Intensiv

Ricardo Lange

Intensiv

Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist
Ein Notruf

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Ricardo Lange

Ricardo Lange, Jahrgang 1981, wuchs in einer Plattenbausiedlung in Berlin-Hellersdorf auf, »in den Neunzigern das härteste Pflaster«. Um sich gegen Übergriffe von Jugendgangs zu wappnen, betrieb er Kampfsport und Bodybuilding. Nach diversen Stationen, u. a. als Fitnesstrainer und bei der Polizei, fand er schließlich seine Berufung: Er ließ sich zum Intensivpfleger ausbilden und arbeitet heute als Leasingkraft in unterschiedlichen Berliner Kliniken.

 

Jan Mohnhaupt, geboren 1983 im Ruhrgebiet, ist freier Journalist und Autor. Sein Buch ›Der Zoo der Anderen‹ stand auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurde in mehrere Sprachen übersetzt, ebenso wie ›Tiere im Nationalsozialismus‹. Er schreibt regelmäßig für Magazine und Zeitungen wie ›Spiegel Online‹, ›P. M. History‹ und ›Der Freitag‹.

Über das Buch

Ricardo Lange ist Intensivpfleger aus Leidenschaft. Die Patienten, für die er auf seiner Station zuständig ist, liegen ihm am Herzen; um seine Kolleginnen und Kollegen nicht im Stich zu lassen, springt er auch an eigentlich freien Tagen ein; er stellt persönliche hinter berufliche Interessen – aber irgendwann platzt ihm der Kragen. Für seine wöchentliche Kolumne »Außer Atem« im ›Tagesspiegel‹, im Fernsehen und auch privat spricht er regelmäßig mit Expert*innen und Spitzenpolitiker*innen. Er zwingt sie zu klaren Aussagen und hakt nach, wenn sie ausweichen.

Lange ist ein Kämpfer, einer, der sich nicht weiter mit dem Status quo zufriedengibt, sondern dringend notwendige Veränderungen anstoßen und vorantreiben will. Einer, der überzeugt ist, dass ein Missstand kein Missstand bleiben muss, dass man Lösungen findet, wenn man ernsthaft danach sucht. Dabei schaut er mit einem sicheren Gespür für Brennpunkte über den Tellerrand seiner Krankenstation hinweg in andere Bereiche der Gesellschaft. Er zeigt, wie das eine Thema mit dem anderen zusammenhängt, und lässt keinen Zweifel daran, dass die Pflege uns alle angeht.

Impressum

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eBook-Herstellung: Fotosatz Amann, Memmingen (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-44097-4 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26329-0

ISBN (epub) 9783423440974

Endnoten

https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Krankenhaushygi ene/Kommission/Downloads/Pneumo_Rili.pdf?__blob=publicationFile (Empfehlung der Kommission für Kranken haushygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-Institut)

https://www.deutschlandfunk.de/mangelnde-kontrolle- warum-abrechnungsbetrug-in-der-pflege-100.html

https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-soeder-impfpflicht-100.html

https://www.berliner-zeitung.de/news/spahn-notfalls- muessen-corona-infizierte-in-klinik-weitermachen-li.118492

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/128222/Ampel koalition-Die-Buergerversicherung-ist-vom-Tisch

https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/inten sivpfleger-ricardo-lange-trifft-janine-wissler-mit-mistgabeln-vorm-roten-rathaus-ich-waer-dabei/27420754.html

https://www.wege-zur-pflege.de/fileadmin/daten/Pflege_Charta/Schulungsmaterial/Modul_5/Weiterfu %CC%88hrende_Materialien/M5-ICN-Ethikkodex-DBfK.pdf

Gräske, J., Forbrig, T., Urban, S., Neumann, F., Koppe, L. & Boguth, K. (2021): Gratifikationskrisen, Arbeitsfähigkeit und Wunsch nach beruflichen Veränderungen – eine Querschnittsstudie bei Pflegepersonen. Das Gesundheitswesen.

