Buch
Vor dem Landgericht Berlin wird Anwalt Joachim Vernau Zeuge einer merkwürdigen Szene: Die Rentnerin Margarethe Altenburg schießt auf einen Obdachlosen, bricht noch am Tatort zusammen und wird verhaftet. Ist sie verwirrt? Oder eine kaltblütige Mörderin? Joachim Vernau übernimmt die Verteidigung. Doch die scheinbar willkürliche Tat entpuppt sich als Auftakt zu einer rätselhaften Mordserie. Vernau reist in Margarethe Altenburgs Heimatstadt Görlitz. Der erst harmlos scheinende Auftrag wird für ihn zu einer aufwühlenden Begegnung mit der Vergangenheit der alten Frau – und er stößt auf eine längst vergessene Schuld, die nun ihren Tribut fordert.
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ELISABETH HERRMANN
Die letzte Instanz
Kriminalroman
Die Originalausgabe erschien 2009 im List Taschenbuch,
einem Verlag der Ullstein Buchverlage, GmbH, Berlin.
Neuausgabe
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1. Auflage
Neuausgabe März 2018
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V002
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Für Shirin
Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, die verfassungsmäßige Ordnung zu wahren und die Pflichten eines Rechtsanwaltes gewissenhaft zu erfüllen, so wahr mir Gott helfe.
Zulassungseid zur Rechtsanwaltschaft,
§ 12a BRAO
A11, Berliner Ring,
Freitag, 3. März, 16:25 Uhr.
Außentemperatur plus 1 Grad, gefrierende Nässe.
Die Gasflaschen.
Irgendwie muss sich der Gurt gelockert haben. Als er in die Spurrillen kurz vor der Ausfahrt Zehlendorf gerät, hört er das Klappern. Er wirft einen Blick in den Rückspiegel. Die Plane liegt straff über dem Gebinde, zwei 16-Flaschen-Bündel, jede gefüllt mit 50 Litern Crypton mit einem Druck von 300 bar. Der Fahrtwind fährt unter die Abdeckung und beult sie aus, sie knattert wie detonierende Knallerbsen, die Kartuschen schlagen gegeneinander.
Herrgottverdammtescheißenochmal.
Kurz vor halb fünf. Um fünf muss er auf der verfluchten Baustelle sein, sonst steht er wieder vor der verschlossenen Tür des Containers und kann sehen, wie, wann und wo er das Zeug loswird. Vermutlich gar nicht. Er kennt den Vorarbeiter, einen schlechtgelaunten, kurz angebundenen Mann, der Abhängige und Untergebene behandelt, als seien sie ihm Genugtuung schuldig für all die Jahre, die er in Unfreude und Unwillen an seinem Arbeitsplatz verharren muss, an den ihn die Alternativlosigkeit gefesselt hat wie den Fährmann an sein Boot über den ewigen Fluss.
Es ist ein Fährmann über den Fluss, der ewig, ewig fahren muss, hin und her, hin und her. Ist es der Fluss Styx? Oder die Überfahrt zum Teufel mit den drei goldenen Haaren? Ewig fahren. Hin und her. Niemals abgelöst. Es ist schwer, dem Kleinen zu erklären, was ewig ist. Er hat es versucht, doch irgendwann aufgegeben. Was ist ewig? – Das hört nicht auf. – Warum hört es nicht auf? – Weil es unendlich ist. – Was ist unendlich? – Der Himmel. Das Meer. Etwas ohne Ende eben. – Und wie ist es ohne Ende? – Weiß ich doch nicht. – Warum weißt du das nicht? – Weil … Himmelherrgottverdammtescheißenochmal.
Dann fängt es auch noch zu schneien an. Eine widerliche Mischung aus Regen und nassen, schweren Flocken, die auf die Windschutzscheibe klatschen. Es ist ein kalter März, und die Straßen sind noch immer vereist von dem nicht enden wollenden Winter. Er muss vorsichtig sein. Runter vom Gas. Langsam, Brauner. Langsam.
Ein Wagen hinter ihm hupt auf und flackert empört mit dem Fernlicht. Blöder Arsch. Fahr doch drauf. Dann wäre endlich ein neuer Lack fällig. Und der kaputte Riegel hinten würde auch ersetzt. War alles nicht drin gewesen im letzten Jahr. Vielleicht in diesem. Es geht wieder los auf dem Bau. Endlich. Früher war das die Zeit, in der es ihn in den Süden gezogen hat. Heute ist es die Zeit der Achtzehn-Stunden-Schichten. Von viel zu wenig Schlaf, weder im Führerhaus noch im eigenen Bett. Er mag das nicht, wenn Steffi so früh aufsteht. Jeden Morgen um drei. Bei Wind und Wetter. Brötchen ausliefern. Vor sechs ist sie selten zurück. Und wenn der Kleine wach wird, bleibt alles an ihm hängen. Waschen. Anziehen. Frühstück machen. Es ist nicht sein Job, sich um das Kind zu kümmern. Es ist ja auch nicht sein Kind.
Er sucht einen anderen Sender, bleibt hängen irgendwo auf der Skala. »Tunnel of Love« von Bruce Springsteen. Gott, ist das lange her.
Die Scheibenwischer verschmieren den Schnee auf der Scheibe, der glasige Film verwandelt die roten und weißen Lichter vor ihm zu tanzenden Flecken, die ihn blenden. Knapp achtzig. Hoffentlich kein Stau. Halb fünf. Die Baustelle. Die Gasflaschen klappern.
