Buch

Seit Jahren schon steht die große New Yorker Anwaltskanzlei Harland und Sinton im Verdacht, in einen massiven Betrug auf globaler Ebene verstrickt zu sein. Als ein Klient der Firma, David Child, verhaftet wird, drängt das FBI Eddie Flynn, Childs Fall zu übernehmen und ihn dazu zu bringen, gegen die Kanzlei auszusagen. Eddie ist niemand, der sich zwingen lässt, einen schuldigen Klienten zu vertreten, aber das FBI ist im Besitz von belastenden Unterlagen über Eddies Frau. Sollte Eddie sich weigern, den Forderungen des FBIs nachzukommen, wird sie einen hohen Preis dafür zahlen.

Als Eddie David Child trifft, ist er sofort von dessen Unschuld überzeugt – obwohl die Beweislage erdrückend scheint. Vom FBI unter Druck gesetzt, Childs Anklage voranzutreiben, muss Eddie einen Weg finden, die Unschuld seines Klienten zu beweisen. Gleichzeitig wird es für ihn zunehmend schwerer, sich selbst und seine Frau aus der Schusslinie zu halten. Denn Gefahr droht nicht nur von Seiten des FBIs, sondern auch von Seiten der skrupellosen Firma.

Autor

Steve Cavanagh wuchs in Belfast auf und zog mit achtzehn Jahren nach Dublin, wo er Jura studierte. Er arbeitete als Tellerwäscher, Türsteher, für einen Sicherheitsdienst und als Call-Center-Agent, bevor er einen Job bei einer großen Anwaltskanzlei in Belfast ergatterte. Mittlerweile hat Steve Cavanagh sich in seinem Heimatland als Bürgerrechtsanwalt einen Namen gemacht und war bereits in zahlreiche prominente Fälle involviert. Gegen alle Regeln ist nach Zu wenig Zeit zum Sterben sein zweiter Roman.

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Steve Cavanagh

GEGEN ALLE

REGELN

Thriller

Deutsch von Fred Kinzel

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Plea« bei Orion Books, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London.

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1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © Steve Cavanagh 2016

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by

Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Gerhard Seidl, text in form

Umschlaggestaltung und -motiv:

© Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung

von Motiven von Shutterstock.com und Dreamstime.com

AF · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-19736-0
V001

www.blanvalet.de

Für Tracy

Dienstag, 17. März

19.58 Uhr

Ich dachte, alle wären tot.

Ich hatte mich geirrt.

Die Büros von Harland und Sinton, Rechtsanwälte, nahmen den sechsunddreißigsten Stock des Lightner Building ein. Es war eine rund um die Uhr tätige Anwaltskanzlei, eine der größten in New York. Normalerweise brannten die Lichter rund um die Uhr, aber die Eindringlinge hatten die Stromversorgung vor einigen Minuten unterbrochen. Mein Rücken schmerzte, und ich schmeckte Blut im Mund, vermischt mit dem Geruch nach verbrannter Säure, der von den verbrauchten Patronen auf dem Boden aufstieg. Ein voller Mond beleuchtete geisterhafte Rauchspuren, die sich im selben Moment auflösten, in dem ich sie entdeckte. Mein linkes Ohr fühlte sich an, als wäre es mit Wasser gefüllt, aber ich wusste, dass ich lediglich taub von den Schüssen war. In meiner rechten Hand hielt ich eine leere Glock 19, eine Polizeiwaffe, die letzten Kugeln daraus steckten in dem Toten zu meinen Füßen. Seine Beine lagen quer über dem Bauch der Leiche neben ihm, und ich nahm verwundert wahr, dass die Leichen auf dem Boden des Konferenzraums alle nacheinander zu greifen schienen. Ich sah sie nicht alle an. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, in ihre toten Gesichter zu blicken. Mein Atem ging stoßweise, als müsste er sich aus der von Adrenalin verklumpten Brust kämpfen. Der kalte Wind, der durch das zerbrochene Fenster hinter mir blies, begann, den Schweiß in meinem Nacken zu trocknen.

Die Digitaluhr an der Wand sprang auf 20.00 Uhr, als ich meinen Mörder sah.

Ich konnte weder Gesicht noch wirklich einen Körper erkennen. Es war ein Schatten, der in einer dunklen Ecke des Konferenzraums Deckung suchte. Grüne, weiße und goldene Blitze des Feuerwerks am Times Square warfen schräge Lichtmuster in den Raum und beleuchteten für einen Moment eine kleine Pistole, die von einer scheinbar körperlosen, behandschuhten Hand gehalten wurde. Die Waffe war eine Ruger LCP. Und auch wenn ich kein Gesicht sah, verriet mir diese Waffe sehr viel. Die Ruger war mit sechs 9-mm-Kugeln geladen. Sie war so klein, dass sie in eine Handfläche passte, und wog weniger als ein anständiges Steak. Auch wenn sie durchaus Wirkung zeigte, fehlte ihr die Durchschlagskraft einer richtigen Handfeuerwaffe. Der einzige Grund, so eine Waffe zu benutzen, besteht darin zu verschleiern, dass man überhaupt bewaffnet ist. Sie war deshalb als Reservewaffe bei den meisten Polizeibehörden beliebt. Man konnte sie in einer kompakten Handtasche verstecken oder in der Tasche eines maßgeschneiderten Anzugs, ohne dass sie den Sitz des Sakkos verdarb.

Drei Möglichkeiten kamen mir sofort in den Sinn. Drei mögliche Schützen.

Ausgeschlossen, dass ich einen davon überreden könnte, die Waffe fallen zu lassen.

Wenn ich die letzten drei Tage vor Gericht bedachte, hatten sie alle einen guten Grund, mich zu töten. Ich hatte eine Vermutung, wer von ihnen es sein könnte, aber das schien in diesem Moment irgendwie keine Rolle zu spielen.

Vor vierzehn Jahren hatte ich meine Laufbahn als Betrüger beendet. Aus Eddie Flynn, dem Gauner, wurde Eddie Flynn, der Anwalt. Und die Fähigkeiten, die ich auf der Straße erlernt hatte, flossen problemlos in meine Arbeit im Gerichtssaal ein. Anstatt Kasinoaufseher, Buchmacher, Versicherungsgesellschaften und Drogenhändler zu betrügen, wandte ich mein Handwerkszeug nun gegen Richter und Geschworene an. Aber ich hatte nie einen Klienten betrogen. Bis vor zwei Tagen.

