Tom J. Schreiber

Ein Bruder für Luca

oder wie Jean seinen Vater fand

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

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Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Alles in meinem Kopf schwirrt voller Gedanken. Kälte kriecht unter meinen Sweater. Der Regen hat aufgehört - so ist es angenehmer zu laufen. Ein Rhythmus, eine Geschwindigkeit, das beruhigt. Ich trete in eine Lache. Tiefer als gedacht. Wasser läuft in meine Sneaker. Ich verliere den Rhythmus - nur kurz. Schritt für Schritt ordnet sich alles wieder, auch meine Gedanken. Ich kann jetzt die guten von den schweren Gedanken unterscheiden. Es sind immer die gleichen Gedanken, die mich erdrücken. Ich konzentriere mich auf die guten. Ich laufe weiter, Schritt für Schritt. Da kommt schon die Biegung. Der Asphalt verschwindet. Der Weg ist jetzt weicher, auch etwas sandiger, aber angenehm. Zehrt mehr an den Kräften, dennoch gefällt es mir besser hier zu laufen. Es tut mir gut, wenn ich mich anstrengen muss. Ich beginne meinen Körper zu spüren. Zuerst die Beine. Bei jedem Schritt spüre ich meine Muskulatur. Nicht unangenehm oder erschöpft, aber ich spüre sie. Dann meine Lunge, wie sie frischen Sauerstoff in ihre Flügel pumpt. Mein Brustkorb senkt sich auf und ab. Mit jedem Zug neuen Sauerstoffes. Es ist angenehm die frische Luft zu atmen. Was stimmt nicht mit mir? Ich kann kaum mehr atmen. Etwas steckt in meiner Luftröhre. Was ist mit mir? Plötzlich eine Frau – Licht. Meine Lider werden schwer – dunkel. Egal welche Gedanken mich treiben, mein Körper scheint nur an einem interessiert. Frischer Sauerstoff. Was mir gut tut ist einatmen und laufen. Ich laufe immer weiter, bald müsste die Promenade auftauchen. Seltsam, alle Gedanken sind aus mir verschwunden. Die Promenade. Der Weg ist wieder härter. Ich spüre jeden meiner Schritte auf dem Asphalt. Es ist schön wieder leichter zu laufen. Sand hat sich den Weg in meine Sneaker gebahnt. Sie sind noch immer feucht von der Pfütze. Menschen begegnen mir. Ich sehe niemanden an. Autos hupen, ein Krankenwagen fährt vorbei. Ich höre nichts. Mein Kopf ist leer. Die Kälte ist längst aus meinem Sweater verschwunden, aus meinen Sneakern ebenfalls. Ich laufe immer schneller. Es ist schön zu laufen. Nur zu laufen. Ich spüre, dass es bald vorbei ist. Da ist die Tür, dahinter das Treppenhaus - noch eine Tür. Wasser prasselt auf meinen Kopf nieder. Schönes warmes Wasser. Langsam kehren meine Gedanken zurück. Immer mehr. Vorerst nur die guten.



1

Heftig atmend, saß ich aufrecht im Bett und starrte vor mich in die Dunkelheit. Eine Menge Gedanken schossen mir durch den Kopf. Alles an was ich mich erinnern konnte, war ein Paar Augen, das mich leer aus tiefen Augenhöhlen anstarrte. Ich konzentrierte mich, um das Gesicht dazu wieder entstehen zu lassen, aber es ging nicht. So sehr ich mich auch bemühte, es tauchte nicht mehr auf. Ich war mir ganz sicher, dass da noch mehr gewesen war, aber es war weg. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich konnte schemenhaft mein Zimmer erkennen. Die Leuchtziffern meines Radioweckers zeigten halb sechs. Ich ließ mich in das Kopfkissen zurückfallen. Noch gut eineinhalb Stunden konnte ich schlafen, aber ich musste mich von wahnwitzigen Träumen wecken lassen. Noch eine Weile lag ich so da, starrte im Dunkeln an die Decke und versuchte mich zu erinnern. Schließlich gab ich auf. Meine Gedanken schweiften zurück in die Wirklichkeit. Mir war warm. Die Nacht hatte die Hitze des Tages kaum vertrieben. Ich roch an meinen Achseln. Ganz o.k., aber vielleicht würde ich doch besser etwas lüften. Letzter Schultag. Völlig überflüssig wie ich fand. Unterricht würde ohnehin nicht stattfinden. Andererseits, wäre dann gestern der letzte Schultag gewesen und dann genauso überflüssig. Wenn man diesen Gedanken letztlich fortführte, würde schließlich das ganze Schuljahr überflüssig sein. Ich lachte. Glücklicherweise kam es nicht oft vor, dass ich morgens so früh wach war. Nicht auszudenken, auf was für Ideen ich kommen würde. Besser ich stand auf. Vermutlich war ich nicht dazu geboren über Dinge nachzudenken. Die nächsten zwei Monate, würde ich jeden Tag ausschlafen können und musste mich heute nicht zwingen liegen zu bleiben. Was hatte mich nur aus dem Schlaf gerissen? Ein bisschen unheimlich war mir das Ganze schon. Ich hatte nie Albträume. Um den Gedanken endgültig wegzuwischen, öffnete ich meine Fensterläden. Die aufgehende Sonne tauchte mein Zimmer sogleich in ein zartes Licht. Der Himmel verwandelte seinen schwarzen Mantel zu einem neuen Tag. Unten wartete die Straße, friedlich und verlassen, von den noch schlafenden Menschen belebt zu werden. Sogar bei der älteren Dame von gegenüber waren die Läden noch geschlossen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass es das schon einmal gegeben hatte. Manchmal winkte ich ihr vom Fenster aus zu. Angesprochen hatte ich sie aber noch nie. Keine Ahnung warum. Ab und zu hatte ich mir schon vorgestellt, ob sie vielleicht einen Enkel hatte, wie mich. Ein trauriger Gedanke. Meine eigene Oma hatte ich nie kennengelernt. Als hätte sie meine Gedanken gespürt, öffneten sich die grünen Läden. Sie kam dahinter zum Vorschein. Als sie mich sah, winkte sie freudig herüber. Ich winkte zurück. Das nächste Mal auf der Straße, würde ich sie ansprechen. Oder ich ging einfach einmal hinüber zu ihr. Schließlich wohnten wir schon eine Ewigkeit vis-a-vis. Jetzt machte mich das frühe Aufstehen auch noch sentimental. Ich wandte mich vom Fenster ab und ging gelangweilt in meinem Zimmer umher. Mein Vater hatte schon recht wenn er mich ständig mit der Unordnung hier drin nervte. Überall lagen Klamotten. Es lohnte sich aber nicht sie aufzuräumen. Meistens landeten sie sowieso ungefragt, durch unsere Haushaltshilfe, in der Wäsche. Wobei ich sie insgeheim in Verdacht hatte, vieles einfach ungewaschen wieder in den Schrank zurückzulegen. Beweisen konnte ich ihr das nicht. Es war mir auch egal. Genau wie meine Klamotten legte ich auch nichts anderes dahin zurück, wo ich es herauszogen hatte. Ich benutzte es wieder und ließ es woanders liegen. Da ich immer alles wieder fand und mich die Unordnung nicht im geringsten störte, sah ich auch keine Veranlassung das zu verändern. Reine Zeit- und vor allem Energieverschwendung. Mein Vater sah das natürlich anders. Er hatte jedoch irgendwann aufgegeben sich mit mir darüber zu streiten. Kurz überlegte ich, ob ich ihn mit einem aufgeräumten Zimmer überraschen sollte, kickte letztendlich nur meinen Rucksack unters Bett und verwarf den Gedanken schnell wieder. Stattdessen griff ich nach meinem Handy. Mal sehen, ob Marcel schon wach war. Er war seit der Grundschule mein bester Freund. [Hey], schrieb ich wie immer wenn ich wissen wollte, ob er am Handy war. Leider kam nichts zurück und so surfte ich durch ein paar soziale Netzwerke und Homepages. Auf dem Bettrahmen entdeckte ich den Kaugummi, den ich am Abend zuvor dort deponiert hatte. Irgendwie sah er schon eklig aus, aber bis zum Frühstück lohnte sich kein neuer. Ich steckte ihn mir in den Mund. Er war völlig geschmacklos und hart. Mit etwas Speichel, so wie kräftigen Kaubewegungen, wurde er wieder ein wenig geschmeidiger, aber natürlich nicht mehr geschmackvoller. Egal, mit der Zeit hatte ich festgestellt, dass es mir dabei mehr ums kauen, als um den Geschmack ging. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und mein Vater steckte den Kopf ins Zimmer.

