Inhaltsverzeichnis

Buch
Autor
Widmung
I - 31. August – 10. September
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
II - 10. – 24. September
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
WER WIRD DAS NÄCHSTE OPFER?
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
III - 24. – 27. September
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
IV - 27. September – 1. Oktober
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
V - 2. Oktober
Kapitel 52
Copyright

Autor

Håkan Nesser, Jahrgang 1950, ist einer der unbestrittenen Stars am schwedischen Krimihimmel, nur noch vergleichbar mit Henning Mankell. Seine Romane wurden vielfach ausgezeichnet, in mehrere Sprachen übersetzt und werden gerade fürs schwedische Fernsehen aufwendig verfilmt. Der Lehrer für Schwedisch, Englisch und Geschichte lebt in Uppsala und ist Vater von zwei Kindern.

 

Håkan Nesser bei btb

Die Frau mit dem Muttermal. Roman (72280)
Das grobmaschige Netz. Roman (72380)
Das falsche Urteil. Roman (72598)
Münsters Fall. Roman. Hardcover (75043)

1

Wenn Ernst Simmel gewußt hätte, daß er kurz davor war, das zweite Opfer des Henkers zu werden, hätte er sich vermutlich noch ein paar kräftige Drinks in der Blauen Barke gegönnt.

Doch so begnügte er sich mit einem Cognac zum Kaffee und einem verdünnten Whisky in der Bar, wobei er ziemlich fruchtlos und ohne wirkliches Engagement versuchte, mit einer blondierten Frau Blickkontakt aufzunehmen, die schräg gegenüber am Treseneck saß. Offensichtlich war es eine der Neueingestellten unten in der Konservenfabrik. Er hatte sie noch nie gesehen, und er hatte einen gewissen Überblick.

Rechts von ihm saß Herman Schalke von de Journaal und versuchte ihn für eine billige Wochenendreise nach Kaliningrad zu interessieren, oder irgendwas ähnliches, und wenn man später versuchen würde, den Abend zu rekonstruieren, dann würde man zu dem Ergebnis kommen, daß Schalke der letzte gewesen sein mußte, der in diesem Leben mit Simmel geredet hatte.

Das heißt, wenn man nicht davon ausging, daß der Henker ihm noch etwas mitzuteilen gehabt hatte, bevor er ihn umbrachte. Was allerdings nicht sehr wahrscheinlich war, denn der Stich kam, genau wie beim ersten Fall, schräg von hinten und ein wenig von unten. Was gab es da noch viel zu sagen?

»Ach«, hatte Simmel geseufzt und die letzten Tropfen in sich hineingekippt. Zeit, sich nach Hause aufzumachen, zur Frau.

Wenn Schalke sich richtig erinnerte. Jedenfalls hatte er versucht, ihn noch zu überreden. Erklärt, daß es doch erst elf Uhr wäre und die Nacht noch jung, aber Simmel war standhaft geblieben.

Ja, genau das, standhaft. War einfach von seinem Stuhl gerutscht. Hatte seine Brille zurechtgerückt und das dünne, etwas lächerliche Haar quer über die Glatze gestrichen, wie er es immer tat, als ließe sich damit noch etwas kaschieren... hatte irgendwas gemurmelt und war gegangen. Das letzte, was Schalke von ihm sah, war sein lichtbeschienener Rücken, als er in der Tür stand und zu zögern schien, welche Richtung er einschlagen sollte.

Was natürlich, im nachhinein betrachtet, etwas merkwürdig war. Simmel mußte doch wohl wissen, wo er wohnte?

Aber er konnte natürlich auch nur einfach einen Moment stehengeblieben sein, um sich die milde Abendluft zu Gemüte zu führen. Es war ein heißer Tag gewesen, der Sommer war noch nicht vorbei, und die Abende bekamen langsam diese satte Schwere, als lagerten immer noch die Sonnenstunden mehrerer Monate in ihnen. Lagerten dort und wurden immer edler.

Wie geschaffen, um einen tiefen Atemzug davon zu nehmen, hatte jemand gesagt. Diese Nächte.

Im Nachhinein gesehen ein idealer Abend, um auf die andere Seite zu wechseln, wenn man es unter diesem Gesichtspunkt sah. Schalkes Gebiet bei de Journaal war zwar eher der sportliche und folkloristische Bereich, aber in seiner Eigenschaft als letzter Zeuge hatte er doch wohl die Berechtigung dazu, einen Nachruf auf den so plötzlich dahingerafften Immobilienmakler zu schreiben ... eine Stütze der Gesellschaft, so durfte man wohl sagen, gerade erst in seine Heimatstadt zurückgekehrt nach einigen Jahren im Ausland (an der spanischen Sonnenküste unter gleichgesinnten Steuerspekulanten, doch das mußte man in diesem Zusammenhang ja nicht erwähnen), Frau und zwei erwachsene Kinder hinterlassend, achtundfünfzig Jahre alt, aber immer noch in der Blüte seiner Jahre, ganz zweifellos. Die schwere Abendluft schlug ihm wie ein Angebot entgegen, und er blieb zögernd in der Tür stehen.

Wäre doch keine schlechte Idee, noch eine Runde über den Fischmarkt und durchs Hafengebiet zu machen!

Was hatte er um diese Zeit schon zu Hause zu erwarten? Das Bild von Gretes schwerem Körper stieg in seinem Kopf auf, und der süßliche Schlafzimmergeruch kam ihm in den Sinn, und er entschied sich für einen kleinen Spaziergang. Nur einen kleinen. Schon allein die laue Nachtluft war die Mühe wert, auch wenn er nichts finden würde.