https://www.arbeitnehmerkammer.de/service/kommunika tion-und-medien/pressemitteilungen/bremer-befragung-viele-pflegebeschaeftigte-wuerden-wieder-einsteigen.html

https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/panorama/ intensivbetten-reduzierung-gruende100.html

https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/publi kationen/intensivmedizin/20101130-publikationen-empfeh lungen-zur-struktur-v-intensivstationen-langversion.pdf

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/pflegepersonaluntergrenzen.html

https://www.buzzfeed.de/recherchen/fast-1000-pflege kraefte-haben-buzzfeed-news-erzaehlt-wie-katastrophal-die-zustaende-in-krankenhaeusern-und-altenheimen-sind-90138069.html

Teege, Frauke & Müller, Julia: Traumaexposition und posttraumatische Belastungsstörung bei Pflegekräften auf Intensivstationen. In: PPmP 2000, 50 (9/10), S. 384–390

https://www.divi.de/aktuelle-meldungen-intensivmedizin/personal-auf-den-intensivstationen-jetzt-muessen-wir-auch-ueber-unsere-belange-sprechen

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/128103/Wir-wissen-dass-2030-circa-500-000-Pflegekraefte-fehlen-werden#:~:text=Und%20die%20Anzahl%20der%20Pflegebed%C3%BCrftigen,Schnitt%20circa%20240%20Tage%20unbesetzt.&text=Zun%C3%A4chst%20muss%20die%20Pflege%20ernsthaft%20und%20nachhaltig%20auf%20die%20Agenda%20aller%20Ministerien

https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/FactSheets/JoHM_01_2018_Adipositas_KiGGS-Welle2.html

https://sh-ugeavisen.dk/index.php/2021/09/15/pflegestreik-uns-fehlen-kollegen-auf-bornholm/

https://www.gg-digital.de/2018/09/thema-des-monats/pflege-auf-augenhoehe/index.html

https://pflegeethik-initiative.de/2018/09/05/wie-die-daenen-den-herausforderungen-der-pflege-begegnen/

https://www.stern.de/gesundheit/pflegepetition/pflege-petition--ein-patientenanwalt-spricht-ueber-fatale-pflegefehler-30368672.html

https://www.spiegel.de/spiegelwissen/krankenhaus-keime-in-den-niederlanden-sind-patienten-sicherer-a-1184260.html

https://blog.klinik-wissen-managen.de/anziehend-fuer- pflegepersonal-magnetkrankenhaeuser/14

https://deutsch.medscape.com/artikel/4900702

https://www.stern.de/gesundheit/pflegepetition/pflege-peti tion--die-anhoerung-im-bundestag-im-livestream-30405964.html

https://sh-ugeavisen.dk/index.php/2021/11/09/kranken pflegekraefte-lehnen-appell-von-mette-frederiksen-ab-wir- haben-keine-geduld-mehr/

NACHTSCHICHT

Als ich das Zimmer betrete, fällt mein Blick sofort auf meine Kollegin aus der Spätschicht. Mit erhobenen Händen steht sie am Bett und drückt eine Blutkonserve fest zusammen. Der Stress ist ihr deutlich anzusehen, und der Überwachungsmonitor zeigt mir auch sofort den Grund dafür: Der Blutdruck der Patientin ist so extrem niedrig, dass die normale Verabreichung der Konserve am Ständer – Tropfen für Tropfen – nicht ausreicht. Die Kollegin presst das Blut regelrecht in den Körper, weil es die Patientin so schnell wie nur möglich braucht.

