Inhalt

Titel

Impressum

Es muss etwas geschehen

Ins Schwabenland

Durch tiefen Schnee

Die Zeiten sind schlecht

Ein Sack Kartoffeln

Am Bodensee

Jakob zweifelt

Verkauft

Ankunft auf dem Hartmann-Hof

Zähne zusammenbeißen

Hermann

Besuch bei Kilian

Zu Hilfe!

Ein schlimmer Verdacht

Noch mehr Arbeit

Verschwunden

Jakob hilft Anna

Fragen über Fragen

Heuernte

Brüderlich geteilt

Regentage

Knochenarbeit

Glück gehabt!

Ein stiller Schwur

Die Hauptsache

Nachwort

Autoreninformation

Als Ravensburger E-Book erschienen 2013

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH.
© 2013 Ravensburger Verlag GmbH

Umschlag- und Innenillustrationen: Henriette Sauvant
Lektorat: Emily Huggins

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH

ISBN 978-3-473-47254-3

www.ravensburger.de

Es muss etwas geschehen

Es dämmerte schon, als Jakob und sein Bruder Kilian auf ihrem Schlitten noch einmal den Hang am Waldrand hinunterfuhren. Sie überholten Leonhard, der sich auf den Bauch gelegt hatte, um schneller zu sein. Im Vorbeifahren johlte Kilian begeistert und klatschte vor Freude in die Hände.

„Festhalten!“, rief Jakob.

Schon schanzten sie über einen Hubbel, landeten schräg auf einer Kufe und schafften es nur dank Jakobs Geschick, nicht im Schnee zu landen. Doch sie verloren so viel Schwung, dass Leonhard an ihnen vorbeisauste und vor ihnen unten ankam.

„Gewonnen!“, rief er ihnen entgegen. „Ich war allein schneller als ihr zu zweit!“

„Dafür sind wir prima geschanzt“, erwiderte Kilian.

„Das zählt nicht“, sagte Leonhard.

„Doch!“

Jakob schwieg. Er ärgerte sich, dass Leonhard gewonnen hatte. Ausgerechnet dieser Angeber. Am liebsten hätte er den Schlitten noch mal den Hang hinaufgezogen und Leonhard zu einem Rennen herausgefordert. Diesmal ohne Kilian. Doch es war schon spät.

„Los, wir müssen heim und dem Vater helfen“, sagte er zu seinem Bruder.

„Wenn ihr euch traut, können wir morgen wieder ein Rennen machen“, stichelte Leonhard.

Kilian streckte ihm die Zunge raus. Das wagte er nur, weil Jakob dabei war.

Leonhard hob drohend die Faust. „Warte nur, bis ich dich allein erwische!“

„Wenn du ihm etwas tust, bekommst du es zurück“, warnte ihn Jakob.

„Vor dir hab ich keine Angst“, sagte Leonhard und machte zwei Schritte auf Jakob zu.

Sie standen sich gegenüber und einen Augenblick lang sah es aus, als würden sie sich gleich aufeinanderstürzen. Doch nachdem sie ihre Schlitten an diesem Nachmittag so oft den Hang hinaufgezogen hatten, fühlten sich beide zu müde für einen Kampf. Ohne ein weiteres Wort machten sie sich auf den Heimweg.

Unterwegs knurrte Jakobs Magen heftig.

„Hast du auch so Hunger?“, fragte Kilian.

Jakob nickte nur.

Daheim stand die Mutter am Herd und rührte in einem Topf. „Wo bleibt ihr denn?“, fragte sie vorwurfsvoll.

Kilian machte den Hals lang, um in den Topf zu schauen. „Ich hab Hunger“, sagte er.

Die Mutter schob ihn weg. „Jetzt gibt’s noch nichts. Erst geht ihr in den Stall und helft dem Vater.“

„Aber ich …“

„Komm!“, sagte Jakob, packte seinen Bruder am Arm und zog ihn mit.

„Lass mich los!“

Jakob ließ ihn los, und Kilian trottete murrend hinter seinem Bruder in den Stall.

Dort hatte Franz Ambross schon mit dem Ausmisten begonnen. Wortlos drückte er Jakob die Mistgabel in die Hand. Kilian ging ohne Aufforderung in die Scheune und holte in einem Korb Heu für die beiden Kühe. Der Vater setzte sich auf den Melkschemel, klemmte den Eimer zwischen die Knie und molk die erste Kuh.

