Der letzte Tag in Waldemar Leverkuhns Leben hätte kaum besser anfangen können.
Nach dem nächtlichen Wind und dem Dauerregen fiel jetzt eine milde Herbstsonne durch das Küchenfenster herein. Auf dem Balkon, der zum Hinterhof ging, war das charakteristische weiche Gurren der liebeskranken Tauben zu hören und im Treppenhaus das ausklingende Echo der Schritte seiner Ehefrau, die sich auf dem Weg zum Markt befand. Das Neuwe Blatt lag ausgebreitet vor ihm auf dem Tisch, und er hatte gerade seinen Morgenkaffee mit zwei Tropfen Genever gewürzt, als Wauters anrief.
»Wir haben gewonnen«, sagte Wauters.
»Gewonnen?«, fragte Leverkuhn.
»Ja, Mensch!«, sagte Wauters. »Sie haben es im Radio gesagt.«
»Im Radio?«
»Stell dir vor, zwanzigtausend! Es war die Fünf, und zwar keinen Tag zu früh!«
»Das Los?«
»Ja, natürlich das Los. Was hast du denn gedacht? Hab ich nicht gesagt, dass was in der Luft lag, als ich es gekauft hab? Hol’s der Teufel! Sie hat es geradezu rausgesucht vor mir ... als ob sie’s gewusst hätte, Frau Milkerson im Kiosk. Zwei, fünf, fünf. Eins, sechs, fünf, fünf! Die Fünfer sind es, die haben’s gebracht, glaub’s mir. Ja, ich hatte die ganze Woche schon so ein Gefühl.«
»Wie viel, hast du gesagt?«
»Zwanzigtausend, zum Teufel! Fünf pro Mann, ich muss noch die anderen anrufen. Wir sehen uns heute Abend bei Freddy’s, das wird ein saustarkes Fest in Kapernaum!«
»Fünftausend ...?«, fragte Waldemar Leverkuhn, aber Wauters hatte schon aufgelegt.
Er blieb noch eine Weile mit dem Hörer in der Hand stehen und spürte ein leichtes Schwindelgefühl. Fünftausend Gulden? Vorsichtig blinzelte er ein paar Mal, und als er wieder klar sah, fixierten seine Augen unfreiwillig das Hochzeitsfoto auf der Kommode. Das goldgerahmte. Bedächtig betrachtete er Marie-Louises rundes, milchfrisches Gesicht. Die Lachgrübchen und die Korkenzieherlocken. Ein leichter Wind im Haar. Das Funkeln in den Augen.
Das war damals, dachte er. Damals war sie noch schön. Neunzehnhundertachtundvierzig.
Schön wie ein Sahnestückchen! Er holte sein Taschentuch heraus und schnäuzte sich. Kratzte sich etwas gedankenverloren im Schritt. Heute sah das etwas anders aus ... aber so war das mit den Frauenzimmern ... frühe Blüte, Kinderkriegen, Stillen und dann die Schwere im Körper ... machte sie störrisch, das Ganze. Das lag sozusagen in der Natur der Sache. Ganz anders sah das bei den Kerlen aus, ganz, ganz anders.
Seufzend ging er aus dem Schlafzimmer. Ließ seine Gedanken weiter fließen, obwohl er gar keine richtige Lust dazu hatte. In letzter Zeit passierte ihm das häufig ... Die Kerle dagegen, klar, die hielten sich viel länger in Form, das war ja gerade der Unterschied ... dieser verfluchte Unterschied. Was sich natürlich am Ende wieder ausglich, das schon ... so im Herbst des Lebens wurde es eigentlich doch ziemlich ruhig mit den Trieben, das musste er zugeben. Bei Mann und Frau.
Was sollte man auch anderes erwarten? Zweiundsiebzig und neunundsechzig. Er hatte zwar von Leuten gehört, die mit so was noch viel länger weitermachten, aber was ihn betraf, so war es ein für alle Mal vorbei, damit musste er sich halt abfinden.
Das heißt, abgesehen von der einen oder anderen Zuckung, auf die er liebend gerne verzichtet hätte. Eine blasse Erinnerung an längst vergangene Tage, ein trauriges Souvenir.
So war es nun mal. Ein Zucken. Konnte er gern drauf verzichten, wie gesagt. Er ließ sich am Küchentisch nieder.
Fünftausend!
Hol’s der Teufel!, versuchte er zu denken. Fünftausend Gulden! Aber es war schwer, dieses wirklich prickelnde Gefühl guter Laune zu kriegen. Was verflucht noch mal sollte er eigentlich mit dem Geld anfangen?
Ein Auto? Wohl kaum. Klar, es würde mit Sicherheit für ein annehmbares gebrauchtes reichen, und er hatte auch einen Führerschein, aber es war jetzt zehn Jahre her, seit er hinterm Steuer gesessen hatte, und eine unbändige Lust, sich in die weite Welt zu begeben, hatte er auch nicht.
Also auch keine Reise. Es stimmte schon, was Palinski immer sagte: Man hat das meiste gesehen und noch mehr.
Einen besseren Fernseher?
Dafür gab es keinen Grund. Sie hatten einen, der war erst ein paar Jahre alt, und außerdem benutzte er ihn eigentlich nur dazu, um davor einzuschlafen.
Er trank einen Schluck und starrte die Zeitung an, ohne sie zu lesen.
Einen neuen Anzug?
Zu seiner eigenen Beerdigung, oder wofür?
Nein, so auf die Schnelle gab es keine alten Wünsche, die ihm in den Sinn kamen und sich bemerkbar machten. Was wohl schon eine Menge darüber sagte, was für ein alter Knacker er geworden war. Konnte nicht mal sein Geld so mir nix, dir nix unter die Leute bringen. Schaffte es einfach nicht. Verdammte Scheiße!
Waldemar Leverkuhn schob die Zeitung zur Seite und goss sich eine neue Tasse Kaffee mit Genever ein.
Zumindest das konnte er sich genehmigen! Einen kleinen Nachschlag. Er lauschte eine Weile den Tauben, während er das Getränk in sich schlürfte. Vielleicht sollte er die Sache so angehen? Sich einfach etwas gönnen. Ein bisschen großzügiger bei Freddy’s sein. Etwas teurere Weine. Eine Leckerei bei Keefer’s oder Kraus.
Warum eigentlich nicht? Ein paar Jahre etwas besser leben.
Jetzt klingelte das Telefon schon wieder.
Palinski, natürlich.
»Das wird ein saustarkes Fest in Kapernaum!«
Sogar die gleichen Worte wie Wauters. Schon merkwürdig, dass er nicht mal in der Lage war, sich ein paar eigene Kraftausdrücke zuzulegen. Nach der Begrüßungsfloskel lachte er eine halbe Minute lang laut in den Hörer und beendete seinen Anruf damit, dass er etwas dahingehend schrie, wonach der Wein bei Freddy’s fließen würde.