Er überquerte die Lange Straße und bog zur Bungeskirche ab. Im gleichen Moment löste sich der Schatten seines Mörders aus dem Dunkel unter den Linden im Leisnerpark und nahm die Verfolgung auf. Still und vorsichtig... in sicherem Abstand und auf Gummisohlen. Das war der dritte Versuch heute abend, noch hatte er sich im Griff. Er wußte, welche Aufgabe er sich gestellt hatte, und das letzte, was ihm in den Sinn gekommen wäre, war, übereifrig zu reagieren.

Simmel ging weiter die Hoistraat entlang und die Treppen hinunter zum Hafen. Am Fischmarkt wurde er langsamer. Bummelte gemächlich schräg über den menschenleeren Kopfsteinpflasterplatz zur Markthalle. Zwei Frauen unterhielten sich an der Ecke zur Doomsgasse, aber sie schienen ihn nicht weiters zu interessieren. Vielleicht wußte er nicht so recht, woran er bei ihnen war, vielleicht hielt ihn etwas anderes zurück.

Vielleicht hatte er auch einfach keine Lust. Unten am Kai blieb er ein paar Minuten stehen, rauchte eine Zigarette und betrachtete die Touristenboote, die im Hafen vor sich hindümpelten. Auch der Mörder gönnte sich in diesem Moment eine Zigarette, im Schatten der Lagergebäude auf der anderen Seite der Esplanade. Er hielt sie tief in seiner hohlen Hand verborgen, damit die Glut ihn nicht verriet, und er ließ sein Opfer keine Sekunde aus den Augen.

Als Simmel seine Kippe ins Wasser warf und seine Schritte zum Stadtwald hin ausrichtete, war dem Mörder klar, daß es an diesem Abend soweit war.

Zwar waren es von der Esplanade nach Rikken, dem halbmondänen Stadtteil, in dem Simmel wohnte, kaum mehr als dreihundert Meter durch den Wald, und es gab auch genügend Lampen entlang dem Spazierweg, aber diverse Feste im Sommer und Veranstaltungen im Freien hatten die eine oder andere zum Bruch gebracht – und dreihundert Meter können ein langer Weg sein... Als Simmel einen leichten Schritt hinter sich hörte, war er jedenfalls noch nicht weiter als fünfzig Meter in den Wald gekommen, und die Dunkelheit hielt ihn dicht umfangen.

Warm und verheißungsvoll, wie gesagt, aber auch dicht. Vermutlich hatte er gar keine Zeit, um Angst zu haben. Und wenn, dann höchstens in den allerletzten Bruchteilen der letzten Sekunde. Die scharf geschliffene Klinge drang von hinten zwischen dem zweiten und vierten Nackenwirbel ein. Sie spaltete den dritten diagonal in zwei Teile, durchschnitt die Wirbelsäule, die Speiseröhre und die Halsschlagader. Wenn die Klinge nur ein paar Zentimeter tiefer geführt worden wäre, hätte sie den Kopf wahrscheinlich ganz und gar vom Körper abgetrennt.

Was an und für sich natürlich sehr spektakulär gewesen wäre, aber für das Ergebnis an sich nur von untergeordneter Bedeutung.

Allen denkbaren Kriterien zufolge mußte Ernst Simmel bereits tot gewesen sein, als er zu Boden fiel. Sein Gesicht traf mit voller Wucht auf den hartgetretenen Kiesweg, die Brille zersplitterte, und es kam zu einigen sekundären Verletzungen. Das Blut spritzte aus der Kehle, von oben und von unten, und während der Mörder ihn vorsichtig in die Büsche zog, konnte er immer noch ein schwaches Blubbern hören. Er wartete leise in der Hocke, bis die vier oder fünf Jugendlichen vorbei waren, wischte seine Waffe dann im Gras ab und begab sich zurück zum Hafen.

Zwanzig Minuten später saß er an seinem Küchentisch mit einer dampfenden Tasse Tee und hörte, wie sich die Badewanne langsam füllte. Wenn seine Frau noch bei ihm gewesen wäre, hätte sie ihn sicher gefragt, ob er einen anstrengenden Tag gehabt hätte und ob er sehr müde sei.

»Nicht besonders«, hätte er wahrscheinlich geantwortet. »Es dauert nur seine Zeit, aber es geht alles nach Plan.«

»Das ist gut, mein Liebling«, hätte sie darauf antworten können. Wäre vielleicht zu ihm gekommen und hätte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. »Das ist gut...«

Er nickte und führte die Tasse zum Mund.

2

Der Strand war unendlich.

Unendlich und unveränderlich. Ein graues, stilles Meer unter einem blassen Himmel. Ein Streifen feuchter, fester Sand am Wasser, auf dem er gemächlich entlangschlendern konnte. Ein trockenes, grauweißes Band reichte bis zu dem kleinen Hügel mit Strandgräsern und windgepeitschten Büschen. Über den Salzwiesen im Landesinneren zogen Vögel weite Kreise und erfüllten die Luft mit ihren düsteren Schreien.

Van Veeteren schaute auf die Uhr und blieb stehen. Er zögerte einen Augenblick. In der diesigen Ferne konnte er zwar den Kirchturm von s’Greijvin erkennen, aber die Entfernung war groß. Wenn er weiterginge, würde es sicher eine Stunde dauern, bis er sich im dortigen Café am Markt mit einem Bier niederlassen könnte.

