Es gab keine Dachziegel, nur Lehm und Stein, mal zu Kuppel- mal zu Flachdächern geformt. Einige wenige waren mit Stroh oder trockenem Gras gedeckt, aber das waren Ausnahmen. Bei jedem Schritt betete Anna, dass der bröckelige Lehm sie auch trug und sie nicht einfach durchbrechen und unter einer nachgebenden Mauer begraben werden würden. Einmal sah Anna ein paar Vögel aus den Schatten aufflattern, ansonsten blieb es ruhig. Ihre Fantasie malte sich dennoch allerlei Schreckgestalten zu dem Heulen aus, das ihr desto unheimlicher in den Ohren klang, je länger es zurücklag.
»Du bist Deutsche, oder?«, fragte Nick sie unvermittelt, während er ihr auf einen Vorsprung half.
»Ja. Woher weißt du das?«
»Ein bisschen dein Akzent, aber ich liege fast immer richtig. Im Sommer kommen viele Deutsche zu uns in die Stadt.«
Einen Akzent hatte er selbst auch, für Annas Begriffe sogar einen deutlich ausgeprägteren, doch er gefiel ihr. Nick sprach melodisch und rollte das R, wenn auch nicht so hart wie ein Spanier.
»Wo kommst du denn her?«, fragte Anna. Englisch zu sprechen fiel ihr nicht schwer, sie hatte es schon seit der Grundschule.
»Aus Thessaloniki.«
»Griechenland?«, fragte Anna. Es war mehr geraten, aber er nickte nur beiläufig, als wäre das selbstverständlich.
»Es sieht hier ein bisschen nach Vergina aus.« Mit einem Sprung setzte Nick auf das nächste Dach hinüber. »Vielleicht sind wir dort in der Nähe.«
Anna verharrte wie angewurzelt.
»Ich dachte, du wüsstest nicht, wo wir sind?«, fragte sie verwirrt.
»Ist auch bloß eine Vermutung«, zuckte er mit den Schultern.
Anna sprang hinterher und erreichte das nächste Dach gerade so. Steinchen lösten sich unter ihrem Schuh und rieselten herab und Nick streckte schnell die Hand aus. Sie ergriff sie und zog sich zu ihm hinüber, ehe sie das Gleichgewicht verlieren konnte. Schnell hasteten sie weiter, bevor dort unten noch etwas auf sie aufmerksam wurde.
»Wo sollte das denn sein, dieses Vergina?«, fragte sie und hatte Mühe, es so auszusprechen wie er.
»Na, hier irgendwo, in der Nähe von Thessaloniki.«
»Du glaubst, wir sind in Griechenland?« Anna hatte keine Vorstellung, wie es dort aussah. Angesichts der Landschaft hatte sie zuerst an Syrien gedacht, aber Griechenland lag immerhin in derselben Richtung. Der Gedanke, sie könnte binnen eines Wimpernschlags so eine Distanz überwunden haben, war zwar verrückt, aber doch weit weniger erschreckend als die Ungewissheit.
»Wo denn sonst? Ich glaube nicht, dass wir weit weg von Thessaloniki sein können. Ich bin ziemlich sicher, dass ich nur kurz ohnmächtig war.«
Anna blieb erneut stehen.
»Ich komme aus Deutschland, das hast du doch selbst erraten«, sagte sie entgeistert. »Wie soll mich denn dann irgendwer so schnell nach Griechenland gebracht haben, wenn es darum geht?«
»Du bist aus Deutschland hier aufgetaucht?« Nick starrte sie betroffen an. »Ich dachte, du wärst eine Touristin …«
Plötzlich hörte Anna ein lautes Poltern und Krachen und fuhr zusammen. Die Steine unter ihren Füßen bebten und sie dachte schon, das Haus stürze unter ihnen ein. Erschrocken streckten Nick und sie die Hände aus und klammerten sich aneinander fest. Doch statt abzurutschen, offenbarte sich ihnen die Ursache des Bebens: Mit einem lauten Quieken brach ein Tier aus dem Gemäuer unter ihnen und rannte mit Hufgetrappel die Gasse entlang. Es war ein braun geflecktes, stattliches Schwein, das dort um die Ecke jagte, und ehe sich Anna und Nick wieder sammeln konnten, stolperte eine Gestalt auf die Gasse. Es schien sich zwar um einen Menschen zu handeln, aber es hätte nicht viel gefehlt, und Anna hätte ihn für ein weiteres Schwein gehalten.
