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Für Mum und Dad,

deren Ansporn niemals nachließ

Übersetzung aus dem Englischen von Johannes Sabinski

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96655-9

© Paul Finch 2013

Titel der englischen Originalausgabe:

»Stalkers«, Harper Collins, London 2013

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur

Umschlagmotiv: Finepic®, München

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Prolog

Am Vorabend trafen sie sich ein letztes Mal, um den Plan durchzugehen.

Sie waren Fachleute. Jeder kannte seine Rolle bis ins Letzte. Nichts war dem Zufall überlassen worden: Sie hatten das Ziel bis ins kleinste Detail ausgekundschaftet, jeder erdenklichen Panne war Rechnung getragen worden. Das Timing würde den Ausschlag geben, doch da sie ausgiebig geprobt hatten, machte sich niemand wirklich Sorgen. Natürlich würde das Ziel keine feststehenden Zeiten einhalten, was Schwierigkeiten bereiten könnte. Doch sie würden durchweg telefonisch miteinander in Verbindung stehen, und ihrer aller Erfahrung hatte sie unter anderem gelehrt, rasch umzudenken und bei Bedarf zu improvisieren. Ebenso, Geduld zu haben. Sollte der Ablauf dermaßen entgleisen, dass sie mit echten Unbekannten zu rechnen hätten, würden sie sich zurückziehen, neu aufstellen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder vorstoßen.

Am besten war es noch immer, auf Nummer sicher zu gehen und alles einfach zu halten. Gute Planung war jedoch das A und O: Erkenntnisse sammeln, verarbeiten und dann im richtigen Augenblick rasch und mit eingeübter Zielgenauigkeit zuschlagen. In mancherlei Hinsicht war das schon Lohn genug. Was jedoch berufliche Befriedigung betraf, kam dem nichts wirklich gleich.

Nachdem sie das Ganze zweimal durchgespielt hatten, gönnten sie sich einen Drink, eine Flasche dreißig Jahre alten Glen Albyn, gekauft vom Erlös des letzten Einsatzes. Während sie tranken, vernichteten sie alle Unterlagen, die sie in der Vorbereitungsphase zusammengetragen hatten: schriftliche Aufzeichnungen, Kartenskizzen, Fotos, Fahrpläne, besprochene Tonbänder, Speichersticks mit von Handys oder Digitalkameras aufgenommenem Filmmaterial. All das legten sie auf einen Kohlenrost über Holzscheite und Anmachholz, tränkten es mit Feuerzeugbenzin und setzten es in Flammen.

Im unwahrscheinlichen Fall, dass tatsächlich etwas schiefging und sie noch mal ganz von vorn anfangen mussten – die Fährte aufnehmen, beschatten, Erkenntnisse sammeln –, würden sie das, ohne zu fragen oder zu murren, tun. Es zählte allein der Fleiß – an Abkürzungen glaubten sie nicht. Ohnehin war ihr Denken so zielgerichtet, dass sie viele wesentliche Einzelheiten im Gedächtnis behalten würden. Nur einmal bisher hatten sie eine Sache verschieben müssen, und bei der Gelegenheit hatte sich der zweite Anlauf als viel leichter erwiesen als der erste.

Während sie dabei zusahen, wie alles verbrannte und glutheiße Funken in den Nachthimmel wirbelten, klopften sie sich gegenseitig auf die Schulter, prosteten sich zu und wünschten sich Glück, das sie gar nicht brauchen würden – und einen guten Fang, an dem sie ebensolche Freude haben würden wie an der Jagd. Sie hatten den Glen Albyn fast geleert, aber selbst wenn sie am Morgen mit benebeltem Kopf aufwachen sollten, es käme nicht darauf an: Der Einsatzbeginn war erst für den Nachmittag angesetzt. Sie würden fit sein. Sie waren in Form, hatten das Spiel im Griff, liefen wie eine gut geölte Maschine. Und natürlich kam ihnen zu Hilfe, dass ihr Ziel völlig arglos war. Es würde mit dem Klingeln des Weckers aufstehen und mit nichts als einem völlig normalen Arbeitstag rechnen.

So schienen die meisten Frauen zu leben.

Wie oft war es ihr Verderben.

Kapitel

Freitagabende in London hatten etwas natürlich Entspanntes an sich.

Am angenehmsten waren sie Ende August. Ab siebzehn Uhr konnte man mit jeder Runde des Minutenzeigers fühlen, wie sich die Stadt unter dem staubigen Sommerhimmel entkrampfte. Das Durcheinander auf den Straßen war wild und lärmend wie immer – die Verkehrsströme wälzten sich hupend voran, auf den Gehsteigen drängten sich geschäftig die Fußgänger –, doch das »Grantige« fehlte, die mürrische Rücksichtslosigkeit, die die Straßen von London sonst oft prägte. Die Leute hatten es immer noch eilig, das schon, aber jetzt, weil sie wirklich gern irgendwo sein wollten, und nicht, weil sie unter Zeitdruck standen.

Im Bürotrakt von Goldstein & Hoff im sechsten Stock von Branscombe Court im Herzen der glitzernden »Square Mile«, dem Kern der Hauptstadt, war Louise Jennings genauso zumute. Noch zehn Minuten Papierkram, dann brach offiziell das Wochenende an – und wie sie darauf wartete. Samstagmorgen wollte sie raus zum Reiten und am Nachmittag eine neue Garderobe shoppen gehen, da sie am selben Abend im Rotary Club ein Essen hatten. Der Sonntag würde einfach ein schöner Faulenzertag werden, den sie, sollte irgendein Verlass auf den Wetterbericht sein, im Garten oder mit einem Ausflug in die Chilterns verbringen könnten.

Louise war ausgebildete Sekretärin, wobei die Berufsbezeichnung etwas in die Irre führen mochte. Eigentlich war sie »Generalsekretärin«, hatte mehrere Mitarbeiterinnen unter sich, ihr eigenes Büro und unterstand unmittelbar Mr Malcolm Forrester, dem Leiter der Abteilung für Rechtsabgleich bei Goldstein & Hoff. Sie verdiente ansehnliche vierzigtausend Pfund jährlich, also nicht schlecht für eine ehemalige Realschülerin aus Burnt Oak, und genoss hohes Ansehen bei den meisten Angestellten des Unternehmens, besonders bei den Männern – wenngleich das neben ihrem Verstand auch der wohlgestalteten Figur, den rotblonden Haaren und den hübschen Augen der Dreißigjährigen geschuldet sein mochte. Nicht dass sich Louise daran störte. Sie war schon vergeben. Sie war nun seit sechs Jahren mit Alan verheiratet und vorher drei Jahre lang mit ihm zusammen gewesen. Doch es gefiel ihr, anziehend zu wirken. Ihren Ehemann machte es stolz, und solange sich andere Männer aufs Hingucken beschränkten, genoss sie die Aufmerksamkeit. Wenn sie ehrlich war, gehörte ihr Aussehen zu den Waffen in ihrem Arsenal. Im Finanzwesen waren nur wenige, ganz gleich, welchen Geschlechts, das, was man »umgemodelt« nennen würde. Es war eine patriarchalische Gesellschaft, und obwohl stets die Möglichkeit bestand, dass Frauen große Macht ausübten, mussten sie immer noch wie Frauen aussehen und sich verhalten. Vor ihrem ersten Vorstellungsgespräch bei Goldstein & Hoff hatte ihr Alan strikte Anweisung gegeben, das Beste aus sich zu machen – einen schicken engen Rock zu tragen, hochhackige Schuhe, eine anschmiegsame, tief ausgeschnittene Bluse. Es hatte ihr den Job eingebracht und war seither ihre Bürokleidung geblieben.

