Der Autor
Foto: © Simone Schatz
Robert Domes, geboren 1961 im bayerischen Ichenhausen, studierte Politik und Kommunikationswissenschaften in München. Er arbeitete jahrelang als Redakteur bei der Allgäuer Zeitung, zuletzt als Leiter der Lokalredaktion in Kaufbeuren, bevor er sich 2002 als Journalist und Autor selbstständig machte. Für das vorliegende Buch hat er fünf Jahre lang recherchiert.
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Robert Domes
Nebel im August
Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa
Die Romanvorlage zum Film mit farbigem Bildteil
Inhalt
Vorwort
von Dr. Michael von Cranach
Prolog
ERSTES BUCH
Funkelaugen
ZWEITES BUCH
Nur ein paar Tage
DRITTES BUCH
Das Gutachten
VIERTES BUCH
Die vergessenen Kinder
FÜNFTES BUCH
Ein unheimlicher Ort
Epilog
Nachwort des Autors
Zeittafel
Glossar
Danksagung
Anmerkungen zur Verfilmung
Bildteil
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1. Auflage Oktober 2016
© 2008 der deutschsprachigen Ausgabe: cbt/cbj, Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Mit einem Vorwort von Dr. Michael Cranach
Lektorat: Frank Griesheimer
Farbige Filmfotos im Innenteil: © Collina Filmproduktion
Der Abdruck des Fotos aus der Krankenakte von Ernst Lossa auf S. 3 erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren.
Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen
Umschlagbild: © Studiocanal 2016
kk · Herstellung: wei
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-19435-2
V001
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Vorwort
von Dr. Michael von Cranach
(ehemaliger Leiter des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren)
Ernst Lossa begleitet mich seit siebenundzwanzig Jahren. Ich weiß nicht, ob ich ihn als Freund bezeichnen darf, ich würde es mir sehr wünschen, kann mir aber auch vorstellen, dass er, vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen, die Freundschaft mit einem Psychiater strikt ablehnen würde. Das müsste ich akzeptieren. Die Umstände unseres »Kennenlernens« haben eine lange Vorgeschichte.
In der Nazizeit haben auf Hitlers persönlichen Erlass zwischen 1939 und 1945 Ärzte und ihre Mithelfer ungefähr 200 000 psychisch kranke Menschen getötet. Sie haben sie für »lebensunwert« erklärt, entwürdigt, gequält und ermordet. Die Täter waren nicht einige wenige, sondern die Mehrheit, die Elite der deutschen Psychiater.
Nach Ende des Krieges haben die Alliierten diese Ereignisse sehr gründlich untersucht, insbesondere die Amerikaner, die Beweismaterial für die Nürnberger Ärzteprozesse sammelten. Tatsächlich wurden dann 1947 in Nürnberg zwei der Hauptverantwortlichen dieser Euthanasieaktion zum Tode verurteilt und gehängt. Doch danach verlor sich das Interesse an weiterer Aufklärung.
Die Mehrheit der Täter und Mitläufer blieb unbehelligt, war weiterhin ärztlich tätig, es entstand keine Zäsur, kein Neuanfang, die schlimme Vergangenheit wurde verdrängt und verleugnet.
Andererseits hatte die Erfahrung des Krieges das Menschenbild unserer Gesellschaft verändert; das Wohl, die Rechte und auch die Verantwortung des Einzelnen bekamen einen hohen Stellenwert; individuelle Freiheit und Menschenrechte wurden die Grundwerte der neuen Demokratie. Diese Gedanken jedoch erreichten die abseits gelegenen, ver- und geschlossenen Großanstalten, in denen damals psychisch kranke Menschen behandelt wurden, sehr spät. Erst 1975 beschäftigte sich der Deutsche Bundestag mit den »brutalen und menschenverachtenden Realitäten« in den psychiatrischen Krankenhäusern, und man beschloss, eine Psychiatriereform in die Wege zu leiten mit dem Ziel der Abschaffung der Großkrankenhäuser und der Verlagerung der Behandlung und der Hilfen in das Lebensumfeld der Betroffenen. Dieser neue Wind hat damals viele von uns jungen Ärzten beflügelt, in die Anstalten zu gehen und die Reform in Gang zu setzen.