Vielleicht wäre es ja die Mühe wert, aber jetzt, wo er erst einmal angehalten hatte, war es nicht so einfach, sich wieder auf Trab zu bringen. Es war drei Uhr. Er war nach dem Mittagessen aufgebrochen, oder wenn man es genau nahm, war es eher das Frühstück gewesen. Jedenfalls so gegen ein Uhr, nach einer weiteren Nacht, in der er früh zu Bett gegangen war, aber der Schlaf sich erst in den frühen Morgenstunden eingefunden hatte. Schwer zu sagen, was der wahre Grund seiner Unruhe und Rastlosigkeit war, wenn er in dem wackligen Doppelbett lag und sich hin- und herwälzte, während das Morgengrauen immer stärker hereindrang... schwer zu sagen.

Die Ferien dauerten jetzt bereits drei Wochen, ziemlich lange für seine Verhältnisse, aber trotzdem nicht ungewöhnlich lange. Und zumindest während der letzten Woche hatte sich sein Tagesrhythmus kontinuierlich verändert. In vier Tagen würde es an der Zeit sein, wieder ins Büro zu kommen, und er hatte nicht das Gefühl, daß er es auf rüstigen Beinen tun würde.

Und das, obwohl er eigentlich kaum etwas anderes getan hatte, als sich auszuruhen. Am Strand gelegen und gelesen. Im Café in s’Greijvin gesessen oder näher dran in Hellensraut. Den unendlichen Strand rauf und runter spaziert.

Die erste Woche mit Erich war ein Fehler gewesen, das hatten beide bereits nach dem ersten Tag eingesehen, aber das Arrangement ließ sich nicht so leicht über den Haufen werfen. Der Urlaub war nur unter diesen Voraussetzungen bewilligt worden: daß der Vater die Verantwortung für den Sohn übernahm und daß dieser hier an der Küste blieb. Der Sohn hatte immer noch zehn Monate seiner Strafe abzusitzen, und sein letzter Aufenthalt in der Freiheit hatte so einiges zu wünschen übrig gelassen.

Van Veeteren blickte aufs Meer hinaus. Das lag so still und unbegreiflich da, wie es das die ganze letzte Woche getan hatte. Als könnte nichts es wirklich erschüttern, nicht einmal der Wind. Die Wellen, die am Strand eines natürlichen Todes starben, schienen schon lange Leben und Hoffnung hinter sich gelassen zu haben.

Das hier ist nicht mein Meer, dachte Van Veeteren.

In den letzten Arbeitswochen im Juli hatte er auf die Tage mit Erich förmlich gewartet. Als sie da waren, wartete er, daß sie vorbeigehen würden, damit er wieder seine Ruhe hatte. Und nachdem er jetzt zwölf Tage und Nächte in absoluter Einsamkeit verbracht hatte, sehnte er sich danach, wieder mit seiner Arbeit anfangen zu können.

Oder war es vielleicht doch nicht so einfach? War es einfach nur eine beschönigende Umschreibung für das eigentliche Problem – die Frage nämlich, ob es einen Punkt gibt, ab dem man sich nicht länger nach etwas sehnt, sondern ab dem man nur noch von etwas fort will. Weg. Sich danach sehnt, etwas abzuschließen und aufzubrechen, aber nicht danach, etwas neu anzufangen? Wie eine Reise, deren Verlockung im gleichen Takt abnimmt, je weiter man sich vom Ausgangspunkt entfernt, die immer bitterer wird, je näher man dem Ziel kommt...

Weg, dachte er. Beenden. Begraben.

Das ist es, was man den Weg nach unten nennt. Und es gibt immer ein anderes Meer.

Er seufzte und zog sich den Pullover aus. Band ihn sich um die Schultern und machte sich auf den Heimweg. Der Wind blies ihm ins Gesicht, und ihm war klar, daß der Rückweg länger dauern würde... Es war eigentlich gar nicht schlecht, am Abend ein paar Stunden für sich allein zu haben. Das Haus mußte saubergemacht werden, der Kühlschrank geleert, das Telefon abgestellt. Er wollte am nächsten Morgen früh los. Es gab keinen Grund, den Aufbruch unnötig zu verzögern.

Er trat gegen eine liegengelassene Plastikflasche im Sand.

Morgen beginnt der Herbst, dachte er.

 

Er hörte das Telefon schon am Gartentor. Automatisch verlangsamte er seine Bewegungen, zögerte mit dem nächsten Schritt und suchte nach den Schlüsseln in der Hoffnung, daß es aufhören würde zu klingeln, bevor er ins Haus kam. Vergeblich. Die Töne durchschnitten hartnäckig die Dämmerung und die Stille. Er nahm den Hörer auf.

»Ja?«

»Van Veeteren?«

»Kommt darauf an.«

»Haha... Hier ist Hiller. Wie geht’s so?«

Van Veeteren unterdrückte den Impuls, sofort wieder aufzulegen.

»Ausgezeichnet, danke. Aber ich bin davon ausgegangen, daß mein Urlaub erst am Montag zu Ende ist...«

»Ganz genau! Ich hab mir gedacht, du könntest noch ein paar Tage zusätzlich gebrauchen.«

Van Veeteren antwortete nicht.

»Würdest du gern noch ein bißchen an der Küste bleiben, wenn du die Möglichkeit hättest?«

»...«

»Noch eine Woche oder so? Hallo!?«

»Wenn der Herr Polizeipräsident zur Sache kommen könnte«, sagte Van Veeteren.

Hiller bekam einen simulierten Hustenanfall, und Van Veeteren seufzte.

»Ja, hrrm, da ist so eine kleine Sache oben in Kaalbringen... das dürfte nicht mehr als vierzig, fünfzig Kilometer von deinem Haus entfernt liegen, ich weiß nicht, ob du davon weißt. Jedenfalls sind wir um Unterstützung gebeten worden.«

»Worum handelt es sich denn?«

»Mord. Zweifachen. Irgend so ein Wahnsinniger rennt da herum und haut den Leuten mit der Axt oder so den Kopf ab. Heute steht auch was in der Zeitung drüber, aber vielleicht hast du ...«

»Ich habe seit drei Wochen keine Zeitung mehr gelesen«, erklärte Van Veeteren.

»Der letzte... ich meine, der zweite Mord geschah gestern, oder eher vorgestern. Tja, auf jeden Fall müssen wir Verstärkung schicken, und da du sowieso in der Gegend bist...«

»Vielen Dank.«

»Du kannst dich erst mal drum kümmern. Ich schicke Münster oder Reinhart nächste Woche nach. Natürlich nur, wenn du den Fall bis dahin nicht gelöst hast.«

»Wie heißt der Polizeichef? Ich meine, in Kaalbringen.«

Hiller hustete wieder.

»Er heißt Bausen. Ich glaube nicht, daß du ihn kennst... Er hat jedenfalls nur noch einen Monat bis zu seiner Pensionierung, und es scheint ihm nicht besonders viel Spaß zu machen, ausgerechnet jetzt diesen Fall am Hals zu haben.«

»Wie verwunderlich«, sagte Van Veeteren.

»Dann fährst du also morgen hin?« beendete Hiller das Gespräch. »Damit du nicht hin und her fahren mußt. Kann man eigentlich noch baden?«

»Ich mache den ganzen Tag nichts anderes.«

»Soso... ja, schön. Also, dann rufe ich an und sage ihnen, daß du morgen nachmittag auftauchen wirst. Okay?«

»Ich will Münster haben«, sagte Van Veeteren.

»Wenn es sich einrichten läßt«, erwiderte Hiller.

Van Veeteren legte den Hörer auf. Blieb noch einen Moment lang stehen und starrte das Telefon an, bevor er den Stecker herauszog. Ich habe vergessen, einzukaufen, fiel ihm plötzlich ein. Verflucht noch mal!

Warum fiel ihm das gerade jetzt ein? Er war gar nicht hungrig, also mußte das irgendwie mit Hiller zusammenhängen. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Ging auf die Terrasse und setzte sich in den Liegestuhl.

Ein Axtmörder?

Er öffnete die Dose und schenkte sich das hohe Glas voll. Versuchte sich daran zu erinnern, ob er jemals mit diesem ungewöhnlichen Tätertyp zu tun gehabt hatte. In den dreißig Jahren oder mehr, die er bei der Polizei war. Aber wie er es auch drehte und wendete, er konnte aus den dunklen Tiefen seiner Erinnerung keinen einzigen Axtmörder hervorlocken.

Dann wird es wohl Zeit, dachte er und hob sein Glas.

3

»Frau Simmel?«

Die korpulente Frau öffnete die Tür sperrangelweit.

»Bitte schön.«

Beate Moerk trat über die Schwelle und versuchte teilnahmsvoll auszusehen. Sie gab Frau Simmel ihren dünnen Mantel, den diese umständlich auf einen Bügel an der Garderobe hängte. Dann zeigte sie ihr den Weg, ging voran und zupfte nervös an dem engen schwarzen Kleid, das sicher schon einige Jährchen auf dem Buckel hatte. Auf einem rauchfarbenen Glastisch im Wohnzimmer war zwischen den massiven Ledersofas Kaffeegeschirr aufgedeckt. Frau Simmel ließ sich auf ein Sofa sinken.

»Sie kommen doch von der Polizei?«

Beate Moerk setzte sich und legte ihre Aktentasche neben sich. Sie kannte diese Frage. Hatte sich fast schon an sie gewöhnt. Offensichtlich konnte man es gerade noch akzeptieren, wenn weibliche Polizisten die Uniform trugen. Daß der Beruf nicht notwendigerweise von den Kleidern abhing, ging nicht so leicht in die Köpfe. Daß es tatsächlich möglich war, hübsche Zivilkleidung zu tragen und trotzdem seine Aufgaben zu erfüllen.

Vielleicht war es überhaupt schwieriger, Frauen zu vernehmen. Männern war es eher peinlich, aber sie gingen aus sich heraus. Frauen kamen direkt zur Sache, behielten aber gleichzeitig eine gewisse Reserviertheit.

Aber Frau Simmel dürfte wohl kein Problem werden, redete sie sich ein. Dort saß sie auf ihrem Sofa und atmete schwer. Groß und plump mit etwas verweinten, ahnungslosen Augen.

»Ja, ich bin Polizeiinspektorin. Ich heiße Beate Moerk. Tut mir leid, daß ich Sie so kurz danach behelligen muß... Ist niemand bei Ihnen?«

»Meine Schwester«, sagte Frau Simmel. »Sie ist nur eben einkaufen gegangen.«

Beate Moerk nickte und zog einen Notizblock aus der Tasche. Frau Simmel schenkte Kaffee ein.

»Zucker?«

»Nein, danke. Können Sie mir schildern, was am Dienstag abend passiert ist?«

»Ich habe schon... ich habe gestern schon mit einem anderen Polizisten darüber geredet.«

»Mit Kommissar Bausen, ja. Könnten Sie es noch einmal wiederholen?«

»Ich verstehe nicht, warum... da war doch nichts Besonderes.«

»Ihr Mann ist gegen acht Uhr weggegangen?«

Frau Simmel schluchzte leise auf, fing sich dann aber wieder.