Der Lauf der Ruger senkte sich auf meine Brust. Diese letzte Gaunerei würde mich das Leben kosten.

Ich schloss die Augen und war seltsam ruhig. So war mein Ende nicht gedacht. Irgendwie fühlte sich dieser letzte Atemzug nicht richtig an. Es fühlte sich an, als wäre ich hereingelegt worden. Trotzdem füllte ich meine Lunge mit dem Rauch und dem beißenden metallischen Geruch, der noch lange nach einer Schießerei in der Luft hängt. Ich hörte den Schuss nicht, ich sah keinen Mündungsblitz oder Rückschlag. Ich spürte nur, wie die Kugel in mein Fleisch drang. Dieser tödliche Schuss war von dem Moment an unvermeidlich geworden, in dem ich mich auf den Deal einließ. Wie bin ich nur hier gelandet?, dachte ich.

Was war das für ein Deal, dem ich diese Kugel zu verdanken habe?

Wie die meisten Dinge hatte es klein angefangen. Alles begann vor achtundvierzig Stunden mit einem Zahnstocher und einem Zehncentstück.

KAPITEL 1

Sonntag, 15. März

Achtundvierzig Stunden bis zum Schuss

Mein Schlüssel glitt ins Schloss.

Ich erstarrte.

Etwas stimmte nicht.

Die Mahagonitür zu dem vierstöckigen Sandsteinbau, der fünf Büros beherbergte, darunter meine Ein-Mann-Anwaltskanzlei, sah aus wie jede andere an diesem Ende der West 46th Street. Die Gegend war ein Gemisch aus Bars, Suppenküchen, sehr guten Restaurants, Steuerberaterkanzleien und privaten Gesundheitseinrichtungen. Je näher man dem Broadway kam, desto nobler wurden die Büros. Die Front der Kassettentür zu meinem Gebäude war vor rund einem Monat blau gestrichen worden. Die Rückseite der Tür wartete mit einer Stahlplatte auf – eine kleine Überraschung für jeden, der glaubte, er könnte einfach eins der Kassettenfelder eintreten und die Tür von innen öffnen.

Es war die Gegend für so etwas.

Was Schlösser angeht, habe ich nicht viel Erfahrung. Ich führe keinen Dietrich mit mir, dafür habe ich keine Verwendung – und hatte sie nicht einmal in meinem früheren Leben als Gauner. Im Gegensatz zu vielen anderen Ganoven nahm ich nicht die normalen Bewohner New Yorks aufs Korn. Ich hatte die Typen im Visier, die es verdient haben, dass man ihnen das Geld aus der Tasche zieht. Meine Lieblingsziele waren Versicherungen. Je größer, desto besser. Meiner Ansicht nach waren sie die größten Betrüger der Welt, und es war nur fair, wenn man sie von Zeit zu Zeit ein wenig erleichterte. Und um eine Versicherungsgesellschaft zu betrügen, musste ich nicht einbrechen. Ich musste nur dafür sorgen, dass ich eingeladen wurde. Meine Masche beschränkte sich nicht allein aufs Reden. Ich hatte auch einiges an Fingerfertigkeit zu bieten, nachdem ich es jahrelang geübt hatte. Mein Dad war darin ein ziemlicher Künstler gewesen, ein Taschendieb, der in Bars und U-Bahnen gearbeitet hatte. Ich lernte von ihm, und mit der Zeit entwickelte ich einen außerordentlich feinen Tastsinn, ein gründliches Gespür für Gewicht, Oberflächenanmutung und Bewegung. Und es war dieses feine Gespür, das mir verriet, dass etwas nicht stimmte.

Ich zog den Schlüssel wieder aus dem Schloss. Schob ihn erneut hinein. Dann wieder raus. Es ging leiser und reibungsloser, als ich es in Erinnerung hatte. Weniger sperrig, weniger Widerstand, und deshalb war weniger Druck nötig. Mein Schlüssel glitt fast von allein ins Schloss, als bewegte er sich durch Sahne. Ich überprüfte die Zähne, sie waren so hart und scharf, wie frisch gesägte Zähne sein können. Die Verkleidung des Schlosses, eines handelsüblichen Doppelzylinderschlosses, wies Kratzer um das Schlüsselloch auf, aber dann fiel mir ein, dass der Bursche, der das Reisebüro im Erdgeschoss betrieb, gern Bourbon in seinen Morgenkaffee gab. Ich hatte ihn einige Male mit den Schlüsseln herumfummeln sehen, und an dem einen Morgen, an dem ich ihm in der Eingangshalle begegnet war, hatte mich sein Atem beinahe umgehauen. Ein Jahr früher hätte ich es nicht bemerkt. Da wäre ich genauso betrunken gewesen wie der Reiseverkehrskaufmann.

Die drastische Veränderung in der Mechanik des Schlosses ließ sich, Kratzer hin oder her, jedoch nicht leugnen. Wenn der Vermieter das Schloss ausgewechselt hätte, würde mein Schlüssel nicht passen. Es gab auch keinen wahrnehmbaren Geruch aus dem Schloss oder am Schlüssel, der zudem trocken war. Hätte jemand eine Sprühdose mit WD 40 zum Ölen des Schlosses benutzt, hätte ich den Geruch bemerkt. Es gab im Grunde nur eine Erklärung: Jemand hatte das Schloss gewaltsam geöffnet, seit ich das Büro früher am Vormittag verlassen hatte. Sonntage im Büro waren ein notwendiges Übel, seit ich dazu übergegangen war, dort zu schlafen. Ich konnte es mir nicht mehr leisten, die Miete für eine Wohnung und ein Büro zu zahlen. Ein Klappbett im Hinterzimmer war alles, was ich brauchte.