Gut, ein wenig erniedrigend mochte die Auffassung zwar sein, man sei im Leben nur deshalb vorangekommen, weil man hinreißend aussah, aber das war nie die ganze Wahrheit. Louise war hoch qualifiziert, bloß waren das zahlreiche andere Frauen auch, und folglich galt es alles zu begrüßen, was einem sonst noch zum Vorteil diente.

Es war kurz nach achtzehn Uhr, als sie loskam und über die Straße zum Mad Jack’s eilte. Dort wurde sie von Simone, Nicola und Carly, ihren drei Mitarbeiterinnen, die alle großzügig »Freitagnachmittagsfeierabend« um halb fünf hatten machen dürfen, bereits erwartet.

Mad Jack’s, einst ein Tempel für Gintrinker aus Dickens’ Zeiten, war auf heutige Verhältnisse gebürstet worden, dünstete aber immer noch Atmosphäre aus. Hinter seinem altehrwürdigen Eingang aus Holz und Glas lag ein matt beleuchtetes Inneres mit eingezogenem Zwischengeschoss, das mit Eichenbalken, Hartholztäfelung und freigelegtem Backsteinmauerwerk protzte, wohin man auch sah. Wie an jedem Freitagnachmittag war der Pub bis zu den Außentüren randvoll mit lautstarken Anzugträgern in Feierlaune. Der Lärmpegel war erstaunlich. Lautes Gelächter schallte von einer Wand zur anderen, Gläser klirrten, Tische und Stühle wurden auf den massiven Eichendielen hin und her gerückt. Es hätte natürlich schlimmer sein können: Louise hatte bei Goldstein & Hoff angefangen, ehe das Rauchverbot verhängt worden war, und seinerzeit war das Lokal von Zigarrenqualm eingenebelt gewesen.

Die vier jungen Frauen schufen sich hinten in einer Ecke ihre kleine Insel und setzten sich. Jede bestellte sich einen Salat, allerdings zu einer gemeinschaftlichen Portion Pommes frittes mit Ketchup und Mayo. Louise achtete darauf, dazu nur zwei Gläser Chardonnay zu trinken. Nicht bloß, weil sie die Chefin war und sich daher verpflichtet fühlte, Vernunft und Anstand zu wahren, sondern auch, weil sie auf einem Stück ihres Heimwegs Auto fahren musste. Trotzdem war es der Teil der Woche, auf den sie sich alle freuten: endlich Zeit für jene boshaften Sticheleien, die sich während der Dienststunden streng verbaten – zumindest in Louises Hörweite.

Zuweilen zogen andere Kollegen Barhocker heran und gesellten sich zu ihnen, Männer, um angetrunken zu flirten, oder Frauen, um soeben aufgeschnappte Gerüchte weiterzuverbreiten. Ab einem gewissen Zeitpunkt nahm der Abend Ausmaße eines allgemeinen Gegackers an. Gegen halb acht flößte sich Carly ihren sechsten Southern Comfort mit Cola ein, und Nicola führte eine tiefschürfende Unterhaltung mit einem gut aussehenden jungen Burschen aus der Wertpapierabteilung. Die verschnörkelt verglasten Türen flogen krachend auf, als weitere Jungs aus der City dazudrängten. Es kam zu immer schrilleren Begrüßungen und noch gellenderem Gelächter. Allmählich trat eine Schweißnote zum Alkoholgeruch in den Raum, und mit einem Blick auf ihre Armbanduhr beschloss Louise, sich bald auf den Weg zu machen.

Ehe sie aufbrach, ging sie die Treppe hinunter in den Keller, wo die Toiletten waren. Die Tür zum Damenklo lag am Ende eines kurzen Durchgangs, Seite an Seite mit anderen Türen – zwei mit »Nur für Personal« beschriftet und eine mit »Herren«. Als sie eintrat, war sie allein. Sie ging in eine der Kabinen, raffte ihren Rock hoch, schob die Strumpfhose hinunter und hockte sich hin.

Und hörte jemanden nach ihr den Raum betreten.

Louise rechnete mit dem üblichen Klack-Klack-Klack hoher Absätze unterwegs zu einer anderen Kabine oder zum Spiegel über dem Waschbecken. Doch für einen kurzen Augenblick gab es überhaupt kein Geräusch. Dann vernahm sie das langsame Stapfen flacher Schuhe, in denen schwere Füße steckten.

Sie gingen ein paar Meter und blieben dann stehen. Louise lauschte angestrengt. Warum hatte sie plötzlich das Gefühl, wer immer es sei, stehe unmittelbar vor ihrer Tür? Sie schaute nach unten. Aus ihrem Blickwinkel ließ sich unmöglich unter der Tür hindurchsehen, doch sie war überzeugt, jemand stand genau davor und lauschte.

Sie warf einen Blick auf den Riegel. Er war bis zum Anschlag vorgeschoben.

Die Stille hielt einige Sekunden lang an, ehe sich die Schritte entfernten.

Louise musste sich zwingen, nicht erleichtert auszuatmen. Ihr wurde klar, dass sie sich unsinnig aufführte. Es gab keinerlei Grund zur Sorge. Keine drei Meter über ihr tobte das freitagabendliche Durcheinander im Mad Jack’s.

Wieder stoppten die Schritte.

Louise spitzte erneut die Ohren. Hatte die Person eine der anderen Kabinen betreten? Höchst wahrscheinlich, bloß gab es weder das Geräusch einer sich schließenden Tür noch das eines Riegels. Und nun, da sie besonders angestrengt lauschte, meinte sie, ein Atmen zu hören – gleichmäßig, ruhig, aber auch tief und heiser. Wie der Atem eines Mannes.

Vielleicht gehörte er zum Personal, ein Klowärter oder Handwerker? Sie war im Begriff, sich zu räuspern, um ihn wissen zu lassen, dass hier eine Frau war, als ihr plötzlich aufging, wie unklug das sein könnte. Angenommen, er gehörte nicht zum Personal?

