Das Buch

Das Auf und Ab des Lebens. Jeden von uns kann es ereilen. Mal bist du Sieger, mal Verlierer. In John Nivens neuem Roman treffen die alten Schulfreunde Alan und Craig aufeinander. Ihre Lebenswege könnten nicht unterschiedlicher sein. Aus dem damaligen Außenseiter Alan ist ein erfolgreicher Gourmetkritiker und Bestsellerautor geworden, mitsamt Vorzeigefamilie und schickem Haus in der Londoner Peripherie. Craig, der in der Schule immer beliebt war, schlug eine Rockstarkarriere ein, um die ihn jeder beneidete. Doch der schnelle Erfolg hatte seine Schattenseiten. Aus dem einst schillernden Frontmann ist ein obdachloses Drogenwrack geworden. An einem kühlen Wintertag treffen die beiden in London aufeinander. Bei einem Bier erzählt Craig seine Lebensgeschichte. Als sie auseinandergehen, bietet Alan seinem alten Freund an, ihn erst einmal bei sich im Gästezimmer unterzubringen. Alans Frau ist zunächst wenig erbaut, arrangiert sich dann aber mit der Situation und findet schließlich Gefallen an dem neuen Mitbewohner, der Leben in die Bude bringt. Und bald zeichnet sich auch ein Hoffnungsschimmer am Horizont ab, denn Alan findet heraus, dass Craig noch Tantiemen aus alten Verträgen zustehen. Doch während es bei Craig aufwärtsgeht und sogar ein großes Comeback ansteht, stürzt Alan bald von einer Krise in die nächste. Alles Zufall?

Der Autor

John Niven, geboren in Ayrshire im Südwesten Schottlands, spielte in den Achtzigern Gitarre bei der Indieband The Wishing Stones, studierte dann Englische Literatur in Glasgow und arbeitete schließlich in den Neunzigern als A&R-Manager einer Plattenfirma, bevor er sich 2002 dem Schreiben zuwandte. 2006 erschien sein erstes Buch, die halbfiktionale Novelle Music from Big Pink über Bob Dylan und The Band in Woodstock; 2008 landete er mit dem Roman Kill Your Friends – einer rabenschwarzen Satire auf die Musikindustrie – einen internationalen Bestseller. Es folgten die Romane Coma, Gott bewahre, Das Gebot der Rache, Straight White Male und Old School. John Niven schreibt außerdem Drehbücher. Er lebt derzeit in Buckinghamshire, England.

JOHN NIVEN

ROMAN

Aus dem schottischen Englisch
von Stephan Glietsch

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

NO GOOD DEED

bei William Heinemann, Penguin Random House, London

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Copyright © 2017 by John Niven

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Nele Schütz Design unter Verwendung von

Illustrationen von shutterstock (ILYA AKINSHIN, Cameron Whitman) und Getty Imges/grandriver

Gesetzt bei Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-17479-8
V002

Für Charlotte

»Keine gute Tat bleibt ungesühnt.«

(altes Sprichwort)

»Nichts ist widerwärtiger
als das Glück anderer Leute.«

(F. Scott Fitzgerald)

teil eins

WINTER

1

Alan Grainger durchforstete seinen Wortschatz nach einem anderen Begriff für »Unverschämtheit«, als er von Covent Garden kommend die Charing Cross Road überquerte. In seiner Innentasche trug er ein kleines Moleskin-Notizbuch bei sich, in das er beim Verzehr seines Mittagssnacks bereits ein paar Zeilen – mehrheitlich Verunglimpfungen – notiert hatte.

Bezahlbarer Wohnraum, besseres Verkehrsmanagement, mehr Nachtclubs. Es gibt so einiges, was London gerade bitter nötig hat. Was die Stadt allerdings sicher nicht braucht, ist ein weiterer Pop-up-Store, der überteuerte Brioche-Burger verhökert.

Während er an diesem Satz feilte – seinem aussichtsreichsten Kandidaten für den Artikeleinstieg –, passierte er eine schmale Gasse, die nach Chinatown führte. Sofort erfüllte der Duft von gebratener Ente die kalte Novemberluft. Seine Pläne für den restlichen Nachmittag beschränkten sich darauf, eine ruhige Ecke im Soho House oder dem Groucho zu finden, dort eine große Tasse Kaffee zu trinken, um den zwei Bieren vom Mittagessen etwas entgegenzusetzen, und seine Restaurantkritik fertig zu schreiben. Gegen 16 Uhr, rechtzeitig vor Beginn der Rushhour, würde er dann den Zug nach Hause nehmen. Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, um sich etwas Erleichterung von dem unangenehmen Völlegefühl zu verschaffen. Verstopfung. Eine Berufskrankheit.

Zumutung! Das war das Wort, nach dem er gesucht hatte.

Er blieb an der Kreuzung zur Gerrard Street stehen und zog mit vor Kälte starren Fingern das Notizbüchlein aus der Innentasche seines warmen Wintermantels.

»Aye. Alles klar, Kumpel?«

Die Stimme klang schottisch – wie sein eigener Dialekt.