Zum Zuschauen ist keine Zeit. Ich ziehe mir Latexhandschuhe über, packe sofort mit an und lasse mich nebenbei auf den aktuellen Stand bringen: Die Patientin ist Mitte sechzig und ihr Zustand hoch kritisch. Der Hämoglobinwert sinkt stetig, irgendwo im Bauchraum blutet sie stark. Mir ist sofort bewusst: Das wird eine harte Nacht. Die lebensbedrohliche Situation der Patientin wird meine permanente Anwesenheit an ihrem Bett erfordern. Damit der fortlaufende Blutverlust

Ich bin vierzig Jahre alt und arbeite seit fast zehn Jahren als Intensivpfleger. In dieser Nacht bin ich auf der internistischen Intensivstation eines Berliner Krankenhauses eingesetzt. Von meinem Zuhause am Stadtrand sind es rund fünfundzwanzig Kilometer über Autobahn und Landstraße bis zur Klinik. Seit einer guten Stunde bin ich unterwegs, zuvor habe ich noch einen Energydrink zu mir genommen. Andere Pflegekräfte trinken Kaffee, bevor sie ihren Dienst antreten, jeder hat so seine Methode, um wach zu bleiben – denn die Verpflichtungen des Alltags lassen es meist nicht zu, tagsüber so viel zu schlafen, dass man einigermaßen ausgeruht ist. Das macht sich mit jeder weiteren Nachtschicht stärker bemerkbar.

Um 21:45 Uhr komme ich auf dem Parkplatz der Klinik an, wo Marc schon auf mich wartet. Marc ist sechs Jahre jünger

In der Regel führt uns unser Weg zunächst in den Aufenthaltsraum, wo der Spätdienst schon auf uns wartet, um die »große Übergabe« zu machen. Hierbei werden wir über alles unterrichtet, was in den letzten Stunden vorgefallen ist, was akut ansteht, wie viele Patienten wir betreuen müssen und was deren Befunde sind: wer eine Bluttransfusion bekommt, wer beatmet werden muss, wer an eine Dialyse angeschlossen ist. Und auch, wer aufgrund einer Patientenverfügung nicht mehr reanimiert oder beatmet werden darf. Aber an diesem Abend ist mal wieder alles anders. Auf der Station ist so viel zu tun, dass der Spätdienst noch beschäftigt ist und die große Übergabe ausfällt. Nur die allerdringlichsten Informationen werden ausgetauscht, dann muss jeder von uns sofort zu seinen ihm zugeteilten Patienten.

Ich bin entsetzt. »Wie sollen wir bei dem wenigen Personal alle Patienten lebend durch die Nacht bringen? Was sollen wir machen, wenn der nächste Notfall eingeliefert wird?«, frage ich meine Kollegin aus der Spätschicht. Sie ist nach acht Stunden völlig durch und hat die Nase voll, weil sie immer noch hier am Bett steht, obwohl sie längst Feierabend hätte. Sie weiß, dass auch die kommende Nacht schwierig wird: »Ja, was willste machen?«, blafft sie mich an. »Mehr als arbeiten kannste nicht. Wenn einer stirbt, dann ist es eben so«, sagt sie und verschwindet. Das klingt hart. Und es ist hart. Aber manchmal fällt es einfach verdammt schwer, unter den gegebenen Umständen, das heißt, wenn man selbst am Anschlag ist, mitfühlend zu sein und zu bleiben.

Das Leben dieser drei Menschen liegt jetzt mit in meinen Händen. Nun heißt es, für die bevorstehende Nacht alles effizient vorauszuplanen und mit der Ärztin abzustimmen. Welche Maßnahmen haben die höchste Priorität, welche können noch etwas warten? Bei welchen Patienten ist welches Medikament wann zu wechseln? Ich muss all das im