»ja.«

»Warum?«

»Er wollte einen Geschäftsfreund treffen ... in der Blauen Barke, nehme ich an.«

»Wickelte er dort öfters seine Geschäfte ab?«

»Ab und zu. Er ist... war... in der Immobilienbranche.«

»Aber Ihr Mann scheint allein in der Blauen Barke gesessen zu haben.«

»Dann ist er wohl nicht gekommen.«

»Wer?«

»Der Geschäftsfreund.«

»Nein, offensichtlich nicht. Aber Ihr Mann ist trotzdem nicht wieder nach Hause gegangen?«

»Nein... er hat dann wohl noch etwas gegessen, wenn er schon einmal da war.«

»Sie hatten vorher nicht gegessen?«

»Nein, kein Mittagessen.«

»Wissen Sie, wer es war?«

»Entschuldigung?«

»Den er dort treffen wollte.«

»Nein... nein, ich mische mich nie in die Angelegenheiten meines Mannes ein.«

»Ich verstehe.«

Frau Simmel zeigte mit der Hand zum Kuchenteller und nahm selbst einen Schokoladenbiskuit.

»Um wieviel Uhr haben Sie ihn zurückerwartet?«

»So um... ja, so um zwölf Uhr ungefähr.«

»Und um wieviel Uhr sind Sie selbst ins Bett gegangen?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Entschuldigen Sie, Frau Simmel, aber Ihr Mann ist ermordet worden. Da ist es ganz einfach notwendig, daß wir alle möglichen Fragen stellen. Anders werden wir den Täter nie zu fassen kriegen...«

»Das war doch bestimmt der gleiche.«

»Der gleiche wie wer?«

»Der diesen Eggers im Juni erschlagen hat.«

Beate Moerk nickte.

»Da spricht einiges dafür, ja. Aber es kann auch einer gewesen sein, der... der von der Tat inspiriert wurde.«

»Inspiriert?«

»Ja, der einfach die gleiche Methode benutzt hat. Man weiß es nie, Frau Simmel.«

Frau Simmel schluckte und nahm noch einen Biskuit.

»Hatte Ihr Mann irgendwelche Feinde?«

Frau Simmel schüttelte den Kopf.

»Viele Bekannte?«

»Ja ...«

»Viele Geschäftsfreunde, von denen Sie nichts Näheres wissen?«

»Ja, viele.«

Beate Moerk machte eine Pause und nippte an ihrem Kaffee. Er war dünn und wäßrig. Wenn man, wie ihre Gastgeberin, zwei Zuckerstückchen hineintat, konnte man vermutlich überhaupt nicht mehr schmecken, um welche Art von Getränk es sich handelte.

»Erlauben Sie mir bitte«, fuhr sie fort, »daß ich Ihnen ein paar Fragen stelle, die vielleicht etwas indiskret sind. Ich hoffe, Sie verstehen, wie ernst der Fall ist, und ich möchte Sie bitten, so ehrlich wie möglich zu antworten.«

Frau Simmel klapperte nervös mit ihrer Tasse auf der Untertasse.

»Wie würden Sie Ihre Ehe beschreiben?«

»Wie bitte?«

»Ja, welches Verhältnis hatten Sie zueinander? Sie waren seit dreißig Jahren verheiratet, wenn ich mich nicht irre.«

»Zweiunddreißig.«

»Zweiunddreißig, ja. Ihre Kinder sind ausgeflogen ... Hatten Sie weiterhin viel Kontakt zueinander?«

»Zu den Kindern?«

»Nein, Sie zu Ihrem Mann.«

»Ja... ja, natürlich hatten wir das.«

»Wie heißen Ihre engsten Freunde?«

»Freunde? Bodelsens und Lejnes... und Klingforts natürlich. Ja, und dann die Familie. Meine Schwester und ihr Mann. Ernsts Bruder und seine Schwester... und unsere Kinder natürlich. Warum fragen Sie?«

»Wissen Sie, ob Ihr Mann ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte?«

Frau Simmel hörte auf zu kauen. Sie schien die Frage nicht zu verstehen.

»Mit einer anderen Frau?«

»Oder mit mehreren. Ob er untreu war, beispielsweise?«

»Nein...« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Wer hätte das denn sein sollen? Wer hätte ihn denn haben wollen?«

Das war ein Gesichtspunkt, natürlich. Beate Moerk trank schnell einen großen Schluck Kaffee, um ein Lachen zu unterdrücken.

»Ist Ihnen in letzter Zeit irgend etwas aufgefallen? Etwas Ungewöhnliches in seinem Verhalten, meine ich.«

»Nein.«

»Oder gibt es etwas anderes, was Ihnen einfällt?«

»Nein, was sollte das denn sein?«

»Ich weiß es nicht, Frau Simmel, aber es wäre gut, wenn Sie ein wenig über die letzte Zeit nachdenken würden. Vielleicht fällt Ihnen dabei etwas ein... Ach, waren Sie eigentlich im Sommer verreist?«

»Nur zwei Wochen im Juli. Eine Charterreise, aber... aber an verschiedene Orte. Ich war mit einer Freundin auf Kos. Ernst ist mit einem Bekannten gefahren.«

»Auch nach Kos?«

»Nein, nicht nach Kos.«

»Wohin dann?«

»Ich weiß nicht mehr genau.«

»Aha ... und ansonsten sind Sie zu Hause gewesen?«

»Ja, außer ein paar Tage mal hier und da, wenn wir mit der Vanessa unterwegs waren... das ist unser Boot. Wir segeln ein bißchen und bleiben dann gern über Nacht draußen.«

Beate Moerk nickte.

»Ich verstehe. Und es gibt nichts, worüber Sie oder er sich in letzter Zeit Gedanken gemacht haben?«

»Nein... nein, ich denke nicht.«

»Keine neuen Bekannten?«

»Nein«.