Es war einer dieser sehr kalten, sehr klaren Wintertage. Der Himmel über London strahlte in einem harten, tiefen Blau, vor dem sich wie in einer Comiczeichnung die Silhouetten der Schornsteine und Fernsehantennen abzeichneten. »Die erste Zumutung …«, kritzelte er und strich das Wort »Unverschämtheit« durch.

»Aye, alles klar?«

Die Stimme war ganz nah, irgendwo zu seinen Füßen.

»… besteht darin, den Gast fünfunddreißig Minuten auf einen Tisch warten zu lassen …« Das neue Ding: keine Reservierungen. Mit Ende vierzig empfand Alan diesen Trend als einen der größten evolutionären Rückschritte der Menschheit.

»Alles klar, Alan?«

»… wurde noch übertroffen …«

Moment mal – woher kannte der Kerl seinen Namen?

Alan hob den Blick. Oder senkte ihn vielmehr. Ein Penner saß vor ihm auf dem Bürgersteig. Den Rücken hatte er gegen die Außenwand eines Kinos gelehnt, das eine Seite des schmalen Durchgangs bildete, der ins Gassengewirr von Soho führte. Er blickte Alan aufmerksam, beinahe amüsiert an. Und er aß irgendwas. Irgendein in Alufolie gewickeltes Ekelzeug, ein Falafel- oder Kebab-Sandwich oder so einen Fraß. Zögerlich näherte sich Alan dem Mann. Das Notizbüchlein verschwand wieder in seinem Wintermantel, und seine rechte Hand wanderte reflexhaft in die Hosentasche, um nach Kleingeld zu kramen.

Eigentlich war es gar nicht so verwunderlich. Alans Bild erschien regelmäßig in der Zeitung. Passfotogroß fand es sich neben seiner wöchentlichen Kolumne und noch größer neben den vereinzelten Interviews oder Artikeln. Hin und wieder war er auch im Radio oder Fernsehen zu Gast. Vielleicht las dieser Kerl, wenn er nachts in einer Unterführung kauerte oder auf einer Parkbank lag, gerne mal eine Restaurantkritik, bevor er sich ins Dosenbierkoma verabschiedete. Aus kurzer Distanz fiel Alan auf, dass sein Gegenüber ungefähr in seinem Alter war. Da hörten die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf. Der Penner trug schmuddelige Jeans, abgenutzte Billigturnschuhe und war offenbar in eine Art Parka gewickelt. Das Haar des Mannes war lang und fettig, aber frei von grauen Strähnen, wie sie sein eigenes Haar durchzogen, stellte Alan nicht ohne Neid fest. Er setzte ein schiefes Lächeln auf, so eine Art gönnerhafte »Toitoitoi!«-Miene, bevor er vier handwarme Münzen aus der Hosentasche fischte.

»Wie isses dir ergangen?« Der aufgeräumte, lockere Ton des Penners schien zu suggerieren, dass sie beide eigentlich Freunde waren, die sich letzte Woche noch gesehen hatten. Ja, er war eindeutig Schotte. Gut möglich, dass ihn jetzt ein Gespräch über die Vorzüge ihrer gemeinsamen Heimat erwartete. Wie sehr sie diese vermissten. Dabei waren beide vermutlich aus gutem Grund nach London gegangen.

»Danke, gut …«, sagte Alan. Er suchte nach etwas, wo er die Münzen hineinwerfen konnte, nach einer Mütze oder Kappe oder dem modernen Äquivalent zur Bettelschale: dem ramponierten Pappbecher von Subway, Burger King oder KFC. Es schien ihm unangemessen, sich nach dem Wohlergehen seines Gesprächspartners zu erkundigen, der schließlich bettelnd auf der Straße saß. Nur dass Alan beim besten Willen kein Geldbehältnis entdecken konnte. Ohne zu wissen, wohin mit den Münzen, hing seine ausgestreckte Hand untätig in der Luft. In der eisigen Luft. Ihre Blicke begegneten sich.

»Ich dachte, du würdest mich erkennen.«

Nicht Alan sagte das, sondern der Penner.

»Woher …«, setzte Alan an, ohne den Satz zu Ende zu bringen. Denn jetzt, da Alan sich mit seiner Hand voller Münzen halb über den Fremden beugte, sahen sie einander direkt ins Gesicht. Er sprach den Satz nicht zu Ende, weil er dem Gesicht des Penners nah genug war, um dieses Funkeln in den Augen, die Lachfältchen in dessen Mundwinkeln und die leicht schiefen Schneidezähne zu sehen, die seit ihrer letzten Begegnung zu braunen Stumpen verfault waren. Seit sie …

»Craig?«, fragte Alan, wobei sich der Name wie ein einziges großes Fragezeichen anhörte.