Wie so häufig ist die heutige Nacht ein Dienst ohne Pause, mir bleibt höchstens mal ein kurzer Moment, in dem ich ein, zwei Schlucke trinke. Dann muss ich auch schon zurück ans Bett. Sich einfach mal hinzusetzen und durchzuatmen, das ist nicht drin. Ich komme nicht mal auf die Toilette, um zu pinkeln. Das ist aber nicht das Schlimmste. Was mich wirklich fertigmacht, ist das ständige Gefühl, nicht zu genügen, irgendetwas schuldig zu bleiben. Dass ich den Bedürfnissen meiner Patienten nicht vollends gerecht werden kann, passt nicht zu meinem eigenen Anspruch. Aber meine Aufmerksamkeit lässt sich nicht unendlich teilen. Das geht im Grunde allen Pflegekräften und auch Ärzten so. Viele von uns entwickeln klassische Berufskrankheiten wie eine Magenentzündung, weil wir selten in Ruhe essen können, sondern meist nur nebenbei schnell etwas in uns hineinstopfen. Rückenschmerzen und Nackenverspannung sind an der Tagesordnung – bis hin zum Bandscheibenvorfall. Kein Wunder: Zeitdruck und Personalmangel führen oft dazu, dass wir Patienten ohne zusätzliche Hilfe lagern müssen, obwohl dazu eigentlich mindestens zwei Leute benötigt werden. Das macht sich bei Patienten mit Übergewicht natürlich besonders stark bemerkbar.

Rund zwei Stunden sind seit meinem Schichtbeginn vergangen, doch die Patientin blutet immer noch. »Wir müssen ins CT«, sagt die zuständige Ärztin. Die Computertomografie wird meist in einem anderen Trakt des Krankenhauses durchgeführt, endlose Flure, schmale Gänge und den ein oder

Dieses Mal haben wir Glück, dass das CT nicht, wie so häufig, durch Schwerverletzte aus der Rettungsstelle belegt ist, sodass wir sofort aufbrechen können. Meine anderen beiden Patienten muss ich dafür zurücklassen. Der Kollegin aus dem Nachbarzimmer, die selbst mit ihren drei intensivpflichtigen Patienten schwer beschäftigt ist, rufe ich im Vorbeigehen noch die wichtigsten Informationen zu. Sie trägt jetzt bis zu meiner Rückkehr die Verantwortung für fünf Patienten.

Endlich im CT angekommen, ziehen wir die Patientin mit all den Gerätschaften auf den CT-Tisch. Unterstützt werden wir hier von den zwei MTAs, den medizinisch-technischen Assistenten. Beim Umlagern ist absolute Vorsicht geboten, sämtliche Zugänge und vor allem der Beatmungsschlauch dürfen auf keinen Fall herausrutschen. Das Kommando gibt die Ärztin, die den Kopf und den Tubus sichert. Nachdem die CT-Bilder gemacht sind, hieven wir die Patientin gemeinsam wieder zurück ins Bett und treten den Rückweg zur Intensivstation an, wo meine Kollegin schon sehnsüchtig auf uns wartet. Im Zimmer bleibt mir nichts anderes übrig, als den Kabelsalat, der bei einem solchen Hin und Her ganz

CT-Fahrten dieser Art sind in einer Schicht keine Seltenheit. Sie stehen bei Patienten mit schweren Blutungen an, aber auch bei jenen mit Schädelhirntrauma und plötzlich auftretenden lichtstarren, weiten Pupillen, weil es dann das Ausmaß des Hirnschadens zu überprüfen gilt. Nicht immer habe ich drei Dialysen zu betreuen, sondern nur eine oder zwei. Das bedeutet aber nicht, dass es dann automatisch ruhiger zugeht, denn es werden ja auch Unfallopfer eingeliefert, Menschen, die versucht haben, sich das Leben zu nehmen, oder Opfer von Messerstechereien – wobei es nicht nur die »krassen« Fälle sind, die uns im Dienst fordern, sondern ebenso die vermeintlich unspektakulären: aggressive Alkoholiker, die sich im Entzugsdelir sämtliche Zugänge ziehen, mit ihren Fäkalien einschmieren und das medizinische Personal auch gerne mal treten, beißen oder anspucken. Oder Demenzkranke, die die ganze Nacht um Hilfe schreien, da man ihnen nicht begreiflich machen kann, wo sie sind und warum. Es kommt vor, dass solche Patienten bei dem Versuch, das Bett zu verlassen, stürzen und mit dem Kopf auf dem Boden aufschlagen. Wo es früher noch Sitzwachen gab, die das verhindern konnten, muss man heute aufgrund von Personalmangel eine Fixierung von Händen und Füßen zum Schutz vor Eigen- oder Fremdgefährdung vornehmen. Auch ganz normale Vorgänge, wie etwa die Verlegung eines Patienten, sind auf einer Intensivstation mit einem enormen Aufwand verbunden. Alle medizinischen Gerätschaften, wie Beatmungsgeräte und Absaugevorrichtungen, müssen abgerüstet, gereinigt, wieder aufgerüstet und getestet werden,

Mittlerweile ist es draußen stockdunkel, auf der Station brennt nur diffuses Licht. Mein Körper kämpft gegen die wachsende Müdigkeit an, eigentlich möchte er schlafen. Die ununterbrochen notwendige Konzentration und die ständig neuen Anweisungen der Ärztin für alle drei Patienten kosten mich Kraft, denn alle Informationen soll mein Kopf gleichzeitig verarbeiten und speichern.

Wenn ich mental so ausgelastet bin, kann es auch mal passieren, dass ich den Fokus beim Aufziehen und Anmischen eines Medikaments verliere. Vor der Verabreichung frage ich mich dann: Hast du alles korrekt dosiert? Bist du dir wirklich sicher? Jeder wird es vermutlich aus dem Alltag kennen: Die Eingabe der PIN beim Bezahlen mit der EC-Karte ist Routine. Ohne groß darüber nachzudenken, tippen die Finger die bekannte Zahlenfolge. In dem Moment aber, wo man unter Stress steht und sich die Gedanken plötzlich um die Zahlen drehen, bremst der Kopf die Finger aus. Wo vorher die Geheimzahl war, ist nun völlige Leere. In meinem Fall können Zweifel oder Fehlentscheidungen Menschenleben kosten. Also schmeiße ich lieber die Spritze in den Müll und ziehe die Medikamente neu auf. Und wenn gar nichts mehr geht, hilft nur eine kurze Auszeit auf dem Klo. Das ist der einzige Ort, an dem ich ungestört bin und das Gedankenkarussell kurz anhalten kann.

So kämpfe ich mich durch die Schicht, bis um Viertel nach sechs. Dann steht endlich die Übergabe für die Frühschicht an. Alles, was im Nachtdienst passiert ist, dokumentiere ich in der sogenannten Patientenkurve: Wie lief es in der

Nach so einer Schicht bin ich einfach nur froh, dass alle überlebt haben. Dabei sind Schichten wie diese aufgrund des immer spürbarer werdenden Personalmangels kein Ausnahmezustand mehr, sondern Alltag. Ich verlasse das Krankenhaus und kann zum ersten Mal wieder richtig durchatmen. Ich genieße die frische Luft und spüre, wie die Anspannung von mir abfällt – das ist das schönste Gefühl überhaupt. Spätestens wenn ich im Auto sitze und der Adrenalinspiegel langsam sinkt, packt mich die Müdigkeit. Doch schon kommen neue Zweifel. Habe ich etwas vergessen? Habe ich alle wichtigen Informationen an den nachfolgenden Dienst weitergegeben? Wenn mir doch noch etwas einfällt, rufe ich auf der Station an.

 

Meinen Freund Marc habe ich an diesem Morgen nicht mehr getroffen, meine Übergabe hat etwas länger gedauert. Er ist schon losgefahren, weil er schnell nach Hause musste, um seine Kinder zur Schule zu bringen. »Schade, dass wir uns kaum gesehen haben«, schreibt er mir. Und dann noch: »Nächste Nacht wird ruhiger.« Mal sehen, ob er recht behält. Jedenfalls ahnen wir an diesem Tag noch nicht, welche zusätzlichen Herausforderungen das Frühjahr 2020 für uns bereithalten sollte.