»Er hat nichts Ungewöhnliches erzählt oder angedeutet?«

»Nein.«

Beate Moerk seufzte und legte ihren Stift hin. Lehnte sich im Sofa zurück. »Und wie liefen die Geschäfte?«

»Gut«, antwortete Frau Simmel überrascht. »Gut, glaube ich...«

Als gäbe es gar keine Alternative, dachte Beate Moerk und fegte sich ein paar Krümel vom Kleid.

»Arbeiten Sie selbst auch, Frau Simmel?«

Sie schien zu zögern.

»Ich helfe meinem Mann ab und zu im Büro.«

»Wobei?«

»Na, so dies und das... die Einrichtung. Mit den Blumen, Saubermachen und so ...«

»Ich verstehe. Das Büro ist in der Grote Plein, nicht wahr?«

Frau Simmel nickte.

»Wann waren Sie zuletzt dort?«

»Zuletzt? Ja, das war wohl im Mai, glaube ich.«

So ein fleißiges Lieschen! dachte Beate Moerk.

 

Es folgte noch eine kleine Führung durchs Haus, in erster Linie, weil Bausen das angeordnet hatte. Frau Simmel ging schwerfällig voran, und Beate Moerk ertappte sich dabei, daß sie ihr fast leid tat, weil sie ja schließlich die vielen Zimmer und großen Flächen sauberhalten mußte. Aber es gab sicher eine Putzfrau, die ihr zur Hand ging, bestimmt.

Schwer zu sagen, wozu das hier gut sein sollte, aber so war es ja immer bei Mordermittlungen. Es ging darum, Informationen und Auskünfte jeder Art zu sammeln, je mehr, desto besser – sie zu ordnen und in Erwartung irgendeines Durchbruchs aufzubewahren, wobei dann das bedeutungslose Detail sich plötzlich als Schlüssel für das ganze Rätsel erweisen konnte... für den Fall... für das Mysterium, wie immer man es nun nennen wollte.

Beate Moerk war seit mehr als acht Jahren nicht mehr mit einem Mordfall beschäftigt gewesen, nicht mehr seit ihrer Zeit als Polizeidienstanwärterin in Goerlich, und da war sie kaum etwas anderes als der Laufbursche gewesen, hatte an Türen geklopft, Mitteilungen überbracht, in kalten Autos gesessen und auf etwas gewartet, das nie eintraf.

Und jetzt standen sie also hier mit einem Axtmörder. Sie selbst, Kropke und Kommissar Bausen. Kein Wunder, daß sie ein merkwürdiges Gefühl hatte. Sicher würden bald höhere Tiere kommen, aber trotzdem war es ihr Fall. Bestimmt erwarteten die Leute von ihnen, daß sie den Fall lösen würden.

Diesen Wahnsinnigen zu fassen kriegten.

Und wenn sie an Kropke und Bausen dachte, war ihr klar, daß der Großteil der Verantwortung auf ihren Schultern lag.

»Wollen Sie den Keller auch noch sehen?«

Sie nickte, und Frau Simmel machte sich schwer atmend auf den Weg, die Treppe hinunter.

Im Juni, als es das erste Mal geschah, war sie in Urlaub gewesen. In einer Hütte in der Hohen Tatra, zusammen mit Janos, mit dem sie inzwischen Schluß gemacht hatte oder den sie zumindest für eine Weile aufs Eis gelegt hatte. Die ersten Tage hatte sie nicht mitbekommen, und auch wenn sie es nie zugeben würde, so ärgerte sie das ziemlich.

Heinz Eggers. Sie hatte alles gelesen und den Informationsvorsprung aufgeholt, das schon. War dabeigewesen, hatte Verhöre geführt, Umrisse gezeichnet und den ganzen restlichen Sommer mit das Puzzle gelegt. Aber man war nicht sehr weit gekommen. Sie war die erste, die das zugab. Nach all diesen Stunden, in denen man Verhöre gemacht und sich beratschlagt hatte, war auch nicht der Hauch eines Verdachts aufgetaucht. Sie und auch Kropke hatten inzwischen so viele Überstunden gemacht, daß es sicher für einen Monat Sonderurlaub reichen würde. Vielleicht sollte sie den wirklich nehmen, wenn sie diesen Henker erst einmal zu fassen gekriegt hatten...

Ja, so nannten sie ihn in den Zeitungen. Den Henker.

Und jetzt hatte er wieder zugeschlagen.

Zerstreut ließ sie sich weiter von Frau Simmel durch die Villa führen. Sechs Zimmer und Küche, wenn sie richtig mitgezählt hatte... für zwei Personen. Eine jetzt nur noch. Plus Billardzimmer und Sauna im Keller. Balkon und großer Garten, der bis zum Wald reichte... Immobiliengeschäfte? Bausen hatte Kropke angewiesen, sich Simmels Firma etwas näher anzuschauen. Das war auf jeden Fall keine dumme Idee. Da würde man sicher auf irgendwas stoßen.

Aber was verflucht noch mal hatten Heinz Eggers und Ernst Simmel gemeinsam?

Das war natürlich die Frage, die sie quälte, seit man Simmel gefunden hatte. Bis jetzt hatte sie allerdings nicht die geringste Ahnung, obwohl...

Oder gab es gar kein Verbindungsglied?

War es nur jemand, der herumlief und den Erstbesten umbrachte?

Vollkommen sinnlos und mit ein paar Monaten Abstand? Wenn er gerade Lust hatte? War das einfach ein Wahnsinniger, mit dem sie es hier zu tun hatten, wie einige glaubten? Ein Verrückter?

Sie spürte, wie ein Schauer sie überlief und die Haare auf den Unterarmen sich sträubten.

Reiß dich zusammen, Beate! dachte sie.

