Als Ravensburger E-Book erschienen 2015
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
© 2013 Ravensburger Verlag GmbH
Umschlagillustration: Franziska Harvey
Redaktion: Beate Spindler
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-47450-9
www.ravensburger.de
Kennt ihr diese T-Shirts, auf denen Hurra, es ist Freitag! steht? Das bedeutet: Endlich ist die Schule vorbei und das Wochenende beginnt. Lange wach bleiben und ausschlafen und ins Freibad gehen. Oder einfach nur auf dem Sofa rumlümmeln und ein Buch lesen, in dem keine Rechenaufgaben vorkommen.
Früher, in meinem alten Internat, hätte ich so ein T-Shirt glatt angezogen. Jedenfalls nachdem meine beste Menschenfreundin Emma nach Neuseeland gezogen war. Die übrigen Schüler gingen mir nämlich verdammt auf die Nerven.
Besonders Justin. Der hatte immer riesig Spaß daran, mich zu quälen. Dabei kann er kaum seinen Namen in den Schnee pinkeln, so doof ist er. Wenn ihr wissen wollt, wie Justin ist, stellt euch ein Faultier vor, nur fauler. Eine Schnecke, nur langsamer. Und einen Pelikan, nur mit noch größerer Klappe. Mich mag er so gern wie Erdbeeren mit Sauerkraut.
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei den T-Shirts und den Freitagen. Damals habe ich sie gehasst, die Schultage. Aber seit meinem neunten Geburtstag ist das anders. Seitdem gehe ich nämlich heimlich auf das Feeninternat Rosentau. Sogar superduperheimlich. Nicht mal meine Eltern wissen davon. Da lerne ich dann Einhornreiten und Wünscheerfüllen und Zaubersprüche und wie man Muffeltrolle besiegt. Nichts Besonderes, wenn man eine Fee ist.
Ihr könnt mir eins glauben: Im Feenreich dürfte die Woche ruhig fünfundsechzig Tage haben, so wohl fühle ich mich dort. Aber klar, auf meine Eltern freue ich mich auch. Auf Jorinde Birnbaum, die berühmte Fotografin. Und auf Zacharias Birnbaum, den chaotischen Erfinder.
Jeden Freitag holt mich Papa vor meinem alten Internat ab. Nicht nach Schulschluss, sondern irgendwann, wenn er zwischen zwei Erfindungen endlich mal auf die Uhr schaut. Auf seine Unpünktlichkeit ist Verlass.
Manchmal vergisst er mich sogar ganz, vor lauter Erfinden. Dann muss ich mit meinem schweren Koffer quer durch die Stadt nach Hause laufen. Nur einmal, als ich noch mehr Zeit gebraucht hätte, war Papa zu früh – und so fing das Drama mit meinem unheimlichen Zwilling an.
Es war wie gesagt Freitag. Wir hatten Unterricht bei Samira Nebelhauch, einer jungen Elfe. Jedes Mädchen beneidet Samira, so gut sieht sie aus. Sie trägt immer enge weiße Gewänder. Und ihr kurzes Haar ist noch heller als Schnee – ja, das geht!
Ihre Ohren sind spitz wie bei jeder Elfe und die Lippen voll und blutrot. Alle aus der Klasse himmeln sie an. Bis auf Nelly. Aber davon später mehr.
Frau Nebelhauch bringt uns die Elfenschrift bei – keine leichte Aufgabe.
Die Buchstaben hinzuschreiben ist natürlich ein Klacks. Damit ist es bei der Elfenschrift jedoch nicht getan. Anders als bei Menschenbuchstaben haben die Zeichen bei den Elfen nämlich zwei Funktionen. Man kann mit ihnen nicht nur Wörter und Sätze bilden, die Buchstaben haben auch magische Kräfte.
Wenn eine Elfe krank ist, kommt eine Elfenheilerin zu ihr. Zum Beispiel mit einem Ast aus Birkenholz. Darein ritzt sie einige Zeichen der Elfenschrift. Hintereinandergelesen ergeben die kein Wort. Aber jetzt kommt die Magie ins Spiel: Wenn der Ast mit den Zeichen unter ihrem Kopfkissen liegt, wird die kranke Elfe ruck, zuck gesund.