Nachdem die Kühe versorgt waren, musste Jakob noch das Ferkel füttern. Als es ihn kommen sah, streckte es die Schnauze durch das Gatter und grunzte freudig. Jakob zögerte, bevor er den Eimer mit dem Schweinefutter, den ihm die Mutter gegeben hatte, in den Trog leerte. Er überlegte, ob er hineingreifen und eine Handvoll nehmen sollte. Doch als er die Nase über den Eimer hielt, wurde ihm von dem säuerlichen Geruch übel. Schnell kippte er alles in den Trog. Das Ferkel begann sofort schmatzend zu fressen. Jakob lehnte sich an die Wand, schluckte ein paarmal und atmete tief durch. Dann ging er mit weichen Knien zurück in die Küche und setzte sich schnell hin.

Kilian und Vroni warteten schon am Tisch. Theresia hob den kleinen Johannes auf die Bank und setzte sich neben ihn. Die Mutter stellte den Suppentopf auf den Tisch, richtete sich auf, fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und drückte den Rücken durch, dass ihr Bauch noch dicker wurde. In diesem Augenblick kam Franz Ambross herein. Er blieb kurz in der Tür stehen und sah seine Frau an. „Ist was?“

„Nein, nein“, antwortete sie.

Schweigend setzte er sich an den Kopf des Tisches. Hermine Ambross schnitt von einem Kanten Brot drei dünne Scheiben ab und legte ihrem Mann und den beiden ältesten Buben je eine neben den Teller.

Die Eltern und die Kinder falteten die Hände. Nur Johannes griff gleich nach Theresias Löffel. Da nahm Theresia seine Hände und drückte sie zusammen.

„Wir beten jetzt“, sagte die Mutter zu Johannes und hielt ihre gefalteten Hände hoch. „Schau, so musst du die Hände falten, wie wir alle. Das weißt du doch.“

„Hannes essen“, babbelte der Kleine.

„Johannes!“, mahnte die Mutter.

Der Ton ließ ihn innehalten.

„Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, oh Gott, von dir. Wir danken dir dafür. Amen“, betete Franz Ambross.

„Amen“, wiederholten alle und bekreuzigten sich.

Hermine Ambross schöpfte Suppe in die Teller, die stillschweigend geleert wurden. Johannes, der noch nicht selbst essen konnte, wurde von Theresia gefüttert.

„Hannes noch!“, sagte er, als der Teller leer war.

Die Mutter verteilte die restliche Suppe in die Teller der Kinder. Den letzten Schöpfer wollte sie ihrem Mann geben. Doch der wehrte ab: „Iss du, du brauchst es nötiger als ich.“

Hermine Ambross schüttelte den Kopf. „Ich hab schon vorher davon gekostet“, erwiderte sie und kippte den Schöpfer.

Ihr Mann zögerte kurz, aß die Suppe dann aber doch.

„Hannes noch!“, babbelte Johannes wieder.

„Ich hab auch noch Hunger“, murmelte Vroni.

„Und ich“, sagte Kilian.

„Du hast ja ein Stück Brot bekommen und ich nicht“, beschwerte sich Vroni.

„Schluss jetzt!“ Franz Ambross sprang auf, nahm den Rest Brot und griff nach dem Messer.

„Nein, nicht! Das Brot ist für morgen“, bremste ihn seine Frau.

„Aber ich … ich kann … ich muss … Herrgott im Himmel, was soll ich nur tun?“ Es klang mehr nach einer Anklage als nach einer Frage.

Seine Frau legte ihm die Hand auf den Arm.

Er ließ das Messer sinken und stand mit hängenden Schultern vor seiner Familie. „So kann’s nicht weitergehen“, murmelte er. „Es muss etwas geschehen!“

Ins Schwabenland

Bis auf Kilian und Severin saßen alle Kinder an ihren Plätzen, als Anton Reisinger das Schulzimmer im Untergeschoss des Pfarrhauses betrat. Der kleine vollbärtige Mann mit dem steifen linken Bein unterrichtete die Galtürer Kinder schon seit vielen Jahren in der Winterzeit. Er warf den beiden Buben einen strengen Blick zu, ging zum Pult und legte seine abgewetzte Ledertasche drauf. Dann schaute er in den Raum und überprüfte, ob jemand fehlte, wobei er mit der Hand mehrmals über seinen Bart strich.

„Guten Morgen, Kinder!“

Die Kinder sprangen auf und antworteten im Chor: „Guten Morgen, Herr Lehrer!“

Er faltete die Hände, die Kinder ebenso. Dann beteten sie gemeinsam das Vaterunser.

„Setzt euch!“

Die Kinder gehorchten und warteten auf die Anweisungen des Lehrers.

Die Kleinen, die vorn saßen, mussten drei Reihen große G und drei Reihen kleine g auf ihre Schiefertafeln schreiben. Der Lehrer malte die Buchstaben mit Kreide sorgfältig an die Tafel, damit die Kinder wussten, wie sie auszusehen hatten.

