Impressum

Wolfgang Held

Das Steingesicht von Oedeleck

ISBN 978-3-86394-923-5 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1966 beim Kinderbuchverlag Berlin.

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Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2013 EDITION digital®

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Ein Teich versinkt

Rolf schnaufte vor Eifer.

Ein kurzes, handliches Holzscheit riss das tunnelartige Loch in der Uferböschung tiefer und tiefer. Sand quoll hervor, und kleine Steine kullerten hangabwärts in den Teich. Es plätscherte leise. Über die spiegelglatte Wasserfläche krochen winzige Wellenringe.

Rolf schaute gebannt auf das Loch, das jetzt groß wie ein Fußball war und eine halbe Armlänge tief in den Boden reichte. Gleich, dachte er. Noch drei, vier Zentimeter vielleicht, und ich hab's. Silber. Eine Ader, so dick wie ein Fahrradschlauch und hundert Meter lang. Und wenn es Gold ist? Gelbes, glänzendes Gold ist schließlich viel wertvoller als Silber. Natürlich, es wird eine Goldader sein!

Rolf schwitzte. Sand klebte an seinen Armen, hing in den blonden Augenbrauen, rieselte unter die offene Hemdbrust. Bald war das Holzscheit stumpf und faserig geworden. Er warf es zur Seite, scharrte mit bloßen Händen weiter. Plötzlich stockte er. Geschafft? Beinahe schmerzhaft waren seine Finger auf harten kantigen Widerstand gestoßen. Er spähte in das Loch, konnte aber nichts erkennen. Vorsichtig tastete er den Grund ab. Nein, keine Ader. Ein faustgroßer Brocken lag da in der Erde. Reines Gold oder mindestens Silber, soviel stand für Rolf sofort fest. Ihm wurde glutheiß. Hastig begann er, den Fund freizukratzen.

In dieser Minute stampfte oben am Rand der Böschung eine Gestalt heran. Ihr Gang war seltsam steif und staksig. Leicht gebeugt schleppte sie auf ihrer Schulter einen langen, knorrigen Knüppel. Es ging etwas Unheimliches, Drohendes von ihr aus.

Rolf hätte sie längst bemerken müssen, aber er blickte erst auf, als sie oberhalb des Loches stehen blieb, den Knüppel schwer wie ein Schwert vor sich in den Boden stieß und dumpf befahl: "Halt ein, wenn dir dein Leben lieb ist!"

Eigentlich hätte Rolf nun erschrocken sein müssen, aber er war es nicht. Er hob den Kopf und warf der Gestalt einen kurzen Blick zu, geradeso, als hätte er sie schon seit geraumer Zeit erwartet. Er rümpfte ein wenig die Nase und steckte die Hände wieder in das Loch. Langsam, behutsam fast, zog er seinen Fund hervor.

"Hüte dich!", klang es nun dunkel und Unheil verkündend vom Rand der Böschung herab. Noch immer blieb Rolf unbeeindruckt. Er sagte kein Wort. Bedächtig krabbelte er, in seiner Rechten den scharfkantigen grauen Brocken haltend, hangaufwärts. Oben angekommen legte er den Fund vor seine Füße. Gelassen klopfte er den Sand vom Hemd und von den Armen. Er schnüffelte geräuschvoll, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und hakte schließlich die Daumen hinter den Hosenbund. Herausfordernd betrachtete er den eigenartigen Störenfried. "Was willst du von mir?"

"Ich bin Steingesicht! Du bist in mein Reich eingedrungen." Die Gestalt reckte sich. Sie hob den Knüppel und stieß das Ende kräftig in den Grasboden. "Alle Schätze da unten sind mein. Du hast mich also bestohlen ... Dein Leben gehört mir!"

"Und was willst du damit?* Rolf wippte überlegen auf den Fußsohlen.

Offensichtlich verwirrte seine Haltung den Erdgeist. Verdutzt musterte er Rolf und suchte krampfhaft nach einer möglichst Furcht einflößenden Erwiderung. "Ich ... In einen Regenwurm kann ich dich verzaubern, wenn ich nur will. Oder in eine alte, klitschige Kröte! Oder einfach in einen Stein!"

Rolf grunzte. "Dann am liebsten in einen Stein. Marmor, wenn's geht."