Das Atmen hielt an, und die Füße bewegten sich abermals durch den Raum – weitere dumpfe Tritte hallten auf den Fliesen und kamen näher. Wer immer es war, machte entlang der Reihe Kabinen kehrt.

Unwillkürlich hob Louise einen Fingerknöchel an die Lippen. Würde er wieder vor ihrer Tür stehen bleiben?

Aber er tat es nicht.

Er stapfte schwerfällig vorbei und wandte sich im Weitergehen ab. Einen Augenblick später hörte sie die Zugangstür zu den Toiletten aufgehen und zufallen. Und dann war es still.

Louise wartete. Alles blieb ruhig.

Schließlich stand sie auf, zog ihre Strumpfhose wieder hoch, schob den Rock nach unten, entriegelte vorsichtig die Kabine und spähte hinaus. Sie konnte nicht alles einsehen, schien aber allein zu sein. Louise holte tief Luft und eilte zur Tür, öffnete sie und trat hinaus in den Korridor – und blieb augenblicklich stehen. Auf halber Höhe rechts stand eine andere Tür einen Spaltbreit offen. Es war eine mit der Aufschrift »Nur für Personal«. Durch den Spalt war ein schmaler Streifen Schwärze sichtbar. Louise fasste ihn fest ins Auge. War dort nicht eine schwache Bewegung zu sehen? Verbarg sich dort jemand und beobachtete sie?

Mit einem lauten Knall flog die Tür auf.

Doch der Mann, der durchtrat, war jung und trug die schwarze Bügelfaltenhose und das olivgrüne T-Shirt der Tresenkräfte. Er hatte ein Plastiktablett voll nass glänzendem Geschirr in den Händen. Als er sie sah und merkte, dass er sie erschreckt hatte, grinste er entschuldigend. »Sorry, Süße.«

Im Schlenderschritt entfernte er sich die Treppe hoch Richtung Tresenbereich.

Eine Hand auf dem Herzen, trat Louise vor und lugte durch die langsam zufallende Tür. Dahinter führte ein verdunkelter Gang an einer Reihe erhellter Räume vorbei und an seinem Ende zu einer Tür, durch die eine der Zuliefergassen hinter dem Gebäude zu sehen war. Mehrere andere Leute vom Personal waren dort unten zugange.

Sie kam sich töricht vor, eilte nach oben und stieß wieder zu den anderen.

Kurz vor zwanzig Uhr verließ Louise schließlich das Lokal, ihre Aktenmappe in der Hand. Es war ein fünfminütiger Fußweg runter zur U-Bahn-Station Bank, wo sie die Central Line nach Oxford Circus nahm. Dort stieg sie um in die Bakerloo-Linie.

Sie fuhr die Rolltreppe hinab zu den Zügen in Richtung Norden und stellte fest, dass sie allein war. Zu irgendeiner anderen Tageszeit hätte das seltsam sein können, aber jetzt war Freitagabend, und die meisten Fahrgäste würden in die Stadt unterwegs sein statt nach auswärts. Die Gewölbegänge lagen gleichermaßen verlassen da, und doch hatte Louise nur ein paar Meter zurückgelegt, als sie irgendwo hinter sich Schritte zu vernehmen glaubte. Sie blieb stehen und lauschte, hörte nun aber nichts mehr.

Sie schlenderte weiter bis auf den Bahnsteig. Wieder war niemand sonst zugegen. Ein warmer Windstoß blies ein paar Fetzen Papierabfall die glänzenden Schienen entlang. Da hörte sie die Schritte erneut – anscheinend kamen sie näher. Unruhig warf sie einen Blick zurück in den Durchgang, sah nichts, rechnete aber damit, dass jemand auftauchen würde.

Doch niemand kam. Und jetzt verstummten die Schritte. Beinahe so, als habe ihr Verfolger gespürt, dass sie auf ihn wartete.

Hinter ihr fuhr ein Zug dröhnend in den Bahnhof ein.

Erleichtert stieg sie zu.

In Marylebone, wo sie wieder unter Pendlern war, kaufte sie sich eine Abendzeitung und trank einen Kaffee, ehe sie einen Überlandzug nach High Wycombe bestieg. Inzwischen war es fast halb neun abends. Es gab an sich keinen Grund zur Eile. Alan, der eine Versicherungsgesellschaft sein Eigen nannte, verbrachte die Freitagnachmittage auf dem Golfplatz und würde bis weit nach dreiundzwanzig Uhr im Klubhaus an der Theke sitzen, aber es tat immer gut, sich beinahe schon zu Hause zu fühlen. Sie blickte zum Fenster hinaus, während die Bahn dahinschnellte. Im dunstigen Zwielicht verschmolzen die eintönigen Vororte von West London allmählich mit den Wäldern und Feldern der Home Counties. Die Nacht brach rasch herein. Als sie fünfundzwanzig Minuten später in Gerrards Cross den Zug verließ, war es völlig dunkel.

Wieder war sie allein, und es war sehr still. Doch sie war unbesorgt – das war ganz normal so. Gerrards Cross glich vielen anderen Kleinstädten im ländlichen South Bucks und war eigentlich nicht größer als ein Dorf. Als nobelster Bezirk außerhalb Londons war er viel zu hochpreisig für ein munteres Nachtleben, das hier nicht mal freitags stattfand. Seine Durchgangsstraße glänzte mit ein paar Gaststätten und Restaurants, doch das waren Edellokale – Kneipenschwärmer und Zechbrüder übertraten ihre Schwellen nicht.

Louise verließ den Bahnhof, der zu dieser Stunde unbeaufsichtigt war, und folgte einem heckengesäumten Seitenweg zum Parkplatz. Der Bahnhof von Gerrards Cross war in einen tiefen Geländeeinschnitt hineingebaut und lag unterhalb des Ortes selbst, sodass sein Parkplatz sogar am helllichten Tag eine dunkle, abgeschiedene Stelle blieb. Da sie nun den steil abfallenden Weg vom Bahnhof hinunterging, fiel ihr auf, dass mehrere seiner Flutlichter ausgefallen waren. Und als der Parkplatz in Sicht kam, schien auch noch ihr Auto zu fehlen.

Sie hielt verdutzt inne, bis sie es entdeckte. Es war das einzige verbliebene Fahrzeug und stand am hintersten Ende unter den tief hängenden, dicht belaubten Ästen einer uralten Kastanie. Dank der kaputten Lampen lag gerade diese Ecke komplett im Dunkeln. Sie setzte ihren Weg fort.

Und hörte abermals Schritte.

Sie blieb stehen und warf einen Blick über die Schulter.

Hinter ihr bog sich der Weg nach zwanzig Metern aus dem Sichtfeld. Niemand war zu sehen, und die Schritte machten schlagartig halt.