»Hab ich doch richtig gehört«, fing er an zu meckern. »Leidest du jetzt schon an Schlaflosigkeit wegen diesem Mistding? Leg es weg. Sofort!«

»Dir auch einen guten Morgen«, sagte ich provozierend. »Weiß nicht, was dich daran stören sollte«, murmelte ich vor mich hin und wandte mich wieder dem Display meines Smartphones zu.

»Sag mal hörst du schlecht?«, schrie er mich an.

»Von deinem Rumgebrülle muss man ja schwerhörig werden«, schrie ich genervt zurück.

Diese Art der Unterhaltung, war für uns beide leider ganz normal geworden. Ich hatte das Gefühl, dass er immer an allem etwas auszusetzen hatte und begegnete ihm entsprechend. Er fühlte sich provoziert und wurde laut. Schließlich endete es darin, dass wir die nächste Stunde oder länger nicht miteinander sprachen, bis es zur nächsten Auseinandersetzung kam. Harmonische Stunden mit meinem Vater waren selten geworden. Eigentlich konnte ich mich schon gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal so richtig Spaß mit ihm gehabt hatte. Wütend kam er auf mich zu. Ich befürchtete schon, dass ich es heute zu weit getrieben hatte und er vielleicht die Kontrolle verlor. Stattdessen griff er ohne ein weiteres Wort nach meinem Handy und schaltete es aus.

»Na super!«, war ich es, der jetzt brüllte. »Da können Daten verloren gehen«, schrie ich wohl wissend, dass das nicht stimmte.

Er zuckte nur mit den Schultern. »Schwerhörig, ich sag’s ja.«

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, nicht ohne die Tür hinter sich zuzuknallen. Keine Ahnung wo sein Problem lag. Er las seine Zeitung zum Frühstück und ich surfte im Internet. Ob ich ihm einfach mal seine Morgenzeitung wegnehmen sollte, um ihm die Augen zu öffnen. Sehr gesellschaftlich war Zeitung lesen am Frühstückstisch schließlich auch nicht. Idiot, dachte ich bei mir und spuckte meinen Kaugummi in den Mülleimer. Die Halbwertszeit für die zweite Benutzung war doch recht kurz. Immerhin eine Erkenntnis für heute Morgen, die zu etwas taugte. Ich schaltete mein Handy wieder an und stellte mit Freude fest, dass Marcel inzwischen geantwortet hatte. [Guten Morgen, Bro. Auch schon früh wach? Kannst den letzten Schultag wohl gar nicht erwarten lol.] Er sagte immer ‚Bro‘ zu mir. Das einzige was Marcel nutzte um cool zu wirken. Eine Marotte, die ich ihm nicht abgewöhnen konnte. [Haha, nein. Hatte dafür schon ’nen heißen Tanz mit meinem Dad. Hat mein Handy ausgeschaltet. Wie so ein Kind.] [Ich verstehe den Mann echt nicht. Hat er kein eigenes Leben, dass er immerzu dich quälen muss?], schrieb er. [Quälen ist vielleicht auch etwas hart], schwächte ich ab. [Ich weiß schon er ist dein Dad, aber weiß er das auch?] Ich konnte ihn genau vor mir sehen, wie er die Augen verdrehte. [Ich geh vorm Frühstück noch ’ne Runde Laufen. Wir treffen uns nachher unten], brach ich das Gespräch ab. Es ärgerte mich immer ein wenig wenn Marcel so über meinen Vater redete, auch wenn er wahrscheinlich recht hatte. Wortlos verließ ich die Wohnung, zog meine Sneaker an, die vor der Tür lagen, und ging nach unten. In der Regel lief ich mindestens zwei Mal am Tag eine Runde an der Uferpromenade. Das Wetter war mir dabei ziemlich egal. Es entspannte mich mehr als alles andere, was ich je ausprobiert hatte. Eine halbe Stunde später war ich zurück, duschte und setzte mich zu meinem Vater an den Frühstückstisch. Das Frühstück verlief wortkarg. Ich überlegte, ob ich meinen Racheplan mit der Zeitung direkt durchführen sollte, verwarf die Aktion allerdings für heute. Ich war nicht in der Stimmung für eine weitere Auseinandersetzung.

»Ich möchte nicht, dass du in Zukunft schon am Morgen dein Handy nutzt. Ich werde es dir sonst abends weg nehmen«, sagte er beiläufig aber bestimmt.

Schon bereute ich, nicht in die Offensive gegangen zu sein.

»Mach mir lieber ’ne Liste was ich darf. Ist leichter für mich durchzusteigen.« Ich stand auf, griff mir ein Croissant für den Weg und lief aus dem Zimmer. »Ich gehe in die Schule, da nörgelt nicht dauernd jemand an mir ’rum.«

Diesmal war ich es, der die Tür lautstark zuschlug. Mir war flau im Magen. Ich wusste, dass mein Vater diesen Auftritt nicht auf sich sitzen lassen würde. Warum war es mir nicht ein einziges Mal möglich, einfach ruhig zu bleiben. Eigentlich hatte ich vorgehabt mit meinem Vater darüber zureden, nicht mit ihm in den Urlaub zu fahren, sondern mit meinen Freunden in ein Ferienlager. Das konnte ich jetzt mit Sicherheit vergessen. Zornig kickte ich mit dem Fuß gegen die Holzvertäfelung des Treppenhauses. Ich konnte nicht wissen, dass es bald keine Rolle mehr spielen würde. Für den Moment, war ich aufgewühlt und gereizt. Wütend durchsuchte ich die Hosentaschen meiner Jeans nach einem Kaugummi und hatte Glück. Irgendwie entspannte mich Kaugummi kauen fast wie Laufen und sofort war ich wieder etwas ruhiger. Als ich aus dem Haus trat, kam Marcel gerade mit seinem Fahrrad angefahren. Er legte eine Vollbremsung hin und grinste mich an. Keine Rede von meinem Vater, keine schlechte Laune, weil ich ihn einfach abgewürgt hatte. In solchen Momenten wurde mir klar, wie froh ich über seine Freundschaft war. Zehn Minuten später, bogen wir vergnügt scherzend, in die Hofeinfahrt unseres Colleges ein. Gemütlich stellten wir die Räder ab und trotteten in Richtung Eingangstor.