Der Mann war klein und dicklich. Er trug einen blauen Strickpulli und braune Hosen und hatte eine Daunenjacke um die Hüfte gebunden. Sein lichtes Haar war über den kugelrunden Kopf gekämmt, und als er sich umsah, entdeckte Anna ein rundes Brillengestell auf seiner Nase. Er stieß ein paar harte Silben hervor und beugte sich laut schnaufend vornüber.
Anna hatte sich wieder von Nick gelöst. »Ähm … Hallo?«, rief sie von oben auf dem Dach, und der Mann stieß einen überraschten Laut aus.
»Hast du mich erschreckt«, murmelte er in gebrochenem Englisch. »Wer seid ihr?«
»Ich bin Anna«, stellte sie sich vor. Sie hatte nicht das Gefühl, als müssten sie vor diesem erfolglosen Schweinefänger Angst haben.
»Und ich Nick«, schloss Nick sich an.
»Ich heiße Lev«, antwortete der Mann schnaufend. »Was macht ihr da oben?« Alles, was er hervorbrachte, klang rau und sperrig. Anna war sich ziemlich sicher, dass er Russe war.
»Lev!«, ertönte eine Frauenstimme. »Le-ev!«
»Jelena!«, antwortete Lev. »Schau, ich habe was gefunden!«
Die Frau, die nun um die Ecke kam, trug ebenfalls eine Brille, auch wenn ihre rechteckig und deutlich moderner war als die von Lev. Ihre dunkelblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Während Anna und Nick sich an den Abstieg machten, musterte sie die beiden.
»Ihr seid auch nicht von hier, oder?« Ihr Englisch klang deutlich besser als das des Russen.
»Nein«, antwortete Anna, »wir wissen nicht, was passiert ist oder wie wir hergekommen sind. Nick und ich waren gerade auf dem Weg zu der Kirche.«
»Uns geht es wie euch«, sagte Jelena stirnrunzelnd. »Wir wollten auch zur Kirche, bevor Lev diesem Schwein nachgejagt ist.« Die Frau verdrehte hinter ihrer modischen Brille die Augen und Nick und Anna tauschten einen belustigten Blick. Lev wurde noch röter im Gesicht, als er es durch die Anstrengung ohnehin schon war.
»Vielleicht hätte ich es erwischt, ohne die Kinder.«
Anna verkniff sich einen Kommentar, obwohl ihr schon auf der Zunge lag, dass höchstens die Kinder ihn erwischt hätten, so kopflos, wie er durch die Gassen gerannt war. Sie musste an den Jungen denken, der sie von hinten angegriffen hatte, und wollte die beiden schon nach ihm fragen.
»Und was hättest du mit dem Schwein gemacht?«, kam Jelena ihr zuvor.
»Ich habe eben Hunger«, maulte Lev schulterzuckend.
Auch Anna bemerkte jetzt ihr Loch im Bauch, aber noch schlimmer war der Durst. Ihr plötzliches Erwachen hier lag nun schon eine Weile zurück und keiner, auch nicht Lev und Jelena, schien etwas zu trinken bei sich zu haben. Die Stadt war staubtrocken, es gab kaum grün und sah auch sonst nicht danach aus, als ob es hier oft regnete …
»Bevor wir anfangen, Schweine zu jagen«, fuhr Jelena fort, »sollten wir vielleicht nach jemandem suchen, der uns sagen kann, wo wir sind. Dann ist dieser Albtraum hoffentlich bald wieder vorbei. Gehen wir zusammen?«
Es war verlockend, Jelena als Erwachsener zu vertrauen und zu glauben, es gäbe eine logische Erklärung und vielleicht sogar eine einfache Lösung für alles. Doch etwas in Anna wehrte sich dagegen und das mulmige Gefühl blieb, während sie gemeinsam das letzte Stück Weg zur Kirche zurücklegten. Hier war gar nichts in Ordnung. Hier war alles falsch, der Himmel, die Erde und was immer sich außer ihnen in diesem Labyrinth herumtrieb.