Louise blickte sich weiter um. Die Dachschräge des Bahnhofs zeigte sich über der Hecke. Dahinter und weiter oben liefen Lichter am Brückengeländer entlang – möglich, dass sie einen Fußgänger die Brücke überqueren gehört hatte. Aber auch dort gab es kein Anzeichen für irgendwen.

Sie ging weiter über den Parkplatz, der vielleicht zweihundert Meter lang, fünfzig Meter breit und an der rechten Seite von dichtem Unterholz begrenzt war. Nun bildete sich Louise ein, Bewegung in diesem Unterholz wahrzunehmen: ein beständiges Knistern im Laubwerk, als schöbe sich etwas Schweres hindurch. Ein Tier, sagte sie sich. Dieser Teil der Grafschaft wimmelte von Dachsen und Füchsen, besonders nachts.

Dann sah sie die Gestalt am Stamm der Kastanie angelehnt sitzen.

Sie blieb schlagartig stehen, ein Frösteln lief ihr über den Rücken.

War es ein Obdachloser, irgendeine Art Landstreicher? So jemanden bekam man selten, wenn überhaupt jemals in diesem vornehmen Bezirk zu Gesicht. Er war zusammengesunken, zerlumpt und trug, was wie ein schmutziger alter Mantel aussah, an dem sich vereinzelte Fetzen im Wind wiegten.

Doch dann erkannte sie, was sie tatsächlich sah.

Das zerlumpte, am Baumstamm »sitzende« Bündel war nichts weiter als ein mit Abfall und Altpapier vollgestopfter Müllsack.

Erneut kam sich Louise lächerlich vor und eilte weiter.

Noch immer war das Auto halb in Dunkelheit verborgen. Die Seite mit der Fahrertür stand dem Unterholz zugewandt, und der schmale verbliebene Spalt dazwischen lag in tiefem Schatten. Doch nun wollte Louise einfach nur nach Hause. Sie machte sich ja ganz kirre mit dieser dämlichen, unsinnigen Angst. Somit trat sie entschlossen und mutig an die Fahrerseite und war sich des dichten Gestrüpps in ihrem Rücken nur zu bewusst, während sie an ihrem Schlüsselbund herumfummelte. Aber sie hörte keine Bewegung mehr im Unterholz, und selbst wenn doch, na und? Es war Sommer. Vögel würden darin schlafen. Wenige hundert Meter entfernt erstreckte sich das Packhorse Common, wo schon Rotwild gesichtet worden war. Jedenfalls war nun keinerlei Geräusch mehr zu hören.

Sie schloss das Auto auf, warf ihre Aktentasche auf die Rückbank und setzte sich hinters Lenkrad. Einen Augenblick später hatte sie den Motor aufheulen lassen und war auf dem Weg zur Ausfahrt.

Sie verließ Gerrards Cross über die B416 und steuerte nach Süden Richtung Slough. In Stoke Poges bog sie rechts ab und fuhr nun auf schmalen, namenlosen Landstraßen in westliche Richtung. Da es ein windiger, aber warmer Abend war, hatte sie die Fenster teilweise herabgelassen. Motten und andere Insekten flatterten in ihrem Scheinwerferlicht. Ein Augenpaar funkelte auf, als eine Katze vor ihr über die Straße huschte. Beim Farnham Common schwenkte sie nach Süden auf Burnham zu. Baumgürtel zu beiden Seiten der Straße mit Zweigen, die sich über ihrem Kopf wie Finger verschränkten, rahmten sie tunnelartig ein.

Louise hatte sich wieder entspannt. Nur noch drei Meilen trennten sie von ihrem behaglichen Zuhause.

Plötzlich, mit einem donnernden Knall, verlor sie die Gewalt über das Fahrzeug. Es sackte schlagartig ab und schlitterte quer über die Straße, während das Lenkrad in ihren Händen herumwirbelte. Sie trat die Bremse durch und kam schleudernd und unter fürchterlichem Kreischen zum Stehen.

Als sie endlich stillstand, saß sie wie benommen da. Das einzige Geräusch war das Ticken des sich abkühlenden Motors. Sie sprang nach draußen.

Sie konnte kaum glauben, was sie sah: Ihre Vorderreifen hingen in Fetzen um die Felgen. Dasselbe mit den Hinterreifen. Sie waren buchstäblich in Stücke gerissen worden, Zinken des geborstenen Stahlgürtels stachen aus ihnen hervor. Sie ging im Kreis um den Wagen herum und war kaum imstande, ihr Pech zu begreifen. Ein platter Reifen allein wäre schon schlimm genug gewesen. Sie hatte noch nie ein Rad gewechselt, vermutete zwar, es zu können, aber hier, mitten im Wald und zu dieser Uhrzeit? Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr, da sie keine vier Ersatzreifen dabeihatte.

Sie nestelte in ihrer Jackentasche nach ihrem Handy. Sie würde Alan anrufen müssen. Schön, er saß im Golfklub und hatte wahrscheinlich zu viele Drinks intus zum Fahren, aber vielleicht war einer da, der sie aufgabeln könnte. Falls nicht, würde er wissen, was zu tun war.

Da fiel Louise noch etwas auf.

Sie hielt das Telefon in der Hand, doch ihre Finger erstarrten auf dem Tastenblock.

Etwa vierzig Meter hinter dem Auto schimmerte etwas im Mondschein, das quer über der Straße lag. Sie ging langsam darauf zu, aber blieb schon auf halber Strecke wieder stehen.

Es war ein Nagelbrett – sie glaubte jedenfalls, dass die Dinger so genannt wurden. Eine dieser ausziehbaren Sperren, mit denen die Polizei Fluchtwagen von Bankräubern außer Gefecht setzte. Irgendwer hatte es mutwillig auf die Straße gelegt.

Louise wurde sich bewusst, dass sie zitterte. Sie wandte sich zum Auto um. War es das Werk von Rowdys, irgendeiner Bande Halbstarker, denen nichts Besseres einfiel, um die Zeit totzuschlagen? Oder war es etwas Bösartigeres? Ohne sich weitere Gedanken über die zweite Möglichkeit zu gestatten und ganz bewusst ohne Seitenblicke in die lichtlosen Tiefen der Bewaldung ringsum hastete sie zurück zum Auto und riss die Fahrertür auf.

Sie hielt inne, um kurz zu überlegen: Auf den Radkappen fahren konnte sie natürlich nicht. Aber einschließen konnte sie sich. Ja, sie würde sich einschließen und telefonisch Hilfe rufen. Sie kletterte hinters Steuer, zog die Tür zu und wollte gerade die Schlösser verriegeln, als sie eine Bewegung direkt neben sich spürte.

Langsam drehte sie sich um.