Die Mittleren, zu denen Kilian und sein Freund Severin gehörten, mussten das Rechenbuch Seite 18 aufschlagen und die erste Aufgabe ausrechnen.

„Zu euch komme ich gleich“, sagte Anton Reisinger zu den Großen. Dann ging er langsam an den Kindern vorbei, schaute ihnen über die Schultern, half den Kleinen beim Schreiben der Buchstaben und den Mittleren beim Rechnen.

„Wer fertig ist, rechnet die zweite Aufgabe“, sagte der Lehrer. „Und ich will keinen Mucks hören!“

Dann hängte er eine Landkarte auf und wandte sich an die Großen. „Morgen gehen einige von euch ins Schwabenland. Wer war denn schon einmal dort?“

Sieben Hände wurden hochgestreckt. Auch von den Mittleren meldeten sich drei.

„Wer kann mir auf der Karte zeigen, wo das Schwabenland liegt?“

Schnell verschwanden alle Hände.

„Schaut euch die Karte genau an!“, forderte der Lehrer die Kinder auf.

Zögernd hob Jakob die Hand.

„Jakob!“

Er stand auf. „Das Blaue ist ein See, glaube ich.“

„Richtig. Und was für ein See ist das?“

Xaver, der schon letztes Jahr im Schwabenland gewesen war, gab die Antwort: „Der Bodensee.“

„Genau“, sagte der Lehrer. „Merkt euch das endlich!“ Er nahm den Zeigestock und umkreiste damit ein helles Gebiet auf der Karte. „Das hier ist das Paznauntal und hier etwa befindet sich Galtür.“ Er tippte mit dem Stock gegen die Karte. „Unser Dorf ist nicht eingezeichnet, weil es dafür zu klein ist. Von hier geht’s durch das Montafon nach Bludenz und Feldkirch.“ Er zeigte den Weg mit dem Stock. „Dann über Dornbirn und Bregenz ins Schwabenland, das sich hier befindet.“ Er zog einen großen Kreis nordöstlich vom Bodensee. Während er das tat, hörte er hinter sich ein Geräusch. Er drehte den Kopf und sah, wie Kilian seinem Nebensitzer Severin ins Ohr flüsterte, dass der hinter vorgehaltenen Händen kicherte.

„Ihr zwei!“, rief er und stieß den Zeigestock in ihre Richtung. „Kommt sofort nach vorn!“

Die beiden erschraken so, dass sie sich im ersten Moment nicht rühren konnten.

„Wird’s bald!“

Kilian und Severin erhoben sich und schlichen mit eingezogenem Kopf nach vorn, schon ahnend, was sie erwartete.

„Zuerst sitzt ihr nicht an eurem Platz, wenn ich hereinkomme“, begann der Lehrer. „Dann hört ihr nicht zu. Was habe ich vorhin gesagt?“, fragte er und gab selbst die Antwort. „Ich will keinen Mucks hören! Aber ihr flüstert und lacht, anstatt zu rechnen. Deine linke Hand!“, befahl er Severin.

Langsam hob Severin die Linke und streckte sie so weit wie möglich von sich, als ob die Schläge dann weniger schmerzen würden. Der Zeigestock sauste zweimal auf die Innenseite seiner Hand. Der brennende Schmerz trieb Severin Tränen in die Augen.

„Jetzt du!“, sagte der Lehrer zu Kilian.

Der zögerte und wäre am liebsten hinausgerannt. Aber er wusste, dass er damit alles nur noch schlimmer machen und mehr als zwei Tatzen bekommen würde. Also hob er die Hand und kniff die Augen zu.

Jakob zuckte bei jedem Schlag zusammen, denn er litt mit seinem Bruder.

„Wer nicht hören will, muss fühlen“, sagte der Lehrer. „Habt ihr mich verstanden?“

Severin und Kilian nickten.

„Dann setzt euch und rechnet die Aufgabe!“

Als Kilian und Severin an ihren Plätzen waren, wandte sich der Lehrer wieder an die Großen. „Mir wäre es lieber, ihr könntet alle hierbleiben und lernen, anstatt ins Schwabenland zu ziehen und zu arbeiten. Denn in die Schule lässt man euch dort nicht. Aber mich fragt ja niemand“, sagte er mehr zu sich selbst als zu den Kindern.

Nach dem Unterricht gab es auf dem Heimweg eine wilde Schneeballschlacht. Dabei zielte Jakob auf Leonhard und traf ihn einmal an der linken Backe, worüber er sich diebisch freute.