Es gab keinen Vorplatz oder Kirchenhof. Sie kletterten aus einer engen Gasse, deren Eingang teilweise verschüttet war, und standen auf einmal vor dem großen Bauwerk. Das gelbe Licht des Himmels hatte sich etwas verdüstert, aber es reichte, um das Gebäude eingehend betrachten zu können. Der Turm zu ihrer Linken wirkte aus der Nähe noch baufälliger. An einigen Stellen war der Stein einfach herausgebröckelt und es klafften Löcher in den Mauern. In ungefähr fünfzehn Metern Höhe schillerten dunkle Glassteine in der Fassade.
Sie bildeten das Kreuz, das Anna schon aus der Ferne gesehen hatte, und daneben einen Halbmond und einen Davidstern: Christentum, Islam und Judentum … drei Religionen in einem Haus? Doch rings um die Glassteine waren noch eine Menge anderer Symbole in roter, weißer und schwarzer Farbe auf den Turm aufgemalt: ein Rad mit vielen Speichen, dieses indische Zeichen, das wie eine verschnörkelte Drei aussah, die unterschiedlichsten Kreuze, ein Yin-Yang und noch alles Mögliche. Was war das für ein Gebäude? Wer hatte es erbaut?
Die lange Seite des Kirchenschiffs vor ihnen war ebenfalls bemalt, allerdings nicht mit Symbolen, sondern einer Vielfalt von Schriftzeichen aller erdenklichen Sprachen. Anna hätte nie gedacht, dass es so viele verschiedene Möglichkeiten gab, Worte niederzuschreiben. Ganz oben, unter dem Kuppeldach, war eine Botschaft in den Schriften der drei großen Religionen in den Stein gehauen und mit Glassteinen gefüllt. Ganz links in arabischen Schnörkeln, in der Mitte auf Hebräisch und rechts in Buchstaben, die auch Anna lesen konnte:
Du sollst nicht töten.
Auch wenn es als mahnendes Gebot und Bibelzitat dort stand, Annas Augen hingen nur an dem Wort töten fest.
»Das soll uns Hoffnung machen?«, murmelte Lev. Er blickte auf etwas an der Mauer, das wohl kyrillische Zeichen des russischen Alphabets darstellte, und war ganz bleich geworden. Auch Jelena hatte sichtlich Mühe, sich von dem Anblick loszureißen, trotzdem war sie die Erste, die sich wieder bewegte.
»Na los, suchen wir den Eingang«, sagte sie und machte ein paar zaghafte Schritte.
Annas Blick glitt über die vielen Schriftzeichen, von denen sie die meisten in ihrem Leben noch nie gesehen hatte, und blieb an etwas hängen. Sie war auf einmal wie elektrisiert: In dem Wust von hastigen Strichen und Punkten und sorgfältig gezogenen feinen Linien war sie über drei kleine Buchstaben gestolpert. »Bem« stand dort in unruhiger Schrift und das »e« war spiegelverkehrt. »Bem«, so wie sie ihren Bruder immer genannt hatte.
Sofort sah Anna den Film ihrer Mutter vor sich, den ihre Eltern ihr so oft gezeigt hatten, wenn sie nach dem Verschwinden ihres Bruders nach ihm gefragt hatte. Sie sah sich selbst mit knapp zwei Jahren, wie sie ihrem Bruder hinterherstolperte. »Bem, Bem!«, hatte sie gerufen, und ihre Mutter hatte beim Filmen gelacht, wie Anna sie in den ganzen letzten zehn Jahren nicht mehr hatte lachen hören.