Er saß auf dem Beifahrersitz. Offensichtlich war er eingestiegen, während sie vom Nagelbrett abgelenkt gewesen war. Er war stämmig und trug dunkle Kleidung: eine unförmige Lederjacke und darunter einen Kapuzenpulli, die Kapuze zurückgeschlagen. Er hatte schütteres Haar und Ohren so groß wie Bierkrughenkel. Aber er hatte keine Nase – nur eine verknorpelte Höhle – und keine Lider, während sein übriges Gesicht ein Flickwerk aus gedunsenem, gerötetem Narbengewebe war.

Louise wollte aufschreien, doch eine große lederbehandschuhte Hand klatschte sich auf ihren Mund. Eine zweite legte sich um ihre Gurgel.

Und drückte zu.

Kapitel

Es sah aus wie vielerorts in Bermondsey – Schrotthalden, Ödland, Müll, das Ganze von Graffiti überzogen.

Heck fuhr mit feindseligem Blick hindurch, sein einziger Gedanke war, dass sich sein verbeulter alter Fiat Brava bestens in diese verrottete Umgebung einfügte. Irgendwo zu seiner Linken lag der Fluss, der gelegentlich von einem Kran oder Werftgerüst gesäumt wurde. Rechter Hand zog eine Reihe zugenagelter Gebäude an ihm vorbei. Eine Obdachlose hockte, die Beine unanständig weit gespreizt, mit ihren Plastiktüten auf dem Bordstein und trank eine Flasche Fusel. Geradeaus wurden verlassene Hochhausriegel – trostlose Kästen aus fleckigem Beton und zerbrochenem Glas – vom schiefergrauen Himmel eingerahmt.

Heck fuhr weiter, war zu erschöpft, um den Anblick bedrückend zu finden.

Der verabredete Treffpunkt erwies sich als Kreuzung nahe dem niedrigen Bogen einer Eisenbahnbrücke. Wellblechzäune schlossen die Kreuzung von allen Seiten ein, und es gab eine einsame Straßenlaterne, die Birne längst zerschlagen. Links bot ein planierter Haufen Ziegelschutt ausreichend Platz zum Parken. Heck rollte jedoch weiter und nahm die Umgebung sorgfältig in Augenschein. Keiner war da, was ihn mit Blick auf seine Armbanduhr – es war zehn vor sechs – nicht überraschte. Er war zu früh, und an einem Sonntagmorgen hielt sich wohl kaum jemand freiwillig in dieser verlassenen Gegend auf. Er fuhr unter dem Brückenbogen hindurch und noch dreihundert Meter weiter, bis ihm ein eingerissener Zaun und ein Stück versengtes Land Platz zum Wenden boten. Anschließend fuhr er, diesmal langsam, denselben Weg zurück.

Auf der Kreuzung parkte nun ein weiteres Fahrzeug. Ein kastanienbrauner Bentley, an dem ein groß gewachsener schlanker Mann lehnte und die Sunday Sport las. Er trug einen schwarzen Anzug und hatte kurzes, hellblond gebleichtes Haar. Als Heck das Auto und den Mann sah, stöhnte er ungläubig auf. Zugegeben, er hatte sich nicht viel von diesem Treff erhofft. Die Stimme auf dem Anrufbeantworter in seinem Büro hatte knapp und umstandslos mitgeteilt, Angaben machen zu können, die er nützlich finden könnte. Dann hatte sie eine Zeit und einen Ort genannt und aufgelegt. Heck hatte den Anruf bis zu einem Münztelefon irgendwo in South London zurückverfolgen können. Ähnliche Anrufe waren dutzendfach über die letzten paar Monate bei ihm eingegangen, doch in diesem Fall und vielleicht, weil er so hundemüde war, hatte er nicht rational gedacht. Er hatte sich gefragt, ob er schon deshalb einen Treffer landen würde, weil das schlicht mal fällig wäre.

Anscheinend nicht. Eine trügerische Hoffnung mehr.

Er fuhr auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung an den Rand und stieg aus seinem Fiat. Ihm war klar, dass er beschissen aussah. Er war benommen vor Müdigkeit, fahl im Gesicht und unrasiert. Seine Jacke und sein Schlips hatten Knitterfalten, sein Hemd war fleckig von spätnachts verkleckertem Kaffee.

Heck latschte, die Hände in den Hosentaschen, über die Straße. Der große Blonde, er hieß Dale Loxton, hob den Blick über seine Zeitung. Aus dieser Nähe wurde seine ansonsten gepflegte Erscheinung von der hässlichen gezackten Narbe auf seiner linken Wange und dem seitlich auf seinen Hals tätowierten giftzahnbleckenden Schlangenkopf Lügen gestraft. Er trug schwarze Lederhandschuhe.

Heck nahm wahr, dass eine weitere Gestalt aus einem verborgenen Winkel zu seiner Rechten aufgetaucht war. Es war Lennie »The Loon« Asquith. Seine stämmige Gestalt hatte fast schon etwas Gorillahaftes. Auch er trug einen schwarzen Anzug und schwarze Lederhandschuhe, hatte aber langes, fettiges rotes Haar und ein grobschlächtiges, pockennarbiges Gesicht. Keiner der Männer lächelte.

»Eingespieltes Komikerduo, ihr beiden, oder?«, fragte Heck.

Loxton faltete seine Zeitung zusammen. »Mr Ballamara würde Sie gern mal sprechen.«

»Und ich würde gern nach Hause und erleben, wie mir Jessica Alba nur in Schürze und Stöckelschuhen mein Frühstück macht. Wie stehen da die Chancen, was schätzt ihr?«

»Nur eine kurze Plauderei«, sagte Loxton und öffnete die hintere Tür auf der Beifahrerseite des Bentley.

Asquith stand nun wie ein Fels da, die großen Arme vor dem gewölbten Brustkorb verschränkt. Heck wusste, dass er keine Wahl hatte. Nicht dass er auf die Unterhaltung scharf war. Selbst »kurze Plaudereien« mit Bobby Ballamara pflegten unangenehm zu werden.

Er stieg ein, und Loxton schloss hinter ihm die Tür. Das Wageninnere war üppig mit wohlriechendem Leder und poliertem Holz ausgekleidet. Ballamara, wie immer makellos in einem Nadelstreifenanzug über Hemd und Krawatte aus rosa Seide mitsamt rosa Taschentuch, das aus seiner Brusttasche lugte, war in die Times vertieft. Er war ein älterer Mann um die sechzig mit spitzem Kinn, kurz geschnittenem weißen Haar und einem weißen bleistiftdünnen Schnurrbart. Im Grunde sah er wie ein gewöhnlicher Geschäftsmann aus, bis man in seine Augen schaute: Sie waren tot, ausdruckslos und von eisig grauer Farbe.

»Ah«, sagte er mit kaum noch bemerkbarem Cockneyakzent, »Heck.«

»Meine Freunde nennen mich ›Heck‹. Für Sie bin ich ›Detective Sergeant Heckenburg‹.«

Ballamara schmunzelte stillvergnügt und legte die Zeitung zusammen.

»Was wollen Sie?«, fragte Heck.