»Ich hab gar keine Lust auf Schule«, stöhnte ich.

»Ach was, heute ist doch sowieso kein Unterricht mehr. Der Vormittag ist schneller vorüber, als du denkst.«

Er hatte recht. Zwei belanglose Unterrichtsstunden später, waren wir in Mitten einer Masse an Schülern auf dem Weg, die große Haupttreppe hinunter, zur Aula. Dort würde wie jedes Jahr zum Ferienbeginn, der Rektor des Colleges eine ganz tolle Rede halten, die uns dann tief bewegte. Zumindest dachte er sich das bestimmt. Marcel und ich, saßen gelangweilt im hintersten Eck der Aula, auf dem Boden. Der ganze Saal war voller Schüler, die schnatternd und lachend darauf warteten, dass es los ging oder besser gesagt, dass es endlich vorbei war.

»Hier stinkt’s ja gewaltig nach Fußkäse«, verzog Marcel das Gesicht.

Ich grinste und deutete mit dem Kopf in Richtung eines Mitschülers, der zwei Meter von ihm entfernt, ebenfalls auf dem Boden saß und seine Füße in unsere Richtung ausgestreckt hatte. Beiläufig zog ich meine eigenen Füße zurück, um mich darauf zusetzen. Einfach um sicher zu gehen.

»Hey ihr zwei, kommt ihr nach der Schule zum Meer runter?«

Lea, ein Mädchen aus unserer Jahrgangsstufe hatte sich zu uns gebeugt. Sie lächelte verführerisch. Marcel sah mich fragend an. Er wusste, dass es bei mir nicht immer selbstverständlich war, dass ich gehen konnte. Mein Dad war aber noch nicht zu Hause wenn ich von der Schule kam. Ich nickte also.

»Klar«, sagte Marcel. Zufrieden zog sich Lea auf ihren Platz zurück.

»Bro, ich glaube die mag dich«, sagte Marcel mit einem vielsagenden Augenzwinkern.

»Ich glaube, die steht mehr auf deine südländische Bräune, als auf weiße Jungs wie mich!«, stieß ich ihm in die Seite.

Ganz vorn im Saal war ein kleines Podest aufgebaut, das unser Rektor in diesem Moment betrat. Schlagartig wurde es still. Eine ausgesprochene Leistung unseres Rektors. Egal wo er auftauchte, zog er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Als ich mein Interesse ebenfalls nach vorn richtete, streifte mein Blick den Jungen, den ich eben noch heimlich mit Marcel gehänselt hatte. Er hatte sich zu uns umgewandt. Wie ein Blitz durchfuhr es meinen ganzen Körper. Ich erinnerte mich, was mich heute morgen aus dem Schlaf gerissen hatte. Es waren diese Augen, die mich aus leeren Augenhöhlen anstarrten.



2

Ich hatte noch nie einen Toten gesehen, aber so mussten die Augen eines Toten aussehen. Während der ganzen Rede unseres Rektors saß der Jungen vor mir. Ich wagte es nicht, mich noch einmal zu ihm zu drehen, zu skurril und bedrohlich war die Situation. Ich hatte diesen Jungen noch nie auf unserem College bemerkt. Warum träumte ich von ihm und was hatte der Traum zu bedeuten? Was hatte das überhaupt alles zu bedeuten? Als der Rektor endlich offiziell die Ferien eingeläutet hatte, brach ein Tumult los. Alle drängten nach draußen. Der Ausgang der Aula führte direkt an dem Jungen vorbei. Ich blieb deshalb noch sitzen und wartete, bis ihn die Meute verschlungen hatte. Auf keinen Fall wollte ich ihm näher kommen.

»Kommst du endlich?«

Marcel war schon aufgestanden und wartete ungeduldig. Vorsichtig ließ ich meinen Blick an ihm vorbei wandern. Erleichtert stellte ich fest, dass der Junge weg war. Gemeinsam verließen wir das Collegegebäude. Draußen entdeckte ich ihn wieder. Ein paar Köpfe weiter vorn. Von hinten war nichts ungewöhnliches zu bemerken. Jetzt war ich doch wieder neugierig. Konnte es wirklich sein, dass sein Gesicht so abartig aussah? Ich musste mich getäuscht haben. Mein Verstand musste mir einen Streich gespielt haben. Würde der Junge wirklich so aussehen, würde ihn jeder anstarren und schreiend davon rennen. Aber nichts dergleichen passierte. Plötzlich hatte ich es eilig. Ich musste mich vergewissern, dass er ein ganz normaler Junge war. Meine Schritte wurden schneller.

»Beeil dich mal«, sagte ich zu Marcel. Gleichzeitig boxte ich mich durch die Horde Schüler, um den Jungen einzuholen.

»Wo willst du denn plötzlich so schnell hin? Wir kommen schon noch rechtzeitig zu Lea an den Strand«, hörte ich Marcel keuchend rufen.

»Scheiß auf Lea. Beeil dich einfach«, rief ich zurück und achtete nicht darauf, ob er mithalten konnte.

Ich musste den Jungen einholen. Schließlich lichtete sich die Menge. Ich stand auf dem Hof, vor dem gusseisernen Tor und sah auf die Straße. Der Junge war weg.

»Verdammt«, fluchte ich laut vor mich hin.

»Bro, was ist denn mit dir? Erst hockst du ’rum wie erstarrt und dann rennst du los, als wäre der Wahrhaftige hinter dir her«, keuchte Marcel, der nun ebenfalls am Tor angelangt war.

»Wer bitte schön ist der Wahrhaftige«, fragte ich irritiert.

»Weiß nicht«, zuckte Marcel grinsend die Schultern. »Sagt man halt so.«

»Na dann«, antwortete ich in Gedanken.

»Wem wolltest du denn hinterher«, fragte er nochmal und sah mich dabei gespannt an.

»Ach egal, lass uns nach Hause fahren.«

Ich war froh, dass Marcel nicht weiter nachbohrte. Aber auch das war etwas, was ihn auszeichnete.