»Anna?« Die anderen waren schon weiter, nur Nick sah sie fragend an. Sie stand noch immer wie in Trance. Mühsam wandte sie sich von den krakeligen Buchstaben ab und schloss sich Nick an, der sie stirnrunzelnd ansah, während Jelena schon um die Ecke bog.
»Was hast du?«, fragte Nick.
»Ich … weiß nicht«, antwortete Anna wahrheitsgemäß, denn tatsächlich wusste sie nicht, ob die Buchstaben überhaupt etwas zu bedeuten hatten. Die Kirche war übersät mit Zeichen und Symbolen. Es war doch kein Wunder, dass ihr nun diese drei ins Auge stachen, da die Trauerfeier für ihren Bruder erst einen halben Tag her war …
Als sie durch das Eingangstor auf der Stirnseite die Kirche betraten, hörten sie sofort ein leises, jammerndes Gemurmel, das im Hall des Raumes verschwamm. Anna überkam eine Gänsehaut. Die Abenddämmerung war hereingebrochen und das Innere des Kirchenschiffs offenbarte sich ihnen nur allmählich. Es gab keine Fenster, nur schmale Scharten in den Mauern. Die Fugen des Deckengewölbes waren löchrig und ungenau, sodass einzelne Lichtstrahlen einfallen konnten. Einige Bänke standen in zwei Reihen links und rechts auf dem Lehmboden. Das Jammern kam von einer Gestalt weit vorne, die ihnen den Rücken zuwandte. Zwei weitere, eine davon klein wie ein Kind, saßen auf einer Bank näher am Eingangstor.
»H-hallo?«, fragte Jelena zögerlich, und es hallte im Kirchenschiff nach, als hätte sie laut gerufen. Das Jammern setzte sich fort, doch die beiden am Eingangstor drehten sich abrupt zu ihnen um und schälten sich aus der Bank. Die größere Gestalt entpuppte sich als ein Mädchen, wohl etwas älter als Anna. Unter der knappen Häkelmütze auf ihrem Kopf lugten ein paar blonde Strähnen hervor. Die kleinere war ein schwarzes Kind, das die Neuankömmlinge aus großen, ängstlichen Augen ansah.
»Hallo, wisst ihr, wo wir sind?«, flüsterte das Mädchen. Dem Akzent nach war sie Französin. Der schwarze Junge hielt ihre Hand umklammert, er konnte nicht älter als vier sein. »Ich habe die Frau gefragt, aber sie versteht nicht.« Sie nickte zu der jammernden Gestalt in ihrer Bank hinüber.
Jelena schüttelte den Kopf. »Nein, wir hatten gehofft, hier Antworten zu finden. Ist außer euch niemand hier?«
»Nur sie, aber wie ich schon sagte, sie versteht mich nicht.«
Wieder eine Hoffnung, die enttäuscht wurde. Wie sollte sie je wieder nach Hause kommen, wenn sie in dieser Wüstenstadt niemanden fanden außer immer mehr ratlosen Gestrandeten? In dem nachhallenden Jammern erkannte Anna kein Wort und schon gar keine Sprache. Für sie machte es diesen beängstigenden Ort mit seiner mahnenden Botschaft an der Fassade nur noch schlimmer, doch Nick horchte auf einmal auf.
»Das … das ist Griechisch«, sagte er erstaunt. Im nächsten Moment lief er schon auf die Gestalt zu und tatsächlich schien sie den Kopf zu heben, als er sie ansprach. Die ganze Gruppe folgte Nick zögerlich. Die Alte trug eine Bauernschürze und ein hinter dem Kopf zusammengeknotetes Tuch. Ihr weinender Tonfall änderte sich kaum, als sie Nick etwas entgegnete.
»Ich bin Chloé, das ist Arthur, wir sind beide Franzosen«, erklärte das Mädchen mit der Häkelmütze währenddessen. Es klang wie Arthür, wie sie es sagte, und der Junge versteckte sich beim Klang seines Namens wieder hinter dem Mädchen.
