Als Ravensburger E-Book erschienen 2013
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
© 2012 Ravensburger Verlag GmbH
Coverillustration: Franziska Harvey
Redaktion: Beate Spindler
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH
ISBN 978-3-473-47448-6
www.ravensburger.de
So, da bin ich wieder! Ich hoffe, ihr habt mich nicht zu sehr vermisst. Ich euch schon. Wem soll ich denn sonst all meine verrückten Abenteuer in der Feenwelt erzählen? Emma vielleicht?
Ja, das würde ich gerne. Aber meine beste Menschenfreundin wohnt immer noch in Neuseeland. Damit fing ja alles an. Ich war noch acht und teilte mir mit Emma ein Doppelzimmer im Internat. Dann zog sie weg. Wir können zwar telefonieren, doch das kostet ein Vermögen. Außerdem ist dort Nacht, wenn bei uns Tag ist. Ziemlich schwierig, Emma überhaupt zu sprechen. Oder mit ihr zu chatten.
Na ja, und als sie weg war, habe ich nicht nur wegen der Trennung geheult. Ich bekam nämlich eine neue Zimmernachbarin: Jill. Die ist genauso doof, wie sich ihr Name anhört. Der quietscht in den Ohren, egal wie liebevoll man ihn ausspricht.
Jills Vater ist unfassbar reich, weil er Gemüse erfunden hat, das nach Gummibärchen, Kaugummi, Wackelpudding oder Cola schmeckt.
Doch mit meinem neunten Geburtstag hat sich etwas geändert. Nelly hat mir ein Amulett geschenkt, den Schlüssel fürs Feenreich. Nelly ist zwar nur eine halbe Fee, aber eine ganze beste Freundin. Weil ihr Vater ein Elf war, hat sie spitze Ohren. Dafür schämt sie sich, aber ich finde es sehr, sehr hübsch.
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja! Nur alle hundertvierundvierzig Jahre wird ein Mensch dort aufgenommen. Das ist eine große Ehre, noch mehr, als Bundeskanzlerin zu werden. Und was glaubt ihr, wen sie ausgewählt haben? Richtig: mich, Amanda Birnbaum! Seitdem bin ich unter der Woche bei meinen Feenfreundinnen und am Wochenende wieder zu Hause in der Menschenwelt. Meine Eltern würden mich sonst vermissen. Die wissen ja von nichts.
Mein Vater ist ein erfolgloser, aber glücklicher Erfinder. Er erfindet lauter Sachen, die niemand braucht. Zum Beispiel ein Klavier, in dem man baden kann.
Meine Mutter ist Jorinde Birnbaum, die berühmte Fotografin. Sie knipst Models und Sonnenuntergänge und alte Tempel für Poster. Dafür fliegt sie durch die ganze Welt. Da liegt auch der Hund begraben. Ein chaotischer Erfinder und eine gestresste Fotografin – das passt nicht zusammen. Deswegen wohnen Mama und Papa getrennt. Papa ist in dem Haus geblieben, in dem ich geboren wurde. Mama ist irgendwann entnervt ausgezogen. Sie wohnt genau auf der anderen Seite des Sees. Die beiden lieben sich immer noch heiß und innig, aber nur, weil sie sich nicht mehr gegenseitig auf den Wecker gehen können.
So, das war’s zur Vergangenheit. Jetzt kommt endlich die neue Geschichte. Und die ist wieder völlig verdreht. Spannend und komisch zugleich. Heiliger Spekulatius, das kann ich euch flüstern!
Es war die Nacht von Donnerstag auf Freitag, als alles losging. Ich freute mich diesmal wie eine Schneekönigin auf das Wochenende. Meine Mutter war gefühlte dreißig Jahre im Ausland gewesen. Ich vermisste sie schrecklich, wie ihr euch vorstellen könnt.
Eigentlich hatte Mama ein wichtiges Shooting in New York – so heißt das, wenn man mit Models Fotos macht. Aber ich hatte am Telefon so fest mit den Füßen aufgestampft, dass die Freiheitsstatue beinahe von ihrem Sockel gekippt sein musste.
Mama lenkte ein: „Okay, okay, ich hole dich am Freitag ab.“ Dann küsste sie mich durch den Hörer hindurch quer über den Ozean. Sie ist eben nicht nur eine tolle Fotografin, sondern auch eine supertolle Mutter.
Am Donnerstag konnte ich deshalb kaum einschlafen. Auch aus einem anderen Grund: Tausend Rezepte und Formeln schwirrten mir durch den Schädel. Unsere Lehrerin für Zaubertränke, Rosamunde Silberträne, hatte sie uns diktiert. Ich kann mir die komplizierten Zutaten ganz gut merken, aber Nelly nicht.
Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und murmelte im Schlaf: „Zwei Prisen Nieswurz, ein Gramm Petersilienstängel, zwölf Samen der Färberdistel …“
Das Rezept, um Körpergerüche loszuwerden. Braucht man, wenn man sich im Wald anschleichen muss.
Nelly murmelte ununterbrochen vor sich hin, bis auch ich endlich einschlief.
Am nächsten Morgen sprang ich gut gelaunt auf. Noch ein Vormittag Unterricht, dann würde ich Mama wiedersehen!
„Nelly?“
Ich war verwundert. Nelly lag nicht in ihrem Bett. Dabei ist sie doch die Schlafmütze. Nie, nie, niemals steht sie vor mir auf. Also wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte.