Hört sich merkwürdig an, funktioniert aber. Ich muss es wissen, denn ich habe die Kräfte der Zeichen selbst ausprobiert. Auf unserer Klassenfahrt. Einen ultrafiesen Grottengnom konnte ich so besiegen – mit nur einem einzigen Buchstaben! Dafür habe ich das Zeichen in einen Stein geritzt und ihm auf den Fuß fallen lassen. Plumps! Schon konnte das Scheusal sich nicht mehr vorwärtsbewegen. Egal wie stark es an seinen Füßen zog und zerrte, sie waren wie festgenagelt.1
Ja, das ist die Magie der Schrift. Sehr, sehr nützlich im Alltag. Und deshalb passe ich im Unterricht von Samira Nebelhauch immer doppelt so gut auf wie sonst.
So war es auch an diesem verflixten Freitagnachmittag. Wir Mädchen hingen förmlich an Samiras Lippen. Alle bis auf Nelly. Meine Freundin hat mit Samira so ihre Probleme. Sie denkt, Pelegrin Pilgrim, den sie für ihren Vater hält, ist mordsmäßig in die Elfe verknallt. Das könnte auch stimmen. Aber ich weiß, der Hase liegt woanders begraben.
Nelly bewundert Samira Nebelhauch insgeheim noch mehr als wir. Das hat sie mir auf der Klassenfahrt gestanden. Weil unsere Lehrerin ihre spitzen Elfenohren voller Stolz zeigt – und Nelly ihre unter den Haaren versteckt.
Wenn du Nelly die Laune verderben willst, sprich sie auf ihre Ohren an. Dann ist Land unter.
„Zum Abschluss der Woche lernen wir ein Zeichen, das ihr euch besonders gut einprägen müsst“, sagte Samira gerade mit glockenheller Stimme. „Damit könnt ihr Angreifer täuschen. In ihren Augen werdet ihr zu einem schrecklichen Monster und sie fliehen. – Dieser Buchstabe heißt Talath.“
Sie malte das Talath an die Tafel. Es sah haargenau so aus:
Alle übertrugen es sorgfältig in ihre Hefte.
„Wirkt das auch, wenn eine Lehrerin mir schlechte Noten geben will?“, hakte Nelly nach.
Die ganze Klasse lachte.
Nelly fällt das Lernen schwer. „Mein Gehirn ist wie ein Sieb“, sagt sie immer, „da bleibt einfach nichts hängen.“
Aber das wusste Samira nicht. Sie ist noch neu am Internat. Deshalb schüttelte sie bloß den Kopf.
„So leicht würden wir uns nicht reinlegen lassen.“ Sie lächelte ihr bezauberndes Lächeln. „Außerdem hast du das doch gar nicht nötig, so gut, wie du bist.“
Nelly zeigte nicht, wie sehr sie sich freute. Doch ich spürte, wie ihr Herz von Wärme durchströmt wurde – schließlich bin ich ihre beste Freundin. Lob tut immer gut. Und von einer Person, die man im Stillen bewundert, gleich dreifach.
Unsere Lehrerin hatte ja sogar Recht. In Nellys Heft sah das Talath wie ein Kunstwerk aus. Daneben hatte sie Samira gezeichnet. Wie sie mit Pfeil und Bogen auf dem Rücken eines galoppierenden Einhorns stand.
„Übelstgenial!“, murmelte ich. Wenn ich noch mal geboren werde, will ich genauso sein, wie ich jetzt bin. Aber dazu noch malen können wie meine liebe Nelly.
Auch ich versuchte, Samira zu zeichnen, nur bei mir sah sie eher aus wie ein Sortiergnom.
Als ich die Seite rausriss und das Zeichen noch einmal neu schrieb, klopfte Samira mit dem Zeigefinger an die Tafel.
„Doch Vorsicht! Das Talath unterscheidet sich nur durch ein Häkchen vom Bhrit. Verwechselt die beiden ja nicht, sonst …“
Weiter kam sie nicht. Bevor sie uns sagen konnte, was bei einem Bhrit passiert, klopfte es an der Tür.
„Mogatta sesamee!“, rief ich übereifrig und die Tür schwang von allein auf.
Davor stand Fortunea Tautropf, die Leiterin des Internats. Und sie war kreidebleich.