Sie alle stellten sich noch einmal vor und so erfuhr Anna, dass Jelena aus Polen kam. Nick redete noch immer auf die Alte ein, doch er schien damit nichts zu bewirken, denn als er sich wieder den anderen zuwandte, setzte sich ihr Klagen fort.
»Sie ist Griechin, aber sie kommt vom Land und spricht kein Englisch«, berichtete Nick.
Er hatte wohl die leise Hoffnung gehegt, dass er mit seiner ersten Vermutung, in Griechenland zu sein, doch recht behalten hatte. Doch angesichts seiner niedergeschlagenen Miene brauchte Anna nicht nachzufragen. Die Alte war auch nicht von hier und wusste nichts darüber, wo hier war.
»Sie glaubt fest, dass sie gestorben ist«, erklärte Nick. »Ich kann ihr sagen, was ich will.«
»Vielleicht stimmt es ja«, brummte Lev und sah sich mit kritischem Blick um. »Aber der Himmel ist das nicht …«
Jelena stieß ihn mit dem Ellenbogen an.
»Natürlich sind wir nicht gestorben.« Nachdem auch dieser Weg eine Sackgasse zu sein schien, hatte sie sichtlich Mühe, die Fassung zu bewahren. »Wir müssen uns eben organisieren. Wie es aussieht, sind wir nicht die Einzigen, die es hierher verschlagen hat. Wenn wir uns sammeln und alle Informationen zusammenbringen, dann werden wir schon herausfinden, was passiert ist.«
Anna war sich da nicht mehr so sicher. Bis auf den Aberglauben der Alten hatten sie in der Kirche nichts Neues erfahren.
»Wir brauchen auch was zu trinken«, meldete sich Lev zu Wort, »und zu essen.«
Er dachte wohl an das Schwein, das er zu fangen versucht hatte, doch Anna hätte ein Schluck Wasser vollauf genügt. Ihr ganzer Mund war trocken, und wenn sie ihre Zunge bewegte, klebte sie am Gaumen und am Zahnfleisch fest. Wenn diese Stadt einmal bewohnt gewesen war, musste es doch irgendwo Wasser geben.
Sie wollte ihren Gedanken schon mit den anderen teilen, da drang plötzlich ein Heulen von draußen durch die Mauern, ähnlich dem ersten, das Anna und Nick gehört hatten. Anna gefror das Blut in den Adern, und die klagende Frau verstummte ebenfalls augenblicklich. Auch diesmal brach es irgendwann ab, doch ein weiteres antwortete, dann noch eins. Anna dachte an den Satz draußen an den Wänden: Du sollst nicht töten. Wer – oder was – waren diese Heuler, die sich dort draußen in den Schatten herumtrieben? Nichts konnte so schlimm sein wie die Schrecken ihrer Vorstellung.
Nach ein paar Sekunden kehrte wieder Ruhe ein, bis auf das leise Brummen draußen aus der Wüste, das den Boden vibrieren ließ und das Anna schon fast ausgeblendet hatte.
»Habt ihr das gehört?«, hörte Anna sich zaghaft fragen. »Wisst ihr, was …?«
Jelena schüttelte nur leicht den Kopf. Auf einmal schienen Hunger und Durst nicht mehr so wichtig.
Die alte Frau stimmte erneut ihre Gebete an, als wollte sie höchstpersönlich den Teufel von diesem Ort vertreiben.
»Sie soll aufhören!«, beklagte sich Lev bei Nick. »Mach, dass sie aufhört, sie macht mich wahnsinnig!«
Nick versuchte es, und zumindest wurde sie etwas leiser, als er erneut auf sie einredete.
»Es ist schon fast dunkel«, stellte Jelena mit besorgter Miene fest. »Ich schlage vor, wir versperren den Eingang und ruhen uns ein paar Stunden aus. Morgen können wir sicher mehr in Erfahrung bringen.«
Sie wechselten kein weiteres Wort über die Heuler, aber das mussten sie auch nicht. Niemand sprach sich dafür aus, den Schutz der Mauern im Dunkeln noch einmal zu verlassen. Den Eingang zu versperren war allerdings leichter gesagt als getan. Sie stellten schnell fest, dass die Bänke allesamt aus gemauertem Stein bestanden, es gab nicht ein Holzbrett im gesamten Kirchenschiff. Der Altar war ebenfalls aus Steinen gebaut und sie fanden drei Schnitzarbeiten darauf: ein Kreuz, den jüdischen, siebenarmigen Kerzenleuchter und ein verschnörkeltes Schriftzeichen, das arabisch wirkte … wieder die drei Weltreligionen. Als Lev ein Feuerzeug zückte, um die Kerzen des Leuchters anzuzünden, zeigte sich, dass diese ebenfalls geschnitzt und nicht aus Wachs waren. Es war bleiches Material, zu hell für Holz, eher Elfenbein oder Knochen.
Ansonsten fanden sie ein paar große, unbeholfen getöpferte Tongefäße und einige Scherben, nichts zum Verbarrikadieren einer Toröffnung. Jelena teilte stattdessen Wachen ein.
»Ich übernehme die erste«, bestimmte sie, »dann Lev und dann …« Ihr suchender Blick in die Runde verriet, dass sie wohl erst jetzt bemerkte, dass sie die einzigen Erwachsenen waren.
»Anna, Nick, wollt ihr zusammen Wache halten?«
Die beiden nickten. Anna war dankbar, dass Jelena sie nicht allein einteilte. Sie hätte wahrscheinlich nicht widersprochen, aber die Vorstellung, alleine am Eingang Wache zu halten, während alle schliefen und sich die Heuler draußen herumtrieben, verschaffte ihr erneut eine Gänsehaut.
»Ich kümmere mich um Arthur«, sagte Chloé, offensichtlich, um nicht ebenfalls eingeteilt zu werden. Der kleine Junge war während der ganzen Erkundung der Kirche an ihrer Hand geblieben.
»Ihr weckt mich dann einfach wieder«, wandte sich Jelena an Anna. »Irgendwie werden wir die Nacht schon überstehen …«
Sie zogen sich zurück in eine Ecke hinter dem Altar, während Jelena sich am Eingang niederließ. Chloé und Arthur kuschelten sich im Liegen aneinander, und obwohl es nicht kalt war, beneidete Anna die beiden.
Sie konnte noch immer nichts von dem begreifen, was an diesem Tag geschehen war. Gefühlt war sie gerade erst aufgestanden und hatte sich mit ihrer Mutter gestritten, weil sie Jeans für die Trauerfeier angezogen hatte. Mit den Fingern tastete sie ihre spröden und rissigen Lippen ab und hätte viel gegeben für einen Schluck kühles Wasser.
»Was sagt sie?«, fragte Lev Nick. Anna konnte die Konturen des Russen in der Dunkelheit erkennen. Er lehnte im Sitzen an der Wand und meinte mit seiner Frage wohl das Gejammer der alten Frau. In der Kirche verschwamm es zu einer Geräuschwolke, die auch von einer ganzen Gemeinde hätte stammen können.
»Sie betet um ihre Seele«, murmelte Nick. Anna hörte ihm seine Beklommenheit an. »Sie glaubt, wir würden bald gerichtet, und bittet um Vergebung.«
»Vergebung wofür?«, schnaubte Lev.
»Für ihre Sünden. Für all unsere Sünden.«
Darauf schnaubte Lev, erwiderte aber nichts mehr. Anna hätte die Worte der Alten gern als bloßen Aberglauben abgetan, aber das Heulen klang ihr noch in den Ohren. Nach einiger Zeit fiel Levs Kopf auf seine Brust und man hörte ihn schwerer atmen. Auch Chloé und Arthur schienen zu schlafen. Nur Nick bewegte sich immer wieder unruhig in eine andere Position.