»... halb sieben! Weißes Hemd und neuen Schlips, du alter Schweinehund!«
Dann legte er auf. Waldemar Leverkuhn schaute wieder eine Weile seine frischvermählte Ehefrau an und ging dann zurück in die Küche. Trank den letzten Rest Kaffee und rülpste. Dann lachte er.
Endlich lachte er. Fünftausend waren immerhin fünftausend.
Bonger, Wauters, Leverkuhn und Palinski.
Sie waren schon ein hübsches Quartett, Bonger und Palinski kannten sich bereits seit Kindesbeinen. Seit ihrer Schulzeit auf der Magdeburgischen und den Kriegswintern in den Kellern von Zuiderslaan und Merdwick – in der Mitte ihres Lebens waren sie einige Jahrzehnte auseinander gedriftet, aber dann wieder aufeinander gestoßen. Wauters hatte sich ihnen später angeschlossen, ziemlich viel später. Einer dieser einsamen Herren bei Freddy’s, dieser Wauters. Zugereist von Hamburg oder Frigge oder woher auch immer. Er war nie verheiratet gewesen (der Einzige im Quartett, der es geschafft hatte, wie er selbst meinte, auch wenn er inzwischen den Junggesellenstatus mit Bonger und Palinski teilte) – und dennoch war er der einsamste arme Teufel, den man sich nur denken konnte. Das pflegte Bonger zumindest im Vertrauen zu erwähnen, denn Bonger war derjenige, der ihn am längsten und am besten kannte und der ihn in den Kreis eingeführt hatte. Ein alter Spieler war er auch, der Wauters, zumindest wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte, die er mit gewissem Bedacht um sich zu verbreiten pflegte ... obwohl sich das inzwischen nur noch auf Fußballtipps und Lose bezog. Die Rennpferde waren heutzutage sowieso nur noch gedopte Kamele, wie er resigniert behauptete, und die Jockeys gekauft. Und die Karten? ... Ja, wenn man fast zwölfhundert mit einem As-Vierer verloren hat, dann muss man es auf seine alten Tage verflucht noch mal ruhiger angehen lassen.
Laut Benjamin Wauters.
Bonger, Wauters, Leverkuhn und Palinski.
Letzten Abend hatte Palinski ausgerechnet, dass sie zusammen zweihundertzweiundneunzig Jahre alt waren und dass sie, wenn sie noch zwei Jahre durchhielten, ihrem 300-Jahr-Jubiläum gerade rechtzeitig zur Jahrhundertwende ins Auge sehen konnten. Das war nun wahrlich nicht schlecht, oder?
Palinski hatte seine Hand auf Frau Gautiers’ generös geformten Hintern gelegt, während er es ihr erzählte, aber Frau Gautiers hatte nur geschnaubt und gemeint, sie für ihren Teil hätte eher auf vierhundert getippt.
Doch in Wirklichkeit wurde es weder mit der einen noch mit der anderen runden Zahl etwas, da dieser Samstag der letzte in Waldemar Leverkuhns Leben war. Wie schon gesagt.
Marie-Louise kam mit den Einkaufstüten zurück, gerade als er gehen wollte.
»Wohin willst du?«
»Raus.«
»Warum denn?«
»Mir ’nen Schlips kaufen.«
Ihr Gebiss klapperte zweimal, wie immer, wenn sie sich über etwas ärgerte. Tick, tock.
»Einen Schlips?«
»Ja.«
»Warum willst du dir einen Schlips kaufen? Du hast doch schon fünfzig Stück.«
»Ich bin sie alle leid.«
Sie schüttelte den Kopf und schob sich mit ihren Tüten an ihm vorbei. Ein Geruch nach Nieren stach ihm in die Nase.
»Du brauchst kein Essen zu machen.«
»Was? Was meinst du damit?«
»Ich esse auswärts.«
Sie stellte ihre Tüten auf den Tisch.
»Ich habe Nieren eingekauft.«
»Das habe ich schon gerochen.«
»Und warum willst du plötzlich auswärts essen? Ich dachte, wir wollten heute zeitig essen, ich will doch heute Abend zu Emmeline, und du willst doch sicher ...«
». . . zu Freddy’s, ja. Aber ich esse außerhalb einen Bissen. Du kannst sie ja einfrieren, die Nieren.«
Sie betrachtete ihn argwöhnisch.
»Ist was passiert?«
Er knöpfte sich den Mantel zu.
»Nicht, dass ich wüsste. Was sollte denn passiert sein?«
»Hast du deine Medizin genommen?«
Er antwortete nicht.
»Bind deinen Schal um. Es geht ein Wind.«
Er zuckte die Achseln und ging.
Fünftausend, dachte er. Man könnte für ein paar Nächte im Hotel wohnen.
Wauters und Palinski hatten auch neue Schlipse, nur Bonger nicht.
Bonger trug nie einen Schlips, er hatte sein ganzes Leben lang keinen besessen, aber zumindest hatte er ein einigermaßen sauberes Hemd an. Seine Frau war vor acht Jahren gestorben, und seitdem ließ er den Dingen ihren Lauf. Sowohl was die Hemden betraf wie auch alles andere.
Wauters hatte einen Tisch im Restaurantbereich bestellt, und auf Palinskis Vorschlag hin begann man mit Champagner und Kaviarschnittchen, abgesehen von Bonger, der statt Kaviar Flusskrebsschwänze vorzog. Mit Sauternesoße.
»Was ist denn mit euch los, ihr alten Knacker?«, wunderte Frau Gautiers sich misstrauisch. »Habt ihr eure Prostata an die Forschung verkauft?«
Aber sie nahm eine Bestellung nach der anderen entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken, und als Palinski ihr wie immer auf den Hintern klopfte, schaffte sie es kaum, seine rheumatische Hand wegzuscheuchen.
»Prost, Brüder!«, rief Wauters in regelmäßigen Abständen aus.
»Jetzt wird saustark gefeiert im Kapernaum!«, erklärte Palinski noch häufiger.
Verdammt, was habe ich diese Idioten satt, dachte Leverkuhn.
Gegen elf Uhr hatte Wauters acht oder neun Mal erzählt, wie er das Los gekauft hatte. Palinski hatte ungefähr genauso oft »Oh, meiner Jugend schönste Sünde« gesungen, und jedes Mal nach eineinhalb Zeilen abgebrochen, da er sich nicht mehr an den Text erinnerte, und Bongers Gedärme waren durcheinander geraten. Waldemar Leverkuhn dagegen hatte das Gefühl, dass er vermutlich betrunkener war als seinerzeit auf dem Oktoberfest in München vor fünfzehn Jahren. Oder war es schon sechzehn Jahre her?
Wie auch immer, es war an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen.
Wenn er nur seine Schuhe finden könnte. Die letzte halbe Stunde hatte er in Strümpfen dagesessen, was er verwundert festgestellt hatte, als er zum Pinkeln auf der Toilette war, aber wie sehr er auch mit den Füßen unter dem Tisch herumtastete, er konnte nichts finden.
Das war aber auch zu blöd. Er wusste, Bongers Gedärme hatten wieder gesprochen, und als Palinski erneut mit seinem Gesang einsetzte, wurde ihm klar, dass er die Sache unbedingt systematischer angehen musste.