»Wie läuft’s? Kommen Sie denn voran?«

Heck griff sich an den Kragen, um seinen Schlips zu lockern, nur um ihn bereits gelockert vorzufinden; er hing ihm als schlaffer Knoten um den Hals. »Sehe ich etwa so aus?«

»Auf jeden Fall haben Sie Überstunden gemacht, gar keine Frage.«

»Sie haben mich beobachtet, ja?«

»Hin und wieder mal. Als gewissenhafter Steuerzahler weiß ich gern, ob mein Geld sinnvoll ausgegeben wird.«

Heck täuschte Überraschung vor. »Ach, jetzt werden schon Drogen und Prostitution besteuert?«

»Wir wollen doch freundlich bleiben, Heckenburg.«

»Bitten Sie mich das, oder raten Sie es mir?«

Ballamaras Lächeln verlor sich etwas. »Wissen Sie, mit Ihren flotten Sprüchen schinden Sie vielleicht Eindruck bei den Sekretärinnen von der Kriminalpolizei. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass meine Tochter schon zwei Jahre lang vermisst wird.«

»Und ich möchte Sie daran erinnern, dass eine große Zahl anderer Leute Töchter ähnlich lange vermisst wird, wenn nicht länger. Und diesen Leuten schulde ich ebenso wenig persönliche Rechenschaft wie Ihnen.«

»Sind Sie immer noch als einziger Beamter auf den Fall angesetzt?«

»Sie wissen, dass ich keine Einzelheiten über eine laufende Ermittlung preisgeben kann.«

Ballamara nickte bedächtig. »Was bedeutet, dass Sie als einziger Beamter auf den Fall angesetzt sind. In der ganzen Metropolitan Police bearbeitet ein einziger Kriminalbeamter das Verschwinden meiner Tochter.«

Heck seufzte. Ihm war, als hätten sie diesen Acker schon zigmal gepflügt. »Ich bin nicht mehr bei der Metropolitan Police, Mr Ballamara. Ich gehöre zur National Crime Group, wie Sie sehr wohl wissen. Was bedeutet, dass wir weniger Arbeitskräfte haben und nicht nur bei Verbrechen im Raum London ermitteln, sondern überall in England und Wales. Allerdings ist das ein guter Einwand. Warum legen Sie Ihre Beschwerde also nicht bei Commander Laycock vom New Scotland Yard ein? Glauben Sie mir, nichts wäre mir lieber. So, wenn weiter nichts ist, ich hab die ganze Nacht mit einer Observation verbracht und jetzt noch rund sechs Stunden Papierkram vor mir, und danach geht’s ab ins Bett.«

Er öffnete die Tür und schickte sich an auszusteigen, doch Asquith stand auf der anderen Seite und knallte die Tür wieder zu. Heck wich ruckartig zurück und vermied es ganz knapp, mit dem Gesicht ans Fenster zu schlagen.

»Heckenburg, da ist was, das Sie von mir wissen sollten«, sagte Ballamara. Es klang beiläufig, wie eine bloße Feststellung. Doch die ausdruckslosen grauen Augen des Bandenchefs blickten nun so stählern, dass sie Münzen glichen. »Ich selber habe die Fundamente von Autobahnbrücken benutzt, um Bullen dadrin zu begraben, die viel härter und gerissener waren als Sie und zudem deutlich weiter oben in der Nahrungskette standen. Glauben Sie wirklich, ich werde mich einfach zurücklehnen und von irgendeinem kleinen Pinscher immer wieder abwimmeln lassen, während meine Tochter Gott weiß was erleidet?«

Heck rieb sich die Stirn. »Ich tue schon, was ich kann.«

»Das reicht nicht.«

»Es gibt keinen Fall, verstanden?« Heck sah ihn fest an und legte so viel Aufrichtigkeit in seinen Blick, wie er konnte. »Das sage ich Ihnen nicht zum ersten Mal. Ihre Noreen wird vermisst. Das tut mir leid, aber sie war neunzehn und ein großes Mädchen. Sie hatte Geld, war unabhängig – also kaum jemand, den man als schutzbedürftig einstufen würde. Sie müssen die Möglichkeit hinnehmen, dass sie aus freien Stücken verschwunden sein könnte.«

»Sie war mit ihrer Clique im West End unterwegs«, erinnerte ihn Ballamara. »Es war ihr übliches Treffen am Samstagabend. Sie hatte nichts weiter bei sich als ihre Handtasche und die äußerst knappen Sachen, die sie am Leib trug. Am Tag darauf habe ich selber ihre Wohnung durchsucht. Die Kleiderschränke waren noch voll. Alle ihre Koffer waren da, ihr Pass lag in der Scheißschublade, Herrgott noch mal!«

Heck wusste nicht recht, wie er antworten sollte. Sehr oft hatten sie dieses Gespräch geführt, und immer predigte der Gangster zum Bekehrten. Auch Heck glaubte, dass Noreen Ballamara einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, und in dieser Hinsicht wurde sein Festhalten an der »offiziellen« Linie zusehends undankbarer und ermüdender.

»Sehen Sie mal, Ballamara«, sagte er schließlich, »Sie müssen verstehen –«

»Mister Ballamara, solange wir auf Förmlichkeit beharren.«

»Mr Ballamara, ich bin es nicht, den Sie überzeugen müssen. Aber ohne Leiche, ohne Tatort und im Grunde ohne Beweise für überhaupt irgendwas pinkele ich bloß in den Wind. Gegenwärtig können wir Noreen nur als Vermisstensache behandeln.«

»Und was ist mit all den anderen Verschwundenen?«

»Dasselbe. Es gibt keinerlei Beweis für einen kriminellen Zusammenhang zwischen irgendwelchen dieser Fälle.«

»Sie glauben doch wohl nicht an einen wahnwitzigen Zufall?«

»Betrachten Sie’s mal im größeren Rahmen. Jedes Jahr lösen sich Tausende Leute in Luft auf, aber nur ein Bruchteil davon unter verdächtigen Umständen.«

Ballamara nickte und lächelte. »Wobei sich dann fragt, warum Sie, ein Beamter des Dezernats für Serienverbrechen in der National Crime Group, sich ausgerechnet diesen vierzig Fällen widmen.«

»Genau das fragen sich meine Chefs auch.«

»Das reicht nicht, Heckenburg. Ich will Antworten.«

»Was glauben Sie, was ich will?«

»Ich geb ’nen feuchten Furz drauf, was Sie wollen!« Der Gangster lehnte sich zu Heck hinüber und starrte ihm mit wölfischer Eindringlichkeit in die Augen. Sein Gesicht war zu einem sehr ungesunden Weiß verblasst und so nahe, dass sein miefiger Pfefferminzatem dem Bullen in die Nase stieg. Als er wieder sprach, hatte seine Stimme einen leisen, bedrohlich monotonen Tonfall angenommen. »Jetzt hör mal zu, mein Sohn. Ich habe diesen Scheißdreck satt. Deshalb arbeitest du ab jetzt nicht nur für die Polizei – du arbeitest für mich. Betrachte den Umstand, dass du noch mit heiler Wirbelsäule rumspazierst, als deinen Lohn. Und jetzt raus mit dir und zurück an die Arbeit, sonst verpass ich dir eigenhändig eine Gesichtsmassage, nach der dich deine eigene Mutter nicht mehr wiedererkennen würde.«

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Wagentür.

Heck sah sich von Asquith hinausgeholfen, obwohl die Faust, die ihn beim Kragen packte, wahrscheinlich nicht die Art Hilfe war, die er benötigte. Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Klack, und dann stand Heck auf der Straße und sah zu, wie Asquith um das Fahrzeug herum zur Beifahrertür latschte und Loxton sich hinters Lenkrad quetschte.

»Ihr Jungs habt nicht etwa auch nach Noreen gesucht, oder doch?«, fragte Heck die beiden.

Loxton sah ihn an, als könne er nicht fassen, dass ein Bulle eine derart dämliche Frage stellt. »Klar haben wir das, verdammt.«

»Irgendwelche Anhaltspunkte, die ihr mir mitteilen möchtet?«

»Dale!«, rief Ballamara aus dem Wageninneren. »Lass das Quasseln mit dieser beschissenen Missgeburt. Der hat keine Zeit für Geschwafel.«

Heck trat zurück, als der Bentley über den Schutt losfuhr und in einer Wolke aus Staub und Steinchen davonbrauste. An sich gab es jede Menge Tatbestände, die er Bobby Ballamara hätte anlasten können. Dieser Morgen allein reichte für Verschwendung polizeilicher Arbeitszeit, Androhung eines Tötungsvorhabens, Freiheitsberaubung und so weiter. Bloß war das strafrechtlicher Kleckerkram, Festnahmen, die nur von seinem Hauptanliegen ablenken würden, nämlich den achtunddreißig verschollenen Frauen, nach denen Heck seit Anfang 2010 suchte. Hinzu kam, dass Bobby Ballamara und seine Jungs, die nach eigenen Angaben ständig das Ohr am Puls der Unterwelt hatten, womöglich nützliche Mitspieler abgeben konnten. Sie zu verhaften könnte folglich ein Eigentor sein. Außerdem war Ballamara trotz seiner Drohgebärden kaum der Typ, der einen Bullen zusammenschlägt. Er war ganz und gar alte Schule. Als bösartiger, gewalttätiger Bandenführer würde er nicht zögern, Abschaum seinesgleichen das Hirn rausprügeln zu lassen, wenn ihm danach war. Doch seine traditionelle Verbrechermoral wirkte altmodisch in Zeiten durchgeknallter, waffenliebender Killer, die keinerlei Hemmungen hatten, Schulkinder abzuschlachten, sollten ihnen welche in die Quere kommen.

Heck ging zurück zu seinem Auto, nur um festzustellen, dass auf der Beifahrerseite ein Reifen platt war. Einen zornigen Augenblick lang vermutete er, entweder Asquith oder Loxton sei langweilig geworden, während er im Gespräch mit ihrem Boss gewesen war. Dann aber sah er den rostigen Nagel hervorstehen, der vermutlich von der Brandfläche stammte, die er zuvor zum Wenden benutzt hatte. Von seiner eigenen Unvorsichtigkeit verärgert und viel zu erschöpft für die nun erforderliche körperliche Anstrengung, trat er an den Kofferraum, um das Ersatzrad herauszuhieven.

In dem Augenblick begann es zu regnen.

Kapitel

Mit jedem Erwachen schien es Louise, als hätte sie einen fürchterlichen Albtraum überstanden, um daraufhin zu begreifen, dass er doch Wirklichkeit war. Sie befand sich im Kofferraum eines Fahrzeugs – so viel hatte sie aus dem Brummen des Motors und dauernden Rütteln und Stoßen geschlossen. Ihre Hände waren hinterrücks mit etwas fixiert, das sich nach einer Plastikhandfessel anfühlte und so stramm festgezurrt war, dass es ihr ins Fleisch schnitt. Ihre Beine waren schmerzhaft angewinkelt, da sie in derart beengtem Raum nicht ausgestreckt liegen konnte. Es war pechschwarz und erstickend heiß. Obwohl ihre Kleider durchgeschwitzt waren, war ihr Körper eisig vor Schrecken. Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier drinnen war. Es kam ihr wie Tage vor, obschon sicher noch nicht so viel Zeit vergangen sein konnte – ein Tag und eine Nacht vielleicht oder auch etwas länger? In jedem Fall war sie völlig am Ende vor Durst, der Hunger fraß sich durch ihre Eingeweide, und die Luft stank unerträglich, da sie sich mindestens zweimal eingenässt hatte. Und doch war nichts von alledem vergleichbar mit der Irrsinnsangst vor dem, was noch kommen mochte.

Ein Streifen Isolierband war ihr über den Mund gepflastert und um den Hinterkopf gewickelt worden, sodass sie kaum wimmern konnte, schreien schon gar nicht. Man hatte ihr eine Stoffbinde um die Augen geknotet. Die Erinnerung daran, was sich auf der stillen Landstraße zugetragen hatte, war nur undeutlich. Wer immer der Mann war, der sie angegriffen hatte – seine Teufelsfratze war noch immer in ihrem Bewusstsein eingeprägt –, er hatte sie bis zur Ohnmacht gewürgt. Wenigstens war jener Augenblick voller Sterbensangst und Qual schnell vorbei gewesen. Gern hätte sie die erlösende Bewusstlosigkeit der anhaltenden Tortur vorgezogen, die sie nun erlitt. Lange genug schon war sie in diesem Metallsarg eingeschlossen gewesen, um selbst ein-, zweimal eingeschlafen zu sein, wenn auch in erster Linie, weil sie sich nach jedem Aufwachen verzweifelt und bis zur völligen Erschöpfung hin und her geworfen hatte. Abermals wand Louise sich vergebens und wimmerte hinter ihrem Knebel. Das Schlimmste war die klaustrophobische Enge im Kofferraum. Der Deckel war gerade mal fünf Zentimeter über ihr, sodass ihre Tritte keine Wirkung hatten.

Zum tausendsten Mal versuchte sie sich die über die Jahre aufgeschnappten, widersprüchlichen Belehrungen in Erinnerung zu rufen, wie eine Frau einem Vergewaltiger begegnen solle. Sie war sich sicher, dass ein Polizeibeamter im Fernsehen geraten hatte, sich zu wehren, zu kratzen, zu beißen, zu schreien – doch wenn das den Angreifer wütend machte? Jemand anderes hatte gemeint, man solle ihn anflehen und sich selbst betont menschlich geben, über die eigene Familie, die eigenen Kinder reden. Doch auch hier: Was, wenn er nun ein Sadist war und das seine Lust nur noch anheizte?

