© Quynh Nguyen
Die Autorin
Jenn P. Nguyen verliebte sich bereits in der dritten Klasse in Bücher und verbrachte ihre restliche Schulzeit damit, in den Mittagspausen zu lesen und während der Freistunden die Bibliothek zu organisieren. Zur Zeit lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in New Orleans. Jenn verbringt ihre Zeit mit Lesen, dem Schreiben von YA-Romanzen und dem Binge-Watching koreanischer Dramen – natürlich im Namen der Recherche. »Alles, nur kein Surfer Boy« ist ihr Debütroman.
Die Übersetzerin
Ivana Marinović, geboren in Esslingen am Neckar, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und arbeitete mehrere Jahre in einem Kinder- und Jugendbuchverlag, bevor sie sich als freie Lektorin und Übersetzerin selbstständig machte, um sich neben ihrer Bücherliebe ausgiebig ihrer zweiten großen Schwäche, dem Reisen, widmen zu können.
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Jenn P. Nguyen
Aus dem Amerikanischen
von Ivana Marinović
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Deutsche Erstausgabe Mai 2020
© 2016 by Jenn P. Nguyen
Published by arrangement with Swoon Reads, an imprint
of Feiwel and Friends. All rights reserved.
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»The way to game the walk of shame« bei Swoon Reads, an imprint of Feiwel and Friends and Macmillan Publishing Group LLC, USA.
© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe
Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Ivana Marinović
Umschlaggestaltung: © Kathrin Schüler, Berlin, unter Verwendung eines Motivs von Getty Images (Westend61)
sh · Herstellung: AS
Satz: Uhl + Massopust
ISBN 978-3-641-20060-2
V003
www.cbj-verlag.de
Für meinen Dad,
die Nummer eins meiner größten Fans.
Ich vermisse dich jeden einzelnen Tag.
Con thương bố nhiều lắm.
Noch bevor ich meine Augen öffnete, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich war nicht in meinem Bett, so wie ich es sein sollte, eingerollt in meine cremefarbene Decke, die ich letzten Monat mit Mom bei Macy’s gekauft hatte. Der Stoff unter meinen Fingerspitzen war kühl und irgendwie kratzig.
Beweis Nummer zwei: Es roch anders. Nicht schlimm oder so. Einfach nur nicht nach dem Apfel-Zimt-Raumdeo, das Mom so liebte und überall im Haus versprühte, ungeachtet dessen, dass Dad und ich Zimt hassten. Ich hielt üblicherweise dagegen, indem ich mit Vanille-Duftkerzen durchs Haus lief. Was dazu führte, dass es bei uns daheim süßer roch als in einer Großbäckerei. Was wiederum ironisch war, denn eigentlich konnte keiner von uns backen.
Ich sog noch einmal tief die Luft ein, um sicherzugehen. Nein, hier gab es weder Äpfel noch Zimt noch Vanille irgendeiner Art. Stattdessen roch es nach Baumwolle mit einem schwachen Hauch von Pinie und Gras.
Doch der vernichtendste Beweis von allen war der muskulöse, entblößte Rücken eines halb nackten Typen, der neben mir lag – zumindest hoffte ich, dass er nur halb nackt war, da ich nicht unter die dunkelblaue Decke sehen konnte, die um seine Hüften geschlungen war. Eines Typen, der definitiv nicht in meinem Bett liegen sollte.
»Oh Gott. Oh. Mein. Gott.« Meine Stimme war ein heiseres Fiepsen. Ich kniff die Augen zu, bevor ich sie wieder öffnete. Einmal. Zweimal. Immer wieder, bis verschwommene Sterne an der blassblauen Zimmerdecke erschienen – eine Zimmerdecke, die ebenfalls nicht zu mir gehörte –, aber er wollte einfach nicht verschwinden.
Und die Sterne machten das schmerzhafte Pochen in meinem Kopf auch nicht besser. Warum hatte mich eigentlich niemand vorgewarnt, dass ich mich nach dem Trinken am nächsten Morgen so dermaßen mies fühlen würde?
Mit zitternden Händen lugte ich unter meine Decke und – puuuh – ein Seufzer der Erleichterung entfuhr mir. Gott sei Dank, ich war vollständig bekleidet. Wenn man das schwarze Spitzen-Tanktop und die knallenge Caprihose, in die Carly mich am Abend zuvor gezwängt hatte, vollständig bekleidet nennen konnte. Aber abgesehen davon sah alles andere normal aus – bis auf das fremde Zimmer und den halb nackten Typen, mit dem ich im Bett lag.
Ich saß so richtig in der Tinte. Warum hatte ich mich gestern Abend bloß von Carly auf diese Party schleifen lassen? (Notiz an mich selbst: Es kommt nie etwas Gutes dabei heraus, wenn man auf dieses Mädchen hört.) Aber sie hatte mich eben in einem schwachen Moment erwischt. Zugegeben, ich hatte einen ganzen Haufen schwacher Momente gehabt, seit ich auf der Warteliste der Columbia University gelandet war.
Aber jetzt mal im Ernst – ich, Taylor Simmons, auf der Warteliste? Ich konnte es immer noch nicht glauben. Wussten die denn nicht, wer ich war? Herrgott noch mal, hatten die sich meine Bewerbung überhaupt angeschaut? Sie war tadellos und ich hatte sie extra früh eingereicht. Ich hatte sogar eine zusätzliche Seite für all meine außerordentlichen Leistungen hinzufügen müssen. Ich hätte eine todsichere Kandidatin sein müssen.
Aber die Monate gingen ins Land, und keine Zusage für einen Studienplatz in Sicht. Man antwortete auch nicht auf meine E-Mails und Anrufe, um nachzuhaken, ob die Computer abgestürzt waren. Oder ob der gesamte Aufnahmeausschuss im Krankenhaus lag. Nichts. Bis zu dem mickrigen Brief für die Warteliste gestern.
Wie auch immer, das war nicht der Punkt. Nicht wirklich. Der Punkt war, dass man mich auf die Party geschleift hatte … und ich irgendwann gegangen war. Ganz offensichtlich. Aber wo war ich jetzt? Und wie war ich hierhergekommen? Wo war Carly und warum hatte sie mich nicht aufgehalten oder …?«
»Hmpf.« Der Typ rollte sich von mir weg auf seinen Bauch.
Rasendes Herzklopfen. Ich konnte mich kaum rühren. Meine Brust schnürte sich zusammen, aber ich atmete nicht, blinzelte nicht, bis das leise Schnarchen von seiner Seite des Bettes wieder einsetzte. Und selbst da wagte ich es lediglich, kurze, flache Atemzüge zu machen.
Das war knapp. Zu knapp. Ich musste hier weg. Sofort.
Vorsichtig löste ich mich von der Matratze, Zentimeter für Zentimeter, und schreckte zusammen, da selbst diese leichte Bewegung mein Herz laut klopfen ließ. Meine Zehen berührten den weichen Teppich, und ich drückte mich hoch, wobei ich jedes Mal erstarrte, wenn das Bett knarzte. Nur noch ein Stückchen.
Nach gefühlten Stunden – obwohl es sich wahrscheinlich nur um ein paar Minuten handelte – rutschte ich von der Bettkante und machte einen Schritt auf die Tür zu. Großer Fehler. Das Knarren des Bodens hallte wie ein Gewehrschuss durch den Raum. Der Typ im Bett rührte sich, und ich hechtete Richtung Boden, wobei ich mit einem dumpfen Knall auf dem braunen Teppich landete. Mein Kopf prallte gegen meinen Unterarm. Autsch.
Was zum …? Ein Name stand auf meinem linken Unterarm, in meiner eigenen schnörkeligen Handschrift. Mein Name. Taylor Simmons. Wie besoffen musste ich eigentlich gewesen sein, wenn ich mir meinen eigenen Namen auf den Arm schreiben musste? Ernsthaft, was zum Teufel war letzte Nacht passiert?