Fortunea Tautropf war nicht nur kreidebleich. Sie wirkte auch völlig verwirrt. So wie ich, wenn ich mich im Supermarkt zwischen Gummibärchen und Eis entscheiden muss.
Sie schwebte in unser Klassenzimmer. Mit zitternden Fingern rollte sie ein Pergament auseinander, und ohne uns zu begrüßen, begann sie laut vorzulesen:
„Verehrteste Fortunea,“
Erst dachte ich, unsere Lehrerin hätte einen heißen Liebesbrief bekommen, mit vielen Küssen drauf und so. Aber es war noch schlimmer.
„leider habe ich eine schlechte Nachricht für das Feeninternat. Jahrhundertelang sorgte ein heimtückischer Wandelbold für Unruhe im Elfenreich.
Evolo Trans ist sein Name. Immer wieder betrat er heimlich unsere Königinnenstadt und stiftete Chaos, was ihm diebische Freude bereitete.
Schließlich gelang es uns, einen Bannkreis um seinen Wald zu legen, sodass er nicht mehr herauskam.
Doch vor drei Tagen geschah etwas Schreckliches: Ein Blitz zerstörte den Kreis und brach den Bann. Mehrere Wölfe haben den Wandelbold auf dem Pfad gesehen, der zu Eurem Internat führt.
Ich bitte nun untertänigst um Eure Mithilfe. Haltet die Augen auf und alarmiert uns bei dem kleinsten Hinweis auf Evolo Trans. Jede Taube kennt mein Haus. Schickt sie einfach zu mir, ich komme sofort.
Lauwren, Hüter der Unwesen“
Ich schüttelte mich. Was Wandelbolde für Wesen sind, wusste ich zwar nicht, aber Bannkreis, Chaos, diebische Freude – das ließ nicht gerade auf einen netten Gesellen schließen. So einem Scheusal wollte ich nicht einmal im Hellen begegnen.
Tiziano, mein Feuersalamander, bewegte sein Maul, als hätte er eine Fliege verschluckt. Er versteht jedes Wort und dachte sicher voller Sorge an die Elfenkönigin Avaloll, die ihn gezähmt hatte.
Mia, Kimi und Nelly ging es ähnlich, wie ich in ihren Gesichtern lesen konnte. Meine Freundinnen sahen aus, als hätten sie in eine Zitrone gebissen. Eine Zitrone, die vorher in den Sand gefallen war.
Nach einigen Sekunden bedrückten Schweigens hob Clara den Finger. „Frau Tautropf, wie erkenne ich denn einen Wandelbold?“
Fortunea atmete tief durch, um sich zu sammeln. So tief und kräftig, als hätte sie gerade einen Muffeltroll mit bloßen Händen niedergerungen.
„Das ist genau das Problem, Clara“, antwortete sie leise. „Das Besondere an diesen Wesen ist nämlich …“
Kennt ihr das, wenn ihr einen Gruselfilm schaut und gerade die allerspannendste Stelle kommt? Genau in dem Moment klingelt entweder das Telefon. Oder Mama kommt rein und erinnert euch an die Hausaufgaben. Oder ans Straßefegen. Oder Flöteüben. Da kann man sein Sparschwein drauf verwetten, man gewinnt immer.
So war es dummerweise auch an diesem Nachmittag. Ich biss mir auf die Lippen vor Spannung.
Wie erkenne ich einen Wandelbold?, wollte mein Gehirn wissen. Und da passierte es: Mein Wächterstein begann zu glühen!
Diesen Stein hat mir Bofar Eisenbart geschmiedet. Eigentlich besteht er aus zwei Teilen. Erst hat Bofar von jedem Menschen, der mich im alten Internat besuchen könnte, ein Haar hineingeschlagen: eins von Mama, Papa, Emma, Oma und Opa, Oma Konstanzia und einer weiteren Person. Wem das letzte Haar gehört, weiß ich nicht. Das war ein Versehen.
„Mein Vater …“, vermutete ich. „Sonst kommt er immer zu spät.“
Mit einem Handkuss verabschiedete ich mich von Mia, Kimi und Nelly, mit einem Knicks von Fortunea Tautropf und Samira Nebelhauch.
Tiziano drückte ich Nelly in die Hand, der hat in der Menschenwelt nichts verloren. Dann raste ich den Gang entlang.