Als ich im Mai 1980 mit diesem inneren Auftrag die Leitung einer derartigen Klinik in Kaufbeuren übernahm, wurde mir nach wenigen Wochen bewusst, dass die Veränderung nur gelingen kann, wenn wir uns der Vergangenheit stellen, hinschauen auf alles, was geschehen ist, diesen Nebel der Verschwiegenheit und Lähmung lichten. Also sichteten wir Verwaltungsakten, Prozessakten, die noch vorhandenen Krankengeschichten der getöteten Menschen und wir sprachen mit Zeitzeugen. Dabei stießen wir immer wieder auf Ernst Lossa. Den amerikanischen Offizieren, die 1945 als Erste in der Klinik ermittelt hatten, war es offensichtlich ähnlich gegangen wie später uns. Bei ihren Verhören der Ärzte und des Klinikpersonals sahen sie sich mit so Unfassbarem konfrontiert, dass sie das Bedürfnis hatten, die Ereignisse besser verstehen zu können, und zwar in einem Einzelschicksal personifiziert. So fanden sich viele Zeugenaussagen über Ernst. Diese sind, erweitert um die Schilderungen von Ernsts Schwestern Amalie und Anna, die heute noch leben, und um die Ergebnisse von Robert Domes’ umfangreichen Recherchen, die Grundlage dieses Buches.
Millionen Menschen wurden Opfer des Holocaust, Hunderttausende wurden Opfer des Kriegs gegen psychisch kranke Menschen, diese Zahlen versperren uns den Blick auf den Einzelnen. Als ich Ernsts Krankengeschichte zum ersten Mal in die Hand nahm, hat mich das dort angeheftete Foto tief bewegt und nicht mehr losgelassen. Seitdem führe ich innere Gespräche mit ihm, und oft habe ich bei schwierigen beruflichen Entscheidungen versucht, mein zu lösendes Problem aus Ernsts Perspektive zu betrachten, und dann wusste ich, wie ich zu entscheiden hatte. Auf dem Foto schaut Ernst uns an, herausfordernd und zugleich tieftraurig, Kind und Erwachsener zugleich. Allen, die dieses Bild sehen, legt es nahe, sich in seine Lage zu versetzen, sich vorzustellen, wie ein Kind das Leben unter derartig grauenvollen Umständen erlebt und bewältigt hat. Die äußeren Ereignisse haben sich so zugetragen, wie Robert Domes sie schildert. Um Ernsts Innenleben darzustellen, hat Robert Domes auf empathische Weise zu den Mitteln des Romans gegriffen. Der Leser ist aufgefordert, sich in Ernsts Lage hineinzuversetzen und seine persönliche Version von Ernsts Erleben zu entwickeln.
Wenn ich Ernst heute anschaue, mag ich am liebsten alles ungeschehen machen, doch das ist unmöglich, wie wir alle wissen. Selbst wiedergutmachen (was für ein unglückliches und schönfärberisches Wort haben wir damals im Rahmen der Entschädigung der Opfer des Holocaust gewählt!) geht nicht. Doch Bücher wie dieses geben Ernst und allen Opfern die Würde zurück, die ihnen auf so schlimme Art genommen wurde.
Eggenthal, im November 2007
Michael von Cranach
Michael von Cranach, Dr. med, Jahrgang 1941, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach Tätigkeiten in München und London übernahm er 1980 die Leitung des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren und war dort bis zu seiner Berentung 2006 tätig. Aus einer stark sozialpsychiatrischen Perspektive heraus engagierte er sich klinisch und in internationalen Gremien (WHO und EU) für die Aufhebung der Ausgrenzung psychisch kranker Menschen. In diesem Rahmen befasste er sich auch intensiv mit der Erforschung der Psychiatrie im Nationalsozialismus. Er betreibt heute eine psychiatrische Praxis in München und setzt seine Bemühungen um eine entstigmatisierte Psychiatrie fort.