Unsanft schlug die Wohnungstür hinter mir zu. Wie jeden Mittag wenn ich von der Schule kam, warf ich unserer Haushälterin ein »Hey Manuelle« zu, um danach direkt in meinem Zimmer zu verschwinden. Eine Antwort wartete ich nicht ab. Vielleicht hatte sie es bereits aufgegeben und akzeptiert, dass meine Zimmertür schneller ins Schloss fiel, als sie reagieren konnte. Wahrscheinlich interessierte sie es aber auch nicht. Gleichgültig warf ich meinen Schulrucksack auf den Boden. Mit einem Tritt beförderte ich ihn unter mein Bett. Dort würde er für die nächsten acht Wochen sein Zuhause finden. Mit meinem Handy warf ich mich auf mein Bett. Endlich Ferien! Acht Wochen keine Schule und vor allem keine Lehrer. Eigentlich sollte ich mich tierisch freuen, aber ich wusste nicht wirklich worauf. Dieses Jahr war es schlimmer als je zuvor. Genau wie ich meine Lehrer gut acht Wochen nicht sehen würde, würde ich auch meine Freunde mindestens sechs Wochen nicht sehen können. Marcel eingeschlossen. Übermorgen musste ich mit meinem Dad in den alljährlichen ‚heile Welt - Vater&Sohn Urlaub‘ an die Adria. Meine Chancen hier zu bleiben, hatte ich heute Morgen wohl endgültig verwirkt. Vermutlich würde der Urlaub stattdessen, der totale Horror werden. Mein Vater würde zwei Drittel des Urlaubs nur arbeiten, um mir die andere Zeit mit seinem Männerdinggehabe auf die Nerven zu gehen. Ich verstand ohnehin nicht, warum wir an die Adria fuhren, wo wir das Meer vor der Haustür hatten. Nicht genug, entdeckte er genau dann seine Vaterrolle, wenn für mich begann der Urlaub angenehm zu werden und ich mich abends mit irgendwelchen Leuten treffen wollte. Er schleppte mich in pompöse Strandrestaurants und nannte es die Höhepunkte des gemeinsamen Urlaubs. Für mich war es einfach nur der Horror. Viel lieber hätte ich tagsüber mit ihm im Wasser getobt, Fußball am Strand gespielt oder irgendwie sonst das Gefühl gehabt, dass er etwas wegen mir machte. Ein Burger in irgendeiner Frittenbude hätte mir dabei völlig gereicht. Für ihn war das alles nichts und so lungerte ich den ganzen Tag gelangweilt im Hotel herum. Neidisch sah ich anderen Familien zu, die gemeinsam Spaß hatten. Wenn ich es mir recht überlegte, war für meinen Vater der einzige Unterschied zwischen Urlaub und Alltag, der Ort an dem wir uns befanden und dass wir essen gingen. Wenn wir in drei Wochen wieder zurück waren, fuhr mein bester Freund Marcel in ein Ferienlager nach Spanien. Das waren dann weitere drei Wochen, in denen ich mich langweilte. Mein alter Herr war der Meinung, dass es zu viel des Guten wäre, sechs Wochen lang zu verreisen und ich mich lieber die letzten Tage der Ferien auf die Schule vorbereiten sollte. Dass er mir damit die beste Zeit des Jahres kaputt machte, ignorierte er völlig. Seit ich zehn war, führte ich jedes Jahr die gleiche Diskussion und immer mit dem gleichen Ergebnis. Ich blieb zu Hause. Letztes Jahr, war der Streit darüber ziemlich eskaliert. Daraufhin brummte er mir acht Wochen Nachhilfeunterricht auf und selbst im gemeinsamen Urlaub verzichtete er nicht darauf. Wie ich es hasste. Es war immer das gleiche Gefühl wenn ich über meinen Vater nachdachte. Er hatte uns nie die Chance gegeben Vater und Sohn zu sein. Den ganzen Tag war ich allein. Er war morgens schon aus dem Haus bevor ich aufstand. Am Abend wenn er nach Hause kam, setzte er sich ins Wohnzimmer, um meist direkt nach den Nachrichten im Bett zu verschwinden. Manchmal hatte ich das Gefühl, als würde er gar nicht wissen, dass ich in meinem Zimmer saß und darauf wartete, er würde mir eine gute Nacht wünschen. Natürlich hatte ich, als ich noch kleiner war, oft bei ihm gesessen um in seiner Nähe zu sein, immer darauf bedacht ihn nicht zu stören, wenn er Nachrichten sah, ein Buch las oder eben arbeitete. Er hatte mich nie geschlagen, aber er war regelmäßig sauer geworden, wenn ich ihn angesprochen, oder versucht hatte ihm währenddessen einen Kuss zu geben, oder zu kuscheln und so hatte ich es irgendwann gelassen. Wenn ich es nüchtern betrachtete glaubte ich nicht, dass er an mir als seinem Sohn interessiert war. Vermutlich hätte in seinem Leben, ohne mich, nichts gefehlt. Mit Marcels Eltern war es dagegen toll. Mit seinem Dad war ich schon oft beim Angeln gewesen oder am Strand. Wir hatten immer eine Menge Spaß. Er liebte Marcel wirklich und ich hatte das Gefühl, er liebte sogar mich. Zumindest mehr, als mein eigener Vater. Es ist komisch so etwas zu sagen. Ich hoffe, keiner der das liest kann mich verstehen. Wie eigentlich immer bei solchen Gedanken und wenn ich auf meinen Vater sauer war, überkam mich ein seltsames Gefühl. Heute jedoch stärker als je zuvor. Ich kannte meinen Vater nicht und er kannte mich nicht. »Denke nach«, sagte ich mir. Mir musste einfallen, wann er mich einmal in den Arm genommen hatte, mich geküsst hatte um mich zu trösten oder mir zu zeigen, dass er mich liebte. So sehr ich auch nachdachte, mir fiel nichts ein. Es war nie passiert. An keinem Tag hatte ich mir das so bewusst gemacht, wie in diesem Augenblick. Ich weinte. Tränen liefen mir über die Wangen, in die Mundwinkel. Ich schmeckte das Salz. Es war genauso bitter, wie ich mich fühlte. Mich überkam eine eisige Einsamkeit. Eine Einsamkeit, die ich bis heute nie wieder so gespürt habe. Zum Glück! Vergessen werde ich dieses Gefühl nie. Allein und verzweifelt, durchströmte mich eine außergewöhnliche Sehnsucht nach meiner Mutter. Dad sprach nie über sie. Weder über ihren Tod, noch wie sie gewesen war. Manchmal, versuchte ich vorsichtig mit ihm ins Gespräch zu kommen. Wann immer ich das Thema auf meine Mutter lenkte, wurde er ungehalten. Bisweilen kam mir der Gedanke, dass ich etwas mit ihrem Tod zu tun hatte und es ihm deshalb nie möglich gewesen war, väterliche Gefühle für mich zu entwickeln. Ab und zu fühlte ich mich meiner Mutter derart nahe, als könnte ich sie im Raum spüren. Eigentlich hasste ich diese Gedanken. Ich sehnte mich nach meiner Mutter, aber es machte mich traurig an sie zu denken, ohne eine echte Erinnerung zu haben. Auf der anderen Seite hatte ich etwas, das für das Verhalten meines Vaters sprach. So konnte ich es bei ihm aushalten. Ich hatte ein Dach über dem Kopf, jeden Tag zu essen und auch sonst mangelte es mir an nichts. Sicher gab es viele Jugendliche auf der Welt, die weitaus schlimmer dran waren. Dennoch, ein wichtiger Teil meines Lebens, hatte nie stattgefunden. Oft lag ich weinend in meinem Bett oder tyrannisierte meine Umgebung, mit einem meiner Wutanfälle. Selbst Marcel bekam meine Launen zu spüren, obwohl ich mich in seiner Gegenwart froh und ausgeglichen fühlte. Er hatte es gut drauf, mich von zu Hause abzulenken. Außerdem war er mein bester Freund und der einzige Mensch von dem ich wusste, dass er es nie böse mit mir meinte. Zum Glück war ich in der Schule ganz gut, so konnte ich auch für ihn da sein. Trotzdem ich keinen meiner Lehrer richtig leiden konnte, gaben mir meine Leistungen in der Schule etwas von der Anerkennung zurück, die ich zu Hause vermisste. Meinen Vater beeindrucken zu wollen, hatte ich vor langer Zeit aufgegeben.

