Über dieses Buch:
Eine unheilvolle Stille liegt über der Stadt – das spürt die junge Lehrerin Geri Simpson an diesem Morgen sofort. Und dann hört sie die ersten Gerüchte: Ihr Schüler Ryan Connelly ist spurlos verschwunden; ausgerechnet er, der Vorzeige-Junge, von allen vergöttert. Wenige Tage später findet man ihn – in einem alten Lagerhaus, fast vollständig zu Asche verbrannt. War es ein Unfall … oder Mord? Niemand kann sich vorstellen, wer so eine schreckliche Tat begangen haben soll, doch Geri beschleicht bald der Verdacht, dass weitere Schüler in Gefahr sind. Je mehr Fragen sie stellt, je öfter sie an die Türen der perfekten Vorstadthäuser klopft, desto mehr begreift sie, was diese Stadt im Innersten wirklich zusammenhält: ein dunkles, waberndes Netz aus Lügen, Gier und Machtmissbrauch …
»Ein höchst spannender Psychothriller um die großen Fragen nach Verantwortung, Schuld und Sühne – ganz zweifellos Margaret Murphys bester Roman!« Literary Review
Über die Autorin:
Margaret Murphy ist diplomierte Umweltbiologin und hat mehrere Jahre als Biologielehrerin in Lancashire und Liverpool gearbeitet. Ihr erster Roman »Der sanfte Schlaf des Todes« wurde von der Kritik begeistert aufgenommen und mit dem First Blood Award als bester Debüt-Krimi ausgezeichnet. Seitdem hat sie zahlreiche weitere psychologische Spannungsromane und Thriller veröffentlicht, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt sie auf der Halbinsel Wirral im Nordwesten Englands.
Die Website der Autorin: www.margaret-murphy.co.uk/
Margaret Murphy veröffentlichte bei dotbooks auch ihre Spannungsromane:
»Das stumme Kind«
»Der sanfte Schlaf des Todes«
»Die Stille der Angst«
Außerdem ist bei dotbooks ihre Thriller-Reihe um die Anwältin Clara Pascal erschienen:
»Warte, bis es dunkel wird – Band 1«
»Der Tod kennt kein Vergessen – Band 2«
Sowie ihre Reihe um die Liverpool Police Station:
»Wer für das Böse lebt – Band 1«
»Wer kein Erbarmen kennt – Band 2«
»Wer Rache sucht – Band 3«
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eBook-Neuausgabe Februar 2022
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Originaltitel » Dying Embers« bei Macmillan, an imprint of Macmillan Publishers Ltd, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Wer mit dem Feuer spielt« bei Goldmann.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2000 by Margaret Murphy
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Anna Moskvina
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-958-4
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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
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Margaret Murphy
Im Schatten der Schuld
Roman
Aus dem Englischen von Christine Heinzius
dotbooks.
Für Sue Mortimer: Freundin und Mentorin
Montagmorgen. Der Lärm hatte bereits angefangen. Alle tauschten den Tratsch des Wochenendes aus. Wer was mit wem gehabt hatte, wer gepunktet hatte – bei Mädchen, Drogen, beim Fußball, es war egal, alles war interessant. Die breiten Flure der St.-Michael-Schule waren schon voller Kinder und das gebohnerte Linoleum war übersät mit Sportbeuteln, Kunstmappen und rechteckigen Weidekörben.
Geri verzog das Gesicht. Sie fühlte sich betrogen, weil sie die heiteren, ruhigen zwanzig Minuten verpasst hatte, bevor aus den nach und nach eintreffenden einzelnen Kindern eine Invasion wurde.
»Miss … Miss Simpson!«
Geri seufzte und sah auf ihre Uhr. Sie musste vor der Anwesenheitskontrolle noch einen Elternteil anrufen, und sie kam sowieso schon zur Besprechung im Lehrerzimmer zu spät. »Ja, Dean?«
»Miss«, sagte Dean, »darf ich in die Klasse gehen?« Sie sah zu ihm hinunter. Er sah aus, als ob er erst vor fünf Minuten aus dem Bett gefallen wäre. Klein, dünn, mit mausfarbenem Haar, das nie glatt auf seinem Kopf lag, war Dean seinem Bruder Ryan so unähnlich, wie zwei Brüder nur sein konnten. Als ihm bewusst wurde, dass sie ihn genau musterte, versuchte er, sein Hemd in die Hose zu stecken und er fuhr sogar mit seinen Fingern durchs Haar.