In der Miene des Erdgeistes spiegelte sich Entrüstung. Einen Augenblick lang nagte er unschlüssig an der Unterlippe, dann ließ er plötzlich den Knüppel los und war kein Steingesicht mehr. Damit aber blieb auch Rolf nicht länger ein Schatzsucher. Der Goldbrocken zu seinen Füßen wurde wieder ein gewöhnlicher Stein.

"Du bist ein Spielverderber!", stellte Jürgen fest. Er war gekränkt und hockte sich neben dem Knüppel nieder. "Vor Steingesicht musst du Angst haben, sonst macht es überhaupt keinen Spaß."

"Ich hab eben keine." Missmutig setzte sich Rolf neben seinen gleichaltrigen Freund, angelte nach dem Stein und ließ ihn spielerisch von einer Hand in die andere plumpsen. "Warum soll es nicht auch mal einen geben, dem vor dem Steingesicht nicht gleich die Knie schlottern, he?"

Es klang nicht sehr überzeugt. Wer in der kleinen hannoverschen Bergarbeiterstadt Oedeleck aufgewachsen war, der hafte vom Unwesen des Erdgeistes Steingesicht schon lange, lange vor der Zuckertüte erfahren. Immer waren es Bergleute, denen in den Stollen tief unter der Erdoberfläche - unter Tage, wie es in der Bergmannssprache heißt - dieser Spuk begegnet sein sollte. Nur ganz selten, so wurde berichtet, sei einer mit dem Leben davongekommen. In Oedeleck war es nur der einarmige, nun schon seit über zehn Jahren auf der Veteranenbank sitzende Steiger Wiczorek. Nach dem vierten Glas Bier erzählte der Alte jedem, der es hören wollte, die unheimliche Geschichte. Bei einem Kontrollgang durch einen stillgelegten Seitenstollen hatte ihn plötzlich ein eisiger Hauch erstarren lassen. Schlagartig war die Lampe an seinem Grubenhelm erloschen, und schwarze Finsternis hatte ihn umhüllt, grabesstill und lähmend. Dann aber sei mit einem Male ein rätselhaftes, fahles Leuchten von der Stollenwand ausgegangen, und aus dem blanken Fels heraus hätte sich, von Kopf bis Fuß ganz aus Stein, eine große, menschenähnliche Gestalt gelöst. Langsam und stumm wäre sie auf ihn zugekommen, wobei jede Bewegung in den Gelenken vom schrillen Kreischen hart gegeneinanderreibender Steine begleitet gewesen sei. Der Steiger habe sofort gewusst, dass ihm nun der Tod nahte. Er kannte alle Geschichten von den Bergleuten, die das Steingesicht mit Felsbrocken erschlagen, in plötzlich sich auftuende Schlünde geschmettert oder mit einem giftigen Atemstoß erstickt hatte. Es war, wie er stets eingestand, nicht Mut, sondern verzweifelte Todesangst gewesen, die ihm im letzten Augenblick noch übermächtige Kraft verliehen hatte. Steingesicht war schon ganz dicht bei ihm gewesen, hatte mit der felsigen Faust bereits zum Schlag ausgeholt, als er, wie von tausend Teufeln verfolgt, blindlings dem Stollenausgang zugejagt war. Bleich und völlig erschöpft hatte er seine Kameraden erreicht und war vor ihnen bewusstlos zusammengebrochen. Erst im Krankenhaus hatte er wieder die Augen aufgeschlagen. Obwohl ihn Steingesichts Schlag nur leicht gestreift hatte, war es eine böse, fressende Wunde geworden, und die Ärzte sahen bald keine andere Möglichkeit mehr, als den Arm abzunehmen. Es hätte schlimmer ausgehen können, sagte der alte Wiczorek jedes Mal, wenn er mit seiner Geschichte zu Ende war, und wer schon mehr vom Steingesicht gehört hatte, der gab dem Steiger gern recht.