Ich spürte, wie mir der Schweiß unter dem T-Shirt über den Bauch rann. Aus meinen Gedanken gerissen sprang ich auf. Letztendlich war es noch nicht übermorgen und ich wollte die Zeit mit meinen Freunden nutzen.

»Kommst du essen Jean«, rief es aus der Küche.

»Kein Hunger.«

»Wenigstens eine Kleinigkeit solltest du essen«, ertönte es direkt hinter mir. Manuelle stand in der Tür. Die Uhr zeigte bereits zehn vor eins.

Muffig drehte ich mich zu ihr um. »Was ist an, ich habe keinen Hunger, nicht zu verstehen?«

»Nun komm schon, ich habe extra für dich gekocht«, der Ton den sie anschlug, bewegte mich fast dazu meine schlechte Laune zu vergessen. Nur fast.

»Sorry, aber die anderen warten schon. Ich werde später was essen«, sagte ich freundlicher. Sie konnte ja nichts für meinen Vater.

»Na gut, ich stelle es in den Kühlschrank. Vielleicht hast du ja am Abend noch Appetit«, sagte sie resigniert und zog von dannen, während ich hastig meine Badeshorts überzog.

Mit einem knappen »au revoir, Manuelle«, war ich auch schon zur Tür raus. Um keine Zeit zu verlieren, rannte ich, jeweils mehrere Stufen überspringend, die Treppe hinunter. Die letzte Stufe erwischte ich nicht richtig und kam ins straucheln. In letzter Sekunde bekam ich die Klinke der Haustür zu fassen, um nicht zu stürzen. Allerdings war ich so in Fahrt, dass ich mit einem lauten Schlag, der im ganzen Treppenhaus widerhallte, dagegen krachte. Ich rieb meine Schulter, die etwas schmerzte und hob vorsichtig den Arm, um zu sehen ob etwas schlimmeres passiert war. Es schien alles in Ordnung. Hastig stürzte ich nach draußen. Manuelle war zuzutrauen, dass sie nachsehen würde was passiert war. Das letzte was ich jetzt brauchen konnte, war ihre Fürsorge.

Die Sonne tauchte die Straße in ein gleißendes Licht und brannte heiß auf den Asphalt, so dass sich die Luft verschwommen darauf spiegelte. Der Himmel hatte ein perfektes blau, wie man es sich nicht ausdenken konnte. Keinem Maler der Welt würde es gelingen, ein solches Blau zu mischen. Ich musste blinzeln, da ich versehentlich direkt in die Sonne gesehen hatte. Der Weg zum Strand, war die perfekte Gelegenheit für eine Laufeinheit. Gerade wollte ich dazu ansetzen, als ich auf jemanden aufmerksam wurde. Ein Mann, etwa vierzig Jahre alt und ziemlich nobel gekleidet. Kein Anzug oder Krawatte, aber modisch. Für das warme Wetter auf jeden Fall unpassend. Er war gerade aus einem Taxi gestiegen und blickte zu mir herüber.

»He Junge, kannst du mir kurz helfen«, rief er mir fragend zu. Er sprach ein fast akzentfreies Französisch, konnte allerdings nicht ganz verbergen, dass er Ausländer war.

»Wenn es schnell geht«, sagte ich kurz angebunden. »Was kann ich denn für Sie tun?«, setzte ich etwas höflicher hinzu, mich meiner guten Kinderstube erinnernd.

Zumindest das hatte mein Vater ja hinbekommen, Nebenbei war ich auch neugierig was er wollte. Ich weiß nicht wie ich damals darauf kam, aber der Mann strahlte auf mich eine gewisse Vertrautheit aus.

»Oh entschuldige bitte. Ich möchte dich keinesfalls aufhalten. Dachte nur du wüsstest eventuell, ob hier Familie Bellier wohnt.«

»Was ist denn das für ’ne Frage? Das Taxi hat Sie doch hergebracht, oder?«, sagte ich schroff.

»Da hast du recht. Entschuldige bitte«, antwortete der Mann, während er nervös lächelnd zusammen zuckte.

»Wenn nun also weiter nichts ist, würde ich gerne los. Ich hab’s nämlich wirklich eilig und Sie müssen sich auch nicht andauernd bei mir entschuldigen.« Ich grinste ihn an.

Zu unhöflich wollte ich dann doch nicht wirken. Schließlich sollte er ja nur gutes, von uns Franzosen, zu Hause erzählen. Er sah irgendwie erleichtert aus und grinste zurück, während ich mich in Bewegung setzte.

»Wie heißt du eigentlich?«, rief er hinter mir her.

»Will er mich jetzt anmachen?«, dachte ich und drehte mich kurz um.

Da er die Hand gehoben hatte, winkte auch ich ihm zum Abschied, gab ihm aber keine Antwort. Hatte er Tränen in den Augen? Seltsam! Mein Vater hatte nichts von einem Besuch erwähnt und dann auch noch zwei Tage vor unserer Urlaubsreise. Das passte gar nicht zu ihm. Fast hätte ich umgedreht, um den Grund zu erfahren, lief dann aber doch weiter. Als ich am Ende der Straße um die Ecke bog, sah ich nochmal zurück. Der Mann, stand immer noch an der gleichen Stelle und schaute mir nach - unheimlich. »Komischer Kauz.« Ich zog etwas Tempo an, schließlich hatte ich bereits genug Zeit verloren.

Ich konzentriere mich auf den Asphalt unter meinen Füßen. So kann ich meine Geschwindigkeit am Besten wahrnehmen. Schnell verlieren sich meine Gedanken im Nichts. Ungewöhnlich schnell, fühle ich mich ganz frei. Kurz sehe ich die Spitze meiner Sneaker, dann wieder Asphalt. Ich konzentriere mich auf meine Fußsohlen, so spüre ich Meter für Meter, der sich unter ihnen wegbewegt. Alles um mich verschwimmt und wird eins mit meinem Körper. Obwohl der Weg ganz eben ist, kann ich kaum atmen. Tief aus meinen Lungen, ziehe ich die letzten Sauerstoffreserven. Ich beginne zu röcheln. Mein Atem wird hektisch. Ich werde schwächer. Alles wird schwarz. Plötzlich ein Ruck. Neue Luft strömt durch meinen Körper. Wind bläst durch meine Haare. Ich spüre ihn, bis in die Haarwurzeln. Überall kann ich ihn wahrnehmen. Es ist ein schönes Gefühl. Licht blendet mich. Meine Luftröhre ist wieder frei. Dennoch fühle ich mich schwach. Wie lange habe ich nicht geatmet? Um ein Haar zu lange. Die Frau – meine Mutter – sieht mich an. Sie weint – genau wie ich. Der Asphalt unter meinen Sneakern verschwindet. Sand. Ich bin am Strand angekommen, werde langsamer. Ich atme schwer und tief ein - brauche Sauerstoff. Ich bin schneller gelaufen, als ich dachte.

»Bro, wo bleibst du denn so lang?«, rief mir Marcel bereits von weitem entgegen.

Auch Lea und Dennis, ein anderer Junge aus unser Klasse, waren schon da. Ich ließ mich erschöpft und schweißgebadet in den Sand fallen.