Ich kniete mich auf mein Bett und klopfte an die Wand. Ein paarmal kurz, ein paarmal lang – morsen nennt man das. Hab ich meinen Feenfreundinnen beigebracht. So kann man nur mit Geräuschen Botschaften übermitteln.
Meine Nachricht war kurz: Kommt rüber. Sofort!
Null Komma zwei Minuten später standen Kimi und Mia vor mir. Wir durchkämmten Waschraum und Flur und fragten in den anderen Zimmern nach. Von Nelly fehlte jede Spur!
„Hmm“, sagte Kimi nachdenklich. „Ist sie etwa auch eine Schlafwandlerin?“
Ratlos hockten wir uns auf Nellys Bett. Da begann Mia plötzlich zu kichern, so richtig albern. Ich wurde sauer, schließlich war Nelly weg! Aber Mia hörte nicht auf. Als Erklärung zeigte sie auf ihre Füße.
Mich traf fast der Schlag. Auf dem Boden kauerte ein ultrasüßes Kaninchen und knabberte an Mias Zehen. Da musste ich auch kichern, obwohl mich nichts kitzelte.
„Wie kommt das denn hier rein?“, wunderte ich mich.
Kimi zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber eins ist sicher: Es muss wieder in den Wald. Außer den Menschen hält kein Wesen Tiere im Haus gefangen.“
Ich wollte das Kaninchen gerade auf den Arm nehmen, um es nach draußen zu tragen, da fiel mir etwas auf: die spitzen Ohren!
Das war gar kein echtes Kaninchen, das war Nelly! Mit einem Mal dämmerte es mir: Sie musste im Schlaf den Spruch gemurmelt haben, mit dem man sich verwandelt. Das Blöde bei dem Spruch ist, dass man sich nicht selbst zurückverwandeln kann. Kaninchen können ja bekanntlich nicht sprechen.
Vor lauter Aufregung fiel mir der Rückzauber nicht ein. Zum Glück war ja Mia bei uns. Mia ist nicht nur so hübsch wie eine Seerose beim Sonnenuntergang. Sie ist auch so klug, dass die Lehrer vor Staunen mit den Ohren schlackern. Natürlich wusste sie die richtigen Worte und schwups! hockte da wieder Nelly zu unseren Füßen.
Nelly lächelte, stand auf und klopfte sich verschämt den Staub aus dem Nachthemd.
„Danke!“, flüsterte sie kaum hörbar. „Jetzt können wir endlich frühstücken gehen. Ich habe so einen seltsamen Heißhunger auf Möhren.“
Im Speisesaal haute Nelly tatsächlich rein, wie wir es gar nicht von ihr kannten. Ich selbst nahm nur einen Joghurt mit Honigtau. Vor lauter Vorfreude auf Mama war mein Magen wie zugeknotet.
„Gleich hast du ein Loch in deine Schüssel gerührt“, sagte Kimi grinsend.
„Ach, ich hab sie sooo lange nicht gesehen“, erklärte ich meinen Feenfreundinnen zum x-ten Mal. „Ob sie mir was mitbringt? Ihr müsst wissen, New York ist eine riesige Stadt mit Millionen von Menschen. So viele, dass sie gigantische Häuser gebaut haben. Die sind so hoch wie zwanzig Bäume übereinander! Und in einem leben oft über tausend Menschen!“
„Ist das so etwas wie eine Strafe?“, fragte Mia interessiert.
Ich öffnete den Mund, um empört Nein zu sagen, aber dann klappte ich ihn wieder zu. Mia hatte ja Recht. Hier im Internat mit der großen Wiese und dem Wald drum herum gefiel es mir eigentlich auch viel besser.
„Na ja, jedenfalls holt sie mich gleich vom Menscheninternat ab.“
„Nicht gleich.“ Nelly seufzte. „Bevor wir nach Hause können, steht leider noch Verteidigung auf dem Stundenplan. Bei Fortunea Tautropf höchstpersönlich.“
Mia blickte auf ihre Uhr und sprang vom Sitz. „Wir müssen los!“, rief sie. „Die Chefin mag es nicht, wenn jemand zu spät kommt.“
Kaum war auch ich aufgestanden, tauchte Freia wie aus dem Nichts neben mir auf. Freia ist so ähnlich wie Jill in der Menschenwelt: hinterlistig und gemein. Sie fixierte mich wie eine Schlange, die gleich zubeißen wollte.
„Lass den Plumpfuß ruhig weiterfrühstücken“, sagte sie spöttisch. „Dann fliegt sie doch noch vom Internat und muss die hier abgeben …“ Dabei fuhr sie mit einem ihrer spitzen Fingernägel meine Kette entlang bis zum Amulett.
Wütend trat ich einen Schritt nach hinten. Das Amulett besteht aus dem winzigen Horn eines Einhorns. Wie schon gesagt, komme ich ohne diesen Schlüssel nicht ins Feenreich. Deshalb darf da auch niemand dran herumfummeln.
„Lass das, Dummbrot!“, zischte ich.
Ich weiß, „Dummbrot“ ist nicht gerade das beste Schimpfwort, aber wenn mich jemand so dämlich anglotzt, fällt mir eben nichts Besseres ein.
Zum Glück bauten sich Mia, Kimi und Nelly wie eine Mauer links und rechts von mir auf.
Freia verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
„Tss!“, schnaubte sie. „Ach, sei doch verflucht! Du und deine blöde Kette!“ Dann drehte sich Freia um und stapfte aus dem Speisesaal.
Und leider, leider erfüllte sich der Fluch noch am selben Tag.