Prolog
Die Tür zum Vorraum steht einen Spalt offen, dort brennt eine Glühbirne, doch ihr funzliges Licht schafft es kaum bis ins Krankenzimmer. Ernst lauscht auf die Atemzüge der anderen. Zwei schlafen fest. Nur Heinz1 ist wach, hält mit der rechten Hand sein Ohrläppchen fest und streicht mit der Linken unermüdlich die Bettdecke glatt, faltet sie auf, streicht sie wieder glatt. Mit Heinz ist nicht viel anzufangen. Er glotzt den ganzen Tag ins Leere, spricht mit Menschen, die keiner sieht, in einer Sprache, die keiner versteht. Die anderen beiden kennt Ernst nicht. Der eine hat sich, trotz der Hitze, fest in seine Decke gewickelt. Der andere schnarcht leise. Beim Einatmen gibt er ein Knurren von sich, beim Ausatmen blubbert er, als läge er unter Wasser.
Seine drei Zimmergenossen sind wesentlich jünger als Ernst, höchstens sechs oder sieben. In drei Monaten wird er fünfzehn und ist eigentlich schon zu alt für die Kinderkrankenstation. Er ärgert sich, dass er heute hier schlafen muss. Viel lieber wäre er drüben bei den Männern geblieben.
Meistens legen sie ihn auf die Krankenstation, wenn er etwas ausgefressen hat, weil sie ihn hier besser überwachen können. Aber diesmal hat er nichts angestellt. Heichele sagte, er sei typhusverdächtig. Typhus ist eine ernste Sache. In den letzten Wochen sind angeblich schon zehn Patienten daran gestorben. Aber sie waren alle schwach, hatten graugrüne Gesichter, krümmten sich vor Bauchweh und schissen die Betten voll. Ernst dagegen fühlt sich munter wie schon lange nicht mehr. Vielleicht ist die Geschichte mit dem Typhus nur ein Trick von Heichele, damit Ernst endlich die Tabletten nimmt.
Er schließt die Augen und versucht, sein aufgeregtes Herz zu beruhigen. Die Stimme seiner Mutter klingt aus einer fernen Zeit zu ihm her. Nach Sonnenuntergang beginnt die Stunde der Engel, hat sie immer gesagt. Er stellt sich vor, ein Engel geht durch die Station, vorbei an den Krüppeln und Idioten, an den Gelähmten und Blinden, an den Schreienden, die man ans Bett gebunden hat, und den Stillen, die nur vor sich hin sabbern. Der Engel geht vorbei und alle werden ganz friedlich. Am Ende kommt er auch zu Ernst, berührt ihn mit seinem Flügel an der Schulter und zwinkert ihm zu.
Er setzt sich im Bett auf, aber da ist keiner. Nur vom Flur hallen schwere Schritte herein. Klack-schlurf-klack, Heichele mit seinem Hinkebein auf Rundgang. Der Pfleger sperrt den Vorraum auf, der das Krankenzimmer vom Flur trennt. Als sein massiger Schatten die Tür ausfüllt, schließt Ernst schnell die Augen. Heichele soll glauben, dass er schläft. Sonst fängt er wieder mit seinen Tabletten an. Einige Atemzüge lang rührt sich nichts, dann gibt der Pfleger ein zufriedenes Grunzen von sich. Ernst hört, wie Heichele absperrt. Das Klack-schlurf-klack entfernt sich.
Zwei Stockwerke tiefer sitzt Georg Frick in seinem Büro. Der Verwaltungsleiter der Heil- und Pflegeanstalt trommelt nervös auf der schweren Schreibtischplatte, schiebt Papiere hin und her, kann sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Er steckt sich eine Zigarette an. Da klopft es an der Tür.
Frick ruft: »Herein!«, er hat den späten Besuch bereits erwartet.
Die Oberschwester macht ein griesgrämiges Gesicht. Frick deutet auf einen Stuhl und hält ihr die Zigarettenschachtel hin.