»Lang ist’s her, Kumpel.«

Ein Wirbelwind widersprüchlicher Gefühle stürmte auf Alan ein. Schock, selbstverständlich. Mitleid. Die Sorte tief empfundenes, reflexartiges Mitleid, wie es einen beim Anblick der Not einer anderen Kreatur überkommt. Und zuletzt und am offenkundigsten natürlich Freude. Freude darüber, wie bildhaft uns das Universum doch gelegentlich den eigenen Erfolg vor Augen führt und uns demonstriert, wie weit wir es gebracht haben. Wie gut wir unsere Chance zu nutzen wussten, wohingegen andere …

Denn dort, auf dem kalten Bürgersteig von Londons Innenstadt, saß einer seiner ältesten Freunde. Jemand, der ihm, als sie beide noch Teenager gewesen waren, so nahegestanden hatte wie nur irgend möglich. Ein Freund, dem er seit fast fünfundzwanzig Jahren nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte.

Weshalb er die Frage nun doch stellen musste. Ganz gleich, wie unangemessen sie sein mochte. »Wie … geht’s dir?«

»Tja«, seufzte Craig Carmichael und deutete mit seiner behandschuhten Linken auf sich, den Platz auf dem Bürgersteig sowie das dünne Stück Pappe, das ihm als Bleibe diente. »Du siehst es ja selber.«

»Heilige Scheiße, Craig. Gottverdammte Scheiße.«

»Was treibst du gerade?«, fragte Craig und biss in seinen in Alufolie verpackten Snack. Dabei schlug er einen Plauderton an, als wären sie zwei Geschäftsreisende im Nadelstreifenanzug, die sich im Flughafenterminal in die Arme gelaufen sind. Zwei alte Schulfreunde, die sich zufällig an einem Drehkreuz des internationalen Reiseverkehrs begegneten. Und Alan? Alan hatte Probleme, sich auf den Beinen zu halten. Was sollte er tun? Sich neben Craig setzen, frei nach dem Motto »He, ich bin auch nicht anders als du«? Oder stehen bleiben?

»Ich …«, stammelte Alan. »Ich arbeite nur ein bisschen.«

»Du schreibst?«

»Ich … ja, genau.«

Schweigen. Der Wind strich durch die Gasse, als würde er nicht mehr aus ihr herausfinden. Was gab es noch zu sagen?

»Hör mal«, murmelte Alan mit Blick auf seine Uhr. »Hast du vielleicht Lust, was zu trinken?«

Später, sehr viel später, sollte Alan allen Grund haben, sich zu fragen, wie völlig anders die Dinge sich wohl entwickelt hätten, wenn ihm dieser Satz nicht über die Lippen gekommen wäre. Die entscheidenden Weichen des Lebens: winzige Augenblicke, denen wir keine große Tragweite beimessen. Doch nichts bleibt folgenlos.

* * *

Da viele Läden wegen Craigs Aussehen von vornherein ausschieden (wobei Alan annahm, dass sein alter Freund im Groucho als schräger britischer Künstler durchgegangen wäre), landeten sie letztlich im Coach & Horses auf der Greek Street. Sie quetschten sich an einen der kleinen Tische am Ende der Bar, gleich neben den Toiletten – Craig mit einem Pint und Alan mit einem halben.

»Prost«, sagte Alan.

»Aye, prost«, erwiderte Craig und stieß mit ihm an.

Prost? Ernsthaft? Im Hinblick darauf, wie sehr Craig zweifellos vom Schicksal gebeutelt war, empfand Alan es beinahe als zynisch, mit ihm anzustoßen. Offenbar trug sein alter Freund mehrere Schichten Kleidung übereinander. Die Sohlen seiner Turnschuhe waren halb abgerissen. Seine wenigen Habseligkeiten, bestehend aus Schlafsack, Rucksack und einer Tragetasche, lagen unter dem Stuhl neben ihm.

Es hatte Craig einige Zeit gekostet, alles zusammenzurollen, während Alan ihm mit einem wohlwollenden Lächeln zusah, unsicher, was die gesellschaftliche Etikette in dieser Situation gebot. Sollte er seine Hilfe anbieten? Oder eher nicht? Er entschied sich dagegen. Dennoch wirkte Craig nicht so schmutzig, dass man ihm den Eintritt in den Pub verwehrt hätte. Er trug einen dichten Bart, und seine Haare schienen in fünf verschiedene Richtungen gleichzeitig vom Kopf abzustehen, aber im Großen und Ganzen erweckte er den Eindruck, als hätte er sich in letzter Zeit mal gewaschen. Ungelogen: Wäre er zwanzig Jahre jünger gewesen, er hätte sich glatt einen Platz in einem dieser alten »Hipster oder Penner«-Blogs auf Tumblr verdient gehabt. Und irrerweise war Craig immer noch gertenschlank. Irrer-, aber nicht unerklärlicherweise. Alan vermutete, dass die kalorienreduzierte Ernährung zu den wenigen Vorteilen des Vagabundenlebens gehörte. Als sie die Gläser absetzten, war schließlich der Zeitpunkt gekommen, Craig zu fragen. Es führte kein Weg mehr daran vorbei.

»Himmel, Craig, was ist dir passiert?«

Craig lachte. Als hätte er mindestens die letzten zehn Minuten auf diese Frage gewartet. »Ach Scheiße, ist ’ne lange Geschichte. Wann haben wir uns zuletzt gesehen?«

»O Gott …« Alan tat, als müsste er nachdenken.