Der Vermieter konnte sich keine Alarmanlage leisten. Das konnte ich ebenfalls nicht, dennoch wollte ich auf ein gewisses Maß an Sicherheit nicht verzichten. Die Tür öffnete sich nach innen. Ich schob sie einen Zentimeter weit auf und sah das Zehncentstück in der Vertiefung auf der rechten Seite des Türrahmens, der Seite, auf der das Schloss war. Die Tür selbst bedeckte die Hälfte der Münze und verhinderte, dass sie herausfiel. Wenn ich abends aus dem Haus ging, um etwas zu essen, schob ich immer ein Zehncentstück in die Lücke zwischen Rahmen und Tür, in die Vertiefung, die ich passend für diese Münze mit einem Taschenmesser ausgehöhlt hatte. Falls jemand einbrach und nicht wollte, dass ich es mitbekam, würde er die Münze fallen hören, es als List erkennen und die Münze wieder an ihren Platz legen. Meine Hoffnung lag darin, dass sich der Eindringling auf das Geräusch und das Funkeln des fallenden Geldstücks konzentrierte und den Zahnstocher nicht bemerkte, der exakt zehn Zentimeter über der ersten Angel auf der anderen Seite der Tür steckte.

Wer immer mein Eindringling an diesem Abend war, er hatte darauf geachtet, die Münze wieder an ihren Platz zu stecken, aber den Zahnstocher hatte er übersehen, denn der lag auf der Eingangsstufe.

Von den fünf Büros des Gebäudes waren drei weitere besetzt: die Reiseagentur, die gerade abgewickelt wurde, ein Finanzberater, von dem weit und breit nie etwas zu sehen war, und ein zwielichtig aussehender Hypnotiseur, der gern Hausbesuche machte. Alle hielten im Prinzip normale Bürozeiten ein, auch wenn diese im Fall des Reisebüros und des Hypnotiseurs eher von elf bis drei dauerten als von neun bis fünf. Ausgeschlossen, dass einer von ihnen an einem Sonntag kam, und niemals hätten sie die Münze zurückgelegt. Wäre es einer meiner Nachbarn gewesen, hätte er die Münze eingesteckt und im nächsten Moment vergessen.

Ich ließ meine Zeitung fallen und bückte mich, um sie aufzuheben. Da ich schon einmal unten war, beschloss ich, mir gleich noch die Schnürsenkel zu binden. Niemand links von mir, niemand rechts.

Ich wechselte umständlich zum anderen Schuh und suchte dabei die gegenüberliegende Straßenseite ab. Nichts. Ein paar Autos standen ein Stück entfernt auf der linken Seite, aber es waren alte, ausländische Modelle, und die Scheiben waren beschlagen; es waren ganz sicher keine Überwachungsfahrzeuge. Rechts von mir und auf der anderen Straßenseite ging ein Paar Arm in Arm in die Hourglass Tavern, Theaterjunkies, die vor der Aufführung noch einen Happen essen wollten. Seit ich hierhergezogen war, war ich zweimal in dem Lokal gewesen, hatte beide Male die Ravioli mit Hummer gegessen und die Finger von dem Bier-und-Schnaps-Sonderangebot gelassen, das jedes Mal wechselte, wenn das große Stundenglas hinter der Theke umgedreht wurde. Abstinenz war immer noch etwas, das ich mir jeden Tag aufs Neue erarbeiten musste.

Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, hob ich meine Zeitung auf, schlug meinen Kragen zum Schutz vor der Winterkälte hoch, die noch in der Luft lag, und marschierte los. Als Betrüger hatte ich mir jede Menge Feinde gemacht, und ich hatte es fertiggebracht, mir in meiner Anwaltslaufbahn sogar noch ein paar mehr zu machen. Inzwischen lohnte es sich wohl, vorsichtig zu sein. Ich drehte eine Schleife um drei Blocks und wandte dabei jede Technik an, um Überwacher abzuschütteln, die ich kannte. Ich bog wahllos in Gassen ab, verfiel kurz vor einer Ecke in einen leichten Trab und verlangsamte dann sehr stark, wenn ich in der anderen Straße war. Ich benutzte Autofenster und die Plexiglasscheiben von Bushaltestellen als Rückspiegel, blieb abrupt stehen und machte rasch kehrt, um den Weg zurückzugehen, den ich gekommen war. Ich fing an, mir ein bisschen lächerlich vorzukommen. Da war niemand, der mich beschattete. Entweder der Hypnotiseur hatte einen Glückstag erwischt und einen Klienten zum Büro zurückgebracht, oder der Finanzberater war endlich aufgetaucht, um seinen überquellenden Briefkasten zu leeren oder seine Akten zu schreddern.

Als ich mein Gebäude wieder vor mir hatte, kam ich mir jedoch nicht mehr ganz so lächerlich vor. Mein Büro befand sich im zweiten Stock. Die beiden Etagen darunter lagen im Dunkeln.

Aus meinem Fenster schien ein Licht, und es war nicht meine Schreibtischlampe. Der Lichtstrahl war schmal und gedimmt, und er bewegte sich.

Eine Taschenlampe.

Meine Haut juckte, und mein Atem entwich langsam und dampfend. Mir ging durch den Kopf, dass ein normaler Mensch jetzt die Polizei rufen würde. Aber so war ich nicht erzogen worden. Wenn du deinen Lebensunterhalt als Trickbetrüger verdienst, spielt die Polizei in deinen Überlegungen keine Rolle. Solche Angelegenheiten regelte ich selbst, und ich musste jetzt sehen, wer in meinem Büro war. Ich hatte ein Montiereisen im Kofferraum des Mustang, aber es war sinnlos, zum Parkplatz zurückzugehen und es zu holen, da ich keine Lust hatte, auf offener Straße damit herumzulaufen. Ich besitze keine Schusswaffe. Ich mag sie nicht, aber es gibt Verteidigungsmittel, gegen deren Anwendung ich nichts einzuwenden habe. Ich öffnete leise die Eingangstür, fing das Zehncentstück auf, damit es nicht auf die Fliesen fiel, und zog in der Eingangsdiele die Schuhe aus, um keinen Lärm zu machen, ehe ich zu den Briefkästen an der Wand ging.

In dem Briefkasten, der mit Eddie Flynn, Anwalt, beschriftet war, wartete alles, was ich zu meinem Schutz je brauchen würde.

KAPITEL 2

Ich nahm einen kleinen Schlüssel von meiner Kette und legte den Schlüsselbund vorsichtig auf die Briefkästen, ehe ich das neue Vorhängeschloss öffnete, das ich angebracht hatte. Unter einem Stapel dicker brauner Kuverts und Werbesendungen fand ich ein Paar Messingschlagringe. Ich hatte in meiner Teenagerzeit für meine Gemeinde geboxt. Viele arme katholische Jugendliche in New York machten das. Es sollte ihnen Disziplin und Fairness anerziehen – in meinem Fall hatte mein Vater jedoch aus gänzlich anderen Gründen darauf bestanden. Falls ich in der Lage war, einen Kerl k. o. zu schlagen, der zweimal so groß war wie ich, so seine Überlegung, müsste er weniger wegen meiner Anfängerfehler besorgt sein, wenn es an der Zeit war, dass ich mich als Trickbetrüger selbstständig machte. Ich musste nur hart im Boxstudio arbeiten, klug mit dem ergaunerten Geld umgehen und verdammt noch mal dafür Sorge tragen, dass Mom von alledem nichts erfuhr.

In der Eingangshalle war es dunkel, still und ruhig, bis auf ein gelegentliches Ächzen der Heizungsrohre. Die Stufen waren alt und knarrten wie verrückt. Ich kam jedoch zu dem Schluss, dass sie immer noch weniger Lärm machen würden als der altertümliche Fahrstuhl. Ich trat sachte auf und nahe an der gefliesten Wand. Das erlaubte mir beim Hinaufgehen einen Blick zu den oberen Stockwerken und verhinderte, dass ich die Mitte der alten Bohlen belastete, wo das Knarzen am lautesten war. Die Schlagringe fühlten sich kalt an in meinen Händen. Ihre eisige Berührung war irgendwie beruhigend. Als ich mich dem oberen Ende des dritten Treppenabsatzes näherte, hörte ich leise, gedämpfte Stimmen.

Die Tür zu meinem Büro war weit offen. Ein Mann stand mit dem Rücken zum Flur im Eingang. Hinter ihm sah ich mindestens einen weiteren Mann mit einer Taschenlampe, mit der er in die oberste Schublade meines Aktenschranks leuchtete. Der Mann mit dem Rücken zu mir hatte einen Knopfhörer im Ohr. Ich sah das durchsichtige Kabel, das sich zur schwarzen Lederjacke hinunterschlängelte und in ihr verschwand. Er trug Jeans und Stiefel mit dicker Sohle. Eine Strafverfolgungsbehörde, aber sicher nicht die Polizei. Knopfhörer gehören beim NYPD nicht zur Standardausrüstung, und die meisten Beamten wollen die hundert Dollar nicht lockermachen für das Privileg, cool auszusehen. Der FBI-Etat reichte für einen Knopfhörer pro Beamter, aber das FBI hätte einen Mann im Eingangsbereich postiert, und sie hätten sich nicht die Mühe gemacht, die Münze an ihren Platz zurückzulegen. Wenn es nicht Polizei oder FBI war, wer war es dann? Die Tatsache, dass sie Kommunikationsgeräte hatten, machte mich nervös. Das hieß, sie waren organisiert. Es waren nicht ein paar Cracksüchtige, die sich rasch ein paar Dollars verdienen wollten. Ich kroch die letzten Stufen auf allen vieren nach oben. Ich hörte geflüsterte Unterhaltung, aber ich verstand nichts. Der Mann mit der Taschenlampe in meinem Aktenschrank sagte nichts. Es musste weitere Personen im Raum geben, die ich nicht sah, und sie waren es, die das Gespräch führten. Als ich näher kam, wurden die Stimmen deutlicher.

»Schon was gefunden?«, fragte jemand.

Der Mann schloss die Schublade und zog die darunter auf.

»Nichts, was einen Bezug zur Zielperson hat«, sagte er, während er eine Akte auswählte, aufklappte und mithilfe der Taschenlampe zu lesen anfing.

Zielperson.

Das Wort traf mich wie eine Schockwelle und setzte einen Adrenalinausstoß frei. Meine Nackenmuskeln spannten sich, und mein Atem ging schneller.

Sie hatten mich nicht gesehen.

Ich hatte zwei gute Optionen: mich hier rausschleichen, in mein Auto setzen und die ganze Nacht wie ein Irrer zu fahren, um dann vom Nachbarstaat aus die Polizei anzurufen. Oder aber in das erste Taxi zu springen, das ich sah, und zu Richter Harry Fords Wohnung auf der Upper East Side zu fahren, um von Harrys sicherer Couch aus der Polizei zu stecken, was los war. Beide Möglichkeiten waren vernünftig und klug und enthielten so gut wie kein Risiko.

Aber so war ich nun mal nicht.

Ich stand geräuschlos auf, ließ den Kopf kreisen, steckte die rechte Faust unters Kinn und stürmte auf die Tür zu.

KAPITEL 3

Der Mann, der in der Tür stand, begann, sich umzudrehen, als ich zu laufen anfing. Zunächst erschreckten ihn die plötzlichen schweren Schritte. Als er mich sah, riss er erst den Mund auf und dann die Augen, und sein Überlebensinstinkt schaltete sich ein, ehe seine Ausbildung zum Zug kam. Erst der Schock, dann die Reaktion. Noch bevor er rufen konnte, sah ich, wie er sich bemühte, die Panik zu überwinden, und seine Hand begann, in Richtung der Waffe zu gehen, die er an der Seite im Holster trug.

Er war zu langsam.

Ich wollte den Mann nicht töten. Jemand hat einmal zu mir gesagt, es sei unprofessionell, einen Mann zu töten, ohne genau zu wissen, wer er war. Wenn ich ihm ins Gesicht oder an den Kopf geschlagen hätte, wäre die Chance fünfzig zu fünfzig gewesen, dass sich der Schlag als tödlich erwies, entweder weil ihm die Wucht des Messingschlagrings den Schädel brach und eine massive Gehirnblutung hervorrief, oder weil den armen Kerl dasselbe Schicksal ereilte, wenn er bewusstlos auf den Boden prallte. Der Schwung meines Anlaufs fügte der Kraft des Boxhiebs locker noch einmal zwanzig Kilo Aufpralldruck hinzu. Bei dieser Geschwindigkeit wäre die Wahrscheinlichkeit, dem Kerl für immer das Licht auszuknipsen, sehr hoch gewesen. Ich musste ihn aber lediglich kampfunfähig machen. Er war Rechtshänder.

