist tot und deine Mutter möge ihrer Seele gnädig sein!«
»Das ist sie. Glaube mir, da, wo sie jetzt ist, geht es ihr gut.« Sol klingt sicher. »Es wundert mich, dass ihr nicht in den Orden musstet.«
»Man hat mir die Wahl gelassen.«
Erstaunt sehe ich Nanny an. Das wusste ich gar nicht.
»Aber ein Leben im Orden wäre nichts für mich gewesen.«
Sol grinst. »Deinen Sturkopf habe ich noch gut im Gedächtnis.«
Ich betrachte diesen jungen Mann. Er sieht wirklich aus, als wäre er in meinem Alter. Vielleicht ein wenig älter. In dem weißen Shirt und der Hose aus Denim sieht er so normal aus. Zumindest bis man in sein Gesicht und in die blauen Augen sieht. Es ist, als würde ein Zauber in ihnen liegen. Etwas, das seine Göttlichkeit hier auf Erden gefangen hält.
»Wenigstens bist du jetzt hier, um Ilea kennenzulernen.« Nanny schnalzt mit der Zunge. »Oder nimmst dir zumindest die Zeit dafür, während du auf der Jagd nach einem anderen Rock bist.«
»Ich habe dich vermisst«, sagt Sol und lacht herzhaft. Als Nanny einstimmt, muss auch ich schmunzeln. Meine Großmutter seufzt und dreht sich um.
»Komm, du göttlicher Idiot«, befiehlt sie und winkt ihn zu sich.
»Ich fühle mich so … willkommen und geehrt.« Sol zieht amüsiert die Augenbrauen hoch.
»Du meinst verehrt«, denke ich laut und beiße mir auf die Zunge. Habe ich ihn gerade einfach so geduzt und korrigiert? Ich schlucke und sehe unsicher zu ihm hinüber. Er legt Nanny einen Arm um die Schulter und lächelt mich über ihren Kopf hinweg an. Ich muss an die Geschichte denken, die mir Großmutter eben erzählt hat: Sol hat sie ausgesucht, weil sie ihn behandelt hat wie jeden anderen auch. Die Frauen, die ihn nur angehimmelt haben, hat er ignoriert. Der Ehrgeiz packt mich. Ich möchte meinem Großvater gefallen – ich will, dass er mich gernhat. Also werde ich mit ihm reden, als sei er Yannis. Was habe ich schon zu verlieren? Und Großmutter macht es immerhin genauso … Ich muss nur meine Nervosität unter Kontrolle bekommen.
»Welche Fähigkeiten hast du, Ilea?«, fragt Sol und sieht mich wieder an.
»Ich kann Licht brechen und warmen Wind herbeirufen«, berichte ich stolz. Die meisten Herbstkinder können nur eine Sache.
»Das klingt gut. Kannst du etwas wachsen lassen?«
»Nein, tut mir leid.«
»Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen.« Sols Meeresaugen ruhen voller Neugier auf mir. »Ich werde einige Zeit hierbleiben. Es wäre schön, wenn du mir zeigst, was du kannst.«
»Gerne. Vielleicht lerne ich ja sogar noch was.«
Als wir mit Sol die Stadt erreichen, wird es fast schon unangenehm. Die Leute starren ihn an, werfen ihm teilweise sogar Blumen vor die Füße. Mädchen rücken ihr Dekolleté zurecht, in der Hoffnung, dass er sie dazu auserwählt, mit ihm in den ewigen Sommer zu gehen. Es ist peinlich, fast schon traurig. Meine Augen suchen nach Yannis, doch ich sehe ihn nirgendwo. Sicherlich wird er heute Abend wieder zum Bach kommen. Dann kann ich ihn mitnehmen und ihm Sol vorstellen. Doch jetzt muss ich mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, denn immer mehr Menschen drängen sich um uns.
Langsam werde ich nervös. Es sind einfach zu viele und ein Mann ist mit seinem Pferd in der Menschentraube gefangen. Ich kann hören, wie es ängstlich schnaubt. Alle wollen den Sohn der Göttin sehen, ihn berühren und grüßen. Immer mehr Leute werden dazugerufen, doch dann geht plötzlich alles ganz schnell.
Ein Knall hallt durch die kleine Gasse. Es klingt, als hätte jemand etwas Großes aus Metall fallen gelassen. Noch ehe einer von uns reagieren kann, steigt das Pferd neben mir hoch. Der Schrei erstickt in meiner Kehle, als ich einen Herzschlag später zur Seite und auf den Boden gerissen werde. Auf mir liegt der blutüberströmte Sol. Ich kämpfe mich unter ihm hervor und ziehe seinen Kopf auf meinen Schoß.
»Ruft einen Arzt«, schreie ich.
Überall ist Blut.
***
»Er hat starke Prellungen am Oberkörper, aber die meisten Sorgen macht mir sein Kopf.« Der Arzt betrachtet ein Röntgenbild, auf dem sich klar erkennbar ein Schädelbruch abzeichnet. Wanja steht weinend neben Nanny, Vater und mir. Ich fühle mich schuldig. Sol hat mich geschützt und die Tritte des Pferdes selbst abbekommen. Ich habe nur eine kleine Beule am Hinterkopf.
»Das wird uns die Göttin nie verzeihen«, flüstert die oberste Hüterin und sieht zu Sol, der an so vielen Geräten hängt, dass mir lähmende Angst in die Glieder fährt.
»Wir müssen abwarten. Die nächsten Tage sind kritisch.« Der Arzt seufzt und ich kann in seinem Gesicht sehen, dass er gerne mehr tun würde.
»Jetzt verliere ich auch ihn an ein Pferd«, flüstert Nanny tonlos. Ich muss an Mutter denken. Sie ist geritten wie der Teufel. Im Scherz haben wir immer prophezeit, dass sie das eines Tages umbringen würde. Ironie der Göttin, dass es wirklich so gekommen ist. Ich setze mich zu Sol ans Bett und nehme seine schlaffe Hand in meine. Sie ist ganz warm. Ich wünschte, ich könnte sie streicheln, aber ein Zugang steckt im Handrücken. Verzweifelt schließe ich die Augen. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.
»Wenigstens hat er dich gerettet«, sagt Nanny.
Aber bin ich nicht unwichtig im Vergleich zu einem Halbgott?
Aviv