Er hustete ablenkend und machte einen diskreten Tauchgang, bekam aber unglücklicherweise einen Zipfel der Tischdecke zu fassen, und daraufhin wurde alles so ein Durcheinander, dass er ganz einfach keine Lust mehr hatte, sein zufälliges Exil unter dem Tisch wieder zu verlassen. Irgendwelche Schuhe sah er nirgends.
»Haut ab!«, murmelte er drohend. »Verschwindet, fahrt zur Hölle und lasst mich in Ruhe!«
Er drehte sich auf den Rücken und zog die restliche Tischdecke und das Porzellan mit sich. Von den umgebenden Tischen war ein gemischter Chor aus Lachsalven und empörten Frauenstimmen zu vernehmen. Von Wauters und Palinski kamen gute Ratschläge und von Bonger ein weiterer Tritt.
Dann zeigten sich Frau Gautiers und Herr Van der Valk und Freddy himself, und zehn Minuten später stand Waldemar Leverkuhn draußen auf dem Fußsteig im Regen, in Mantel und Schuhen. Palinski und Wauters verschwanden in einem Taxi, und Bonger fragte im nächsten Atemzug, ob sie sich nicht auch eins teilen sollten.
Nur über meine Leiche, du verdammte Stinkbombe!, dachte Leverkuhn und anscheinend sagte er das auch, denn während einer bedrohlichen Sekunde schwebte Bongers Faust unter seiner Nase, aber dann verschwanden sowohl Faust als auch ihr Besitzer entlang der Langgraacht.
Leicht reizbar wie üblich, dachte Leverkuhn und begann langsam ungefähr in die gleiche Richtung zu gehen. Der Regen wurde stärker. Das war aber nichts, was ihn störte, ganz und gar nicht. Trotz seines Rausches ging es ihm ausgezeichnet, und er konnte fast hundertprozentig den Kurs halten. Erst als er auf die rutschige Auffahrt zur Wagnerbrücke abbog, kam er ins Stolpern und fiel hin. Zwei vorbeigehende Frauen, wahrscheinlich Huren unten aus Zwille, halfen ihm wieder auf die Beine und sorgten außerdem dafür, dass er in der Zuyderstraat etwas festeren Boden unter die Füße bekam.
Der Rest war ein Kinderspiel, und in dem Moment, als die Glocken der Keymerkirche Viertel vor zwölf schlugen, war er zu Hause.
Ganz im Gegensatz zu seiner Ehefrau. Waldemar Leverkuhn zog die Tür hinter sich zu, ohne sie abzuschließen, zog Schuhe, Mantel und Jacke im Flur aus und krabbelte ohne große Umstände ins Bett. Zwei Minuten später schlief er bereits. Auf dem Rücken und mit weit geöffnetem Mund, und als jemand etwas später in der Nacht sein rasselndes Schnarchen zum Verstummen brachte, indem er ihm achtundzwanzig Mal ein Fleischmesser in Rumpf und Hals stieß, war nicht auszumachen, ob er sich dieser Tatsache überhaupt bewusst geworden war.
Die Frau war grau wie das Licht der Morgendämmerung.
Mit hochgezogenen Schultern saß sie Kommissar Münster in ihrem abgetragenen Mantel gegenüber und blickte zu Boden. Sie machte keinerlei Anstalten, den Teebecher oder eines der Brote anzurühren, die Frau Katz hereingebracht hatte. Eine Aura müder Resignation umgab sie, und Münster überlegte, ob es nicht besser wäre, einen Arzt zu rufen und ihr eine Spritze geben zu lassen. Sie ins Bett zu bringen, damit sie sich ausruhte, statt hier zu sitzen und durch die Mangel gedreht zu werden. Krause hatte ja bereits ein vorläufiges Verhör zu Stande gebracht.
Aber wie Van Veeteren immer sagte: Die ersten Stunden sind die wichtigsten. Und die erste Viertelstunde ist genauso schwergewichtig wie die gesamte dritte Woche.
Falls sich die Geschichte so lange hinziehen würde. Man konnte ja nie wissen.
Er schaute auf die Uhr. Sechs Uhr fünfundvierzig. All right, dachte er. Eine Viertelstunde, höchstens.
»Ich muss Ihre Angaben noch einmal durchgehen«, sagte er. »Dann können Sie sich schlafen legen.«
Sie schüttelte leicht den Kopf.
»Ich brauche keinen Schlaf.«
Münster überflog hastig Krauses Aufzeichnungen.
»Sie sind also etwa gegen zwei Uhr nach Hause gekommen?«
»Ja, ungefähr fünf Minuten nach zwei. Es gab einen Stromausfall, und der Zug musste mehr als eine Stunde warten. Vor Voigtshuuis.«
»Wo sind Sie gewesen?«
»In Bossingen. Bei einer Freundin. Wir treffen uns immer samstags ... nicht an jedem, aber ab und zu. Ich habe das schon erzählt.«
»Ich weiß«, sagte Münster. »Wann sind Sie von Bossingen losgefahren?«
»Mit dem Zwölfuhrzug. Der fährt um 23.59 Uhr ab und soll eigentlich Viertel vor eins hier sein. Aber diesmal ist es fast zwei geworden.«
»Und dann?«
»Dann bin ich nach Hause gegangen und habe ihn gefunden.«
Sie zuckte mit den Achseln und schwieg. Bis jetzt hatte sie den Blick noch kein einziges Mal gehoben. Einen kurzen Moment lang musste Münster an das überfahrene Katzenjunge denken, das er gefunden hatte, als er zehn oder elf Jahre alt war. Es hatte auf dem Asphalt in seinem eigenen Blut gelegen, als er mit dem Fahrrad vorbeigekommen war, und auch das Katzenjunge hatte seinen Blick nicht gehoben. Es hatte einfach nur dagelegen, in das hohe Gras am Wegrand gestarrt und darauf gewartet, dass es sterben würde.
Er überlegte, warum ausgerechnet dieses alte Bild an diesem düsteren Morgen aus seinem Gedächtnis auftauchte. Schließlich war es nicht Frau Leverkuhn, die im Sterben lag, es war ihr Mann, der gestorben war.
Ermordet. Zweiundsiebzig Jahre alt hatte er werden müssen, um seinen Mörder zu treffen, einen Mörder, dem es am sichersten erschienen war, das Messer zwischen zwanzig und dreißig Mal in ihn zu stoßen, damit er niemals wieder aus seinem Bett steigen würde.
Irgendwann zwischen halb eins und halb drei, wenn man dem vorläufigen Obduktionsbericht glauben durfte, der schon eine Weile vorlag, als Münster ins Polizeipräsidium kam.
Ein wenig übertrieben, zweifellos. Ein oder zwei Stiche hätten vermutlich genügt. Der Blutverlust war so groß gewesen, dass man hier wirklich einmal davon reden konnte, dass das Opfer in seinem eigenen Blut gebadet hatte. Es gab beträchtlich mehr davon im Bett und auf dem Boden als im Körper.