In Wahrheit wusste er genau, wann sie einander zum letzten Mal gesehen hatten. Der Moment erschien glasklar vor seinen Augen: Craig, noch schweißnass, trägt ein frisches T-Shirt, das er sich vom Merchandise-Stand geholt hat. Ein Wasserglas voll Weißwein an den Lippen, winkt er zum Abschied, als Alan und die Jungs um zwei Uhr morgens den rappelvollen Backstage-Bereich verlassen. »Wir sehen uns!«, ruft er ihnen nach. Craigs Band The Rakes waren gerade aus Amerika zurückgekehrt und hatten im QM, dem Veranstaltungssaal der Queen Margaret Union an der Universität von Glasgow, an diesem Abend das erste Konzert ihrer UK-Tour gespielt. Im Frühjahr 1993, kurz bevor Alan nach London gezogen war. Er hatte das Konzert mit Charlie und Donald besucht, seinen Mitbewohnern in der WG an der Byres Road in Huntley Gardens. Charlie, Donald, Craig und Alan waren zusammen zur Uni gegangen. Als seine Band richtig durchstartete, hatte Craig sein Studium im zweiten Jahr hingeschmissen. Und nun spielte er, einer der ihren, tatsächlich als Headliner im QM, wo sie gemeinsam so viele Konzerte gesehen, vom Oberrang aus die Bands angefeuert und im Moshpit gefeiert hatten. O ja, Alan konnte sich noch sehr genau an den Moment erinnern. Warum tat er dann so, als müsste er nachdenken? Weil du ihn nicht wissen lassen willst, dass du oft an ihn gedacht hast.

»Vielleicht in Glasgow? Damals, als du im QM gespielt hast?«

»Aye. Könnte sein«, sagte Craig und strich sich durch den Bart.

»Ich hab immer wieder mal versucht, dich aufzustöbern. Du weißt schon, das Übliche eben, auf Facebook und so«, erklärte Alan.

»Mit so was hab ich nich viel am Hut«, erwiderte Craig.

Ach wirklich?, dachte Alan mit Blick auf Craigs zerlumpte Habseligkeiten unter dem Stuhl. »Natürlich hab ich hier und da was gelesen oder gehört, in der Presse und sonst wo … ist aber auch schon eine ganze Weile her.«

Alan erinnerte sich daran, wie er sich aus Musikzeitungen wie Q oder dem NME, die er zu jener Zeit las, Schnipsel für Schnipsel die Informationen zusammengepuzzelt hatte. »Heroin … Entzug … Los Angeles … von der Plattenfirma fallen gelassen …« Damals, als Alan noch für ein paar Pennys beim Stadtmagazin Time Out geschuftet hatte, waren das tröstliche Geschichten gewesen. Bis dahin hatte er Craigs großen Durchbruch eine ganze Zeit lang als unmittelbar bevorstehend und unausweichlich betrachtet.