"Wenn du absolut keine Angst haben willst, dann musst du eben das Steingesicht spielen und ich den Schatzsucher." Neugierig beobachtete Jürgen seinen Freund. "Willst du?*

Rolf gab nicht gleich eine Antwort. Noch immer hielt er den ausgegrabenen Stein in den Händen. Er schien zu überlegen. Sein Blick wanderte über den Teich hin zum Förderturm der Oedelecker Erzgrube. Schwarz und mächtig hob sich das hohe Gerüst vom blauen Julihimmel ab. Dicht unter dem gewölbten Wellblechdach kreisten die beiden großen Räder, über die das Förderseil lief. Seitlich vom Kesselhaus stieg steil und breit die Halde empor, ein Berghüne, der weithin sichtbar die Landschaft überragte, aufgeschüttet mit Gestein und Sand und Lehm aus dem bis in mehr als hundert Meter Tiefe vorgetriebenen Netz der Schächte und Stollen. Irgendwo dort unten arbeitete in dieser Nachmittagsstunde auch der Hauer Erich Freitag, Rolfs Vater.

"Eigentlich ist das ein blödes Spiel", meinte Rolf endlich. Der Stein kullerte den Hang hinab, klatschte ins Wasser und versank. Rolf strich eine in die Stirn gefallene blonde Haarsträhne zurück. "An das Steingesicht glauben nur Wickelkinder und Klatschtanten."

"Na und?" Jürgen blickte erstaunt. "Bisher war's trotzdem immer ganz spannend. Oder weißt du was Besseres?"

"Klar. Baden!"

"Hier? Im Teich?" Ein wenig unsicher schaute Jürgen hinunter. Das Wasser war glatt und undurchsichtig wie aus schwarzem Glas. Vor Jahren, als es noch nicht das neue, betonierte Klärbecken drüben auf der anderen Seite des Schachtgeländes gegeben hatte, waren hierher die Abwässer aus der Erzgrube gepumpt worden. Auch jetzt noch verbot eine Tafelaufschrift das Baden in diesem Teich, in dem kein Fisch lebte und an dessen Ufern nur spärlich ein paar Hälmchen dahinkümmerten. "Wollen wir nicht lieber zu uns nach Hause gehen?" Zu der kleinen Villa, in der Jürgen mit seinen Eltern wohnte, gehörte auch ein parkähnlicher ausgedehnter Garten mit einem richtigen kleinen Schwimmbad.

"Seit wann bist du denn feige?" Rolf zog sich schon das Hemd über den Kopf. "Ich glaube, die nageln dich dort in deiner neuen Luxuspenne wirklich noch zu einer Memme um."

Jürgen feixte und schnürte seine Turnschuhe auf. Er fühlte, dass hinter den Worten des Freundes der Kummer über die näher rückende Zeit der Trennung steckte. Seit Beginn der Ferien war kein Tag vergangen, an dem Rolf nicht mindestens eine Spitze gegen die oberbayrische Internatsschule abgeschossen hatte, in die Jürgen von seinen Eltern vor einem Jahr geschickt worden war. Seitdem sahen sich die Freunde nur noch in den Ferien. Sie gaben es nicht zu, aber sie litten beide darunter. Vom ersten Schultag an hatten sie in einer Bank nebeneinandergesessen. Sie tauschten in den Pausen ihre Frühstücksbrote und bald auch ihre Lieblingsbücher. Jürgen half Rolf beim Aufsatzschreiben, und der Bergarbeitersohn brachte ihm das Schwimmen bei. Von Monat zu Monat waren sie unzertrennlicher geworden.

"Na, wo bleibst du denn?" Jürgen rutschte auf dem Badehosenboden bereits zum Wasser hinunter, während Rolf noch ärgerlich an einer Sandalenschnalle zerrte. Prüfend tauchte Jürgen erst einmal den großen Zeh ins Nasse. "Joiii!" Eilig brachte er seinen Fuß wieder aufs Trockne. Ziemlich unlustig blickte er hinauf zu seinem Freund. "Und kalt ist es auch noch!"

"Das ist nur der erste Moment!", rief Rolf vergnügt. In den Hüften schwingend wie ein Skiläufer beim Slalom, sauste er den Hang hinab, schnurgerade auf Jürgen zu. Zu spät durchschaute der die Absicht, und sein protestierender Aufschrei vergurgelte im Teich. Das Wasser spritzte und schäumte, dann kam Jürgen prustend wieder zum Vorschein. Er machte keine Anstalten, ans Ufer zu kommen. "Rache!", schrie er, eifrig Wasser tretend, aber sein Gesicht strahlte vor Ausgelassenheit. "Komm ran, wenn du gefressen werden willst!"

Seltsamerweise ging Rolf nicht auf diese Fröhlichkeit ein. Er stand bis an die Knie im Wasser und schaute mit einer Miene über den Teich, als knoble er plötzlich an einer schwierigen Rechenaufgabe. "Schnell, komm mal her!" Unruhe schwang in seiner Stimme. Jürgen reckte den Hals und suchte die Richtung ab, in die sein Freund wie gebannt starrte. Er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Aha, mit so einem faulen Trick will mich Rolf heranlocken, vermutete er und vergrößerte durch ein paar kräftige Schwimmstöße vorsichtshalber den Abstand. "Aber nicht mit mir!", posaunte er über den Teich, übermütig ließ er die Beine wirbeln und einen weißen Schaumstrudel hinter sich aufsteigen. Gleich darauf jedoch verflog seine Heiterkeit.

"Hör mit dem Quatsch auf!", schrie Rolf erregt. Sein Arm stach zur rechten Teichseite hinüber. "Dort stimmt was nicht ... Komm endlich!"

Nein, das war kein Spaß und keine Falle. Jürgen schleuderte die Arme und kraulte zum Ufer zurück. Täuschte er sich, oder erwachte da plötzlich im Teich wirklich eine immer spürbarer werdende Strömung? Doch, jetzt fühlte er es ganz deutlich. Ein Sog heftete sich an ihn, wollte ihn festhalten und vom Ufer fortziehen. Seine Arme schaufelten schneller, seine Beinstöße wurden kraftvoller. Er keuchte, als er endlich festen Grund unter den Füßen erreichte. Rolf streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn eilig hinter sich her zum Ufer.

"Guck dir das an", sagte er und zeigte über die Wasserfläche. Sie war an einer Stelle auf der rechten Teichseite in eine merkwürdig kreisende Bewegung geraten. "Ein Drehloch. Jetzt ist es schon doppelt so groß wie vorhin ... Da, hast du das gesehen?" Ein mannslanger Balken war von dem Wasserrad erfasst und bis in die Kreismitte gedreht worden. Nun stieg das eine Ende schräg empor, und der Balken verschwand, wie von einem mächtigen Hammerschlag getrieben, in die Tiefe. Junge, Junge, wenn wir da reingeraten wären!"

Angestrengt schauten die beiden Freunde zu der seltsamen Erscheinung hinüber. Jürgen nagte wieder an seiner Unterlippe, und in seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Hatte Steingesicht die Hand im Spiel? Unsinn, Geister gehören in Märchen und Spukgeschichten. Das Drehloch dort aber war Wirklichkeit. Und wie kam so etwas zustande? Also zuerst einmal musste dazu eine Strömung vorhanden sein. Aber der Teich besaß weder einen Abfluss noch einen Zufluss. Trotzdem hatte Jürgen selbst den Sog gespürt. Ein Rätsel? Jürgen zog die Stirn kraus. Für jedes Rätsel gibt es eine Lösung, man muss sie nur finden! Also beispielsweise könnte der Teich ...

"Mensch, Jürgen, er versinkt!", stieß Rolf hervor. Beinahe gleichzeitig fanden die beiden Freunde die einzig mögliche Erklärung. Was Jürgen durch Überlegung erkannte, wurde Rolf durch scharfes Beobachten bewusst. Soeben hatte der Bergarbeitersohn die entscheidende Entdeckung gemacht: "Sieh mal die Uferkante an. Das Wasser fällt ... Dort drüben unter dem Drehloch muss der Teich in die Erde fließen!"

"Genau!", bestätigte Jürgen, doch er hatte das Wort kaum ausgesprochen, da trieb ihm der Schreck auch schon das Blut aus dem Gesicht. Leise war seine Stimme und voller Angst, als er stockend weitersprach: "Du, das Wasser ... der ganze Teich ... Bestimmt fließt es hinunter in die Stollen ..." Die Vorstellung dieses Geschehens schnürte ihm die Kehle zu.

Vati! durchzuckte es Rolf. Ihm war, als berühre ihn eine eiskalte Hand. In seinen Ohren klangen Worte des Vaters. Rolf hatte sie vor Monaten schon aus einem Gespräch seiner Eltern aufgefangen. Damals hatte er sie nicht verstanden und bald wieder vergessen. Jetzt begriff er den schrecklichen Sinn dieser Sätze: Im Einsturzstollen tropft es aus dem Gebirge wie zehn undichte Wasserhähne. Wenn nicht bald etwas geschieht, bricht der Teich mal durch, und wir ersaufen dort unten wie die Ratten!

In diesem Augenblick erzitterte die Luft vom Aufheulen der Grubensirene. Weithin gellte es in die Landschaft: Alarm ... Alarm ... Alarm!

 

Die drei Männer im Querschlagvortrieb der Hundertmetersohle arbeiteten mit zusammengebissenen Zähnen. Ihre nackten Oberkörper schimmerten im Licht der starken Grubenlampe wie Bronze. Es war heiß hier unten, drückend heiß. Die Frischluft, die von mächtigen Pumpen durch ein verzweigtes Leitungsnetz bis in den letzten Winkel des Schachtes gepresst wurde, schaffte nur wenig Linderung. Das allein aber hätte den drei Männern kaum die Lippen für jedes Wort geschlossen. Zimperlinge wählen nicht den Bergmannsberuf. Zu der Hitze kam der Lärm. Die Felswände warfen das Rattern des Pressluftbohrers dutzendfach zurück, jeden anderen Laut erstickend. Und zu dem Lärm kam der graue Steinstaub. Wie eine zweite Haut klebte er an den Männern, die zu einer neuen Erzschicht vordrangen.

Erich Freitag, dessen Fäuste den zuckenden und schüttelnden Bohrer fest umklammerten, der Oberschlesier Otto Kaminsky und der Junghauer Hans Luck aus dem Ruhrgebiet, die das bereits abgesprengte Gestein in eine Kipplore füllten - sie waren nur drei von einhundertneunundzwanzig Bergleuten, die um diese Stunde tief unter dem Tageslicht Eisenerz aus dem unterirdischen Gebirge brachen, tunnelartige Stollen mit hölzernen Stempeln gegen Einsturz sicherten oder die Loren zwischen Förderschacht und Abbaustellen hin und her dirigierten. Noch ahnte keiner von ihnen, dass diese Schicht nicht wie all die anderen enden würde.

Plötzlich verebbte das Geratter des Pressluftbohrers. Vorsichtig zog Erich Freitag den Bohrstahl aus dem Loch. Es war jetzt tief genug, um die nächste Sprengladung aufzunehmen. Rolfs Vater dehnte die kräftigen Schultern.

"Vesperzeit!"

Sie gingen ein Stück zurück, dorthin, wo sie ihre Beutel hängen hatten, und hockten sich nebeneinander auf ein paar an der Seite liegende Stempelhölzer. Der untersetzte, bärenhaft wirkende Oberschlesier wickelte bedächtig seine Schnitten aus, bog die erste auseinander und schnupperte am Aufstrich. Landleberwurst. Kaminsky nickte zufrieden. Dabei konnten sich Erich Freitag und Hans Luck nicht erinnern, dass ihr Kumpel je etwas anderes auf seinem Vesperbrot gehabt hatte.

Wie alle Menschen, die schwer arbeiten, aßen sie ohne Hast. Erich Freitag und Hans Luck sprachen über ein Fußballspiel, das am kommenden Wochenende auf dem Oedelecker Sportplatz stattfinden sollte. Sie hatten unterschiedliche Meinungen über die Aussichten der heimischen Mannschaft. Hans Luck hielt nicht viel von der Elf aus Oedeleck.

Erich Freitag hingegen ereiferte sich. "Das kommt, weil du nicht hier aufgewachsen bist", sagte er verärgert. Nach einem langen Schluck aus der Kaffeeflasche wischte er sich über den Mund und sah herausfordernd zu Kaminsky hin. "Nun sag du mal als Unparteiischer: Sind unsere Jungen nicht gut für ein 2:0?"

Kaminsky brummte etwas, das ebenso gut Zustimmung wie Einspruch sein konnte.

"Na bitte!", triumphierte Erich Freitag.

"Meine Rede!", behauptete Hans Luck.

Die beiden starrten sich einen Augenblick lang verdutzt an, dann wanderten ihre Blicke zu Kaminsky, der gerade andächtig seine zweite Klappschnitte einer Geruchsprobe unterzog. Verwirrt schaute er auf, als ihn Hans Luck anfuhr: "Was nun, gut oder nicht gut?"

Der Oberschlesier begriff nicht gleich. Ratlos musterte er erst Erich Freitag, dann den Junghauer und schließlich seine Vesperschnitte. Plötzlich zog ein breites Grinsen in sein Gesicht. "Gut, natürlich!", sagte er heiter und sehr entschieden. "Solche hat's nur beim Hausschlächter!"

Der junge Kumpel schnappte nach Luft. Es waren gewiss keine freundlichen Worte, zu denen er ansetzte, aber Erich Freitags Lachen kam schneller.

"Ich glaube ...", begann er vergnügt, doch er brachte den Satz nicht zu Ende. Auch den beiden anderen stockte der Atem. Steif saßen sie jetzt, stumm und lauschend. Da war ein Geräusch, das nicht in den Schacht gehörte, ein dumpfes Brausen, das deutlich anschwoll. Kaminsky achtete nicht darauf, dass ihm die Vesperbrote vom Schoß glitten. Jeder Muskel in seinem Gesicht war gespannt. "Wasser?!"

"Der Teich!" Erich Freitag sprang auf. "Los, wir müssen raus!"

Jetzt begriff der Oberschlesier sofort. Er griff nach seinem Beutel, riss die Jacke vom Haken und rannte los. Der Junghauer stand wie versteinert. Seine Augen waren groß und voller Angst. Er hatte es nie glauben wollen, wenn die anderen davon sprachen. Wenn es diese Gefahr wirklich gab, dann hätte doch die Leitung der Grube längst etwas dagegen getan, hatte er gedacht. Hunderttausende von Kubikmetern Wasser und Schlamm - das kann nicht wahr sein! Das wäre ja ein Verbrechen! Bestimmt sind sie irgendwo beim Bohren auf eine unterirdische Wasserader gestoßen. Wozu gab es Pumpen? Man wird das Loch verstopfen und fertig ...

"Willst du verrecken, verdammt noch mal?" Erich Freitag kam noch einmal zurück und packte den Junghauer unsanft am Arm. "Mach jetzt nicht schlapp!*"

Sie jagten durch den nur spärlich erleuchteten Stollen, immer wieder über die Schienenschwellen stolpernd, Kaminsky war bereits aus ihrer Sichtweite. Noch immer schwoll das unheimliche Brausen an. Sie hatten etwa zweihundert Meter zurückgelegt, als das Wasser sie erreichte. Knöchelhoch strömte es ihnen entgegen und stieg Sekunde um Sekunde höher, gurgelnd und zischend, wie von mächtigen Peitschen getrieben.

Erich Freitag und Hans Luck warfen sich gegen die Flut. Sie kämpften dem reißenden Wasser Meter um Meter ab. Mitgeschwemmte, wild in dem Gischt schlagende Stempelhölzer zwangen die beiden, dicht an die Stollenwand auszuweichen. Steinbrocken, die das ungestüme Wasser auf dem Grund mitwälzte, machten jeden Schritt gefährlich. Das flackernde Licht der durch Drahtnetze geschützten Deckenlampen warf gespenstische Schatten. Erich Freitag befürchtete jede Sekunde, dass es ganz verlöschen würde und sie nur noch auf die an ihren Schutzhelmen angebrachten Grubenleuchten angewiesen waren.

Plötzlich stöhnte Hans Luck laut auf. Erich Freitag fuhr herum und sah, wie der Junghauer, verzweifelt einen Halt suchend, um sich schlug. Todesangst widerspiegelte sich in seinem blutleeren Gesicht.

Erich Freitag erkannte blitzschnell die Gefahr. Zurück in den Stollen getrieben zu werden bedeutete das sichere Ende. Er ließ sich ein paar Meter von der Strömung mitreißen, krallte dann seine Rechte in einen der die Stollendecke abstützenden Stempel und bekam gleichzeitig mit seiner Linken den ausgestreckten Arm des Junghauers zu fassen. Sein Griff war wie eine eiserne Klammer. Langsam zog er den jungen Kollegen heran.