»Warum möchtest du ins Klassenzimmer?«
»Um meine Hausaufgaben zu Ende zu machen.« Er murmelte es stirnrunzelnd.
Geri bekam einen Stoß von einem Turnbeutel, der auf Schulterhöhe getragen wurde. Sie zog ihn mit dem Daumen am Riemen herunter. Der Junge, der ihn trug, drehte sich schimpfend um, dann entschuldigte er sich, als er sie sah.
»Geh mit gutem Beispiel voran, o.k.?«
»Miss.« Er ging weiter den Flur entlang und schwang auf halbem Weg den Beutel wieder gedankenlos auf seine Schulter. Sie schüttelte den Kopf und entschied, dass es den Ärger, ihn zurückzurufen nicht wert sei, außerdem kam sie jetzt schon sehr spät. Sie wandte sich wieder Dean zu. »Du hattest das ganze Wochenende, um deine Hausaufgaben zu machen.« Er biss sich auf die Lippe. »Hausaufgaben sind etwas, das man zu Hause macht.«
Sein zuerst verlegener Gesichtsausdruck wurde ärgerlich. Sie hatte keine Zeit, Erklärungen über Gesundheit und Sicherheit abzugeben, über den Sinn von Hausaufgaben, über die Allgemeingültigkeit von Regeln – also sagte sie zu Dean, dass sie ihn bei der Anwesenheitskontrolle sehen würde, und er stapfte murrend davon.
Geri ging weiter in Richtung Lehrerzimmer, sie beeilte sich, schob sich durch Gruppen von herumstehenden Mädchen und ermahnte Jungs, die mit den Händen in den Hosentaschen den Gang entlangschlurften. Manchmal genügte ein Blick, bei anderen war ein direkter Verweis notwendig, der Klang ihrer Stimme blieb leise, aber bestimmt, damit er überhaupt Wirkung zeigte über dem Geplapper so vieler Stimmen. Trotz ihrer kleinen Statur und ihrer zierlichen Figur hatten die Kinder Respekt vor Miss Simpson. Neue Schüler hielten sie manchmal für eine Oberklässlerin, aber den Fehler machten sie nur einmal. Geri betrat leise das Zimmer und schloss die Tür gegen den Lärm, der jetzt fast seinen Höhepunkt erreicht hatte. Die Besprechung hatte bereits begonnen. Sie sah Coral Jackson sofort; das Gold, Grün und Rot ihres Wollkleides schienen auf ihrer warmen, dunklen Haut zu leuchten. Ihre Haare waren frisch geflochten, sie stand aufrecht und aufmerksam vor den Schrankfächern der Lehrer. Geri fand einen Platz neben ihr, und ihre eigene Kleiderwahl, grauer Rock und brauner Pullover, erschien ihr jetzt langweilig und ohne Schick.
»Die Kinder sollten gut auf Sergeant Beresfords Besuch vorbereitet werden … besonders vor dem Hintergrund der Vorfälle vom letzten Freitag. Die Klassenlehrer der achten Jahrgangsstufe machen sich bitte eine Notiz.« Geri hatte noch keine ruhige Woche mit der achten Klasse gehabt. 13- und 14-Jährige galten traditionell als die schwierigsten. »Von heute an ist Tipp-Ex verboten«, fuhr der Direktor fort. »Beschlagnahmte Fläschchen bitte ins Schulsekretariat.« Er sah auf seine Notizen. »Die sechsten Klassen sind diese Woche die Ersten beim Mittagessen …«
Geri flüsterte Coral zu: »Wann soll er kommen?« Sergeant Vince Beresford war kurz nach seiner Versetzung aus London zum Drogenverbindungsbeamten ernannt worden, seine Besuche waren fester Bestandteil des Sozialkundeunterrichts. Er wurde seit zwei Wochen erwartet, und sein Besuch war zweimal verschoben worden.