»Bist du noch wach?«, flüsterte Anna irgendwann, als sie das Schlafen längst aufgegeben hatte. Das Gedankenkarussell in ihrem Kopf ließ sie nicht los. Die Stadt, das unheimliche Heulen, die unheilvollen Worte an der Kirche und das unbeholfen an die Wand gemalte Bem, das sie verfolgte, seitdem sie es entdeckt hatte.
»Ja«, flüsterte Nick und wandte sich ihr dankbar zu.
Sie lenkten sich gegenseitig ab, indem sie sich von zu Hause erzählten. Nick war fasziniert davon, dass sie allein mit ihren Eltern lebte (Anna behielt ihren Bruder für sich), denn Nick selbst hatte fünf Geschwister und meinte, es hätte wahrscheinlich noch nicht einmal jemand gemerkt, dass er weg war.
»Mein Vater geht früh schlafen. Er muss schon um drei Uhr in die Backstube und meine Mutter verkauft ab sechs den ganzen Tag.«
»Ihr habt eine Bäckerei?«
»Ja, griechische Bäckereien sind die besten. Sie haben alle mindestens zwanzig Sorten Kekse und Papa backt die leckersten. Aber es ist Fluch und Segen, meine Familie wiegt zusammen ungefähr eine Tonne. Ich bin der einzig normale.«
Er sagte es, ohne eine Miene zu verziehen, und Anna stellte sich Nick zwischen zwei kugelrunden Eltern (der Vater mit Bäckerschürze) und fünf speckigen Geschwistern vor, alle mit Nicks Locken. Sie konnte nicht anders, als leise zu lachen, und dachte schon, er würde es ihr übel nehmen, doch er sah sie mit seinem klaren Blick an und lächelte stattdessen. Das alberne Gespräch zerstreute ihre Ängste für eine Weile, bis die Dunkelheit sie irgendwann zurück in ihr Bewusstsein brachte.
»Ich höre immer dieses Geräusch«, flüsterte Anna bedrückt. »Ich krieg es nicht aus dem Kopf.«
»Das Heulen?«, fragte Nick zögerlich, als wollte er am liebsten gar nicht daran denken.
»Genau … Was machen wir, wenn sie kommen?«
Am Morgen tat Anna alles weh und der Durst war unerträglich geworden. Sie wartete noch eine ganze Weile, bevor sie die Augen öffnete. So konnte sie die Hoffnung aufrechterhalten, sie würde zu Hause in ihrem Zimmer aufwachen, und der harte Boden wäre nur das Parkett vor ihrem Bett. Doch sie wurde enttäuscht: Mit dem Himmel hellte sich auch das Kirchenschiff langsam auf und hatte nichts von seiner Realität eingebüßt. Lev hatte sie und Nick in der Nacht geweckt, und ihre Wache war ereignislos verstrichen. Sie hatten sich die ganze Zeit über unterhalten und Anna war erneut dankbar gewesen, dass sie nicht allein in der Dunkelheit ausharren musste. Nach ihrer Ablösung durch Jelena hatte sie endlich ein wenig Schlaf gefunden.
Nick erhob sich neben ihr und dabei wurde ihm augenscheinlich schwindlig, denn er wankte für einen Moment und stöhnte auf.
»Wir brauchen was zu trinken«, sagte er.
Annas trockene Kehle gab ihm recht. Sie fuhr sich durch die Haarsträhnen und wünschte sich eine Bürste. Zwischen den Fingern spürte sie bereits die ersten Knötchen. Anna stocherte suchend in ihrer Hosentasche herum und hatte Glück. Sie zog einen Haargummi heraus und band sich einen Pferdeschwanz. Als sie ebenfalls aufstand, tönte auf einmal Levs aufgeregte Stimme vom Eingang.