Er betrachtete Marie-Louise Leverkuhn und ließ einige Sekunden verstreichen.
»Sie haben sofort die Polizei angerufen?«
»Ja ... nein, ich bin zuerst rausgegangen.«
»Rausgegangen? Aber warum um alles in der Welt?«
Wieder zuckte sie mit den Schultern.
»Ich weiß nicht. Ich muss eine Art Schock gehabt haben ... ich glaube, ich wollte zum Entwick Plejn gehen.«
»Und warum zum Entwick Plejn?«
»Zum Polizeirevier. Ich wollte es dort melden ... aber dann wurde mir klar, dass es wohl besser war, anzurufen. Schließlich war es schon spät und die haben dort sicher nur während der Geschäftszeiten offen. Oder?«
»Ich denke schon«, sagte Münster. »Um wie viel Uhr waren Sie zurück?«
Sie überlegte.
»Ich denke, es war so kurz nach halb drei.«
Münster blätterte in den Papieren. Das schien zu stimmen. Der Anruf war um 02.43 angenommen worden.
»Ich sehe hier, dass die Wohnungstür nicht verschlossen war, als Sie nach Hause kamen.«
»Ja.«
»Ist jemand eingebrochen?«
»Nein. Es kam öfter vor, dass er vergessen hat, abzuschließen . . . oder sich einfach nicht drum gekümmert hat.«
»Er scheint auch einiges getrunken gehabt zu haben.«
Sie antwortete nicht. Münster zögerte eine Weile.
»Frau Leverkuhn«, sagte er schließlich, während er sich über seinen Schreibtisch beugte und versuchte, ihren Blick vom Fußboden aufzufischen. »Es stellt vollkommen außer Zweifel, dass Ihr Ehemann ermordet worden ist. Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer das getan haben könnte?«
»Nein.«
»Nicht die leiseste Ahnung ... jemand, mit dem er sich zerstritten hatte oder so etwas?«
Sie machte eine kleine verneinende Gebärde mit dem Kopf.
»Fehlt etwas in der Wohnung? Ich meine, außer dem Messer?«
»Ich glaube nicht.«
»Gibt es irgendwelche Spuren, die auf einen Fremden hindeuten?«
»Nein.«
»Etwas anderes, was Ihnen aufgefallen ist, das Ihrer Meinung nach von Bedeutung sein könnte?«
Ihr Körper wurde von einem Zittern geschüttelt, und endlich hob sie ihren Blick.
»Nein, es war alles wie immer, alles ... Was sage ich da? Ich meine ...«
»Ich verstehe«, sagte Münster. »Es stimmt, was Sie sagten, Sie haben einen Schock erlitten. Wir machen jetzt eine Pause. Ich denke, es wird das Beste sein, wenn Sie sich eine Weile hinlegen. Ich werde die zuständige Krankenschwester rufen, die wird sich um Sie kümmern.«
Er klappte den Notizblock zu und stand auf. Gab Frau Leverkuhn ein Zeichen, ihm zu folgen, und hielt ihr die Tür auf. Als sie dicht an ihm vorbeiging, bemerkte er zum ersten Mal ihren Geruch.
Naphthalin, wenn er sich nicht täuschte.
Rooth sah ungefähr so aus, wie er sich fühlte.
»Schon lange auf den Beinen?«
Rooth rührte seinen Kaffee mit einem Bleistift um.
»Ziemlich«, nickte er. »Als ich ein Kind war, gab es so was, das hieß Sonntagsmorgen. Wo ist das nur geblieben?«
»Keine Ahnung«, sagte Münster. »Du bist also da gewesen?«
»Drei Stunden lang«, sagte Rooth. »Bin gleich nach Krause angekommen. Hab mir eine Stunde lang das Blutbad angeguckt, zwei Stunden die Nachbarn befragt. Krause hat sich um die Frau gekümmert.«
»Hab ich gehört«, sagte Münster. »Was sagen die Nachbarn?«
»Alle machen die gleichen Aussagen«, erklärte Rooth und holte ein Butterbrot aus einer Plastikdose auf dem Tisch hervor.
»Willst du auch eins?«
Münster schüttelte den Kopf.
»Gleiche Aussagen? Was, zum Teufel, soll das heißen?«
Rooth putzte sich die Nase.
»Es gibt nur sechs Wohnungen in dem Block. Eine steht leer. In drei – inklusive der der Leverkuhns – wohnen alte Leute.
Ab fünfundsechzig aufwärts. In der vierten wohnt eine dicke Frau mittleren Alters. In der letzten ein junges Paar. Alle waren in der Nacht zu Hause, und alle haben das Gleiche gehört.«
»Aha. Und was?«
»Ein junges Paar, das sich im Bett amüsiert hat. Zwischen elf und zwei ungefähr. Es scheint dort reichlich hellhörig zu sein, und sie haben offensichtlich nicht das allerbeste Bett.«
»Drei Stunden lang?«, fragte Münster.
Rooth biss in sein Butterbrot und runzelte die Stirn.
»Ja, und sie geben das auch noch zu. Und der Typ ist nicht mal ein Athlet. Obwohl, er ist farbig. Manchmal fragt man sich wirklich ...«
»Willst du damit sagen, dass die Alten die ganze Zeit zwischen elf und zwei wach gelegen und dem Liebesspiel zugehört haben?«
»Nicht die ganze Zeit. Aber ab und zu, zwischendurch sind sie auch eingeschlafen. Übrigens gibt es nur ein Paar. Die Van Ecks im Erdgeschoss. Die anderen sind allein stehend ... Herr Engel und Frau Mathisen.«
»So?«, sagte Münster und überlegte. »Aber aus Leverkuhns Wohnung haben sie nichts gehört?«
»Nicht einen Mucks«, bestätigte Rooth und biss erneut ab. »Niemand hat irgendwelche Besucher in der Wohnung bemerkt, und niemand hat verdächtige Geräusche gehört – abgesehen von dem Beischlaf. Übrigens, es ist kein Problem, ins Haus zu kommen ... die Haustür kann man laut Van Eck aufdrücken.«
Münster schwieg, während Rooth sein Butterbrot aufaß.
»Was denkst du?«, fragte er schließlich.
Rooth gähnte.
»Überhaupt nichts«, antwortete dieser. »Ich bin dazu ein bisschen zu müde. Aber ich nehme an, jemand ist reingekommen und hat ihn erstochen. Und ist dann wieder abgehauen. Oder er hat schon drinnen gesessen und auf ihn gewartet ... eins von beidem.«
»Zwanzig, dreißig Stiche?«, fragte Münster.
»Zwei hätten schon gereicht«, sagte Rooth. »Wahrscheinlich wieder so ein verfluchter Wahnsinniger.«
Münster stand auf und trat ans Fenster. Schob zwei Jalousienrippen auseinander und blinzelte auf die diesige Stadt. Es war bereits fast halb neun, und schon jetzt war klar, dass es wieder einer jener grauen, verregneten Sonntage werden würde, an denen das Licht nie richtig durchkommt. Ein einziger diesiger Warteraum. Er ließ die Jalousie los und drehte sich um.