»Fünfte und sechste Stunde« flüsterte Coral. »Die Frage ist, wer berät wen?« Geri hob fragend und mit einem Augenzwinkern die Augenbrauen. »Das Tipp-Ex-Verbot? Die Jungs aus der 8G wurden am Freitag in der Mittagspause beim Schnüffeln erwischt.«
»Kein Wunder, dass sie kurz vorm Einschlafen waren«, sagte Geri. Coral stieß sie an und deutete in Richtung des Direktors. Mr. Ratchford war mit der Liste seiner Notizen fertig.
»Halbjahreszeugnisse. Sind am Mittwoch fällig.«
Geri stöhnte. Alan Morgan ging vorbei und murmelte: »Hier ein bisschen, da ein bisschen …«
Geri schrieb sich auf, wann der Drogenverbindungsbeamte erwartet wurde. Sie musste noch ein paar Kollegen erwischen, bevor sie zur Anwesenheitskontrolle gingen – am Freitag waren ein paar Mitteilungen für ihre Klasse gekommen: Schwierigkeiten zu Hause, Bitten, beim Aufschreiben der Hausaufgaben behilflich zu sein, und ein Mädchen dazu zu bringen, ihre neue Brille zu tragen. Auf ihrem Weg aus dem Lehrerzimmer sah sie auf das schwarze Brett. Sie war für eine Vertretung eingetragen. Amy Wilcox – mal wieder. Coral Jackson blickte über ihre Schulter auf die Vertretungsliste. Sie war einen guten Kopf größer als Geri. »Wie war das Wochenende?«
Statt einer Antwort warf Geri ihr nur einen kurzen Blick zu.
»Nick?«, fragte sie. »Mehr brauchst du nicht zu sagen.« Coral war im ersten Jahr Geris Mentorin gewesen und hatte die Gewohnheit, sich um sie zu kümmern, nie ganz abgelegt. Sie folgte Geri aus dem Lehrerzimmer, passte ihre eigenen, weit ausholenden Schritte an die schnellen, zielgerichteten der kleineren Frau an. Sie unterdrückte ihren Wunsch, ihr weitere Fragen zu stellen, die ihre Freundin aber bloß aufregen würden. An der Stelle, an der der Hauptkorridor nach rechts und links abbog, sagte sie: »Hier muss ich runter – und glaube mir, ich meine, runter. Amy Wilcox’ Klassentagebuch«, fügte sie hinzu. Coral war die seelsorgerische Tutorin der achten Klassen und sprang bei der Anwesenheitskontrolle ein, falls einer aus ihrer Gruppe fehlte. Sie zuckte mit den Schultern. »So bleibe ich auf dem Laufenden, was die kleinen Lieblinge vorhaben.« Sie drehte sich um und ging; auf die Welle der ankommenden Kinder traf sie wie eine große schwarze Galionsfigur.
Es klingelte. Geri würde die Zusammenkunft zur Anwesenheitskontrolle überspringen müssen und stattdessen diesen Telefonanruf machen: Mrs. Davies arbeitete in einer Schicht von 10 bis 14 Uhr als Putzfrau im Krankenhaus und stand abends im Firkin and Trotter hinter der Theke. Ihr Sohn Jay gab Anlass zur Sorge: keine Hausaufgaben, unaufmerksam im Unterricht, in der Kunststunde war er sogar eingeschlafen. Das Lob in seinem Halbjahreszeugnis würde wahrscheinlich nicht gerade überschwänglich ausfallen. Geri schloss ihr Klassenzimmer auf. Sie freute sich immer noch, wenn ihr Blick auf die neuen, glänzenden Doppelbänke fiel, die der Elternbeirat bezahlt hatte. Die ersten zwei Jahre ihrer Anstellung hatte sie sich mit vollgekritzelten Tischen zufrieden geben müssen, auf denen die Resopalschicht abgesplittert und die Spanplatte verführerisch offen gelegt war. Sie rief die Schülernamen auf, während Übungshefte von rechts und links zur Mitte und nach vorne zu den Sammelstapeln geschoben wurden: orange für Erdkunde, grün für Naturwissenschaft, rot für Mathematik. Wertvolle Lehrbücher waren für die Physikhausaufgaben mit nach Hause gegeben worden, und einer der Klassenordner hakte sie auf einer Liste ab. Ihre eigene Arbeit begann, als sie die Klassenmitteilungen verlas, sie bat die Kinder darauf zu achten, dass der Religionsunterricht heute in der Aula stattfinden würde. Gleichzeitig überflog sie die Liste, um festzustellen, wer durch soziale Verpflichtungen von seinen akademischen Verpflichtungen abgehalten worden war. Sie hatte bemerkt, dass Dean am Ende des Raumes schmollte, aber sie wollte erst mit allen Mitteilungen durch sein, bevor sie mit dem Unterricht begann. Irgendjemand warf ein Buch von hinten. Es schlitterte knapp über den Erdkundestapel und landete auf dem Boden.