Ich hatte keine Zeit, mir jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Auf der Suche nach meinen silbernen Sandalen tastete ich mich auf allen vieren durch das verdunkelte Zimmer. Das einzige Geräusch war das leise Schnarchen, das von dem Deckenhaufen auf dem Bett kam.
Trotzdem … wer war mein Komplize? Konnte es jemand sein, den ich kannte, oder war es – ach du heilige Scheiße – irgendein dahergelaufener Kerl, den ich auf der Party kennengelernt hatte? War ich etwa eine schamlose Dirne wie in diesen historischen Liebesschmonzetten, die ich hinter meinen Nachtschränkchen versteckte?
Oder war Kurtisane hier das richtige Wort? Wenigstens klang das etwas stilvoller.
»Oh Gott.« Ich schüttelte den Kopf und unterdrückte den Impuls, mir mit der Hand gegen die Stirn zu schlagen. Jetzt war ganz bestimmt nicht der Moment, mich mit sprachlichen Feinheiten zu befassen.
Ein schmaler Sonnenstrahl fiel durch den Spalt über den Jalousien, die einen Schatten über den Kopf des Typen warfen, der immer noch halb im Kissen vergraben war. Ich spähte über den Rand der Matratze, konnte jedoch nicht mehr sehen als seinen muskulösen, gebräunten Rücken. Ich glaubte, dass er dunkles Haar hatte, aber sicher sein konnte ich nicht. Obwohl ich wusste, dass ich schleunigst hier raus sollte, zögerte ein Teil von mir – wahrscheinlich der Teil, der immer noch betrunken war. Ich musste wissen, wer er war. Aber jedes Mal, wenn ich mich ihm nähern wollte, knarrte der gottverdammte Fußboden.
Oh Mann, was war das eigentlich für ein Haus?
Wider besseres Wissen begann ich in seinem Zimmer herumzuschnüffeln, sorgfältig darauf bedacht, auf Ellbogen und Bauch über den Boden zu robben wie ein Soldat in feindlichem Gebiet. Turnschuhe, Videospiele, Schulbücher mit makellosen, glatten Seiten, die ganz offensichtlich nicht oft benutzt worden waren, eine beeindruckende Sammlung alter Comichefte … Bingo! Ich knackte den Jackpot, als ich ein Schmuddelmagazin aus dem Weg schubste und einen Stapel Fotos zum Vorschein brachte. Ich strich mir mein verworrenes dunkles Haar aus dem Gesicht und schob mich etwas näher auf das Licht zu.
Autos und Mädchen. Haufenweise. Mädchen, meine ich. Und auf den meisten war richtig viel Haut zu sehen. Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen schoss, als mein Blick auf das Foto eines Mädchens in mikroskopisch kleinem Bikini fiel, der kaum die üppige Oberweite bändigen konnte, die sie mit einem koketten Lächeln in die Kamera streckte. Ich konnte nicht einmal sagen, ob sie rothaarig oder brünett war, mir sprangen nur strahlend weiße Zähne, volle Lippen und Brüste entgegen. Weiterblättern. Eine Blondine mit Brüsten. Noch eine Blondine mit Brüsten. Irgendjemandes Beine am Strand.
«Komm schon, zeig mir dein Gesicht«, murmelte ich mit einem schnellen Blick nach oben, um sicherzugehen, dass mein unbekannter Partner immer noch schlief. Er schlief.
Endlich fand ich ein Foto mit einem Typen drauf. Er stand im Profil, aber sein Gesicht war der Kamera zugewandt und leicht nach unten geneigt zu – was wohl? – noch mehr Brüsten. Seine Nase war bis auf einen winzig kleinen Hubbel auf dem Rücken ziemlich gerade. Leicht verstrubbeltes dunkelblondes Haar. Lachende dunkelgraue Augen, die zur Seite blickten. Sein Kiefer war eher groß, was von einem Unterbiss herrühren konnte, aber es stand ihm. Vor allem, wenn er lachte. Er war so unglaublich heiß.
Und so bekannt.