»Warum?«, fragte er. »Wer um alles in der Welt bringt einen siebzigjährigen alten Knacker auf diese Art und Weise um?«
Rooth antwortete nicht.
»Wie sieht es mit der Waffe aus?«
Rooth schaute von seiner Kaffeetasse auf.
»Das Einzige, was in der Wohnung fehlt — laut der Ehefrau jedenfalls – ist ein Fleischmesser. Meusse sagt, dass es sehr wohl die Tatwaffe gewesen sein kann ... die Länge scheint zu stimmen.«
»Hm«, sagte Münster. »Und was gedenkst du jetzt zu tun?«
Rooth kratzte sich am Kinn.
»Nach Hause zu fahren und mich eine Weile aufs Ohr zu hauen. Soweit ich verstanden habe, übernimmst du ja wohl, und wenn ich wieder munter bin, komme ich morgen zum Dienst. Es gibt da übrigens einige Angehörige, die informiert werden müssen. Ich habe das dir überlassen. Ich hoffe, du entschuldigst, aber du kannst so was besser als ich ... außerdem konnte ich ja nicht so frühmorgens anrufen, nicht wahr?«
»Danke«, sagte Münster. »Um wen geht es?«
Rooth zog ein Stück Papier aus der Innentasche.
»Um einen Sohn und eine Tochter«, erklärte er. »Beide wohnen außerhalb. Es gibt noch eine weitere Tochter, aber die ist irgendwo in der Psychiatrie – das eilt wahrscheinlich nicht so.«
»All right«, sagte Münster und schrieb die Daten auf. »Dann geh nach Hause und leg dich hin, den Fall hier werde ich inzwischen lösen.«
»Prima«, sagte Rooth. »Du kriegst eine Schokoladentorte, wenn du es bis morgen früh schaffst.«
»Verdammter Quatschkopf«, sagte Münster und griff zum Telefonhörer.
Er bekam bei keiner der beiden Nummern eine Verbindung und überlegte eine Weile, ob er diese Arbeit Krause oder jemand anderem übertragen sollte. Jedenfalls war klar gewesen, dass die alte Frau Leverkuhn selbst nicht sehr geneigt war, ihre Kinder anzurufen.
Anzurufen und zu erzählen, dass jemand gerade ihren Papa ermordet hat, und zwar indem er das fünfzehn Jahre alte Fleischmesser zwanzig bis dreißig Mal in ihn hineingejagt hat. Wobei er ihre Einstellung eigentlich gut verstehen konnte. Er schob die Papiere zusammen und beschloss, dass das eine dieser Aufgaben war, derer man sich nicht so einfach entledigen konnte. Pflichten nannte man das früher.
Stattdessen rief er Synn an. Erklärte ihr, dass er gezwungen war, wohl den ganzen Tag zu arbeiten, und in ihrem Schweigen und den nicht ausgesprochenen Worten konnte er ihre Enttäuschung hören. Seine eigene Enttäuschung war nicht kleiner, und sie beendeten ihr Gespräch nach weniger als einer Minute.
Es gab wenige Dinge, die Münster lieber tat, als einen ganzen Tag in so einem diesigen Wartezimmer mit Synn zu verbringen. Und den Kindern. Ein regnerischer Sonntag ohne Pläne.
Er schloss die Augen und lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück.
Warum?, dachte er lustlos.
Warum muss jemand daherkommen und einen alten Knacker auf diese bestialische Weise ins Jenseits befördern?
Und warum musste er selbst einen Job haben, der viel zu oft von ihm verlangte, dass er regnerische Sonntage dazu benützte, Antworten auf Fragen wie diese auszugraben, statt mit seiner geliebten Familie zusammen zu sein?
Warum?
Er seufzte und schaute auf die Uhr. Es war noch nicht einmal Vormittag.
Er ging zu Fuß zu Freddy’s. Ein gleichgültiger Dunst hing über den Kanälen und über den sonntagsleeren Straßen, aber der Regen hatte sich langsam zurückgezogen. Das kleine Restaurant lag in der Weiskerstraat, ganz in der Ecke zur Langgraacht, und es war noch geschlossen. Sonntags 12 — 24 Uhr, stand auf einem verblassten Zettel an der Tür, aber er klopfte dennoch an das geriffelte Glas und wurde nach einer Weile eingelassen. Es war eine kräftige Frau in den Vierzigern, die ihm öffnete. Sie war fast genauso groß wie er, trug Jeans, ein Flanellhemd und ein rotes, leicht angeschmutztes Tuch um den Kopf. Ganz offensichtlich war sie dabei, die Räume in salonfähigen Zustand zu versetzen.
Zu putzen, wenn man so will.
»Elizabeth Gautiers?«
Sie nickte und legte einen Stapel in Plastik eingeschweißte Speisekarten auf den Bartresen. Münster schaute sich um, die Beleuchtung war äußerst sparsam. Er nahm an, dass das etwas mit den Ausmaßen ihrer Putzambitionen zu tun hatte. Ansonsten sah es aus wie üblich. Dunkle Täfelung, dunkle Einrichtung in Braun, Grün und Rot. Der Bartresen in einem Winkel, ungefähr zehn Tische mit einfachen, geradlehnigen Stühlen. Ein Zigarettenautomat und ein Fernsehapparat. In einem Hinterzimmer konnte er weiße Tischdecken und etwas großzügigeren Lichteinfall entdecken – offenbar ein etwas vornehmerer Essensbereich. Aus der Küche waren Stimmen und das Klappern von Töpfen und Pfannen zu hören, es war halb elf, und der Mittagsstress hatte eingesetzt.
»Sie haben angerufen?«
Münster zeigte seinen Ausweis und sah sich nach einem passenden Sitzplatz um.
»Wir können uns da drinnen hinsetzen. Möchten Sie etwas?«
Sie zeigte auf die weißen Tischdecken und ging durch die Schwingtüren voraus.
»Kaffee«, sagte Münster, die Tatsache ignorierend, dass er Synn versprochen hatte, seinen Konsum auf vier Tassen am Tag zu reduzieren. Das hier war seine dritte. »Ich meine, nur wenn es Ihnen keine Umstände macht!«
Das machte es nicht. Sie ließen sich im Schutz eines Benjaminus fikus aus Plastik nieder, und er zog seinen Block heraus.
»Wie ich schon sagte, es dreht sich um diese Gesellschaft gestern Abend ...« Er ging noch einmal die Namen durch. ». . . Palinski, Bonger, Wauters und Leverkuhn. Alles Stammgäste, wenn ich mich nicht irre? Es sieht so aus, als ob Leverkuhn ermordet worden ist.«
Offensichtlich war diese Neuigkeit noch nicht bis zu ihr durchgedrungen, denn ihr Unterkiefer fiel herunter, sodass ein leises Klicken zu hören war. Münster überlegte, ob sie wohl ein Gebiss hatte. Aber sie konnte doch nicht viel älter als fünfundvierzig sein? Also ungefähr in seinem Alter.