»Ihr sollt nicht werfen!«, donnerte Geri.
»Tun Sie aber auch, Miss.«
»Ich werfe aber nicht daneben. Deshalb darf ich das und ihr nicht.«
Der Schuldige lachte. »Das war gut, Miss. Sie sollten ins Fernsehen.« Geri starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an und wartete auf die Pointe. »Zusammen mit dem Gipspudel meiner Mum.« Noch mehr lachten, und Geri erlaubte sich ein Lächeln.
Sie kontrollierte die Listen bevor sie die Klassenordner bat, die Hausaufgaben mitzunehmen. Dean kam nach der Anwesenheitskontrolle bis zur Tür, ehe sie ihn sah und zurückrief. Er sah erschöpft aus, fast krank vor Müdigkeit. »Du hast gar keine Aufgaben abgegeben?« Eine indirekte Frage brachte oft eine weniger aggressive Antwort.
Er zuckte mit den Schultern. »Meine Mum ruft noch an.« Sie sah ihn nachdenklich an. In der Stimmung, in der er jetzt war, würde sie nichts aus ihm herausbekommen. Sie würde es bei der Anwesenheitskontrolle am Nachmittag noch mal versuchen. »In Ordnung. Aber ich möchte, dass du zu allen betroffenen Lehrkräften gehst und dich entschuldigst, o.k.?« Noch ein Achselzucken. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. »In Ordnung, Dean«, sagte sie ruhig und fasste ihn leicht an die Schulter. Er erstarrte, und einen Augenblick lang dachte sie, er würde in Tränen ausbrechen, dann drehte er sich um und rannte fast aus dem Klassenzimmer, den Flur hinunter.
Die »Draculas« trafen sich in der engen Küche, neben der Cafeteria: fünf große, leicht zerzauste Jungs, die lange graugrüne Wollmäntel trugen, die ihnen fast bis an die Füße reichten, und ein dünnes, kränklich aussehendes Mädchen. Sie trug ein langes schwarzes Strickkleid über Schnürstiefeln. Alle in der Gruppe hatten dasselbe vampirartige, anämische Aussehen, das ihnen ihren Spitznamen eingebracht hatte. Baz rief sie zur Ordnung, und sie rückten näher zusammen.
»Also, wo ist er?«
Einer nach dem anderen zuckte mit den Achseln. Siân sah in ihre Gesichter. Ryan war ihr Freund, und seit er am Sonntagabend nicht angerufen hatte, hatte sich die Angst in ihrem Bauch ausgebreitet, bis ihr übel wurde. »Wer hat ihn zuletzt gesehen?«
Die Jungs traten auf der Stelle, und sie spürte, dass sie Baz nicht anschauen wollten. »John? Frankie?«
»War er nicht mit dir im Bus, Baz?« Frank sagte das, nachdem er sich geräuspert hatte, damit seine Stimme nicht zu sehr bebte. Er sah nicht auf, aber er fühlte Baz’ Augen auf sich. Baz antwortete nicht sofort. Er wartete, bis Frank sichtlich schwitzte, dann sagte er: »Er ist in der Derby Street ausgestiegen. Er hat gesagt, er wollte nach Hause.« Er hatte die Angewohnheit leise zu sprechen, damit man ihn ansehen musste, um die Worte zu verstehen und wenn man ihn ansah … Nun, niemand kam Baz in die Quere. Manche meinten, das war so, weil er hart und in den unteren Klassen als Schläger berüchtigt war, er hatte sogar eine Narbe an seinem Kinn als Beweis. