Uwe Berger
Pfade hinaus
Episoden der Erinnerung
ISBN: 978-3-86394-204-5 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien erstmals 2005 im Mauer Verlag Wilfried Kriese, Rottenburg a/N.
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Für Anne
Sonnenmeer, Freude, übertönt den Hass.
Pfade hinaus - es wartet die Welt ohne Pfade.
1950
Wo ich den gelben Stern am Toten sah,
wo der Erschossene lag im Hof des OKH,
da schleiften wir den betonierten Hass.
Der Traum von Weite fließt wie Licht durch Glas.
1999
Die Episoden der Erinnerung, denen andere autobiografische Texte (Weg in den Herbst, 1987) vorausgegangen sind, geben persönliche Erlebnisse und Erfahrungen wieder, die bisher nicht oder nur wenig belichtet waren, die zur Wende von 1989/1990 hinfuhren, von ihr herkommen und heutige Umstände zeigen. Gelegentlich habe ich dafür die Form des Gestern und Heute verbindenden Essays gewählt. Zur Darstellung berufe ich mich auf Alexander von Humboldts Wort von „dem Selbstbeobachteten, dem Selbsterlebten''.
Vielleicht vermag das Abenteuer meines Lebens in dieser und jener Diktatur, zwischen Genozid und Hoffnung, Illusion und Nüchternheit ein Licht auf deutsche Irrwege und Wege in unserer Zeit zu werfen und anderen zu helfen, sich zurechtzufinden. Vielen Menschen, die mich begleiteten, habe ich für Vertrauen, Rat und Ermutigung zu danken. Besonders nennen möchte ich Lennart Meri, den Staatsmann und Schriftsteller, Jan Petersen, den Mann mit der schwarzen Maske, Kurt Schwaen, den universalen Komponisten, und Regina Nörtemann, die korrekte Wissenschaftlerin.
U.B.
Als Vierzehnjähriger betrat ich zum ersten Mal polnischen Boden, den ebenen, lehmigen Boden zwischen Warthe und Weichsel, und ich spürte beklommen „die Stille, diese harte Stille, die von all dem Schreien nicht ausgefüllt werden konnte“. In Konin gestikulierte und kreischte ein hellbraun gekleideter Hanswurst vor evakuierten Kindern aus Berlin. Was er sagte, weiß ich nicht mehr; der Klang seiner Worte aber war gefährlich. In dem Dorf Kleczew nördlich von Konin lernte ich faschistisches Lagerleben kennen. Es war das Kriegsjahr 1943. Noch heute, wenn ich an den Ort denke, rieche ich Heu und Dung, schmecke ich Schuld und Angst.
Dreieinhalb Jahrzehnte später, am 26. September 1980, saß ich östlich von Warschau im Kellergewölbe des von Wald und Finsternis umgebenen Landschlosses von Czarnolas. Dort trafen sich Literaten aus Polen und anderen europäischen Ländern. Mit Marian Pankowski, einem würdigen, weißhaarigen Mann von gewinnendem Wesen, kam ich ins Gespräch. Er hatte eine Professur für Slawistik an der Universität von Brüssel inne. Gebürtiger Pole, war er durch die Hölle von Auschwitz gegangen. Er sagte in fließendem Deutsch: “Die schlimmsten Kapos, die ich in Auschwitz kennenlernen musste, waren Polen.“ Das System pervertiere die Menschen.
Zuvor hatten wir in der Kapelle des Schlosses eine mystisch inszenierte Lesung von Jan Kochanowskis „Treny“ erlebt, dem Liederzyklus auf den Tod seiner Tochter. Die rezitierenden Warschauer Studenten stellten eindringlich die polnische Schicksalsklage dar, gegen die sich der behauptende Wille des großen Renaissance-Poeten erhebt:
Was ist wohl leichter: Sich im Schmerz zu winden oder hart mit der Natur zu ringen?
Wo Kochanowski gelebt hatte, fühlte ich mich polnischer Geschichte, polnischem Wesen nahe.
In Polen bin ich auch dem klassischen deutschen Geist und seinen Quellen begegnet.
Als Mitglied einer Regierungsdelegation fuhr ich am 19. Oktober 1986 mit dem Polonisten Dr. Dietrich Scholze und der polnischen Journalistin Katarzyna Kielczewska von Warschau aus nach Morag in Masuren. Morag, zu deutsch Mohrungen, ist der Geburtsort von Johann Gottfried Herder. Weimarer und Warschauer Wissenschaftler hatten ein kleines Museum zum Gedenken an Herder neu gestaltet. Es sollte feierlich wiedereröffnet werden.