»Ermordet?«
»Daran besteht kaum ein Zweifel«, nickte Münster.
»Äh ... und warum?«
»Das wissen wir noch nicht.«
Sie saß ein paar Sekunden absolut still. Dann nahm sie ihr Kopftuch ab und ließ eine Haarmähne in fast der gleichen Farbe frei. Nur nicht ganz so schmutzig. Trotzdem eine ziemlich schöne Frau, stellte Münster ein wenig verwundert fest. Groß, aber schön, die forderte schon den ganzen Mann. Sie zündete sich eine Zigarette an.
»Raubüberfall, oder was?«
Münster antwortete nicht.
»Ich meine, wurde er niedergeschlagen ... auf dem Heimweg?«
»Nicht direkt. Können Sie mir sagen, um wie viel Uhr er von hier weggegangen ist?«
Elizabeth Gautiers dachte nach.
»Um elf«, sagte sie. »Vielleicht ein paar Minuten danach.«
»Es war gestern schon etwas außergewöhnlich«, fügte sie nach einer Weile hinzu.
»Außergewöhnlich?«
»Na, die waren ziemlich betrunken. Leverkuhn ist unter den Tisch gefallen.«
»Unter den Tisch?«
Sie lachte laut auf.
»Ja, tatsächlich. Er hat die Tischdecke mit sich gezogen, da war reichlich was los. Wir haben ihn wieder auf die Beine gestellt und auf den Weg gebracht ... Sie meinen also, er ist auf dem Weg nach Hause umgebracht worden?«
»Nein«, antwortete Münster. »In seinem Bett. Gab es irgendwie Streit zwischen den Herren?«
»Nicht mehr als üblich.«
»Haben Sie gesehen, wie sie von hier weg sind? Vielleicht haben Sie ihnen ein Taxi gerufen oder so?«
»Das ist nicht nötig«, erklärte Elizabeth Gautiers. »Hier ist immer ein Auto zu finden. Hinten am Megsje Plejn, nur eben um die Ecke ... Ja, ich glaube, zwei von ihnen haben ein Taxi genommen. Ich bin noch am Fenster stehen geblieben und habe ihnen nachgeschaut. Aber Leverkuhn und Bonger sind wohl zu Fuß gegangen.«
Münster nickte und machte sich Notizen.
»Sie kennen die Herren gut?«
»Das kann man wohl sagen. Die sitzen doch mindestens zwei Abende in der Woche hier. Bonger und Wauters sogar noch häufiger ... vier oder fünf Abende. Aber meistens natürlich in der Bar.«
»Seit wann verkehren sie hier?«
»Jedenfalls seit ich hier arbeite. Acht Jahre.«
»Aber gestern haben sie im Restaurant gesessen?«
Sie drückte die Zigarette aus und überlegte.
»Ja, gestern Abend, da war etwas Besonderes, wie schon gesagt. Aus irgendeinem Grund hatten sie etwas zu feiern. Ich glaube, sie haben Geld gewonnen.«
Münster schrieb auf.
»Wieso glauben Sie das? Und wo sollen sie denn gewonnen haben?«
»Ich weiß nicht. Fußball oder Lotto wahrscheinlich, die füllen doch immer mittwochs ihre Kupons aus. Aus irgendeinem Grund haben sie lächerlicherweise versucht, das geheim zu halten, haben nur darüber geflüstert, aber man bekam natürlich doch so einiges mit.«
»Sind Sie sich dessen ganz sicher?«
Sie überlegte wieder.
»Nein«, sagte sie dann. »Aber es kann sich kaum um etwas anderes gehandelt haben. Herausgeputzt waren die vier auch. Und haben teure Weine und Cognac bestellt. Alles à la carte . . . aber mein Gott, warum haben sie Leverkuhn umgebracht? Diesen armen alten Kerl. Ist er auch ausgeraubt worden?«
Münster schüttelte den Kopf.
»Anscheinend nicht. Nur ermordet. Jemand hat ihn mit einem Messer erstochen.«
Sie starrte ihn ungläubig an.
»Aber wer nur? Ich meine ... warum?«
Die allerschlimmsten Verhöre, dachte Münster, als er wieder auf der Straße stand, das sind die, bei denen der Befragte nichts anderes dazu beitragen kann, als die eigenen Fragen zu wiederholen und zu unterstreichen. Wie in diesem Fall hier.
Wer nur?
Warum?
Nun ja, das Thema Geld war zur Sprache gekommen, und auch wenn es ein paar Jahre her war, seit Kommissar Münster mit dem Marxismus geflirtet hatte, konnte er immer noch sehen, dass fast alle Dinge eine ausgeprägte ökonomische Seite hatten.
Besonders wenn es um seinen eigenen Arbeitsbereich ging natürlich. Die Schattenseite.
Qui bono also? Als er mit der Ehefrau gesprochen hatte, war von plötzlichen Spielgewinnen nicht die Rede gewesen. Vielleicht gab es hier einen roten Faden, aber wenn er näher darüber nachdachte, fand er es nicht mehr gar so überraschend, dass die Herren, und hier in erster Linie Leverkuhn, diese Sache lieber für sich behielten. Dafür sorgten, dass das Geld nicht in der Haushaltskasse oder anderen bodenlosen Löchern verschwand.
Falls es ihnen wirklich gelungen war, etwas einzuheimsen. Warum auch nicht? Die Leute gewannen ab und zu Geld, ihm selbst war das zwar noch nie passiert, aber das hatte sicher seinen wahren Grund darin, dass er äußerst selten spielte.
Er sah auf die Uhr und beschloss, zurück zum Präsidium ebenfalls zu Fuß zu gehen. Die dahinziehenden Nebelschleier hatten sich zwar inzwischen in einen dünnen Regen aufgelöst, aber die Luft war mild und weich, und schließlich hatte er Mantel und Handschuhe dabei.
Was er im Polizeipräsidium eigentlich machen wollte, darüber war er sich nicht im Klaren – außer natürlich zu versuchen, Sohn und Tochter zu erreichen. Wenn er Glück hatte, waren inzwischen auch die Berichte des Gerichtsmediziners Meusse und der Spurensicherung eingetroffen, und dann würde es sicher noch ein paar andere Dinge geben, um die er sich kümmern musste.
Außerdem hatten Jung und Moreno vielleicht etwas bei ihrer Befragung der anderen Saufkumpane herausgefunden, obwohl er lieber nicht allzu viel davon erwarten sollte. Beide Kollegen hatten müder ausgesehen, als die Polizei erlaubt, als er sie losschickte.
Aber im besten Fall ... im allerbesten Fall, dachte er, würde ein Zettel auf seinem Schreibtisch liegen, auf dem stand, dass einer der alten Kerle zusammengebrochen war und gestanden hatte. Oder jemand anders, wer auch immer. Und dann ... dann würde ihn nichts mehr daran hindern, nach Hause zu Synn und den Kindern zu fahren und sich für den Rest des Tages seinem Familienleben zu widmen.