In letzter Sekunde ließ ich den Arm sinken und richtete mein Ziel neu aus. Der Schlag traf ihn knochentief auf den rechten Bizeps, und die Finger seiner Hand öffneten sich augenblicklich und erschlafften dann. Es war genau so, als würde man eine Stromleitung unterbrechen. Einen so großen Muskel derart zu quetschen, bedeutete, dass der Arm des Mannes stundenlang wie tot und auf jeden Fall bewegungsunfähig sein würde. Mein Schwung trieb mich an dem Mann vorbei, kaum dass der erste Schrei aus seiner Kehle gedrungen war.

Sein Partner ließ die Akte fallen, in der er gelesen hatte, und schwenkte die Taschenlampe in meine Richtung. Dieser Mann war Linkshänder, und ich fing seinen Haken ab. Die anderthalb Kilo Cleveland-Messing an meiner linken Faust zertrümmerten die Taschenlampe. Die Birne zerbarst, und das Licht erlosch in einem Funkenregen. Im Moment der Explosion war das Gesicht des Mannes kurz erleuchtet, und ich sah den Schock in seinen Zügen. Nur war es gar kein Schock. Ich musste die Hand des Mannes mit dem Schlagring erwischt haben, denn im nächsten Moment sank er auf die Knie und hielt sich die gebrochenen Finger.

»Hören Sie auf, Eddie«, ertönte eine Stimme aus dem Halbdunkel. Meine Schreibtischlampe ging an.

»Ferrar, Weinstein, lasst ihn«, sagte der Mann, der an meinem Schreibtisch saß. Ich war ihm zum ersten Mal vor etwa einem halben Jahr begegnet. Er war der Kerl, den ich gerettet hatte, als wir beide eine Begegnung mit der Russen-Mafia hatten – Special Agent Bill Kennedy vom FBI. Die beiden Männer, die er angesprochen hatte, stellten im Moment keine Herausforderung dar. Der eine, der einen militärisch kurzen Haarschnitt trug und dem ich die Finger gebrochen hatte, biss vor Schmerzen die Zähne zusammen. Der andere, größere in der Lederjacke wälzte sich auf dem Boden und hielt sich den Arm. Seine Waffe steckte noch sicher im Holster.

Kennedy war der letzte Mensch, den ich in meinem Büro erwartet hätte. Er lehnte sich zurück, legte die Beine auf meinen Schreibtisch und schlug die Füße übereinander. Er sah seine Männer an, dann sah er mich an, als hätte ich etwas kaputt gemacht, was ihm gehörte. Seine dunkelblaue Anzughose schob sich ein wenig nach oben, es reichte, damit ich die schwarzen Seidensocken und die Reservewaffe sah, die an seinen linken Knöchel geschnallt war – eine Ruger LCP.

KAPITEL 4

»Was zum Teufel soll das alles?«, fragte ich.

»Nur die Ruhe. Sie haben gerade zwei FBI-Agenten tätlich angegriffen. Herrgott noch mal, Eddie, das sind meine Leute.«

Der Agent, der die Taschenlampe gehalten hatte, stand langsam auf, sein Zeigefinger stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Er fletschte die Zähne und renkte den Finger wieder ein. Ich hatte nichts gebrochen, sondern ihn nur ausgerenkt. Sein Kumpel sah sehr viel schlechter aus. Er war blass und verschwitzt. Beide Agenten schleppten sich zur Couch auf der anderen Seite des Raums.

»Die sind bald wieder okay«, sagte ich. »Sie werden sich vielleicht eine Woche lang den Arsch mit der falschen Hand abwischen müssen, aber sie werden es überleben. Dasselbe kann ich Ihnen nicht garantieren, wenn Sie mir nicht sofort erklären, wie Sie dazu kommen, in mein Büro einzubrechen. Ach ja, und übrigens ist es kein tätlicher Angriff, wenn man Leib und Leben oder sein Eigentum verteidigt. Ich dachte, das hätten sie euch in Quantico vielleicht beigebracht. Haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?« Ich streifte die Schlagringe ab und ließ sie auf einen Stapel Papiere auf meinem Schreibtisch fallen.

Kennedy stellte die Füße auf den Boden, hob einen Schlagring auf, streifte ihn sich über und wog sein tödliches Gewicht. Dann zog er ihn wieder von den Fingern und ließ ihn auf die Unterlagen auf dem Schreibtisch fallen. »Messingschlagringe, Eddie?«

»Briefbeschwerer«, sagte ich. »Wo ist Ihr Durchsuchungsbeschluss?«

Ehe er antwortete, begann er, sich am Handrücken zu kratzen. Das verriet mir alles, was ich wissen musste. Kennedy machte sich immer viel Sorgen und reagierte seine Nervosität an seinem Körper ab. Die Haut um seine Daumennägel sah rot und geschwollen aus, weil er die Nagelbetten mit Zähnen und Nägeln bearbeitet hatte. Er war nicht rasiert und machte den Eindruck, als könnte er eine Dusche, einen Haarschnitt und eine Mütze Schlaf vertragen. Sein normalerweise strahlend weißes Hemd war zur selben Farbe wie die Säcke unter seinen Augen verblasst, und die Haut auf seinem vierzigjährigen Gesicht war dünner geworden. Aus den zwei Zentimetern Spielraum, den sein Kragen hatte, folgerte ich, dass er stark abgenommen hatte. Als ich Kennedy kennenlernte, vertrat ich gerade Olek Woltschek, den Kopf der russischen Mafia. Das Verfahren ging gewaltig in die Hose. Woltschek hatte meine zehnjährige Tochter Amy als Geisel genommen und damit gedroht, sie zu töten. In den fünf Monaten, die seit dem Prozess vergangen waren, hatte ich mich bemüht, diese verzweifelten Stunden zu vergessen. Aber ich konnte es nicht. Ich erinnerte mich an alles – an meine Seelenqualen bei der Vorstellung, jemand könnte ihr etwas antun, ihr das junge Leben nehmen, und es wäre alles meine Schuld. Bei dem bloßen Gedanken bekam ich feuchte Hände.

Kennedy wäre fast gestorben, aber es war mir gelungen, ihm ärztliche Hilfe zu besorgen, ehe es zu spät war. Seine Wunden waren gut verheilt, und er hatte mir sogar geholfen, die ganze Geschichte zu bereinigen, nachdem sich der Staub gelegt hatte. Vieles von dem, was ich im Lauf dieser zwei Tage getan hatte, war in hohem Maß illegal. Kennedy hatte dafür gesorgt, dass alles unter den Teppich gekehrt wurde. Aber in Wahrheit wusste er nicht einmal die Hälfte von dem, was ich getan hatte, und ich hoffte, er würde es nie erfahren. Nachdem er sich von der Schießerei erholt hatte, hatte er mich und meine Familie zu einer Silvesterparty bei sich zu Hause eingeladen. Meine Frau Christine hatte nicht mitkommen wollen. Es hatte eine Weile schlecht um uns gestanden. Ich war vor eineinhalb Jahren verdientermaßen aus der Wohnung geflogen, weil ich mehr Zeit am Night Court, in Kneipen und Ausnüchterungszellen verbracht hatte als zu Hause. Dann hatte ich mit dem Trinken aufgehört, und zwischen Christine und mir hatte sich alles beruhigt – bis zum Fall Woltschek.

Christine glaubte, ich hätte unsere Tochter in Gefahr gebracht – sie dachte, Amy sei meinetwegen entführt worden. Damit hatte sie recht. In den letzten Wochen hatte ihr Zorn jedoch nachzulassen begonnen. Ich hatte Amy häufiger sehen können, und als ich sie letzten Mittwoch daheim absetzte, hatte mich Christine hereingebeten. Wir tranken eine Flasche Wein zusammen und lachten sogar ein wenig. Natürlich verdarb ich alles, als ich versuchte, sie zum Abschied an der Tür zu küssen. Sie hatte sich zur Seite gedreht und mir eine Hand auf die Brust gelegt. Es war noch zu früh. Aber ich dachte auf der Rückfahrt zu meinem Büro, dass es eines Tages in Ordnung sein würde. Eines Tages würde ich meine beiden Mädchen vielleicht zurückbekommen. Ich dachte jede Stunde an sie.

Ich war allein zu Kennedys Party gegangen, hatte Limonade getrunken und Pökelfleisch gegessen und war früh gegangen. Strafverteidiger verkehren normalerweise nicht mit Strafverfolgern, und Betrüger erst recht nicht. Aber ich mochte Kennedy tatsächlich irgendwie. Trotz seiner ständigen Besorgtheit und Sturheit war er ein aufrechter, gewissenhafter Agent mit einer guten Aufklärungsquote, und er hatte das alles für mich aufs Spiel gesetzt. Ich sah diese als Strenge getarnte Integrität in seinem Blick, als er an meinem Schreibtisch saß und über meine Frage nachdachte. Am Ende beschloss ich, sie selbst zu beantworten.

»Sie haben keinen Durchsuchungsbeschluss, richtig?«

»Fürs Erste kann ich nur sagen, dass diese kleine Party hier zu Ihrem Vorteil ist.«

Als ich den Blick durch mein Büro schweifen ließ, entdeckte ich vier schwer aussehende Metallkoffer in einer Ecke und daneben etwas, das wie die Ausrüstung eines Tonstudios aussah.

»Habe ich Sie bei einer Bandprobe unterbrochen?«, fragte ich.

»Wir haben Ihnen einen Gefallen getan und Ihr Büro auf Abhörgeräte untersucht.«

»Abhörgeräte? Tun Sie mir in Zukunft keinen Gefallen mehr, ohne vorher zu fragen. Nur interessehalber – haben Sie etwas gefunden?«

»Nein. Sie sind sauber«, sagte er, stand auf und streckte sich. »Tragen Sie immer Briefbeschwerer mit sich herum?«

»Büromaterial erweist sich ab und an als ganz nützlich. Warum haben Sie nicht angerufen und gesagt, dass Sie kommen?«

»Dafür war keine Zeit, tut mir leid.«

»Was soll das heißen, es war keine Zeit? Ich habe gehört, wie Ihr Kumpel da drüben das Wort ›Zielperson‹ benutzt hat, deshalb würde ich gern wissen, was Sie in Wirklichkeit hier tun.«

Ehe Kennedy antworten konnte, hörte ich Schritte. Die Tür zu meinem Hinterzimmer ging auf, und ein kleiner Mann, der in den Fünfzigern zu sein schien, betrat den Raum. Er hatte einen grauen Bart und eine Brille mit schwarzer Fassung, und er trug einen langen schwarzen Mantel, der ihm bis zu den Fußknöcheln reichte. Blaues Hemd, dunkle Hose, ergrauendes, gewelltes Haar, das über einem schmalen, gebräunten Gesicht nach hinten gekämmt war.

»Schutz«, sagte der kleine Mann als Antwort auf die Frage, die ich an Kennedy gerichtet hatte.

Er stand mit den Händen in den Taschen da, selbstbewusst, der Mann, der hier das Sagen hatte. Dann schlenderte er lässig an Kennedy vorbei und ließ sich mit dem Hintern auf meinem Schreibtisch nieder, ehe er mich anlächelte.

»Mr. Flynn, mein Name ist Lester Dell. Ich bin nicht vom FBI. Ich gehöre zu einer anderen Bundesbehörde. Das FBI ist im Rahmen einer gemeinsamen Task Force hier, die ich leite. Wir haben einen Job für Sie«, sagte er und nickte.

»Na toll. Und wozu gehören Sie nun? DEA, ATF

»Ach, ich arbeite für die Organisation, die offiziell keine Operationen auf amerikanischem Boden durchführt. Deshalb stellen FBI und Finanzministerium das gesamte Personal. Was das Außenministerium angeht, bin ich als Berater hier«, sagte er, und als er lächelte, legte sich die braune Haut oberhalb seines Barts in tiefe Falten, die auf seine Augen zu immer schmaler wurden. Es waren Falten, die nicht ganz zu seinem Gesicht zu passen schienen, als wäre Lächeln etwas, was er nur selten tat. Sein Akzent wirkte ein wenig merkwürdig, weil seine Aussprache so präzise und klar war.

Er brauchte mir nicht zu sagen, wo er arbeitete – das Lächeln verriet alles. Er sagte es trotzdem: »Inoffiziell, Mr. Flynn, ist das meine Operation. Und ich sehe Ihnen an, dass Sie bereits erraten haben, für wen ich arbeite. Sie liegen richtig – ich arbeite für die CIA

Ich nickte. Warf Kennedy einen Blick zu. Er beobachtete mich aufmerksam, um meine Reaktion abzuschätzen.

»Wir haben sehr wenig Zeit, deshalb werden Sie es mir verzeihen, wenn ich es kurz mache und gleich zur Sache komme. Wir sind hier, um Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass niemand außer uns diese Unterhaltung verfolgen kann. Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen. Tatsächlich habe ich einen Fall für Sie.«

»Ich arbeite nicht für die Regierung. Und das gilt doppelt für Regierungsstellen, die in mein Büro einbrechen.«

»Ach ja? Ich dachte, Sie würden ein wenig bezahlte Beschäftigung begrüßen. Ich sehe, Sie haben dahinten eine Schlafcouch, Kleidung, einen Fernseher, eine Zahnbürste auf der Toilette und einen Stapel Taschenbücher. Aber ich muss daraus keine Schlüsse ziehen, denn ich weiß bereits alles über Sie. Jede Kleinigkeit. Sie sind pleite. Sie wohnen in Ihrem Büro. Tatsächlich haben Sie zwölfhundert Dollar auf Ihrem Girokonto, Ihr Geschäftskonto ist mit dreißigtausend in den Miesen, und es kommen kaum Aufträge herein.«

Ich sah Kennedy anklagend an. Er verschränkte die Arme und sah zu Dell, um mir zu verstehen zu geben, dass ich zuhören sollte.

»Mr. Flynn, meine Lage ist folgende: Ich habe fünf Jahre damit verbracht, gegen eine Gruppe sehr schlechter Menschen zu ermitteln. Um offen zu sein, stand ich am Ende trotzdem mit leeren Händen da, ich hatte nichts. Bis gestern, als alle meine Gebete erhört wurden. Es stellte sich nämlich heraus, dass ein Freund dieser schlechten Menschen verhaftet wurde, weil er etwas sehr Schlimmes getan hat. Er wird vor Gericht gestellt und verurteilt werden, der Fall ist glasklar. Meine Hoffnung ist, dass sich dieser Mann dazu überreden lässt, einen Deal mit mir zu machen, bei dem er aus dem Gefängnis kommt, solange er noch etwas vom Leben hat, und ich im Gegenzug seine Freunde festnehmen kann. Das Problem ist, die Anwälte dieses Mannes sehen die Sache ein wenig anders. Ich möchte, dass Sie seinen Fall übernehmen. Ich möchte, dass Sie diesen Mann vertreten, und ich möchte, dass Sie ihn überreden, einem Deal zuzustimmen. Es ist in seinem Interesse und in Ihrem.« Er sah auf die Uhr und fuhr fort: »Sie haben exakt achtundvierzig Stunden Zeit, um sich von Ihrem neuen Klienten engagieren zu lassen und ihn zu zwingen, sich schuldig zu bekennen. Dann zimmern wir einen Deal mit ihm. Wenn Sie das erledigen, wird die Bundesregierung zwei Dinge für Sie tun …«

Er zog einen Flachmann aus seinem Mantel, schraubte ihn auf und goss ein Quantum in die leere Kaffeetasse auf meinem Schreibtisch. Er fragte nicht, ob ich etwas wollte, er schenkte einfach ein und gab mir die Tasse. Er selbst nahm einen kleinen Schluck aus dem Flachmann, ehe er fortfuhr.

»Erstens werden wir Ihnen einhunderttausend Dollar bezahlen. Bar auf die Hand. Steuerfrei. Nicht schlecht für einen halben Tag Arbeit. Zweitens und noch wichtiger für Sie: Wenn Sie das für mich tun, werde ich Ihre Frau nicht für den Rest ihres Lebens in ein Bundesgefängnis stecken lassen.«

KAPITEL 5

Mit dem Hintern auf meinem Schreibtisch trank Dell noch einen Schluck aus seinem Flachmann. Welche Sorte Schnaps er mir auch eingeschenkt haben mochte, ich beachtete ihn nicht. Er lächelte wieder unnatürlich, und ich ließ seine Worte auf mich einwirken.

Wenn Sie das tun, werden wir Ihre Frau nicht für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis schicken. Ich sah, wie Kennedy erstarrte. Er kannte das Schicksal der letzten Gruppe harter Burschen, die meine Familie bedroht hatten, und er schien genauso überrascht zu sein wie ich.

»Dell, sagen Sie ihm, dass wir hier die Guten sind«, sagte Kennedy.

»Ich rede hier, Bill«, sagte Dell, ohne den Blick von mir zu nehmen und ohne sein falsches Lächeln zu unterbrechen.

Falls Kennedy und Dell eine Show von mir erwarteten, so tat ich ihnen den Gefallen nicht. Ich lehnte mich stattdessen in dem Sessel zurück, der normalerweise für meine Klienten reserviert war, und verschränkte die Arme.

»Dell, das ist alles sehr interessant, aber meine Frau ist so gesetzestreu, wie man nur sein kann. Sie geht nicht einmal bei Rot über die Ampel. Sie glauben, Sie haben etwas gegen sie in der Hand? Schön, nur zu, wir sehen uns dann vor Gericht. Tatsächlich wird sie mich dort nicht brauchen. Christine ist eine weit bessere Anwältin als ich. Deshalb arbeitet sie bei Harland und Sinton, und ich … na ja, ich arbeite hier. Also, danke für das Angebot. Das Geld hört sich großartig an, aber wenn es mit einer Drohung verbunden ist, verliere ich das Interesse. Ich bin nicht leicht zu erschrecken, Dell. Vergessen Sie nicht, die Münze wieder an ihren Platz zu legen, wenn Sie hinausgehen.«

Aus dem falschen Lächeln wurde ein echtes. Er sah anders aus in diesem Moment. Charmant. Trotz seiner Worte und trotz seines Auftretens war dem Mann eine unerwartete Wärme zu eigen. Er wechselte einen Blick mit Kennedy, dann bückte er sich und holte eine grüne Aktenmappe aus einem Koffer neben ihm. »Sie glauben, Ihre Frau ist nicht in Gefahr, weil sie Anwältin bei Harland und Sinton ist?«, sagte Dell. »Ironischerweise befindet sich Ihre Frau in dieser Lage, weil sie Anwältin bei Harland und Sinton ist.«

»Wie bitte?«

»Ich habe etwas mitgebracht, was ich Ihnen zeigen will. Sie können es sogar behalten, ich habe eine Kopie. Genau wie der Bundesanwalt. Mit den Dokumenten in dieser Akte können wir achtunddreißig Klagen nach dem Gesetz gegen das organisierte Verbrechen gegen Ihre Frau anstrengen, die sich auf einhundertfünfzehn Jahre Gefängnis summieren würden. Sehen Sie selbst.«

Die Akte enthielt drei Seiten. Keine ergab viel Sinn für mich. Die erste schien eine Vereinbarung über einen Kauf von Anteilen an einem Unternehmen zu sein, von dem ich noch nie gehört hatte. Christines Unterschrift tauchte als die einer Zeugin der Vereinbarung auf und stand neben der des Klienten, dem Anteilskäufer. »Ich verstehe das nicht«, sagte ich.