In dem von einem polnischen Fahrer gesteuerten Polonez unterhielten wir uns angeregt in deutscher Sprache, die Katarzyna tadellos beherrschte. Als Scholze wieder eine seiner deutsch-nationalen Tiraden losließ und hinzufügte: „Na ja, da werdet ihr ja wieder gemeinsam den Kopf schütteln", sah ich die neben mir sitzende Katarzyna verwundert an und erwiderte: „Sind wir denn so? Nein. Nicht wahr, wir sind tolerant.“
Scholze lächelte etwas gequält.
Ich mochte Katarzynas lang gestrecktes Gesicht, ihre sanfte Klugheit. Bei einem Halt legte sie ihre Stirn gegen die weiße Rinde einer Birke.
„Das macht man bei uns so. Das hilft gegen Kopfschmerzen.“
Wir fuhren durch dichte Wälder und vorbei an dunklen Seen. Dann tauchte das Städtchen Morag auf. Kirche und Rathaus, alte Backsteinbauten, umgeben die Stelle, wo einst das Geburtshaus Herders stand. Das nahe gelegene Palais des Grafen von Dohna beherbergte das Herdermuseum sowie Ausstellungen alter niederländischer Porträts und der Landschaften eines modernen Niederländers.
Als wir kamen, drängten sich schon viele Menschen. Zuerst sprach zu der stehenden Versammlung der örtliche Woiwode, dann ein polnischer, dann ein deutscher Wissenschaftler, dann der Gdansker DDR-KonsuI und schließlich ich. Eigentlich war es eine Komödie. Aber ich wollte bestimme Sätze loswerden. Katarzyna kannte sie bereits und übersetzte: „Im Gegensatz zu Schiller, der das Reich der Freiheit in die Kunst verlegt, fordert Herder die Einheit von Erkenntnis und Wirken.
Schon 1772 hat Herder auf die Leistung der alten Griechen verwiesen, fremde Ideen in ihre eigene Natur zu verwandeln, und die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen den Kulturen erkannt. In den ,Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit' rühmt Herder die geräuschlose, fleißige Gegenwart der slawischen Völker; und er wünscht ihnen, dass sie von ihren Sklavenketten befreit würden und ihre schönen Gegenden vom adriatischen Meer bis zum karpatischen Gebirge als Eigentum nutzen und ihre alten Feste des ruhigen Fleißes und Handels auf ihnen feiern dürften.
In den ,Briefen zur Beförderung der Humanität' aber, jenem bedeutenden Werk, das unter dem Eindruck der Französischen Revolution entstand, verbindet sich der Gedanke der freien nationalen Entwicklung Deutschlands mit dem Gedanken der Freundschaft zu allen Völkern. Jede Nation müsse es als unangenehm empfinden, wenn eine andere Nation beschimpft und beleidigt wird ...
Wir Deutschen haben besonderen Grund, uns daran zu erinnern.“
Wie mir Katarzyna auf meine Frage hin anvertraute, hatte der polnische Wissenschaftler durch pedantische Genealogie nachweisen wollen, dass Herder ja eigentlich eher Pole als Deutscher sei. Bei dem anschließenden Essen für ein paar Ehrengäste stand Scholze auf und brachte einen Toast aus.
„Oh, er spricht ja polnisch“, bemerkte jemand bewundernd.
„Und was hat er gesagt?“, fragte ich Katarzyna.
„Dass sich der andere Teil der Delegation zurzeit in einer Chopin-Gedenkstätte aufhalte und dass Chopin ja eigentlich Deutscher sei."
Wir blickten uns an; lächeln konnten wir nicht. Auf der Rückfahrt streifte Katarzyna die Schuhe ab, zog ihre Beine neben mir auf das Polster und schlief.
Am Tag darauf war die Delegation, die unter der Leitung eines stellvertretenden DDR-Kulturministers stand, in Krakau vereint. Wir sahen am Abend zusammen mit Vertretern der BRD-Botschaft ein Einmann-Stück des Schauspielers Jersze Stuhr, der den oppositionellen Kräften zur Seite gestanden hatte, emigriert und wiedergekehrt war. Das Stück handelte von der bis zur Selbstbefriedigung getriebenen Einsamkeit eines Menschen.
Am nächsten Abend besuchten wir ein Ein-Frauen-Stück des Leipziger Kellertheaters. Die Schauspielerin Ellen Hellwig brachte die Chansons und Szenen von „Lola Blau“, der Geschichte von der verzweifelten Emigrantin, mit kühler und zugleich leidenschaftlicher Vehemenz auf die Bühne. Während der Darstellung trat Lola auf den Stellvertreter und mich zu, die wir in der ersten Reihe saßen, zeigte mit dem Finger auf uns und verdammte die herzlosen Bonzen und Bürokraten.
Mein Nachbar, mit seiner Glatze und seinen runden Brillengläsern schon rein äußerlich gut in die ihm zugewiesene Rolle passend, ärgerte sich maßlos. Als wir nach der Aufführung mit Frau Hellwig und einigen deutschen und polnischen Theaterleuten hinter der Bühne zusammensaßen, wurde Sliwowitz gereicht. Frau Hellwig lehnte ab. Er nötigte sie, und sie weigerte sich mit Hinweis auf ihre Gesundheit. Daraufhin zischte er: „Sie haben doch die Besoffene so gut gespielt, da müssten Sie doch auch trinken.“
Das ging mir zu weit, und ich unterstützte sie mit den Worten: „Lassen Sie sich zu nichts zwingen, Frau Hellwig.“
Ich erntete von der Obrigkeit einen Blick voll giftigem Hass. Fortan waren unsere Beziehungen gestört. Der Kultusminister schien nicht zu wissen, dass eine Schauspielerin nicht das sein oder tun muss, was sie auf der Bühne verkörpert. Bei jeder Gelegenheit setzte er die schauspielerische Leistung von Ellen Hellwig herab.
Der Mann war aus dem Außenministerium fortgelobt und in die Kultur versetzt worden. Er gab sich nicht nur weitere Blößen, sondern bot auch Anlass, über ein diplomatisches Ungeschick nachzudenken, das eigentlich menschliches Ungenügen war.
Am 23. Oktober 1986 fuhren wir nach Auschwitz. Wir standen vor der Todeswand im Hof von Block 11, wo unzählige Menschen erschossen worden waren, und legten einen Kranz nieder. Wir blickten in die Strafzellen, die so eng waren, dass man nur stehen konnte, und in die Wachstube mit den Holzstühlen, die die Hintern der Mörder blank gerieben hatten. Wir sahen hinter einer langen Glaswand gewaltige Mengen von inzwischen ergrautem Menschenhaar.
Unser Leiter trug etwas in das Gästebuch der Gedenkstätte ein und forderte uns auf, unsere Namen dazuzusetzen. Sein Satz war so dürftig und hohl, dass ich mich für ihn schämte.
Bei strömendem Regen fuhren wir mit unserer Begleiterin nach dem Nebenlager Birkenau, das etwa drei Kilometer vom Stammlager entfernt liegt. Wir gingen durch das Lagertor und über die Eisenbahnrampe, auf der die Selektionen stattgefunden hatten. Die Begleiterin, eine ältere, gut deutsch sprechende Polin, die ihre eigenen Lagererfahrungen nur andeutete und das Geschehene meist mit den Worten der SS kommentierte, forderte uns auf, die Ruinen des Krematoriums II zu betreten.
„Kommen Sie nur, setzen sie Ihren Fuß auf diese Trümmer.“
Die SS hatte die Todesfabriken mit Gaskammern und Verbrennungsöfen vor ihrem Abzug gesprengt. Wir stiegen auf die riesigen, schräg weggesackten Betonblöcke. Eine Katze flüchtete. Bis weit in die Ferne erstreckten sich die Reihen der morschen Holzbaracken.
Als wir wieder in unseren polnischen Autos saßen, um von Birkenau nach Krakau zurückzukehren, sah ich fassungslos, dass unser deutscher Chef die polnische Begleiterin im Regen hatte stehen lassen - kilometerweit von Dach und Behausung entfernt.