ENDLICH ANGEKOMMEN

Dieser Anblick geht mir nicht mehr aus dem Kopf: Auf der Trage liegt ein lebloser Körper, die Haut ist blass, die Arme hängen schlaff an den Seiten herunter. Alles ist voller Blut.

Ich bin im dritten Jahr meiner Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger und zum ersten Mal auf einer Intensivstation eingesetzt. Ivonne, meine Praxisanleiterin, kommt hektisch auf mich zugelaufen und fragt: »Ricardo, warst du schon mal bei einer Reanimation dabei? Traust du dir das zu?«

Ich bin so perplex, dass ich nur nicken kann, und folge ihr in den Herzkatheter, einen Raum, der sich außerhalb der Station befindet. Dort liegt ein älterer Herr mit Herzinfarkt. Die Ärzte haben versucht, ihm über die Leiste einen Stent in eines der verstopften Herzkranzgefäße zu setzen, doch das hat leider nicht geklappt. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen.

Niedergeschlagen machen Ivonne und ich uns mit dem Verstorbenen auf den Weg zurück zur Station. Während der Oberarzt mit der Ehefrau spricht, kümmere ich mich um den Toten. Ich richte das Kopfteil des Bettes ein wenig auf, wasche das Blut von seinem Körper und ziehe ihm ein frisches Nachthemd über, denn ich möchte, dass er würdevoll aussieht, wenn seine nächsten Angehörigen kommen, um sich von ihm zu verabschieden. Dann lege ich Taschentücher für sie bereit, stelle eine Kerze auf und öffne das Fenster. Ich glaube daran, dass auf diese Weise die Seele den Raum verlassen kann. Ivonne begleitet die Ehefrau ins Zimmer, dann ziehen wir uns zurück.

Später bereite ich alles für den Transport in die Pathologie vor, wohin die Toten zur Kühlung gebracht werden. Zum ersten Mal in meinem Leben fülle ich einen Zehenzettel aus, ein

Als ich an diesem Tag nach Hause fahre, bin ich körperlich fit, aber innerlich total aufgewühlt. Im Laufe meiner Ausbildung habe ich zwar an einem Sterbeseminar teilgenommen, das uns an den Umgang mit dem Tod heranführen sollte, aber all die Theorie konnte mich nicht auf diesen Tag vorbereiten. Ich musste mit ansehen, wie ein Mensch stirbt, und das ganz mit mir alleine ausmachen. Niemand hatte Zeit, mit mir über mein Gefühl der Hilflosigkeit zu sprechen. Und eine Supervision, wie sie in vielen Berufszweigen Standard ist, gab es nicht. Noch heute ist ein solches Angebot im Krankenhaus die absolute Ausnahme (auch hierzu später mehr). Dabei ist der Tod ein ständiger Begleiter auf der Intensivstation – an den ich mich dennoch vermutlich nie gewöhnen werde.

Kein Glück im Job

Rund vier Jahre zuvor, während eines Klinikaufenthalts im September 2009, spielte ich zum ersten Mal mit dem Gedanken, Krankenpfleger zu werden, ohne zu ahnen, was alles damit verbunden sein und auf mich zukommen würde.

Erst wenige Wochen zuvor hatte mich etwas ganz anderes beschäftigt. Eines Morgens konnte ich kein Wasser mehr lassen, egal, wie sehr ich auch presste. Unter Schmerzen fuhr ich ins Krankenhaus. Der Arzt schaute skeptisch auf den Ultraschallbildschirm. »Das gefällt mir gar nicht, was ich da sehe.«

Ich war verwirrt: »Was sehen Sie denn?«

»Das sieht aus wie ein Tumor«, sagte er.