Sie greift zu und fragt gereizt: »Warum braucht ihr mich für diese Sache? Sonst ist der Heichele doch auch nicht so zimperlich.«
Frick zuckt die Achseln. »Er hat zum Chef gesagt, er kann es nicht.«
Sie lacht auf. »Der Herr Pfleger kann das nicht, also brauchen die Herren die Schwester Pauline.«
»Ist vielleicht auch besser, wenn das nicht einer allein macht«, sagt Frick. »Der Kerl ist nicht zu unterschätzen.«
»Ich dachte, er ist erst vierzehn?«
»Fast fünfzehn.«
Pauline bläst den Rauch aus. »Und da macht ihr so einen Zirkus.«
»Du kennst ihn nicht. Der ist zu allem fähig.«
Die Oberschwester schüttelt den Kopf. Dann warten die beiden, rauchen und warten. Pauline wandert durch den Raum, Frick sortiert die Papierberge auf dem Tisch. Endlich klingelt das Telefon.
Frick nimmt ab, horcht kurz, nickt und legt wieder auf. »Er schläft«, sagt er.
Sie stopft die Zigarette in den Aschenbecher. »Na dann, an die Arbeit! Gehst du mit?«
Frick nickt. »Ja, ist wohl besser.«
Ernst wartet, bis es still im Flur ist und die Tür des Pflegerzimmers ins Schloss fällt. Dann steht er auf, doch nicht mal am gekippten Fenster gibt es frische Luft. Er schielt durch den Spalt neben dem Verdunkelungskarton nach draußen, wo die Reste eines schwülen Augusttages in einer mondlosen Nacht verschwinden. Die dicken Klostermauern sind von der Hitze der letzten Tage gesättigt. Ernst hofft, ein paar Sterne zu sehen, aber der Himmel hat sich zugezogen. Das Gewitter wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Unruhig wirft er sich aufs Bett, schwankt zwischen Wachen und Schlafen, als würde er auf einem schmalen Grat laufen, wo es auf der einen Seite hell, auf der anderen dunkel ist. Bilder von früher tauchen in seinem Kopf auf, Stimmen aus dem Nebelland, Gerüche, Fahrtwind. Sommer 1933, seine letzte Reise mit den Eltern. Elf Jahre ist das her.
Ernst sieht Vater und Mutter in ihrem alten Planwagen, grüne Felder, rote Mohnblumen. Die Oma in Buchau, die Pfannkuchen mit Marmelade macht. Ein schwitzender Dorfpolizist, der von Zigeunerpack2 redet. Abende am Lagerfeuer, Mutter singt, Vater spielt Quetsche* und die Sterne leuchten. Die modrige Wohnung in Augsburg. Mutter, die in der Haustür steht und winkt und im Rauch verschwindet. Babett-Oma, die im Winterdunst immer durchsichtiger wird. Er sieht seine Schwestern Malchen und Nanna in ihren Nachthemden durch einen schwarzen Flur schweben. Er sieht seinen Vater im schäbigen Anzug und mit dünnem Gesicht im Garten des Erziehungsheimes sitzen. Die Zugfahrt ins Allgäu, am Horizont glitzernde Berge. Die Anstalt mit ihren verlorenen Menschen und den vergessenen Kindern. Er spürt einen Kuss auf seiner Wange, sieht ein Mädchen mit roten Haaren und grünen Augen. Haferfeld mit Mohn.
Auf dem Flur hallen Schritte. Die Bilder vermischen sich und verblassen. Ernst will sie festhalten. Wo war der Anfang? Grünrote Felder, die Familie im Planwagen, der Stolpertakt der Landstraße. Die Schritte kommen näher.
1 Die Personen im Text werden, wo immer es möglich ist, mit ihren wirklichen Namen genannt. Ausnahmen sind: 1. Menschen, die aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht genannt werden. 2. Personen, die historisch nicht klar recherchierbar waren. Diese Namen sind geändert und bei der ersten Nennung kursiv gesetzt.
2 Mit einem Sternchen gekennzeichnete Wörter sind am Ende des Buches kurz erklärt.
ERSTES BUCH
Funkelaugen