Den Pritschenrahmen hat er selbst geschlossen. Rausfallen kann also nichts. Aber wenn das Klirren nicht aufhört, muss er anhalten, aussteigen, mit dem Gurtstraffer auf die Ladefläche klettern, nachsehen, wo es denn dieses Mal wieder hakt. Wo ist der Scheiß-Gurtstraffer? Hat er ihn überhaupt dabei?
Er beugt sich nach rechts und tastet über den Beifahrersitz. Thermoskanne. Klemmbrett. Expander. Stadtplan. Kein Gurtstraffer. Er beugt sich noch tiefer, um auf dem Boden zu suchen, und verreißt das Lenkrad. Der LKW gerät ins Schlingern. Er steuert auf den weißen Randstreifen zu, überfährt ihn, hört das Trommeln der Rillen unter den Rädern, fühlt das Adrenalin in seine Adern schießen – ruhig, ganz ruhig –, fängt den Wagen ab, bremst stotternd, die Flaschen klirren und scheppern, keinen halben Meter vom Graben entfernt hat er ihn wieder im Griff und fädelt sich in den dichten Verkehr ein, der ihn kommentarlos wieder aufnimmt.
Na also. Gelernt ist gelernt. Zwanzig Jahre auf dem Bock jetzt. Er kennt den LKW, weiß um die schwammige Lenkung, den Rost, die Macken mit der Zündspule, das schweißt zusammen wie Ross und Reiter. Kurz nach halb fünf. Und erst an der Stadtgrenze.
Der Bär steht auf den Hinterbeinen und hat die Pfoten zum Gruß erhoben. Er passiert ihn, ohne hinzusehen, wie er das schon so oft gemacht hat, zu oft, um noch die Stele mit dem leeren Ring wahrzunehmen, in dem einst der Ährenkranz mit Hammer und Zirkel das Ende des DDR-Territoriums markierte, zu oft, um sich noch an die langen Warteschlangen zu erinnern, die Laufbänder mit den Pässen, die gelangweilt wirkenden Vopos mit ihren scharfen Hunden, zu oft auch, um noch der Erleichterung nachzuspüren, die er jedes Mal empfunden hatte, wenn er wieder Gas geben konnte auf der hell erleuchteten Avus, die durch den Grunewald direkt auf den Fernsehturm führte wie eine intergalaktische Startrampe zu den Sternen. Zwanzig vor fünf. Es wird knapp. Sehr knapp.
Wenn er ruhig fährt, sind auch die Flaschen ruhig. Er sieht in den Seitenspiegel und erkennt nichts, nur die Scheinwerfer der nachfolgenden Wagen. Der Dreck hat das Glas fast blind gemacht. 800 Liter Crypton. 64 mal 300 bar. Er will das Zeug loswerden. Er beschleunigt wieder auf hundert, wohl wissend, dass er in einer Kontrolle seinen Lappen los wäre. Zu schnell. Gefahrguttransport. Für die Ausnahmegenehmigung hätte er wieder … Scheiß drauf. Die Flaschen beginnen ihren rhythmischen Tanz auf der Ladefläche. Sie hüpfen und zittern, schubsen und rempeln sich an. Kein Rastplatz in Sicht. Er muss runter von der Avus. Scheiß-Gurtstraffer. Scheiß-Flaschen. Scheiß-Stress. Scheiß-Kohle.
Er setzt den Blinker und verlässt die Autobahn am Hüttenweg. Der Wald verschluckt das trübe Licht, Nebel kriecht durch das Unterholz und legt seinen weißen Atem lauernd über die Straße. An der ersten roten Ampel hält er mit quietschenden Bremsen, und die Flaschen kommentieren das Manöver mit einer atonalen Tonfolge, die klingt wie ein verrücktes Glockenspiel. Gleich kippen sie. Er hört das. Wenn eine kippt, reißt sie die anderen mit, wie beim Bowling. Er muss runter von der Straße. Gleich. Jetzt. Sofort. Rechts ein Parkplatz. Er behält die wenigen Jogger und Skater im Blick, die hastig zu ihren Autos zurückkehren, Hundebesitzer, Spaziergänger, Familien mit ihren Rädern. Weiße Wolken vor den Mündern, Frostatem, die Kälte im Nacken wie eine Knute, die sie vorwärtstreibt. Die Straßenlaterne springt flackernd an, verbreitet einen Heiligenschein aus Sprühnebel und Licht. Grün.
Er setzt den Blinker, sieht instinktiv in den Seitenspiegel und biegt ab. Rumpelt über etwas. Ein Mal, zwei Mal. Er sieht in den Rückspiegel. Die Flaschen stehen noch. Er gibt Gas und hört durch das Hochdrehen des Diesels, wie jemand etwas schreit. Brüllt. Nach seinem Hund vielleicht. Sieht noch einmal in den Rückspiegel. Erkennt ein Fahrrad. Verbogen. Und rumpelt ein drittes Mal über etwas. Bremst. Spürt Eiskristalle an seinen Nervenenden. Denkt nicht. Hält an. Steigt aus. Lässt die Tür offen stehen. Geht nach hinten. Sieht die kleinen Gummistiefel neben dem rechten Hinterrad.
Und plötzlich weiß er, was ewig ist.
Sechs Jahre später
1.