„Warte nur! Das bekommst du zurück!“, drohte Leonhard und schleuderte wütend mehrere Schneebälle nach Jakob.

Doch der wich allen geschickt aus und rief: „Nix getroffen, Schnaps gesoffen!“

Fast gleichzeitig klatschte ihm ein Schneeball, den Maria geworfen hatte, gegen die Brust.

„Doch getroffen, Schnaps gesoffen!“, rief sie.

Leonhard lachte.

Jakob, Xaver, Luggi, Bonifaz, Theresia, Kilian und Severin gaben sich Zeichen, formten mehrere Schneebälle, warfen sie gleichzeitig ab und schlugen ihre Gegner damit in die Flucht.

„Gewonnen!“, riefen sie und freuten sich.

Dann gingen alle nach Hause zum Mittagessen.

Hermine Ambross stellte eine Schüssel mit Haferbrei auf den Tisch und füllte die Teller, so weit es reichte. Während sie aßen, war es still wie immer. Nur Johannes babbelte vor sich hin.

Kilian schlang seine Portion schnell hinunter und saß dann vor seinem leeren Teller. Er hoffte, er würde als Erster Nachschlag bekommen, wenn noch etwas in der Schüssel war. Jakob dagegen aß langsam, um länger etwas von dem Essen zu haben. Heute ließ er sich besonders viel Zeit, weil er spürte, dass die Eltern anders waren als sonst.

Nachdem alle ihre Teller geleert hatten, blieben sie sitzen, als warteten sie auf etwas. Schließlich hielt Jakob die Stille nicht mehr aus und sagte: „Der Lehrer hat heute …“

Da bekam er unter dem Tisch einen Tritt.

„Au!“

„Was ist los?“, fragte die Mutter.

Jakob sah, wie Kilian leicht den Kopf schüttelte, als wollte er sagen: Bitte nichts verraten!

„Äh … ja … er hat uns gezeigt, wo das Schwabenland ist, weil morgen einige dort hingehen“, redete Jakob weiter.

Kilian sah erleichtert aus. Doch die Eltern wechselten eigenartige Blicke. Die Mutter schluckte und beugte sich über ihren leeren Teller.

Der Vater räusperte sich, wusste aber anscheinend nicht, wie er anfangen sollte.

„Ja … also … Jakob und Kilian, hört mir mal zu.“ Er stockte noch einmal und sagte dann leise: „Ihr seid alt genug, um zu verstehen, was ich jetzt sage.“ Er schaute Jakob und Kilian an.

Beide nickten.

„Ihr wisst, dass es bei uns hinten und vorne nicht reicht. Nach jedem Essen steht ihr hungrig vom Tisch auf. Und ihr braucht dringend wärmere Kleidung und bessere Schuhe. Das alles können wir euch nicht geben. Selbst wenn wir noch so fleißig arbeiten, reicht es einfach nicht für alle. Und wenn das neue Geschwisterchen kommt, reicht es noch weniger. Eure Mutter und ich haben lange hin und her überlegt, was wir tun können. Wir sehen keine andere Möglichkeit, als euch dieses Jahr ins Schwabenland zu schicken.“ Er machte eine Pause.

Die Worte des Vaters kamen so überraschend, dass es Jakob und Kilian schwerfiel, sie zu begreifen.

„Es ist ja nicht für immer und ihr seid auch nicht allein“, fügte der Vater hinzu. „Im Herbst kommt ihr wieder heim und habt die ganze Zeit gut gegessen und Geld verdient.“

„Wenn wir ins Schwabenland gehen, kann mich der Lehrer wenigstens nicht mehr schlagen“, rutschte es Kilian heraus, und fast gleichzeitig drückte er eine Hand auf den Mund, weil er sich verplappert hatte.

Normalerweise hätte der Vater gefragt, wofür er die Schläge denn bekommen habe. Und dann konnte es sein, dass es von ihm auch noch ein paar auf den Hintern gab. Aber heute fragte der Vater nicht. Stattdessen bemerkte er: „Jakob, du sagst ja gar nichts.“

„Müssen wir schon morgen gehen wie die anderen?“, fragte Jakob.

Der Vater nickte.

„Ihr könnt euch heute Nachmittag von euren Kameraden verabschieden“, sagte die Mutter. „Aber einige gehen morgen auch mit, zum Beispiel Xaver, Bonifaz …“

„Und Severin“, unterbrach Kilian die Mutter.

„Ja, der auch.“

Über Kilians Gesicht zog ein Lächeln.

„Du siehst“, wandte sich die Mutter an Jakob, „deine besten Kameraden sind mit dabei. Und Xaver war schon letztes Jahr im Schwabenland. Der kennt sich also aus.“

Jakob nickte nur.