Mein Kopf schnellte zu dem glatten, ruhenden Rücken herum. Dann fiel mein Blick auf die schwarzen chinesischen Schriftzeichen, die sich an seinem linken Unterarm entlangzogen. Ich hatte das Tattoo schon einmal aus der Nähe gesehen. Alle behaupteten, es würde »Lebe einfach« bedeuten. Aber soweit mir bekannt war, hieß es tatsächlich »Kaugummiliebhaber«.
Ein unterdrücktes Stöhnen entrang sich meinen Lippen. Nein, nein, nein. Nicht er. Jeder, aber nicht Evan McKinley. Die legendäre männliche Oberschlampe der Nathan Wilks Highschool höchstpersönlich. Es hieß, er habe so viele Mädchen flachgelegt, dass er sich ein neues Surfbrett kaufen musste, weil sein altes schon überall Kerben hatte – als Erinnerung an jede neue Eroberung.
Wie um jegliche verbliebene Spur von Hoffnung eines Irrtums meinerseits zunichtezumachen, streckte er seinen linken Arm aus, und da konnte ich seinen Namen auf seine Haut gekritzelt sehen. Evan McKinley. In meiner Handschrift.
WO WAREN BLOSS DIESE GOTTVERDAMMTEN SANDALEN?
Ich kroch so hektisch umher, dass ich ziemlich sicher war, mir bleibende Teppichschürfwunden an den Ellbogen zuzuziehen. Es war mir egal. Sollte irgendwer mich im Umkreis von einem Meter Entfernung von Evan erwischen, würde die Gerüchteküche explodieren. Es war schwierig genug gewesen, den Tratsch zu ersticken, der letztes Jahr die Runde machte, als ich fast im Becken des Harrison Parks Freibads ertrunken wäre und Evan mich gerettet hatte. Seitdem hatte ich um alles, was mit ihm zu tun hatte, einen großen Bogen gemacht.
Was es umso schlimmer machen würde, falls jemand erfuhr, dass ich die Nacht in seinem Bett verbracht hatte.
Schuhe, Schuhe … ach, vielleicht brauchte ich die gar nicht. Dad hatte sie mir gekauft, als ich zur Herausgeberin des Jahrbuchs ernannt wurde. Er würde wahrscheinlich nicht einmal merken, dass sie fehlten – Mom hingegen ganz bestimmt. Sie war es gewesen, die ihn überredete, mir die Sandalen trotz ihres absurden Preises – man hätte meinen können, die Kristallsteinchen wären echte Diamanten – zu kaufen, anstatt die schlichten schwarzen Pumps, die ich für mein Praktikum in seiner Anwaltskanzlei nächstes Jahr benötigen würde. »Du brauchst etwas Hübsches! Etwas Ausgefallenes!«, hatte sie immer wieder gesagt. Komisch, dass ich in dieser Hinsicht mehr wie mein Vater tickte, obwohl ich nicht seine leibliche Tochter war. Das Einzige, was ich von meiner Mutter hatte, waren die braunen Augen.
Und meine Mutter würde mir die Hölle heiß machen, falls ich ohne die Schuhe nach Hause kam. Außerdem wusste ich nicht, wie weit von zu Hause ich weg war. Und ich freute mich so schon nicht auf den »Walk of Shame«, der vor mir lag. Ich streckte die Arme ganz weit aus und fuchtelte noch hektischer unter dem Bett herum.
Eine verschlafene, leicht belustigte Jungsstimme strich plötzlich über meinen Kopf hinweg. »Sie sind unter meinem Schreibtisch.«
»Was?« Ich krabbelte rückwärts unter dem Bett hervor, richtete mich abrupt auf und knallte mit dem Hinterkopf gegen Evans Kiefer. Er musste sich übers Bett gebeugt und mich beobachtet haben. Ein lautes Knacken war zu hören, bevor wir auseinandersprangen und beide vor Schmerz laut aufstöhnten. Urgh, sein Kiefer war hart wie ein Hammer, und ich war der Nagel, auf den er geknallt war. Ich weiß, nicht unbedingt die beste Metapher, aber er hatte buchstäblich alles, was mir an Verstand geblieben war, ausgeknockt.
Als der Schmerz endlich abebbte, blickte ich auf. Evan hatte sich zur Seite gedreht, leicht vornübergebeugt, und rieb sich mit beiden Händen Wangen und Kiefer, wie um zu überprüfen, ob etwas gebrochen war. Ganz wie von selbst und ohne dass ich sie davon abhalten konnte, schweiften meine Augen über seinen Körper. Ich hatte ihn schon früher im Freibad und in der Sporthalle gesehen, aber ich hatte ihn mir nie angeschaut. Zumindest nicht aus solcher Nähe.
Helle Sommersprossen sprenkelten seine gebräunten Schultern und Oberarme. Gott sei Dank trug er zerknitterte Khaki-Shorts – wenngleich sie ziemlich tief über seinen Hüften hingen. Auf einer Seite blitzte ein heller Streifen Haut unter all der Bräune hervor. Ein Fleck, der wahrscheinlich nie die Sonne sah und der von niemandem gesehen wurde. Zumindest nicht von jemandem, der nicht mit ihm schlief.
»Ooh …« Mein Kopf platzte beinahe von der plötzlichen Hitze, die mir in die Wangen schoss. Ich riss meinen Blick von ihm los und richtete ihn auf eine tropische Postkarte, die am Rand seines Spiegels klebte, während ich mir Mühe gab, die ungewollte, wenn auch nicht ganz unberechtigte Enttäuschung zu verdrängen, dass er Klamotten trug. Das war nicht der Zeitpunkt, um Evan McKinley anzuglotzen.
»Tja, ich sollte wohl Guten Morgen sagen.« Er streckte die Arme über den Kopf, um sich zu recken, grinste auf mich herab und genoss ganz offenbar mein Unbehagen. Aus dem Augenwinkel konnte ich seinen straffen Bizeps sehen, der sich wölbte und mich aus dem Konzept brachte. »Sagen das Menschen morgens nicht zueinander?«
Schau weg, Taylor, schau bloß weg. Ich schirmte meine Augen gegen den verlockenden Anblick ab und konzentrierte mich stattdessen auf die Linien meiner Handflächen. »Ich weiß nicht. Solltest du das Protokoll für den Morgen danach nicht besser kennen als ich?« Verdammt, das hätte ich nicht sagen sollen.
Zu meiner Überraschung legte er den Kopf in den Nacken und lachte lauthals los. »Ja, ich schätze, das ist eine Tatsache, die sich nicht abstreiten lässt.«
Ich presste meine Lippen zusammen, bevor mir sonst noch was Unangemessenes rausrutschen konnte, und mein Blick huschte sehnsüchtig Richtung Tür. Ich hätte mich rausschleichen sollen, als ich noch die Gelegenheit dazu hatte.
Mussten wir uns wirklich durch diese höflichen Floskeln hindurchquälen? Konnten wir einander nicht einfach vergessen, als wären die letzte Nacht (und dieser Morgen) nie passiert? Als würden wir einander nicht kennen?
Oh Gott. Wahrscheinlich kannte er mich gar nicht. Nur weil ich wusste, wer er war, hieß das noch lange nicht, dass er wusste, wer ich war. Bis auf mein hervorgewürgtes »Dankeschön«, nachdem er mich aus dem Schwimmbecken gerettet hatte, hatten wir davor (oder seitdem) nie miteinander gesprochen. Ganz zu schweigen davon, dass ich an besagtem Tag wie ein begossener Pudel ausgesehen hatte, also hoffte ich eher, dass er sich nicht erinnerte. Außerdem musste er im vergangenen Jahr Hunderte Mädchen gerettet haben. Ich hatte sogar mal mitgekriegt, wie eine so tat, als würde sie direkt vor seinen Augen ertrinken, nur damit sie ein bisschen Mund-zu-Mund-Aktion abbekam.