»Scheiße, ist das warm heute«, sagte ich nach Luft schnappend. Mit einem gezielten Wurf, landeten meine Schuhe direkt neben Marcels Kopf. Gleichzeitig zog ich mein T-Shirt aus. »Sorry, dass ich so spät dran bin, aber mir ist gerade was echt komisches passiert.«

Marcel sprang auf. »Ich lach nachher drüber, erst gehen wir uns abkühlen. Der letzte ist ein Muttersöhnchen«, rief er uns zu und rannte los.

Hastig entledigte ich mich meiner Shorts und rannte, was das Zeug hielt, hinter den anderen her. Ich war kein schlechter Läufer, deshalb schaffte ich es zumindest Dennis zu überholen. Marcel war noch nicht wieder aufgetaucht, als ich neben ihm in die Wellen hüpfte und ihn unter Wasser festhielt. Er hatte nicht damit gerechnet, entsprechend schnell ging ihm die Luft aus. Wild zappelnd versuchte er mich abzuschütteln. Lachend ließ ich los.

»Du bist tot, Bro!«, sagte er vergnügt, als er sich wieder einigermaßen erholt hatte.

Er wollte sich auf mich stürzen, griff aber ins Leere. Ich hatte seine Attacke kommen sehen und war schnell unter ihm weggetaucht. So begann eine wilde Jagd durchs Wasser. Irgendwann lagen wir beide abgekämpft in den seichten Wellen und beobachteten ein wenig das Treiben des Meeres. In Momenten wie diesen, liebte ich das Leben. Was konnte es besseres geben, als mit seinen Freunden, bei dreißig Grad, am Strand rumzuhängen. Ich beobachtete das gleißende Sonnenlicht, das sich im Wasser brach und die unterschiedlichsten Schatten auf meiner Brust formte. Ich schloss die Augen und sog die Luft ein. Ich hörte dem Rauschen der Wellen zu und genoss das regelmäßige auf und ab der Brandung, die mich stimulierte. Ich roch das Salz des Wassers, das sich mit dem Duft der Bäume und dem Geruch des Sandes vermischte. Das schäumende Wasser erfrischte und beruhigte mich zugleich.



IN GEDANKEN VERSUNKEN BLICKTE SIE, ENTLANG DER STEINBÖSCHUNG, AUF DIE KLEINE BRÜCKE HINÜBER. DAHINTER LAG EINE WINZIGE BUCHT MIT EINEM KLEINEN SANDSTRAND. SIE SASS HIER OFT. DIE BRANDUNG ZU BEOBACHTEN ENTSPANNTE UND BERUHIGTE SIE. AUCH WENN AN MANCHEN TAGEN DIE GISCHT SO STARK WAR, DASS SIE BIS HINAUF AUF DIE TERRASSE DES CAFÉS SPRITZTE. SIE FÜHLTE SICH DANN BEINAHE WIE AUF DIESER GEFÄNGNISINSEL IM PAZIFIK, IN DER BUCHT VOR SAN FRANCISCO. SIE WAR NOCH NIE DORT GEWESEN, ABER SO MUSSTE ES DA SEIN. SEIT DREIZEHN JAHREN WAR SIE GEFANGEN. GEPEINIGTE IHRER ERINNERUNGEN. ERINNERUNGEN AN IHREN SOHN. WARUM HATTE ER STERBEN MÜSSEN? NIEMALS HÄTTE SIE IHM DIESES SPIELZEUG AUF DIE KRABBELDECKE LEGEN DÜRFEN. ER WAR DOCH NOCH VIEL ZU KLEIN DAFÜR. SIE HÄTTE ES VERHINDERN KÖNNEN. DIE TÜR IHRES GEFÄNGNISSES WAR HINTER IHR ZUGEFALLEN, ALS DIE ÄRZTE IHR GESAGT HATTEN, DASS SIE NICHTS MEHR HATTEN TUN KÖNNEN. GEFANGEN MIT IHRER SCHULD. SIE HATTE ES NICHT GESCHAFFT, IHREN SOHN NOCH EINMAL ANZUSEHEN. »DU HAST MICH ALLEIN GELASSEN«, HÄTTE ER GESAGT. SIE WAR EINFACH WEGGEGANGEN. KEINE ZEICHEN. WAS HÄTTE SIE IHREM MANN SAGEN SOLLEN? SIE KONNTE IHM NICHT MEHR UNTER DIE AUGEN TRETEN. WEIT WEG WOLLTE SIE SEIN, WO SIE NICHTS DARAN ERINNERN WÜRDE. EIN TOLLER JUNGE HÄTTE ER WERDEN KÖNNEN. EINE GUTE ZUKUNFT HÄTTE ER GEHABT. SIE HATTE IHM DAS ALLES GENOMMEN. SIE WÜRDE ES NICHT VERGESSEN. NIEMALS. IN DER ERSTEN ZEIT HATTE SIE AN SELBSTMORD GEDACHT, SICH SCHLIESSLICH FÜR DIE GRÖSSERE STRAFE ENTSCHIEDEN. SIE LEBTE MIT IHREM VERGEHEN. ES AUSZUHALTEN WAR DIE BÜRDE, DIE SIE TRAGEN MUSSTE. SIE KONNTE ES DAMIT NICHT GUT MACHEN, ABER SIE EMPFAND ES ALS EINZIGE MÖGLICHKEIT DER BUSSE. DARUM WAR SIE HIER GEBLIEBEN. SEIT EINIGER ZEIT HATTE SIE DAS GEFÜHL, DASS DARAN ETWAS NICHT STIMMTE. ETWAS HATTE SICH VERÄNDERT. SIE WUSSTE NICHT WAS. IHR BLICK WAR NOCH IMMER AN DER STELLE HÄNGEN GEBLIEBEN, HINTER DER DIE KLEINE BUCHT BEGANN. SIE WAR NOCH NIE DORT GEWESEN. DENNOCH ZOG ES SIE MAGISCH AN. MANCHMAL WENN SIE HINÜBER SAH, LIEF IHR EIN LEICHTER SCHAUER ÜBER DEN RÜCKEN – SO WIE JETZT.



Kälte kroch mir in den Körper. Langsam breitete sie sich aus. Über die Zehen, meine Füße kroch sie die Beine hinauf. Es schüttelte mich, zurück in die Wirklichkeit. Noch immer lag ich neben Marcel in den Wellen und noch immer brannte die Sonne heiß auf uns herunter.

»Bro, was war das denn«, fragte mich Marcel. Er sah mich irritiert an.

»Keine Ahnung«, zuckte ich wahrheitsgemäß mit den Schultern. »Hat mich irgendwie geschüttelt.«

»Wolltest mir doch erzählen, was dir komisches passiert ist«, erinnerte er sich.

Ich schlug die Augen auf und drehte mich zu ihm. »Stimmt, hab ich gar nicht mehr dran gedacht. Ich wollte vorher gerade weg, als so einen Typ vorm Haus aus einem Taxi stieg. Hat mich gefragt, ob da die Belliers wohnen.«

»Und?«, Marcel sah mich gespannt an und wartete auf die Pointe. »Ist doch nix ungewöhnliches.«

Ich blickte ihn ungeduldig an. »Überleg doch mal. Das Taxi hält direkt vor unserer Haustür. Wer wird dem Fahrer wohl gesagt haben, wo er hin fahren soll?« Manchmal war Marcel etwas langsamer mit den Gedanken und es dauerte einen Moment bis er zu nicken begann.

»Stimmt schon. Vielleicht wollte er sich vergewissern, weil er sich der Adresse nicht sicher war«, sagte er nachdenklich.

»Ja und da spricht er besser einen wildfremden Jungen an, als einfach auf die Klingel zu schauen«, sagte ich verächtlich.

»Du kamst halt gerade aus der Haustür«, stellte Marcel nüchtern fest ohne auf meinen Unterton einzugehen.

»Keine Ahnung«, zuckte nun ich mit den Schultern. »Jedenfalls hatte er einen komischen Akzent. Sprach ziemlich gut französisch, aber er war Ausländer. Hat sich ziemlich nach ’nem Deutschen angehört«

»Deutscher?«, sagte Marcel mit einem überraschten und zugleich, nun seinerseits, verächtlichen Unterton. »Was will so einer denn von euch?«

»Ich sag ja, keine Ahnung. Gekannt hab ich ihn jedenfalls nicht. Er hat mich noch gefragt, wie ich heißen würde und mir ewig hinterher geschaut.«

»Vielleicht fand er dich hübsch. Aber er hat mich noch nicht gesehen«, grinste Marcel und streifte sich eitel mit der Hand durch das Haar.

»Blödmann«, lachte ich. »Nein aber mal im Ernst, wenn ich jetzt wieder drüber nachdenke, würde es mich schon interessieren. Du kennst meinen Vater! Zwei Tage bevor wir in den Urlaub fahren, würde er doch keinen Besuch einladen. Genau genommen hatten wir noch nie Besuch. Noch dazu aus Deutschland!«

»Vielleicht ein Geschäftspartner von deinem Dad«, mutmaßte Marcel und sah mich unsicher an.

»Das glaub ich nicht. Soviel ich weiß arbeitet seine Firma, weder mit deutschen Geschäftspartnern, noch hat er jemals geschäftlich jemanden nach Hause eingeladen.«

»Komm schon, verdirb dir nicht den Tag mit sowas«, sagte Marcel, während er sich zurück ins Wasser sinken ließ. Er schloss die Augen.

»Hast ja recht«, antwortete ich und ließ mich ebenfalls zurücksinken.

Allerdings genoss ich diesmal nicht das tolle Gefühl des frischen Meerwassers auf meinem Bauch, sondern war in Gedanken ganz woanders. Seit ich denken konnte, hatten wir nie Besuch bekommen. Es hört sich verrückt an, aber es ist wahr. Nie hatte er irgendwelche Freunde oder Bekannte, zum Kaffee oder gar zum Fußballabend, eingeladen. Selten dass er selbst einmal eingeladen war oder ausging.

»Und ich sage dir, da ist was faul. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche«, sagte ich nach einer Weile hartnäckig.

»Bro, kannst du mal wieder von was anderem reden? Dachte wir sind hier um Spaß zu haben«, erwiderte Marcel leicht genervt.

»Super toll«, sprang ich auf. »Scheiß egal, was mich bedrückt oder? Hauptsache du hast deinen Spaß!«

»So war das ja nicht gemeint, sei doch nicht gleich sauer«, sagte Marcel, erschrocken von meiner Reaktion.

Ich beruhigte mich nicht. »Ich glaube schon, dass du meinst was du sagst«, entgegnete ich, während ich wütend zurück ging, mein Handtuch packte und mit einem kurzen »Salut« auch schon unterwegs zur Straße war.

»Jean, jetzt warte halt mal«, hörte ich Marcel hinter mir herrufen.

Ich tat so, als würde ich ihn nicht hören und lief trotzig weiter. Kurze Zeit später spürte ich, wie er mich an der Schulter packte. Ein Schmerz durchzuckte mich, der mich an den Aufprall gegen die Tür erinnerte.

»Jetzt krieg dich halt wieder ein. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Es war nicht so gemeint. Entschuldige bitte!«

»Ach ja? Du solltest in Zukunft vielleicht sagen was du meinst, dann ist es leichter zu verstehen«, blaffte ich zurück.

Ich riss mich aus seiner Umklammerung. Sicher würde er noch einen Versuch starten mich zu beruhigen und diesmal würde ich nachgeben. So schlimm war es nun wirklich nicht gewesen. Erneut packte mich Marcel bei der Schulter, diesmal jedoch so hart, dass mir fast Tränen in die Augen schossen. Er riss mich herum.

»Du wirst hier bleiben. Wir werden einen schönen Nachmittag verbringen und ich werde mich nicht weiter bei dir entschuldigen, weil ich nichts Schlimmes getan habe. Ich habe ehrlich gesagt keinen Bock mehr, mir jedes Mal ein schlechtes Gewissen zu machen, nur weil du leicht erregbar bis. Ich bin dein Freund, lern das endlich!«

Ich starrte ihn an. Das war nun nicht die Art von Entschuldigung, die ich erwartet hatte. Aber noch während er redete wusste ich, dass er Recht hatte und vermutlich war nun sogar ich an der Reihe mich zu entschuldigen. Marcel hatte es nicht leicht mit mir.

»Blöder Scheißkerl«, sagte ich zu ihm. Unweigerlich musste ich grinsen. »Dass du auch immer alles so auf den Punkt bringen musst.«

Marcel grinste zurück. »Na also«, sagte er und legte seinen Arm um meine Schulter. »Lass uns zurück gehen.«

»O.k.«, sagte ich während wir uns in Bewegung setzten. »Aber könntest du den anderen erzählen, dass du mich auf Knien gebeten hast hier zu bleiben?«

»Vergiss es, Bro«, lachte Marcel. »Ich werde ihnen erzählen, dass ich dir die Meinung gesagt habe und du eingesehen hast, dass du im Unrecht warst.«

»Wirst du nicht«, erwiderte ich und hob drohend den Zeigefinger.

»Wer will mich denn daran hindern«, hob Marcel die Augenbrauen.

»Wirst du schon sehen.«

Ehe sich Marcel versah, hatte ich ihn zu Boden geworfen und saß auf ihm. Blitzschnell drückte ich seine Arme nach hinten. Ich kniete mich auf seinen Bizeps, so dass er keine Chance hatte mich abzuschütteln.

»Sag, lieber Jean ich bitte dich vielmals um Entschuldigung.«

Marcel gab Geräusche von sich, die irgendwo zwischen jammern und kichern lagen. »Dir wird das Lachen schon vergehen«, sagte ich und drückte meine Knie fester auf seine Oberarme.

»Du tust mir weh«, kam es, wieder halb kichernd, halb schluchzend zurück.

»Was kann ich denn dafür wenn du nervst … «, der Rest des Satzes ging in einem Aufschrei unter. Ich hatte mit meinem Knie empfindlich in seine Muskeln gedrückt. Natürlich war es Spaß, trotzdem musste es weh tun. »Sag, entschuldige bitte, zu mir«, forderte ich ihn erneut auf.

»Entschuldige bitte zu mir«, sagte Marcel grinsend und ich lies mich lachend zur Seite rollen.

Ich war froh, dass er mich nicht hatte gehen lassen. Nicht auszudenken, wenn ich jetzt auch noch Streit mit meinem besten Freund bekommen hätte. Als wir zu unserem Platz zurückkamen, waren die anderen verschwunden, vermutlich ins Wasser.

»Mann ist das ein Tag«, schwärmte Marcel während er sich auf seine Decke fallen ließ.

»Stimmt, endlich keine Schule mehr«, bestätigte ich.