Craig trank einen großen Schluck Bier. »›Daybreak‹ war ein Hit in den Staaten, weißte noch? Kein Superhit, aber ein echter Hit. Deshalb sind wir 1994 in die USA gegangen. Die ganze Band. Sind ständig auf Tour gewesen. Und die Rechnung ging auf: Wir haben tierisch Platten verkauft, am Ende fast ’ne Million Stück. Auf einmal flatterten dicke Tantiemen-Schecks ins Haus. Keine über fünf oder zehn Riesen, sondern über zweihundert-, dreihunderttausend Dollar. Und das vor zwanzig Jahren. Du weißt ja, wie Davy und Tam drauf waren, da kannste dir sicher vorstellen, dass wir alle ein bisschen am Rad gedreht haben. Sind nach L. A. gezogen. Und dann ist passiert, was in der Branche wohl normal ist: Gerade leben wir noch wie die Könige, und als dann endlich das neue Album erscheint, heißt es plötzlich: ›Wer seid ihr denn?‹ Wir haben nur 90000 Exemplare verkauft. Von heute auf morgen statt 900000 nur noch 90000 Platten. Das musste erst mal schaffen, von einem Album zum nächsten ganze 90 Prozent deiner Fans zu verlieren. Aber wir hatten uns längst dran gewöhnt, in Saus und Braus zu leben. Haben wir also einen Gang zurückgeschaltet? Von wegen, den Teufel haben wir getan. Wir haben uns ’nen fetten Vorschuss vom Label geholt, auf einen weiteren Hit gehofft, unsere Steuern nicht bezahlt, du weißt schon, es war dasselbe Scheißspiel, das jeder Idiot vor uns und jeder Idiot nach uns gespielt hat. So etwa um ’99 rum bin ich dann endgültig am Arsch, völlig pleite, jobbe in der Küche von ’nem mexikanischen Restaurant in Echo Park, versuche eine neue Band zusammenzutrommeln, pudere mir immer noch regelmäßig die Nase und sage auch zu Heroin nicht Nein. So lief das ein paar Jahre, dann … na ja, es gab ein paar Frauengeschichten, war auch alles nicht so toll. Schließlich bin ich zurück nach Schottland – 2005 oder 2006? So um den Dreh muss das gewesen sein. Als meine Mutter starb«, sagte Craig, worauf Alan das obligatorische »Mein Beileid« einwarf, doch Craig winkte nur ab. »Hab damals ein bisschen Geld geerbt, hat mich ein paar Jahre über Wasser gehalten. Aber auch das war schneller weg als erwartet – und zu dieser Zeit hatte ich schon ein ausgewachsenes Alkoholproblem. Ich bin nach London gegangen, um den Teufelskreis zu durchbrechen, in dem ich zu Hause in Ardgirvan festgesteckt hab. Scheiß Heroin. Bin da einfach an die falschen Leute geraten. Ranta Campbell und seine Jungs, weißte noch? Hier bin ich dann bei einem Mädel in Tottenham abgestiegen, das ich noch von früher kannte. Die hat mich nach ein paar Monaten vor die Tür gesetzt. Ich erinnere mich noch an die erste Nacht auf der Straße. Viele vergessen diesen Moment nie. Ich hatte etwa dreißig Pfund in der Tasche. Das Geld hätte so gerade für ’ne Übernachtung im Hostel oder ’ne einfache Busfahrt zurück nach Glasgow gereicht – aber was sollte ich da? Weiß der Geier. Es war September, nicht allzu kalt, also bin ich in den Park gegangen und hab mich in meinem Schlafsack unter ’nen Busch gelegt. War natürlich stockbesoffen. Dann erinnere ich mich erst wieder daran, wie ich um sieben Uhr morgens aufgewacht bin. Ich hatte die Nacht überstanden. War gar nicht so schlimm. So ist das halt: Du stellst fest, dass es schon irgendwie geht. Hab mich dann neben einen Geldautomaten gesetzt, und gegen Mittag hatte ich vier Pfund zusammengeschnorrt. Genug fürn Sandwich und ’n paar Dosen Bier. Das ist jetzt etwa fünf Jahre her.« Craig leerte sein Glas.

Alan schüttelte den Kopf und schaute auf die Uhr hinter der Bar. Craig hatte gerade mal drei Minuten gebraucht, um die letzten vierundzwanzig Jahre seines Lebens zusammenzufassen.

»Drauf geschissen«, sagte Craig. »Mal gewinnt man, mal verliert man. Es war nicht alles schlecht. Ich hab auch echt tolle Zeiten erlebt.«

»Tut mir leid«, sagte Alan.

Als ihm die Worte über die Lippen kamen, wurde ihm bewusst, dass er sie wirklich ernst meinte. In jüngeren Jahren hatte er Craig gelegentlich die Pest an den Hals gewünscht. Er hatte ihn um sein Aussehen, sein Talent, sein musikalisches Können, seinen Schlag bei den Frauen, sein Selbstvertrauen und seine Beliebtheit beneidet. Der junge Alan Grainger hatte sich eigentlich nichts sehnlicher gewünscht, als Craig Carmichael zu sein. Aber heute, wo sie beide auf die fünfzig zugingen und einen Gutteil ihres Lebens gelebt hatten, war er mehr als glücklich damit, Alan Grainger zu sein.

»Weißt du, ich hab dich ein paar Mal gesehen«, sagte Craig.

»Wo?«

»In der Dean Street, wenn du ins Groucho gegangen oder rausgekommen bist. Lohnt sich manchmal, dort zu sitzen. Kann passieren, dass dir irgend so ein stinkend reicher Arsch nen Zwanzig-Pfund-Schein oder so was in die Hand drückt.« Alan hatte vor dem Groucho schon mehrfach Penner gesehen, und gelegentlich hatte er ihnen auch etwas Kleingeld zugesteckt. Obwohl, wirklich gesehen hast du sie nicht, stimmt’s? Du bist ihren Blicken ausgewichen.

»Warum hast du mich nicht einfach angesprochen?«, fragte Alan.

»Ja, klar doch«, sagte Craig. »Du warst ja nicht allein. Was hätte ich denn sagen sollen? ›Wie läuft’s denn, Alan? Kennste mich noch? Craig Carmichael aus Ardgirvan? Wir sind zusammen auf die Ravenscroft Academy gegangen? Haste vielleicht was Kleingeld für mich?‹«

»Und warum hast du mich heute angesprochen?«

Craig zuckte mit den Schultern. »Du warst allein. Du bist neben mir stehen geblieben und hast in deinem blöden Notizbüchlein rumgekritzelt.«

Alan grinste. Aber irgendetwas an der lapidaren Art, in der Craig ihm das »blöde Notizbüchlein« vor den Latz geknallt hatte, und die Tatsache, dass seine blauen Augen – so furchig und verwittert die Haut um sie herum auch sein mochte – ihn immer noch durchbohren konnten wie ein Laserstrahl, bereitete Alan Unbehagen. Es gab ihm das Gefühl, wieder sechzehn zu sein, als hätten die vergangenen Jahre nicht ihre Schuldigkeit getan und für ausgleichende Gerechtigkeit gesorgt.