Nee, Evan konnte sich bestimmt nicht erinnern. Ich war nur ein durchschnittlicher One-Night-… – Moment, wir hatten ja gar nicht miteinander geschlafen, also bitte streichen. Ich war irgendein beliebiges, fremdes Mädchen, das in seinem Zimmer gelandet war. Und das würde auch so bleiben.
Ich rappelte mich gerade auf, in der Absicht, mich aus dem Staub zu machen, als eine Welle der Übelkeit mich übermannte. Ein bitterer Geschmack stieg mir in den Mund. Urgh. Ich presste mir die Hand vor die Lippen und mein Blick verschwamm.
Evan streckte die Arme aus, als wolle er mich auffangen. Entweder mich oder meine Kotze. Unwillkürlich wich ich ein paar Schritte zurück, bis ich mit dem Rücken gegen seinen Schreibtischstuhl stieß.
»Das Bad ist gleich da«, sagte er mit einem Fingerzeig über seine rechte Schulter. »Ich schätze, ein Fliegengewicht wie du verträgt nicht viel, was?«
Mein Stolz ließ mich die Galle runterschlucken, die drohte, sich einen Weg aus meiner Kehle zu bahnen. »Nein, mir geht’s gut«, presste ich hervor.
»Bist du sicher? Ich meine, du solltest das Zeug echt nicht drin behalten. Vor allem, wenn du frühstücken willst. Du weißt schon, Eier, Zerealien oder Speck. Oder Würstchen, wenn dir das lieber ist. Also ich mag das Knusprige am Speck. Vor allem in Kombination mit ein paar warmen Pancakes, schmelzender Butter und Sirup, der an allen Seiten überquillt und runterfließt …«
Das Bild, das er heraufbeschwor, ließ mich beinahe den Kampf aufgeben und an Ort und Stelle auf den Teppich kotzen. »Nein, bitte … hör auf. Ich kann nicht …« Ich gab mir Mühe, nicht zu tief einzuatmen, da die Luft im Zimmer alles nur schlimmer machte, und presste stattdessen fest die Lippen zusammen. Ich kniff die Augen zu. Ich werde mich nicht übergeben. Ich weigere mich, mich zu übergeben.
Ich riss die Augen wieder auf, als Evan meine Finger von meinem Gesicht löste. Ich war zu überrumpelt von seiner Berührung, um zu reagieren. Seine lachenden grauen Augen funkelten zu mir runter. Er schob mir eine ungeöffnete Wasserflasche in die Hand und schloss meine Finger drum herum. »Hier, trink das. Du wirst dich gleich besser fühlen.«
»Ich kann nicht.«
»Vertrau mir. Ich weiß besser, wie man einen Kater auskuriert als du.« Seine Hände legten sich auf meine Schultern und er drückte mich auf den gepolsterten Ledersessel runter. »Im Ernst, trink einfach. Es ist kein Gift, versprochen.«
Ich beäugte das Wasser. »Und das soll ich dir einfach so glauben?«
»Nein, du sollst mir glauben, weil du keine Wahl hast«, erwiderte er mit einem Schnauben. »Außerdem, wenn du hier drinnen kotzt, muss ich das aufwischen, und du kannst deinen Hintern darauf verwetten, dass ich das nicht tun werde.«
Hmm. Da war was dran. Ich öffnete die Flasche und zwang mich zu schlucken. Das Wasser drohte, wieder hochzukommen, doch ich hörte nicht auf, bis ich ausgetrunken hatte. Mein voller Magen gluckerte unangenehm, aber ich hatte nicht mehr das Gefühl, sterben zu müssen.
Evan beobachtete mich, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, bis sie praktisch eine einzige dunkelblonde Linie bildeten. Plötzlich streckte er seine Hand aus und berührte meine Stirn.