»Lassen Sie es mich sehr einfach machen. Ihre Frau hat dieses Dokument an ihrem ersten Arbeitstag bei Harland und Sinton unterschrieben. Allen neuen Anwälten bei Harland und Sinton wird an ihrem ersten Tag diese Behandlung zuteil. Sie wissen, wie es am ersten Tag an einem neuen Arbeitsplatz ist. Die halbe Zeit ist man damit beschäftigt, sich die Namen der Leute zu merken oder wo man sitzt und seine Unterlagen findet, und man versucht, sich die ganzen verdammten Computer-Passwörter einzuprägen, die man gerade erhalten hat. Gegen halb fünf an Ihrem ersten Arbeitstag bei Harland und Sinton werden Sie von einem der Teilhaber in dessen Büro gerufen. Er hat soeben einen Vertrag über einen Anteilstransfer abgeschlossen. Alles sei mit gebotener Sorgfalt erledigt und geprüft worden, aber man habe ihn gerade zu einer dringenden Besprechung wegen eines Notfalls gerufen, und der Klient sei eben erst eingetroffen. Der Teilhaber möchte, dass Sie das Dokument als Zeuge für ihn beglaubigen. Alles, was Sie tun müssten, sei, dem Klienten dabei zuzusehen, wie er das verdammte Papier unterzeichnet, und Ihren Namen daneben setzen. Das sei alles. Kommt ständig vor. Tatsächlich haben alle zweihundertdreiundzwanzig Anwälte der Kanzlei an ihrem ersten Tag diese Erfahrung gemacht. Aber täuschen Sie sich nicht, Mr. Flynn. Indem sie dieses Dokument unterschrieb, wurde Ihre Frau unwissentlich zur Mitwirkenden bei einer der größten Finanzbetrügereien der amerikanischen Geschichte.«

»Harland und Sinton? Betrug? Mein Freund, Sie irren sich gewaltig. Sie sind eine der ältesten und angesehensten Anwaltskanzleien der Stadt. Nie im Leben betreiben sie illegale Geschäfte. Warum sollten sie? Sie haben so viel Geld, dass sie nicht wissen, wohin damit.«

»Oh, sie haben Geld, das stimmt. Schmutziges Geld.«

»Haben Sie dafür Beweise?«

»Einige, wie etwa die Dokumente, die Sie gerade lesen. Wir kennen nicht alles. Noch nicht. An dieser Stelle kommen Sie ins Spiel. Es ist nämlich so, dass Harland und Sinton über die Jahre ihre finanziellen Höhen und Tiefen hatten, aber das änderte sich, als Gerry Sinton 1995 an Bord kam. Das neu geformte Harland und Sinton reduzierte die Zahl seiner Klienten auf weniger als fünfzig und konzentrierte sich auf Aktien, Anleihen, Steuern, Vermögensverwaltung und Immobilien. Ihr Gewinn ging durch die Decke. Ehe Sinton an Bord kam, war die Kanzlei sauber – und sie hat immer noch den besten Ruf. Die idealen Umstände für ihre kleine Unternehmung.«

»Welche Unternehmung?«

Dell hielt inne und sah den nicht angerührten Alkohol vor mir an, dann wandte er sich an Kennedy und sagte: »Machen Sie uns doch bitte einen Kaffee, Bill.«

Kennedy ging nach hinten und versuchte, meine alte Kaffeemaschine in Gang zu setzen.

»Harland und Sinton ist nur Fassade. Sie sind ein wenig juristisch tätig, aber in Wirklichkeit betreiben sie das größte Geldwäscheunternehmen, das je auf amerikanischem Boden geführt wurde. Die Kanzlei handelt für Firmen, die in Wirklichkeit gar nicht existieren und nur auf dem Papier stehen. Sie bringen ihre legalen Klienten dazu, Anteile der Firmen zu kaufen, und diese Klienten verdienen eine garantierte Rendite von etwa zwanzig Prozent auf ihr Investment. Was diese Klienten tun, ohne es zu wissen, ist, dass sie sauberes Geld einspeisen, und das schmutzige Geld fließt über die Konten der Scheinfirmen zurück und wird über deren Bücher gesäubert, um die Investoren auszuzahlen. Das schmutzige Geld stammt von Drogenkartellen, Terrororganisationen, was Sie wollen. Und Ihre Frau hat ein Dokument gegengezeichnet, mit dem sie sich tief in diesen Betrug verstrickt hat.«

»Niemals.

Ich sah mir die Dokumente noch einmal an. Wenn das stimmte, was Dell sagte, war Christine in größten Schwierigkeiten. Die Tatsache, dass sie nichts von alldem wusste, spielte keine Rolle. Es ist ein Verstoß gegen die strikte Haftung eines Anwalts – wenn man mit einem Geschäft befasst war, ohne es mit der gebotenen Sorgfalt zu prüfen, hing man mit drin. Die Tatsache, dass man die Transaktion handhabte, reicht für eine Verurteilung, egal, welche Absichten man verfolgte.

»Woher wissen Sie das alles?«

»Weil ich mit einem Typen gesprochen habe, der einige dieser Transaktionen über die Banken betreut hat. Er hat mir das System verraten. Er wollte die ganze Sache auffliegen lassen.«

»Wozu brauchen Sie mich dann?«

»Ehrliche Antwort? Weil der Zeuge tot ist. Der Boss Ihrer Frau, Gerry Sinton, hat ihn ermorden lassen.«