»Egal«, sagte Craig. »Die nächste Runde geht auf mich. Was willst du trinken?«

»Craig, im Ernst, lass mich doch bitte …«

»Nee. Die Runde geht auf mich. Das passt schon.«

»Ich weiß, aber …«

»Lass gut sein, Alan.«

»Aye, tut mir leid. Wenn du unbedingt willst, könntest du mir ein halbes … ach, scheiß drauf. Bestell mir ein Pint.«

Während er beobachtete, wie Craig sich zur Bar durchkämpfte, wobei er den einen oder anderen schrägen Blick erntete, aber ohne Probleme bedient wurde (das Coach & Horses hatte zweifellos schon sehr viel Schlimmeres erlebt), dachte Alan bei sich: »Aye?«

Wann hatte er seinen Dialekt zuletzt so raushängen lassen? Wenn er heute Abend nach Hause kam, würde Katie sich zu Recht fragen, was mit ihm passiert war.

2

»Oh bitte, Mum.«

»Ach verdammt, Melissa.«

Sie waren in der Küche. Katie Grainger blickte vom Abtropfsieb mit dem Grünkohl auf, den sie wässerte, und musterte noch einmal ihre sechzehnjährige Tochter, mit der sie gerade eine Auseinandersetzung führte, wie sie für Mütter mit halbwüchsigen Töchtern zum Alltag gehört: Streitpunkt war eine bevorstehende Kostümparty beziehungsweise die Frage, wie viel nackte Haut Melissa dort zeigen durfte. In Katies Augen sah sie aus wie eine Mischung aus unterernährter Sexarbeiterin und Courtney Love nach einem dreitägigen Besäufnis. Sie hatte sich für eine Art Hexenkostüm entschieden – allerdings eine sehr tief, fast bis zum Bauchnabel ausgeschnittene Variante, deren Saum knapp unterhalb des Schlüpfers endete, von dem Katie inständig hoffte, dass Melissa ihn trug. Zwischen ihren schwarzen Strümpfen und dem Saum des Rocks war deutlich ein Streifen Haut zu sehen.

»Ich würde nur gerne wissen«, fragte Katie und schüttete die smaragdgrünen Blätter in einen Kochtopf, »wann die gute alte Kostümparty zum Prostituiertenkongress verkommen ist? Früher haben sich die Kids als Comicfiguren oder so verkleidet …«

»Wäre es dir lieber, wenn ich als Elsa aus Die Eiskönigin gehen würde?«

»Ich nehme an, es müsste eine sexy Elsa sein, hab ich recht? Vermutlich würde sie zur Baskenmütze Strapse tragen.«

»Ach komm schon, Mum. Jasmine Holland geht als …«

»Und wenn schon.« Es kostete Katie geradezu übermenschliche Anstrengung, die Antwort, die ihr auf der Zunge lag und die neben dem Namen Jasmine Holland auch die Worte »Brücke« und »springen« enthielt, für sich zu behalten. »Weißt du was, Melissa? Wir können uns das komplett sparen. Wenn dein Vater nach Hause kommt und dich in dieser Aufmachung sieht, dann geht er an die Decke.«

»Ich kann’s kaum erwarten, endlich auf der Uni zu sein«, schnaufte Melissa und stürmte aus der Küche. Ihre Bleistiftabsätze stanzten kleine Dellen in Katies geliebtes Eichenparkett.

»An deiner Stelle würde ich meine Nase dann öfter mal in die Bücher stecken, statt meine Zeit auf Facebook zu vertrödeln«, rief Katie ihr nach. Wie wäre das als Thema der morgigen Kolumne: die Übersexualisierung von Teenagern am Beispiel einer Kostümparty?, dachte sie. Keine schlechte Idee. Sie ging zum Laptop und machte sich eine Notiz in einem Dokument namens Kolumnenideen, das sie immer offen hatte.

Hinter der Kücheninsel inmitten ihres großen, offenen Ess- und Wohnbereichs glitzerten ein schwarzer Aga-Ofen und diverse gebürstete Edelstahlflächen: auf Hüft- und Kopfhöhe die beiden Backöfen, der sechsflammige Herd von Viking Range und die Flügeltüren des Kühlschranks. Die Kücheninsel war mit zwei Spülbecken und einer fast achthundert Pfund teuren Profi-Küchenarmatur von Grohe ausgestattet. Daneben stand der runde Esstisch, und dahinter befand sich der Wintergarten mit dem Wohnbereich: großzügige Sofas, umgeben von Glas und viel Grün. Die großen Fenstertüren öffneten sich zum terrassenförmig angelegten Garten. Wie bei vielen anderen georgianischen und viktorianischen Anwesen in diesem Teil von Buckinghamshire waren am rückwärtigen Teil des Gebäudes umfangreiche An- und Umbauten vorgenommen worden – die Entfernung von der Küchenwand hinter ihr bis zu den Glastüren betrug gut und gerne fünfzehn Meter.

Katie sah auf die Uhr. Fast fünf Uhr nachmittags. War der Umstand, dass sie ihn später fürs Hühnchen brauchen würde, eine hinreichende Ausrede, um die Glastür des Weinkühlschranks zu öffnen und schon mal eine Flasche Sauvignon oder Burgunder zu entkorken? Nein, vorerst würde sie sich mit einer Tasse Tee vertrösten. Sie stellte den Wasserkocher an. In ihrem Rücken ertönten die Worte »Hände hoch, du Schurke!«, und sie drehte sich um. Sophie streckte ihr ihre Woody-Puppe entgegen. Das letzte Stück der Aufziehschnur verschwand gerade im Hinterteil des Sheriffs.

»Du! Mach, dass du herkommst!«, winkte Katie ihre Jüngste mit ernster Miene heran. Wohlwissend, dass ihre Mutter nur im Scherz einen so strengen Ton anschlug, trabte die Siebenjährige kichernd herbei. Katie hob ihre Tochter hoch und setzte sie auf den Küchentresen. »Sie wurden für schuldig befunden …«, sagte sie, wartete einen Augenblick und fuhr dann fort, »… viel zu niedlich zu sein!« Katie drückte ihre Daumen sanft in Sophies Oberschenkel. Die Kleine quiekte vergnügt auf und zappelte mit den Beinen, sodass ihre Fersen gegen die Tür des Küchenschranks trommelten. »Aufhören! Aufhören! Bitte verschont mich, liebe Mutter!« Katie hatte ihr beigebracht, so übertrieben förmlich um Gnade zu flehen. Sophie, die das Spiel liebte, hörte gar nicht mehr auf zu kichern, bis ihre Mutter sie schließlich freigab und sie ebenfalls lachend in den Arm nahm. Immer wenn sie sich mit ihrer Jüngsten beschäftigte, nachdem sie sich vorher mit der Älteren auseinandergesetzt hatte, verspürte Katie den Wunsch, ihre Töchter einfach in Aspik einlegen zu können. Melissa war als kleines Kind so fröhlich und umgänglich gewesen. Bald würde Sophie so alt sein wie Melissa heute. Dann wäre Katie siebenundfünfzig, und dann … sie mochte gar nicht daran denken.

»Mummy? Was ist mit Mel los?«

»Gar nichts. Deiner Schwester geht’s gut.«

»Aber sie hat die Tür zugeknallt.«

»Das war ein bisschen ungezogen.«

Sophie nickte. »Das war nicht sehr nett, oder?«

»Nein, war es nicht. Hast du denn deine Hausaufgaben schon gemacht?« Sophie schüttelte den Kopf. »Dann beeil dich mal besser. Die Simpsons fangen bald an.«

»Neinn!«, zitierte Sophie Homer Simpson, rutschte vom Tresen und sauste davon. Auf der Türschwelle blieb sie stehen. »Wann kommt Daddy nach Hause?«

»Bald, Schatz. Hopp, mach deine Hausaufgaben.«

Alan war heute Morgen nach London gefahren, wie immer, wenn er eine Restaurantkritik zu schreiben hatte. Katie verfasste ihre Kolumnen zu Hause und musste nur zwei- oder dreimal im Monat in London arbeiten. Im Gegensatz zu Alan, der im Schnitt sieben- bis achtmal in die Hauptstadt pendeln musste.

Vor sieben Jahren hatten sie dieses Haus gekauft und waren nach Marham gezogen, kurz bevor Tom aufs Gymnasium gewechselt war. Ihr Ältester, damals noch ein zahnlückiger Zwölfjähriger, hatte sich inzwischen in ein strammes, hochgewachsenes Kraftpaket verwandelt. Ein Kühlschränke leerendes Wunder an Appetit und Unordentlichkeit. Katie fragte sich, wo ihr Sohn wohl in diesem Augenblick steckte. In der Bibliothek oder im Lesesaal, hoffte sie. (O ja, ganz bestimmt, spottete eine Stimme in ihrem Kopf.)

Nach scheinbar ewig währenden Semesterferien war er erst vor ein paar Wochen nach Glasgow an die Uni zurückgekehrt. Doch um Tom machte sie sich keine Sorgen. Er war immer schon ein unproblematischer, ziemlich vernünftiger Junge gewesen. Melissa dagegen … tja, das stand auf einem ganz anderen Blatt. Wenn du Kinder hast, läuft dein Herz auf ewig außerhalb deines Körpers herum. Wer hatte das gesagt? Joan Didion? Sie würde es später nachschlagen. Also, Joan Didion, das wäre doch eine Idee. Jährt sich vielleicht ihr Todestag? Oder ihr Geburtstag? Eine ihrer wegweisenden Veröffentlichungen? Ihr Termin beim Friseur oder zur Intimrasur? Egal, was Katie als Aufhänger wählte: Hauptsache, es gab 750 Wörter her.