Ich riss den Kopf zurück und schlug seine Hand weg, obwohl sie sich warm und angenehm auf meiner klammen Haut anfühlte. Meine Fingerspitzen massierten meine Stirn, und ich flehte innerlich, diese ganze Situation möge sich in Luft auflösen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass dies lediglich ein schlimmer Albtraum wäre und ich eigentlich eingekuschelt in meinem Bett läge. »Verdammte Scheiße! Ich bin so was von geliefert. Ich sollte mich eigentlich mit Brian treffen, wegen der Absolventenrede. Aber erst, nachdem ich Carly eigenhändig ERWÜRGT habe und … Was ist? Warum grinst du?«
»Nichts, nur …« Sein Grinsen wurde so breit, dass seine Augen zu kleinen Schlitzen wurden. »Du siehst nicht unbedingt aus wie ein Mädchen, das viel flucht. Es ist irgendwie komisch.«
Ich starrte ihn an. Mein komplettes Leben stand auf dem Kopf und ihm fiel nichts Besseres dazu ein? »Tja, das tue ich aber, wenn die Situation es erfordert. Und glaub mir, diese hier erfordert es. Scheiße. Scheiße. Scheiße!« Eigentlich war Fluchen nicht meine Art, aber das hier war ein besonderer Anlass. Abgesehen davon war ich eingeschnappt wegen seiner Bemerkung. Als wäre ich ein Moralapostel oder so was. Ich hätte ja geglaubt, dass allein die Tatsache, dass ich in seinem Bett aufgewacht war, diese Möglichkeit von vornherein ausschloss.
Und außerdem, was kümmerte es mich überhaupt, was er von mir dachte?
Evan stieß ein leises Pfeifen aus. »Okay, schon kapiert, Taylor. Du bist knallhart drauf. Nicht, dass ich dich noch zensieren muss.«
»Wie auch immer. Ich bin mir sicher, dass du schon weitaus Schlimmeres …« Moment mal, hatte er mich gerade …? »Du hast mich Taylor genannt.«
»Äh, ja. Das ist dein Name.«
»Aber woher weißt du meinen Namen?«
»Weil er auf deinem Arm steht?« Er deutete auf meinen linken Arm, gerade als ich ihn bedecken wollte. »Außerdem gehen wir auf dieselbe Schule.«
Mein Mund klappte auf. Mist, er kannte mich doch.
Ich sprang vom Stuhl auf. Die Übelkeit und der Kopfschmerz waren plötzlich wie weggeblasen. Es war, als hätten die Angst und die Aufregung allen Alkohol aufgesaugt. Die beste Kur gegen einen Kater? Stell dir vor, wie dein makelloser Ruf von einem Augenblick zum anderen befleckt wird. Besser als Tomatensaft oder was auch immer Leute trinken, um auszunüchtern.
»Hör zu, Evan. Du musst mir versprechen, dass du niemandem von dem hier erzählen wirst. Niemals.« Das letzte Wort sagte ich so bestimmt wie möglich, wobei ich meinen Vater im Gerichtssaal nachahmte, wenn er einen Zeugen einschüchterte. »Niemand darf jemals erfahren, dass ich die Nacht hier verbracht habe. Vor allem nicht mit dir.«
Seine Stirn runzelte sich. »Und was ist an mir bitte so schlimm? Weißt du, womöglich ist es schwer zu glauben, aber die Mädels sind normalerweise ziemlich glücklich, wenn sie in meinem Zimmer aufwachen. Und putzmunter.«
»Äh, hallo?« Ich grabschte nach dem Foto von dem Busenwunder auf dem Boden und hielt es ihm unter die Nase.
Evan blickte ratlos auf das Foto hinab und kratzte sich am Kopf, wobei er sein Haar noch mehr zerstrubbelte. Mein Magen machte einen kleinen Satz.