»Feuer!«, rief er. »Da ist Rauch, Feuer!«
Mit pochenden Kopfschmerzen lief Anna gemeinsam mit Nick zum Eingang hinüber, während sich auch Chloé und Arthur aufrappelten. Jelena spähte bereits mit Lev zum Himmel hinaus. Wegen der nahen Häuserfassaden war es schwierig, die Herkunft des Rauchs zu bestimmen, aber es hingen eindeutig schwarze Schwaden in der Luft.
»Vielleicht ist es ein Signal«, sprach Jelena auch Annas Hoffnung aus. »Los, wir brechen auf, bevor es wieder ausgeht.«
Nick lief sofort zu der alten Frau, die sich als Einzige noch nicht gerührt hatte, während Chloé und Arthur durch das Kirchenschiff zu ihnen kamen. Anna fielen die dunklen Augenringe der Französin auf. Sie kamen von ihrer Schminke, die sie wohl wegzuwischen versucht hatte, doch ohne Wasser war das ein aussichtsloser Kampf.
Nick sprach die Alte an, die zur Seite gesunken auf ihrer Bank lag. Anna konnte aus der Entfernung keine Regung an ihr erkennen, auch nicht, als er sie an der Schulter berührte. Schlagartig machte sich ein beklommenes Gefühl in ihr breit.
»Sie … sie reagiert nicht!« Nick war ganz blass geworden und sah sich Hilfe suchend nach ihnen um. Während sie kamen, versuchte er weiter vergeblich, die Frau wach zu rütteln. Ihr Gesicht war eine wächserne Maske. Ihre Augen waren geschlossen und die Haut aschfahl.
»Dehydriert«, murmelte Jelena, nachdem sie sich über sie gebeugt hatte, »aber sie lebt.«
Anna war sich für einen schrecklichen Moment sicher gewesen, dass die Frau mitten unter ihnen gestorben war. In der Nacht waren sie wohl alle erleichtert gewesen, als die Klagen irgendwann endlich verstummt waren, und niemand hatte nachgesehen, wie es der Alten ging. Sie hätten besser aufeinander achtgeben müssen.
»Ich hoffe, wir bekommen sie auf die Beine«, runzelte Jelena die Stirn, »und zwar, bevor das Feuer ausgeht.«
»Dehydriert?«, wiederholte Lev bemüht das sperrige Fremdwort. »Bist du Krankenschwester?«
»Ärztin«, entgegnete Jelena trocken.
»Eine Ärztin«, freute sich Lev ungeachtet der ohnmächtigen Frau auf der Bank. »Das erste Mal, dass wir Glück haben!«
Jelena achtete nicht auf Lev. Mit den Fingerknöcheln der rechten Hand rieb sie der zusammengesunkenen Frau unter dem Halsansatz heftig über das Brustbein. »Tut mir leid, aber wir haben keine Zeit«, murmelte sie dabei.
Die Alte krampfte sich zusammen und stöhnte. Anna und Nick halfen sofort und griffen ihr unter die Schultern.
»Ich weiß, das tut weh«, murmelte Jelena noch mal entschuldigend. »Los jetzt!«
Lev und Jelena übernahmen das Gewicht der Frau und stützten sie auf dem Weg nach draußen. Kraftlos jammerte sie dabei fortwährend, schien sich aber auch nicht dagegen wehren zu können. Am Himmel hingen noch immer schwarze Rauchschwaden. Zumindest eine grobe Richtung, aus der sie kamen, ließ sich erkennen und die schlugen sie ein. Schon nach einem kurzen Stück sank der Kopf der Frau wieder auf die Brust.
»Ich bekomme sie nicht wach, solang wir kein Wasser haben«, stellte die erschöpfte Ärztin fest. »Wir müssen sie abwechselnd tragen.«
Nick löste Jelena ab und nach einer Weile sah er Anna fragend an. Lev schien trotz seiner unsportlichen Statur genug Kraft zum Weitermachen zu haben und Nick hätte sich wohl auch nur mit Jelena abgewechselt. Aber das wollte Anna nicht: Sie waren alle gleichermaßen geschwächt und sie würde ihren Teil beitragen.
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