Sie verabschiedete sich von Grete Simmel auf der steingefliesten Garageneinfahrt. Ging quer über den gepflegten Rasen und stieg über den niedrigen Zaun aus imitiertem Palisander. Sie kletterte ins Auto und überlegte, ob sie sich eine Zigarette anzünden sollte, verkniff es sich dann aber. Sie hatte jetzt vier Wochen durchgehalten, und es sollte mehr als ein Henker notwendig sein, um sie schwach werden zu lassen.

Frau Simmel stand immer noch da und schaute ihr nach, als sie wegfuhr... ein schwarzer, trauriger Koloß, der plötzlich eine Villa der Millionenklasse, ein Segelboot und ein Immobilienunternehmen am Hals hatte.

Und Gott weiß, was sonst noch.

Der Besuch hatte jedenfalls einiges klargemacht.

Es war nicht Grete Simmel gewesen, die mit der Axt dort hinten im Wald auf der Lauer gelegen hatte, davon war Beate Moerk hundertprozentig überzeugt.

Fast genauso sicher war sie sich, daß die Hausfrau keinen Außenstehenden gedungen hatte, um die Tat auszuführen oder daß sie überhaupt in irgendeiner Weise in die Tat verwickelt war. Sie hatte zwar keine schwerwiegenden Argumente, um diese Schlußfolgerungen zu untermauern, aber warum die sichere Urteilskraft und eigene Intuition verleugnen, wenn man davon nun einmal reichlich besaß?

Sie schaute auf die Uhr. Noch war genügend Zeit, nach Hause zu fahren und sich eine Dusche zu genehmigen, bevor es daran ging, die hohen Tiere kennenzulernen.

4

Van Veeteren hielt vor dem zugewachsenen Garten. Er überprüfte, ob die Hausnummer auf dem abgeblätterten Briefkasten wirklich mit der auf dem Zettel in seiner Brusttasche übereinstimmte.

Doch, ja. Kein Zweifel.

»Sie werden es schon finden«, hatte Polizeichef Bausen ihm zugesichert. »Es gibt nichts Vergleichbares im Ort!«

Das war sicher nicht übertrieben.

Van Veeteren stieg aus seinem Wagen und versuchte über die verfilzte Spierstrauchhecke hinweg in den Garten zu gucken. Dort drinnen sah es dunkel aus. Schwere, unter ihrer Last zusammenbrechende Äste unbeschnittener Obstbäume vereinigten sich in Brusthöhe mit der niedrigen Vegetation – meterhohem Gras, ungepflegten Rosenbüschen und allen möglichen Ranken unklaren Ursprungs – zu einem mehr oder weniger undurchdringlichen Dschungel. Vom Flußweg aus war nicht der Schatten eines Hauses zu sehen, aber ein heruntergetretener Pfad deutete darauf hin, daß es tief drinnen doch etwas gab. Man bräuchte eine Machete, dachte Van Veeteren. Der Kerl muß ja verrückt sein.

Er öffnete das Tor, bückte sich und ging hinein.

Bereits nach ungefähr zehn Metern tauchte eine Hausecke auf, und ein untersetzter Mann kam ihm entgegen. Sein Gesicht war grobgeschnitten, zerfurcht und braungebrannt... es war ein schöner Sommer gewesen. Sein Haar war spärlich und schütter, fast weiß. Sieht beinahe so aus, als würde er sich bereits jenseits der Pensionsgrenze befinden, dachte Van Veeteren. Den siebzig näher als den sechzig, wenn er denn hätte raten sollen. Aber ganz offensichtlich steckte noch ziemlich viel Kraft in seinen Knochen. Seine Kleidung unterstrich, daß er sich in heimischen Gefilden befand: Pantoffel, abgetragene Cordjeans und ein kariertes Flanellhemd, bis zu den Ellbogen hochgekrempelt.

»Kommissar Van Veeteren, wie ich annehme?«

Er streckte eine kräftige Hand vor. Van Veeteren nickte und ergriff sie.

»Gehen Sie nicht so streng mit dem Garten ins Gericht. Vor ein paar Jahren habe ich angefangen, Rosen zu züchten und so, aber ich bin es leid geworden... Es ist aber auch unglaublich, wie das alles wächst! Und jetzt habe ich keine Ahnung, wie ich das jemals wieder in den Griff kriegen soll.«

Er breitete die Arme aus und lachte entschuldigend.

»Was soll’s«, meinte Van Veeteren.

»Auf jeden Fall erst einmal herzlich willkommen! Bitte mir nach, ich habe auf der Rückseite ein paar Stühle hingestellt. Sie trinken doch ein Bier?«

»Viele«, sagte Van Veeteren.

 

Polizeichef Bausen musterte ihn über den Rand seiner Brille hinweg und zog eine Augenbraue hoch.

»Tut mir leid«, erklärte er. »Aber ich wollte erst einmal abchecken, wen zum Teufel sie uns hergeschickt haben. Bevor wir uns mit den anderen treffen, meine ich. Prost!«

»Prost«, sagte Van Veeteren.

Er lehnte sich auf dem Korbstuhl zurück und leerte die halbe Flasche in einem Zug. Die Sonne hatte während der ganzen Fahrt geschienen; sie hatte zwar nicht länger als eine Stunde gedauert, aber er fühlte, wie ihm das Hemd am Rücken klebte.

»Die Hitze dauert an, fürchte ich.«

Der Polizeichef beugte sich vor und versuchte einen Zipfel Himmel zwischen den Ästen der Bäume zu erspähen.