Das Schrecklichste von allem, was ich in Auschwitz und Birkenau empfand, war die graue Alltäglichkeit des Genozids. An Ort und Stelle entschloss ich mich, eine Erzählung über die hier umgebrachte Dichterin Gertrud Kolmar zu schreiben. Indirekt widmete ich die Erzählung auch den lebenden Frauen, denen ich in diesen Tagen begegnet bin. Das Buch erschien 1990 unter dem Titel „Flammen oder Das Wort der Frau“. Flammen verschlangen, was sterblich an ihr war. Gertrud Kolmars Wort aber lebt.
In Moskau erschien 1980 mit einem Vorwort von Lew Ginsburg eine Auswahl meiner Gedichte in Russisch. In Tallinn erschien 1988 mein Roman „Das Verhängnis oder Die Liebe des Paul Fleming“ in Estnisch. Es war mir klar, dass hinter der estnischen Übersetzung (Helgi Loik) und dem Druck Lennart Meri stand.
Sowohl Lennart Meri als auch Lew Ginsburg hatte ich bei Reisen nach Nordrussland und Kasachstan kennengelernt.
Aus Anlass eines Treffens von Schriftstellern aus allen Teilen der Sowjetunion und einigen europäischen Ländern stand ich mit Meri im Sommer 1974 hoch über Alma-Ata in den Vorbergen des Tienschan und diskutierte mit ihm über Sinn oder Unsinn moderner Wohnblocks im trockenen und heißen Kontinentalklima Mittelasiens. Meri sprach gut deutsch, die Sätze langsam und gedankenvoll fügend. Er war Schriftsteller. Ich las sein Buch „Vor den Toren des Nordlichts“, das geografische und ethnologische Erkenntnisse mit mystischem Sinn erfüllt. Er selbst nannte es in einem späteren Brief das Ergebnis einer einsamen „sentimentalen Reise" an die Behringstraße, auf der er nur von solchen historischen Vorbildern wie Middendorf, Wrangel und Toll begleitet worden sei.
Tatsächlich war Meri schon damals nicht nur „Schriftsteller“, sondern auch Gelehrter und Politiker. Er bekannte sich ausdrücklich zu seinem estnischen Nationalstolz und machte aus seiner Abneigung gegen die russisch-sowjetische Vorherrschaft keinen Hehl. Manchmal ergibt sich Wesentliches in einer banalen Situation. An der Tür eines Waschraums wollte ich Meri den Vortritt lassen. Aber er sagte: „Gehen Sie nur. Sie sind der Würdigere.“
„Das kann ich nicht finden“, antwortete ich, „wenn ich Ihr weißes Haar ansehe.“
„Das hab ich seit dem Lager, in das man mich steckte.“
„Sie waren in einem Lager?“
„Ja. Wohl vor allem weil wir Esten waren.“
Mehr nicht. Aber das kurze Gespräch unter vier Augen genügte, mich ins Bild zu setzen.
Als ich Lennart Meri und Lew Ginsburg von meiner Edition „Teutscher Poemata" des Paul Fleming und von meiner Absicht erzählte, einen Roman über Flemings Reise von Estland über Russland, Dagestan und Aserbaidschan nach Persien zu schreiben, waren beide begeistert. Ginsburg, der deutsche Barockdichtung übertragen hatte, schlug mir vor, mit ihm gemeinsam auf den Spuren Flemings die Wolga abwärts zu schiffen und daraus einen Film zu machen. Der Film könnte mit einem einleitenden Kanonenschuss den Dreißigjährigen Krieg in Deutschland symbolisieren. Meri aber sagte nur: “Es ist schön, dass Sie sich dem Norden und nicht dem Osten zuwenden wollen.“ Später erläuterte er mir, dass seines Wissens Fleming durch seine Kontakte mit estnischen Gelehrten in Reval den Beginn einer weltlichen estnischen Literatur mit eingeläutet habe. Meris damalige Frau war Ärztin. Meiner Frau, auch Ärztin, die an der Kasachstanreise teilnahm, begegnete er mit Aufmerksamkeit. Als unser Bus mitten in der unendlichen, menschenleeren Ischim-Steppe von einer verlorenen Wellblechbaracke aus weiterfahren wollte, fehlte Anne, und niemand hatte es bemerkt. Ich rief: „Stoi! Stopp!“ Die Vorstellung, sie hier zu vergessen, war albtraumhaft.
Als Anne dann zum Vorschein kam und einstieg, sagte Meri lächelnd zu ihr: „Als wir ohne Sie abfahren wollten, hab ich Uwe zum ersten Mal aufgeregt gesehen.“