Sieben Jahre hier draußen. Ausschlaggebendes Argument war wohl die Schulsituation gewesen … und mehr Platz … und natürlich der Umstand, dass der Zug bis Marylebone nur dreißig Minuten brauchte. Eigentlich musste Katie nicht groß überredet werden. Die Kids waren neun und zwölf gewesen. Sie stand damals kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag und hatte das Gefühl, in London alles erreicht zu haben. Alan war nicht ganz so leicht zu überzeugen gewesen. Letztlich hatten ihre damaligen Nachbarn Jane und Bob die Entscheidung für sie gefällt, als sie ihnen erzählt hatten, wie ihr zwölfjähriger Sohn aus der örtlichen Gesamtschule nach Hause gekommen war, mit einem schmatzenden Geräusch die Lippen geschürzt und »Isch bin voll krasser Hühnerficker« gesagt hatte.

Wie so manche Londoner ihrer Generation waren Alan und Katie glückliche Nutznießer einer gewaltigen, aberwitzigen Lachnummer gewesen: des Immobilienbooms.

Ihre erste Zweizimmerwohnung in West Hampstead hatte sie 1995, als sie noch in ihren Zwanzigern gewesen waren, knapp 120000 Pfund gekostet. Für die Anzahlung von 12000 Pfund hatten sie ihr Erspartes zusammengekratzt und sich den Rest von den Eltern geliehen.

Im Jahr 2001, als Melissa geboren wurde, verkauften sie die Wohnung für 200000 Pfund. Sie zogen nach Queen’s Park, wo sie für 280000 Pfund eine große Dreizimmer-Maisonette-Wohnung mit eigenem Garten erworben hatten. Queen’s Park war damals noch nicht der Rede wert gewesen.

Das sah schon ganz anders aus, als sie die Immobilie fünf Jahre später für eine halbe Million verkauften und den Gewinn in eine heruntergekommene viktorianische Doppelhaushälfte an der Bezirksgrenze zu Brondesbury Park steckten. Eine Investition, die sie insgesamt 750000 Pfund kostete. Sie sanierten das Haus und verpassten ihm ein gutbürgerliches Upgrade: Zum edlen Seegrasteppichboden gesellten sich ein paar echte Kamine, eine neue Küche sowie neue Badezimmer, und auch bei der Wahl der Wandfarbe zeigten sie sich nicht knauserig. Immerhin waren sie damals gerade zu einem schönen Batzen Geld gekommen, da Alans erstes Kochbuch in der Weihnachtsbestsellerliste weit nach oben geklettert war. Kochen mit der Pausentaste – Rezepte wie im Film war eine von Szenen aus Filmklassikern inspirierte Rezeptsammlung: Dustin Hoffmans French Toast aus Kramer gegen Kramer, die Pastasoße aus Goodfellas, Paul Newmans Omelette-Rezept aus Die Farbe des Geldes und so weiter.

2010 verkauften sie das Brondesbury-Haus dann für 1,2 Millionen Pfund.

Im Grunde hatte ihnen Katies Vater 1995 sechs Riesen geliehen, und – simsalabim – fünfzehn Jahre später waren sie Immobilienmillionäre.

Dank ihres Talents? Ihres meisterhaften Plans? Ihres Geniestreichs? Nichts dergleichen. Ihre Leistung hatte schlicht darin bestanden, Ende der Sechziger geboren worden zu sein und in den Neunzigern einen halbwegs vernünftig bezahlten Job in London gehabt zu haben. So kam es, dass sie jetzt, mit nicht einmal fünfzig Jahren und frei von Hypotheken, nur eine halbe Stunde von London entfernt in einem gut fünfhundert Quadratmeter großen, freistehenden georgianischen Haus mit sechs Zimmern auf einem fast einen Hektar großen Anwesen lebten. Ihr Schlafzimmer hatte ein eigenes Bad, außerdem gab es im Haus drei weitere Badezimmer sowie einen großen begehbaren Kleiderschrank. Die Kinder hatten alle eigene Zimmer und Alan ein Arbeitszimmer. Katie hatte freiwillig auf eins verzichtet, denn sie zog es vor, am Küchentisch zu arbeiten. Umgeben von Töpfen, Pfannen, den Gerüchen, Geräuschen und der Geschäftigkeit des Kochens sowie dem Kommen und Gehen der Kinder und Handwerker, das niemals endete, da es im Haus immer etwas zu tun gab.

Katie versuchte sich einen durchschnittlichen 26-Jährigen vorzustellen, der heutzutage auf Basis eines Jahreseinkommens von 40000 Pfund eine nette Zweizimmerwohnung in West Hampstead kaufen wollte. Mmmm, überlegte sie, 750 Wörter über die Schwierigkeiten junger Leute, den Fuß in die Tür des Londoner Immobilienmarktes zu bekommen. Nein, das Thema konnte sie unmöglich schon wieder bemühen. Ihr Chefredakteur würde ihr den Kopf abschneiden. Sie schaltete den Backofen an und setzte sich an den Küchentisch vor ihren Laptop. Die Uhr zeigte nun Punkt fünf. Die Glastür des Weinkühlschranks starrte sie unheilvoll an.

Ihr Handy klingelte. Alan.