»Ja«, nickte Van Veeteren. »Ein schönes Plätzchen ist das hier.«

»Ja, nicht schlecht«, bestätigte Bausen. »Wenn man erst einmal im Dschungel sitzt, wird man meistens in Ruhe gelassen.«

Das schien zu stimmen. Ein gut getarntes Nest, ohne Zweifel. Die schmutziggelbe Markise, struppiges Gebüsch und Rosen, die ein Spalier hinaufkletterten, das dichte, hohe Gras, ein schwerer Spätsommerduft, Bienen, die summten... Und dann der Platz selbst: acht, zehn Quadratmeter groß; Steinplatten und eine ausgefranste Schilfmatte, zwei abgewetzte Rohrstühle, ein Tisch mit Zeitungen und Büchern, Pfeife und Tabak. An der Hauswand stand ein schiefes Regal, voll mit Malutensilien, Pinseln, Blumentöpfen, noch mehr Zeitungen und anderem Krempel... ein Schachbrett lugte hinter ein paar Kästen mit leeren Gläsern hervor. Doch, der Platz hatte was. Van Veeteren zog einen Zahnstocher hervor und schob ihn sich zwischen die Vorderzähne.

»Etwas zu essen?« fragte Bausen.

»Nur wenn ich noch etwas bekomme, um es runterzuspülen. Ich glaube, die hier ist schon leer.«

Er stellte die leere Flasche auf den Tisch. Bausen klopfte seine Pfeife sauber und stand auf.

»Wollen mal sehen, was sich da machen läßt.«

Er verschwand im Haus, und Van Veeteren konnte ihn in der Küche rumoren hören, wobei er etwas sang, das an die Caprifischer erinnerte.

Ja, ja, dachte er und faltete die Hände hinter dem Nacken. Es hätte schlimmer kommen können. Er hat jedenfalls noch einiges, was ihm bleibt.

Und plötzlich ging ihm auf, daß ihn von Bausen kaum mehr als acht, zehn Jahre trennen konnten.

 

Er lehnte Bausens Angebot, bei ihm zu wohnen, ab, wenn auch zögerlich. Vielleicht gab es ja später noch eine Möglichkeit, darauf zurückzukommen. Auf jeden Fall hoffte er, daß der Polizeichef eine Tür für ihn offen hielt... wenn es eine langwierigere Sache werden würde.

Statt dessen nahm er sich ein Zimmer im See Wharf. Im vierten Stock mit Balkon und Abendsonne. Blick über den Hafen, die Anleger und die Bucht und weiter aufs offene Meer. Auch das kein schlechter Ort, das mußte er zugeben. Bausen deutete aufs Meer hinaus.

»Dort kannst du Lange Piirs sehen, den Leuchtturm... aber nur an einem klaren Morgen. Im letzten Jahr war das viermal der Fall. Dort oben auf den Klippen liegt Fisherman’s Friend, das Gourmetrestaurant. Vielleicht können wir uns dort mal einen Abend gönnen, wenn wir feststecken in den Ermittlungen.«

Van Veeteren nickte.

»Nun, jetzt wäre es wohl an der Zeit, mit der Arbeit anzufangen?«

Bausen zuckte mit den Achseln.

»Nun ja, wenn der Hauptkommissar darauf besteht.« Er schaute auf die Uhr. »O Scheiße, ich fürchte, die warten schon seit einer halben Stunde auf uns!«

 

Die Polizeiwache in Kaalbringen bestand aus einem zweistöckigen Eckhaus am Hauptmarkt. Die Rezeption, Kantine, Umkleideraum und einige Arrestzellen befanden sich im Erdgeschoß. Ein Konferenzraum und vier Arbeitszimmer im ersten Stock. Kraft seines Amtes gehörte Bausen natürlich das größte, mit Schreibtisch und Bücherregalen in dunkler Eiche, einem abgesessenen Ledersofa und dem Blick über den Markt. Die Inspektoren Moerk und Kropke hatten beide jeweils ein kleineres Zimmer zum Hof hin, während die Polizeianwärter Bang und Mooser sich das vierte teilten.

»Darf ich Hauptkommissar Van Veeteren vorstellen, er soll den Fall hier für uns lösen«, erklärte Bausen.

Moerk und Kropke erhoben sich.

»Es ist Bausen, der die Fäden in der Hand hat«, wehrte Van Veeteren ab. »Ich bin nur als Unterstützung herbeigerufen worden. . . wenn die denn nötig sein sollte.«

»Das ist sie ganz bestimmt«, sagte Bausen. »Das hier ist nämlich das ganze Team. Plus die Anwärter natürlich, aber auf die würde ich nicht allzu große Hoffnungen setzen, wenn ich dir einen Tip geben darf.«

»Inspektor Kropke«, sagte Kropke und nahm Haltung an.

Idiot, dachte Beate Moerk und begrüßte Van Veeteren.

»Inspektor Moerk hat die Bereiche Charme und Intuition unter sich«, fuhr Bausen fort. »Ich möchte dem Hauptkommissar raten, sie nicht zu unterschätzen.«

»Das würde mir nie im Traum einfallen«, sagte Van Veeteren.

»Na, dann mal los!« Bausen krempelte seine Hemdsärmel hoch. »Gibt’s Kaffee?«

Beate Moerk nickte zu einem Tablett hin, das auf einem Tisch in der Ecke stand. Kropke fuhr sich mit der Hand durch sein blondes, kurzgeschnittenes Haar, während die andere am Knopf unter dem Krawattenknoten fummelte. Offensichtlich war er es, der das Gespräch leiten sollte.

Er ist wahrscheinlich an der Reihe, dachte Van Veeteren. Vielleicht geht er bei Bausen ja gerade in die Lehre ...

Was auch nötig zu sein schien, wenn er ehrlich war.