Letzten Endes blieb all das natürlich Theorie. Louise hatte sich nie ausgemalt, sie könnte einmal in die Lage geraten, derart Furchtbares auf die Probe zu stellen. Selbst jetzt kam ihr der Schrecken fast unwirklich vor. Rund sechsunddreißig Stunden später – mindestens so lange dauerte es nun schon, entschied sie, womit es irgendwann am Sonntagvormittag sein musste – stand sie immer noch unter Schock, war halb besinnungslos und zitterte vor Angst. Frischer Schweiß sickerte in ihre Kleider, während sie sich die vielen möglichen Hintergründe ihrer Verschleppung durch den Kopf gehen ließ. Louise klammerte sich daran, nach so vielen Stunden noch am Leben zu sein. Noch war sie nicht vergewaltigt, auch nicht geschlagen oder ermordet worden. Zudem hatte das Auto einmal angehalten – was inzwischen eine ganze Reihe von Stunden her zu sein schien –, der Kofferraumdeckel war aufgeklappt, ihr Knebel kurz entfernt worden, und jemand, der dabei kein einziges Wort sprach, hatte ihr einen Plastikhalm zwischen die Lippen gezwängt und sie ein paar Schlucke Wasser trinken lassen. Zeigte all das nicht deutlich, dass sie mehr als ein bloßes Spielzeug für ihre Entführer war? Es schien immer wahrscheinlicher, dass sie ihnen nur lebendig von Nutzen war, obwohl sie damit kaum zu rechnen wagte. Alan war wohlhabend, und Goldstein & Hoff mischte weltweit kräftig im Bankwesen mit: eindeutige Ziele für Lösegeldforderungen also. Überdies hatten ihre Entführer große Mühen auf sich genommen, um sie überhaupt einzufangen, und sie nicht einfach in eine dunkle Gasse gezerrt. Diese langwierige Verfolgung den ganzen Weg aus der City, das Nagelbrett quer über der Landstraße – klare Anzeichen für Vorsatz und Planung. In mancher Hinsicht wurde es dadurch noch beängstigender, ließ Louise aber auch darauf hoffen, bloß eine Schachfigur im Spiel um etwas Größeres zu sein. Worum gespielt wurde, hatte sie keinen Schimmer. Es musste nicht unbedingt etwas Finanzielles sein – die hohen Tiere in der City konnten in Gott weiß was verwickelt sein –, doch solange es kein Angriff gegen sie persönlich war, durfte sie zumindest hoffen, unversehrt freizukommen, nicht wahr …?

Ganz plötzlich kam das Fahrzeug schlitternd zum Stillstand.

Reifen quietschten, und mit lautem Knacken wurde die Handbremse angezogen.

Louise lag schaudernd da, als der Motor abgestellt wurde und zwei Autotüren gleichzeitig aufgingen und zufielen. Schon mehrmals war das während ihrer Gefangenschaft hier drinnen geschehen: das eine Mal, als sie Wasser bekommen hatte, doch bei den anderen Gelegenheiten war niemand zu ihr gekommen. Stunden waren dann verstrichen, in denen sie sich gewunden und gegen ihre Fesseln gesträubt hatte – vergebens. Wer immer sie verschleppt hatte, bewegte sie offenbar von einem Ort zum nächsten und suchte bei den wenigen Stopps, bei denen sie zurückgelassen wurde, große Abgeschiedenheit auf, wo keinerlei Geräusch zu vernehmen war. Stets waren sie nach einiger Zeit zurückgekehrt, und der Wagen war wieder angesprungen.

Diesmal geschah das jedoch nicht.

Ein eiskalter Schauer huschte über Louise hinweg und ließ sie erzittern, als sie die schweren Schritte nahen hörte. Ein Schlüssel schob sich ins Schloss, es knackte abermals, und sie wurde von Licht überflutet. Nach der langen Haft schien es so hell, dass es durch die Augenbinde strahlte und auf ihren Netzhäuten brannte. Dann wurde die Stoffschlinge weggerissen, sie kniff die Lider zusammen, drehte das Gesicht weg, doch derbe Hände griffen nach ihr. Sie stöhnte, und ihr war schwindlig, als sie in einen aufrechten Sitz gezerrt und wieder losgelassen wurde. Heftig blinzelnd, versuchte sie, ihre Augen an die Helligkeit anzupassen, aber erst nach mehreren Sekunden schärften sich alle Umrisse. Doch keine grelle Sonne hatte sie geblendet, sondern das Halbdunkel einer Tiefgarage.

Sie schaute ängstlich in den Raum, sah Wasserränder an Betonpfeilern und rostige Ketten in Schlaufen von der Decke hängen. Etwa zwanzig Meter vor ihr die Karosserie eines ausgebrannten Wagens. Dahinter lagen dunkle, hier und da von Strahlen schmutzig grauen Tageslichts durchschnittene Schatten. Dann sah sie die zwei Männer, die auf sie herabblickten.

Beide trugen dunkle Blaumänner, Handschuhe und Skimasken aus Strickgarn, in die Löcher für Augen und Mund geschnitten waren. Die eine Maske war purpurrot, die andere leuchtend orange. Ohnmächtig starrte sie zurück, dass ihr fast die Augen aus dem Kopf traten, während die zwei sie begutachteten.

»Die sieht ja derbe geil aus«, sagte der in der purpurroten Maske.

Doch die Bemerkung des anderen in der orangefarbenen Maske war es, bei dem Louise ein so tief greifender, lähmender Schauder durchlief, wie sie noch nie einen verspürt hatte: »Tun sie doch alle.«

»Wird sich schon noch sauber schrubben«, hängte Purpurrot an.

Orange glotzte sie weiter an. Er war größer als sein Kumpan. Durch die Löcher seiner Maske war etwas Haut um seine Augen sichtbar. Nach ihr zu schließen war er Schwarzer. Gesprochen hatte er ohne merklichen Akzent. Der andere hingegen, der vermutlich hellhäutig war, klang, als stamme er von irgendwo aus den Midlands.

»Hübsche Beine«, äußerte Purpurrot.

Jetzt erst merkte Louise, dass ihr Rock und Schuhe ausgezogen worden waren, die überall aufgerissene Strumpfhose hingegen noch an Ort und Stelle saß.

Purpurrot beugte sich vor und drückte ihre linke Brust. »Feste Titten auch. Hält sich in Form für ihren Alten.«

Louise nahm kaum Notiz von dem dreisten Übergriff. Jede verstreichende Sekunde machte diese Tortur umso wirklicher. Auf einmal schien es schrecklich, schrecklich sicher, dass sie Alan nie wiedersehen würde oder ihr entzückendes Haus im ländlichen Buckinghamshire.