»Danke übrigens nochmals für deine Unterstützung in Mathe«, meinte Marcel und ich hatte das Gefühl, dass er mich bewundernd ansah. »Ohne dich hätte ich es nicht geschafft dieses Jahr.«, fügte er hinzu.

»Ach was«, winkte ich ab. »Das hab ich doch nicht für dich getan. Ich will mir gar nicht ausmalen, wenn du nicht mehr in meiner Klasse wärst.«

Marcel schmunzelte. »Schon klar. Trotzdem, du warst mir echt ’ne große Hilfe. Was wollen wir denn heute noch machen?«

Ich antwortete nicht gleich. »Wie wär’s wenn wir später zurückkommen und uns einfach bis in die Nacht hier hinflaggen. Wir bringen etwas Verpflegung mit und chillen ’ne Runde.«

»Cool«, meinte Marcel überrascht. »Das kommt ohnehin viel zu kurz, die nächsten Wochen. Wär mir aber nicht so sicher, dass dein Dad da mitspielt.«

»Ich denke mal, ich werde ihn nicht fragen«, feixte ich.

»Hast den Rebellen in dir geweckt, oder wie?«, grinste Marcel. »O.k. also abgemacht. Dann treffen wir uns um neun wieder hier und wenn du einknickst überleg ich mir was für dich«, sagte er mit einem gespielt bedrohlichen Gesichtsausdruck.

»Yes Sir, Bro Sir«, sagte ich lachend.



3

Wie so oft, hatte Marcel den kleinen Umweg über meine Straße, in Kauf genommen.

»Ich hol dich in drei Stunden hier wieder ab«, meinte er kurz, schlug in meine ausgestreckte Hand ein und fuhr weiter.

Ich freute mich darauf, mit Marcel noch mal zum Strand zurückzukehren, um die laue Sommernacht zu genießen. Davon würde mich nichts auf der Welt abhalten.

Wie versprochen!, rief ich ihm hinterher, bevor ich das Treppenhaus zu unserer Wohnung hinaufstieg.

Der Gedanke an den Fremden von heute Mittag kehrte zurück. Nach der Auseinandersetzung mit Marcel, hatte ich ihn ganz vergessen. Vorsichtig schloss ich die Tür auf und ließ sie hinter mir leise ins Schloss fallen. Die Wohnzimmertür war geschlossen. Ich hörte Stimmen, konnte aber nicht verstehen was gesprochen wurde. Sicher war es nicht gerade die feine Art, in meiner eigenen Wohnung zu spionieren, aber ich wollte wissen wer der Typ war. Wenn es sich um einen Geschäftsfreund meines Vaters handelte, würde ich in mein Zimmer verschwinden und nicht hineingehen. Auf meinen Dad hatte ich heute keinen Bock mehr. Ich schlich also ins Esszimmer. Dort gab es eine Schiebetür mit einem kleinen Spalt, durch den man unauffällig ins Wohnzimmer schauen konnte und auch besser verstand. Hier hatte ich in meinem Leben schon oft gesessen. Früher hatte ich durch den Schlitz, manchmal noch etwas fern gesehen. Einmal hatte ich die halbe Nacht nicht schlafen können, weil ich einen spannenden Thriller mit angesehen hatte. Deutlich sah ich Vater und den Fremden beieinander sitzen. So nah an der Tür, konnte ich jedes Wort verstehen.

»Ich kann nicht länger warten«, hörte ich den Fremden sagen. War er doch ein Geschäftspartner meines Vaters?

»Was wirst du jetzt tun«, fragte mein Vater voller Zurückhaltung.

»Ich habe dir gesagt, dass ich nichts unternehmen werde. Ich fahre wieder zurück nach München«, antwortete der Fremde resigniert, schon fast traurig.

Mit einer Sache hatte ich wenigstens schon mal richtig getippt. Er war Deutscher. Mein Vater kannte ihn wohl besser als gedacht. Es gab nicht viele Menschen, die ‚du‘ zu ihm sagen durften. Der Mann wandte sich ab um zu gehen und auch ich wollte mich schon in mein Zimmer zurückziehen.

»Er ist ja ohnehin, ganz offiziell, mein leiblicher Sohn.«

Dad sprach den Satz mit einer Genugtuung, als wäre er ihm bereits die ganze Zeit auf der Zunge gelegen. Nun da er ihn aber ausgesprochen hatte merkte er, dass es ein Fehler gewesen war. Augenblicklich fuhr der Fremde noch einmal herum. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.

»Ein DNA-Test würde die Wahrheit wohl schnell ans Licht bringen«, sagte dieser scharf. »Ich finde es ein starkes Stück, dass du in meiner Gegenwart von deinem leiblichen Sohn sprichst.«

Ich war auf die Reaktion meines Ernährers gespannt. So ließ er sicher nicht mit sich reden. Niemand sprach so mit ihm.

»Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht«, hörte ich ihn sagen und konnte kaum glauben wie kleinlaut er war. »Aber es ist nun zu spät, es wäre nicht richtig ihn aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen«, beschwichtigte er seinen Gast, gar nicht selbstbewusst.

Was ging da vor zwischen den beiden?

»Ein Fehler?«, lachte der Deutsche höhnisch. »Ein Verbrechen ist wohl die bessere Formulierung. Ich kann dir sagen was richtig wäre. Wenn er immer noch auf den Namen hören würde, den ich mit meiner Frau für ihn ausgesucht hatte, er in München wohnen würde und seine Mutter noch bei uns wäre. Der Himmel weiß, was sie sich angetan hat.«

Der Fremde nahm die Hände vors Gesicht. Ich verstand kein Wort von dem was er sagte? Es verwirrte mich und langsam bekam ich das Gefühl, meinem Vater zur Seite stehen zu müssen. Es war nicht richtig, dass er in seinen eigenen vier Wänden in die Enge getrieben wurde. Irgendetwas hielt mich zurück. Nachdem sich Dad wieder gefasst hatte, erklang erneut seine Stimme. Sie zitterte. So hatte ich ihn noch nie erlebt.

»Jean hat ein gutes Zuhause hier. Du hast dich dreizehn Jahre nicht um ihn gekümmert. Etwas spät um Ansprüche zu stellen«, sagte Vater doch noch angriffslustig.

Paff, das hatte gesessen. Wie ein Faustschlag, hallte mein Name in meinem Kopf wieder. Was war ich für ein Idiot! Natürlich ging es um mich. Der Mann war wegen mir nach Frankreich gekommen. Deshalb hatte er mir auch hinterher gesehen und gefragt wie ich heiße.

»Komm schon«, sagte der Fremde aufgebracht. »Wem willst du hier etwas vor machen? Du weißt genau, dass ich die ganzen Jahre nicht gewusst habe wo Alex steckt. Er ist mein Sohn und ich liebe ihn über alles. Wenn ich vor dreizehn Jahren bereits eine Ahnung von dem hier gehabt hätte, hätte ich ihn schon damals sofort zurückgeholt. In keiner Beziehung hätte ich unseren Alex im Stich gelassen!«

»Dann geh und mach sein Leben nicht kaputt«, sagte Dad leise aber bestimmt.

Noch nie hatte ich jemanden so mit meinem Vater reden hören. Für jeden, den ich kannte war er eine Respektsperson, sogar für Marcels Dad. Ich selbst wusste überhaupt nicht, was ich denken sollte. War ich Alex? Unmö