Es war ein schöner grauer Sonntag zum Daheimbleiben. Und es gab immer Gründe, warum es besser wäre, ein entscheidendes Verhör auf den Montagmorgen zu verschieben. Ein demütigender Tag im Polizeiarrest bringt die meisten Täter dazu, schließlich im Großen und Ganzen alles zu gestehen, was von ihnen gewünscht wird.
Das hatte er schon öfters erlebt.
Aber wie groß die Chancen waren, dass so ein Täter wirklich auftauchte ... ja, dieser Frage wollte Kommissar Münster lieber nicht näher nachgehen. Sondern sich lieber erlauben, noch eine Weile zu hoffen. Man konnte ja nie wissen. Wenn es etwas gab, was in diesem verfluchten Job sicher war, dann ja wohl das.
Dass man nie wissen konnte.
Er schlug seinen Kragen gegen den Regen hoch und schob die Hände mit einem vorsichtigen Optimismus in die Manteltaschen.
Jung hatte Kopfschmerzen.
Das hatte seinen Grund, und ohne die Lage seinen Kollegen zu offenbaren, nahm er die Straßenbahn zum Armastenplejn, wo Palinski wohnte. Es war einer dieser Tage, an denen es sich nicht lohnte, sich zu beeilen, redete er sich mit pädagogischem Nachdruck ein.
Die Bahn war zu dieser unchristlichen Sonntagszeit fast menschenleer, und während er auf dem zerkratzten Sitz hin und her gerüttelt wurde, versuchte er zwei Brausetabletten in die Cocacoladose hineinzudrücken, die er in der Kantine gekauft hatte. Das Ergebnis war erschreckend. Durch die Schaumentwicklung wurde er gezwungen, das perlende Getränk so schnell wie möglich in sich hineinzuschlürfen. Dennoch bekam er einige Flecken auf Jacke und Hose ab, was ihm schräge Blicke von vier sittsamen Frauenaugen einbrachte, die ein paar Reihen hinter ihm hervorstachen. Die Damen waren höchstwahrscheinlich auf dem Weg zur Kirche, um ihre äußerst wohlverdiente Gnade zu empfangen. Diese frisch gebügelten Damen.
Auch egal, dachte Junge. Starrte zurück und wischte sich so gut es ging mit dem Schal ab.
Die Kopfschmerzen schwebten noch über ihm, als er ausstieg. Er fand das richtige Haus und direkt daneben ein geöffnetes Cafe. Nach einigen Sekunden des Zögerns ging er in das Cafe und bestellte sich eine Tasse Kaffee.
Man sollte eben keinen Alkohol trinken, wenn man Dienstbereitschaft hat! Das war natürlich eine alte, kluge Regel, aber schließlich war es Maureens Geburtstag gewesen, und ab und zu muss man Prioritäten setzen. Außerdem hatten sie endlich einmal die Wohnung für sich gehabt – genau genommen zum ersten Mal, seit sie Ende August zusammengezogen waren. Sophie hatte bei einer Freundin übernachtet. Oder vielleicht auch bei einem Freund, sie war ja schon bald siebzehn.
Sie hatten stundenlang gegessen und getrunken. Hatten sich vor dem Fernseher einen teuren Rioja geteilt. Sich dann anderthalb Stunden geliebt. Mindestens. Er erinnerte sich noch daran, dass er auf die Uhr gesehen hatte, als sie fünf nach halb vier zeigte.
Der Diensthabende hatte um Viertel vor sechs angerufen.
Ich bin heute ein Wrack, dachte Jung. Aber ein ziemlich junges und glückliches Wrack.
Er trank seinen Kaffee und bestellte noch eine Tasse.
Palinski sah auch wie ein Wrack aus, nur vierzig Jahre älter. Sein weißes Hemd war gestern Abend möglicherweise sauber gewesen, aber nach den gestrigen Alkoholeskapaden war es nicht mehr besonders imponierend. Unten ragten zwei dünne, armselige Beine heraus, mit Krampfadern und grauen, heruntergerutschten Strümpfen. Der Kopf balancierte auf einem zerbrechlichen Stiel von einem Hals und sah aus, als könnte er jeden Moment herunterfallen. Die Hände zitterten wie Lerchenflügel, die Aufhängung des Unterkiefers funktionierte nicht.
Verdammte Scheiße, dachte Jung und hielt Palinski seinen Polizeiausweis unter die Nase. Hier stehe ich Auge in Auge mit meiner eigenen Zukunft.
»Polizei«, sagte er. »Darf ich reinkommen?«
Palinski hustete. Dann schloss er die Augen.
Kopfschmerzen, diagnostizierte Jung wissend und schob sich durch die Tür.
»Was wollen Sie? Mir geht es nicht gut.«
»Sie haben einen Kater«, sagte Jung. »Stellen Sie sich nicht so an.«
»Nein ... ja«, sagte Palinski. »Wie meinen Sie das?«
»Wissen Sie nicht, was ein Kater ist?«
Palinski antwortete nicht, sondern hustete noch mehr Schleim hoch, den er hinunterschluckte. Jung sah sich nach einem Spucknapf um und atmete ganz flach. Die Luft in der Wohnung war voll mit verrauchtem Altmännergeruch. Tabak. Ungewaschene Kleidung. Schmutziger Fußboden. Er fand die Küche, und es gelang ihm, dort ein Fenster zu öffnen. Er ließ sich an dem wackligen Tisch nieder und gab seinem Gastgeber ein Zeichen, es ihm nachzutun.
»Vielleicht sollte ich vorher ein Pulver nehmen«, krächzte Palinski und schlurfte in einen Raum, der wohl das Badezimmer war.
»Bitte«, rief Jung ihm hinterher. »Ich warte hier auf Sie.«
Es dauerte fünf Minuten. Dann kam Palinski in einem ausgefransten Bademantel und mit frisch gewaschenem Gesicht zurück. Offensichtlich auch ein wenig selbstbewusster.
»Was, zum Teufel, wollen Sie?«, fragte er, während er sich Jung gegenüber setzte.
»Leverkuhn ist tot«, sagte Jung. »Was wissen Sie über die Sache?«
Palinski ließ den Unterkiefer fallen. Sein Selbstbewusstsein war dahin.
»Was?«
»Ermordet«, erklärte Jung. »Nun?«
Palinski starrte ihn mit halb offenem Mund an und begann wieder zu zittern.
»Was ... was, zum Teufel, sagen Sie da?«
»Ich sage, dass jemand Waldemar Leverkuhn letzte Nacht in seiner Wohnung ermordet hat. Sie sind einer der letzten, die ihn lebend gesehen haben, und jetzt will ich wissen, was Sie dazu zu sagen haben.«
Plötzlich schien es, als würde Palinski in Ohnmacht fallen.
Verdammter Mist, dachte Jung. Ich bin wohl etwas zu forsch vorgegangen.