»Kapier ich nicht.«
Obwohl es nicht möglich war, spürte ich förmlich, wie mein Blutdruck anstieg. Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und zerrte an den verknoteten Strähnen. »Hör mal, ich bin mir sicher, du hast recht. Ein Haufen Mädchen wäre froh, genau jetzt hier zu sein. Jede außer mir. Ernsthaft. Ich bin nicht so ein Mädchen! Ich bin ein Columbia-University-Mädchen. Eine zukünftige Rechtsanwältin wie mein Dad. Ich will nicht in einen Topf geworfen werden mit dämlichen Tussis, die Fotos von sich in ultraknappen Bikinis an jeden dahergelaufenen Typen verteilen.«
Evan verengte die Augen zu Schlitzen, und ich konnte ihm ansehen, dass ihn meine Tirade gekränkt hatte. »Das ist kein …«
Sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen. »Ich weiß, ich benehme mich echt idiotisch.« Ich ließ die Hände sinken. Wer war ich schon, diese Mädchen zu verurteilen, wenn ich mich doch in die gleiche Situation begeben hatte? Außerdem, eigentlich war er es, der durch die Betten hüpfte, nicht sie. Wenn also mit dem Finger auf jemanden zeigen, dann auf Evan. »Es sind keine dämlichen Tussis. Ich bin sicher, dass sie alle echt nett sind. Und hübsch, wenn man … das bisschen nimmt, das ich hier überhaupt sehen kann. Vielleicht sind ihre Kameras verrutscht und sie haben nur versehentlich Fotos von ihrem Busen gemacht. Woher soll ich das wissen? Wasser kann ziemlich rutschig sein.«
»Nein, ich meine, das ist kein Bikini, das ist ein Foto von ihr im BH.« Er beugte sich vor und tippte auf das Bild, das ich immer noch in der Hand hielt.
Ich ließ das Foto fallen, als hätte ich mich daran verbrannt, und sah zu, wie es zu Boden flatterte – glücklicherweise mit der Vorderseite nach unten. »Jedenfalls, wie ich bereits sagte, wir sollten die letzte Nacht einfach vergessen. Nicht dass ich mich erinnern würde … Ich meine, da war ja nichts.«
Even ballte die Faust vor der nackten Brust und beugte sich vornüber. »Autsch. Und dabei habe ich meine besten Moves für dich ausgepackt.«
Meine Wangen brannten. »Entschuldige, ich wollte dich nicht …«
»War nur Spaß.«
»Oh.«
»Aber du hast recht. Wir sollten das einfach vergessen«, fuhr er fort und deutete erst zum Bett, dann zu mir. »Was auch immer das war, es ist nie passiert. Wir kennen einander nicht einmal. Hey, soll ich dich nach Hause fahren?«
Er machte einen Schritt auf die Tür zu, doch ich schubste ihn wieder zurück. »Nein, ich brauche niemanden, der mich fährt! Welchen Teil von das ist nicht passiert hast du nicht verstanden? Es wird keine Heimfahrten geben und auch keine Gespräche, nicht einmal ein Blick zwischen uns in Zukunft. Kapiert?«
»Aber was, wenn ich dir deine Unterwäsche zurückgeben muss oder so was?«
»Du hast nicht meine …« Meine Hände senkten sich zu meinen Hüften, und beinahe hätte ich es vor ihm überprüft. »Ha, ha, sehr witzig.«
Seine Mundwinkel verzogen sich wieder zu einem Grinsen. »Ich tu mein Bestes.«
»Tja, ab sofort wird weder meine Unterwäsche noch irgendeine andere Form von Unterbekleidung mehr erwähnt, kein Wort zu niemandem.« Ich streckte die Hand aus. »Abgemacht?«
Spielte meine Einbildung mir einen Streich, oder hatte er gerade den Blick gesenkt, um mich abzuchecken? Seine Augen blickten sofort wieder in meine, deswegen konnte ich es nicht mit Sicherheit sagen. Dennoch zupfte ich die dünnen Träger meines Tanktops zurecht und schlang den Arm um meinen Minibusen. Ich nickte zu meiner ausgestreckten Hand. »Abgemacht?«, wiederholte ich, diesmal lauter.
Seine Hand ergriff meine und ließ sie im Vergleich winzig erscheinen. Sein Daumen strich über meine Knöchel und sandte warme Schauer über meinen Rücken. Ich zwang mich, still zu stehen und fest in sein Gesicht zu blicken, wobei ich mir beinahe den Nacken verrenkte.
»Abgemacht.«