»Sie waren also gestern zusammen aus«, versuchte er es vorsichtiger. »Stimmt das?«
»Ja ... ja, natürlich.«
»Bei Freddy’s in der Weiskerstraat?«
»Ja.«
»Zusammen mit zwei anderen Herren?«
»Ja.«
Palinski schloss seinen Mund und hielt sich an der Tischkante fest.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Jung vorsichtig.
»Schlecht«, sagte Palinski. »Ich bin krank. Dann ist er also tot?«
»Mausetot«, nickte Jung. »Jemand hat mindestens zwanzig Mal mit einem Messer in ihn reingestoßen.«
»Messer ...?«, piepste Palinski. »Ich verstehe das nicht.«
»Wir auch nicht«, bestätigte Jung. »Wollen Sie nicht ein bisschen Tee oder Kaffee aufsetzen, damit wir die Sache in aller Ruhe besprechen können?«
»Ja, natürlich«, sagte Palinski. »Verdammte Scheiße! Wer hat das getan?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Jung.
Palinski erhob sich mühsam.
»Wir müssen alle diesen Weg gehen«, stellte er überraschend fest. »Ich glaube, ich brauche erst mal ein paar Tropfen zur Stärkung. So ein verdammter Mist!«
»Geben Sie mir auch welche«, sagte Jung.
Er verließ Palinski eine Stunde später mit einigermaßen klarem Kopf und einigermaßen deutlichen Aussagen. Ja, man hatte sich bei Freddy’s getroffen – genau wie immer an den Samstagabenden. Ungefähr zwischen halb sieben und elf. Hatte gegessen und getrunken und sich unterhalten. Über Politik und Frauen und alles Mögliche zwischen Himmel und Erde.
Wie immer. Hatte auch einiges hinter die Binde gekippt. Leverkuhn war unter den Tisch gerutscht, aber das war nichts Schlimmes. Dann hatte Palinski sich mit Wauters ein Taxi geteilt. Er war so gegen zwanzig nach elf zu Hause gewesen und sofort ins Bett gefallen. Bonger und Leverkuhn waren wohl zu Fuß gegangen, aber er war sich da nicht sicher. Noch als er und Wauters abgefahren waren, hatten sie vorm Freddy’s gestanden und über irgendetwas diskutiert, wie er sich zu erinnern meinte.
Ob es zwischen den Herren irgendwelche Differenzen gab?
Nein, ganz und gar nicht! Sie waren die besten Freunde auf der Welt. Deshalb trafen sie sich ja mittwochs und samstags bei Freddy’s. Manchmal sogar noch häufiger.
Irgendwelche Feinde? Die Leverkuhn hatte, natürlich.
Nein ... Palinski hatte vorsichtig seinen empfindlichen Kopf geschüttelt. Wer hätte das denn sein sollen? Zum Teufel, in dem Alter hatte man doch keine Feinde mehr. Die Leute, die sich Feinde zulegten, wurden doch nur halb so alt.
Und keine besonderen Auffälligkeiten bei Leverkuhn an dem Abend?
Palinski runzelte die Stirn und dachte nach.
Nein, keinen Furz.
Es regnete, als Jung wieder auf die Straße trat, aber er hatte beschlossen, dennoch zu Fuß zum Kanalviertel zu gehen, wo er seinen nächsten Termin hatte.
Bonger.
Laut Angaben wohnte er auf einem Hausboot in der Bertrandgraacht, und während Jung langsam die Palitzerlaan und Keymerstraat entlangwanderte, dachte er daran, wie oft er selbst überlegt hatte, ob das nicht ein alternativer Wohnplatz sein könnte. Zumindest früher hatte er daran gedacht. Vor Maureen. Der Gedanke, auf einem Boot zu leben, war sonderbar anziehend. Das ruhige Wiegen des dunklen Kanalwassers. Die Unabhängigkeit. Die Freiheit ... zumindest die Illusion einer Freiheit ... ja, das hatte schon was.
Als er die angegebene Adresse erreichte, begriff er, dass die Sache auch so ihre Kehrseiten hatte.
Bongers Zuhause war ein flacher alter Holzkasten von knapp zehn Metern, er lag verdächtig tief in dem schwarzen Wasser und schrie geradezu nach Farbe und Pflege. Das Deck stand voll mit Kanistern, Trossen und altem Gerümpel, und die eigentliche Wohnstätte hinten im Heck schien sich größtenteils unterhalb der Wasserlinie zu befinden.
O Mann, dachte Jung und fröstelte unwillkürlich im Regen. Was für ein verdammtes, feuchtes Loch!
Es gab eine schmale, wacklige Gangway, befestigt zwischen Kai und Reling, aber Jung betrat sie lieber nicht. Stattdessen zog er an einem Tauende, das von dem Kanalgeländer weiter über einen Baumast zu einer Glocke am Schornstein lief. Diese gab zwei dumpfe Schläge von sich, aber es folgte keine Reaktion. Der Eindruck, dass die Schute leer war, war überwältigend. Er zog noch einmal an der Leine.
»Er ist nicht da!«
Jung drehte sich um. Die heisere Stimme kam von einer dick eingemummelten Frau, die gerade dabei war, ihr Fahrrad an einem zehn Meter entfernten Baum weiter unten am Kai anzuschließen.
»Kein Rauch und keine Lampen«, erklärte sie. »Dann ist er nicht zu Hause. Er nimmt es immer sehr genau mit den Lampen.«
»Aha«, sagte Jung. »Ich nehme an, dass Sie Nachbarn sind.«
»Ja, natürlich«, sagte sie und begab sich überraschend behände aufs Deck. »Das heißt, wenn Sie Felix Bonger suchen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und das ist ganz sicher?«, fragte Jung.
Jung ging an Bord, kletterte ein paar Stufen hinunter und schaute durch die Tür. In dem lang gezogenen Raum gab es ein kombiniertes Schlafsofa, einen Tisch mit zwei Stühlen, einen Elektroherd, einen Kühlschrank und einen Fernsehapparat. Die Kleider hingen auf Bügeln an der Wand, und Bücher und Zeitungen lagen überall verstreut herum. Von der Decke schaukelten eine nackte Glühbirne an einem Kabel und ein ausgestopfter Papagei auf einer Stange. Auf einem niedrigen Schrank lag ein abgenutztes Akkordeon.
Nein, dachte Jung. Das macht doch vom Land aus einen viel besseren Eindruck.
Als er wieder an Deck kam, war die Frau auf ihrem Boot verschwunden. Jung zögerte eine Weile, sicher gab es noch die eine oder andere Frage, die er ihr stellen konnte, aber als er vorsichtig über die Gangway wieder an Land ging, knurrte sein Magen so heftig, dass damit nicht mehr zu spaßen war. Außerdem fror er inzwischen. Wenn er einen kleinen Umweg auf seiner Strecke zum Polizeipräsidium machen würde, könnte er bei Kurmann’s reinschauen und dort ein Jägerfilet mit Bratkartoffeln und Soße bekommen. Nichts einfacher als das.
Es war jetzt fast zwölf Uhr, und was ein richtiger Mann ist, der setzt seine Beschlüsse auch sogleich in die Tat um.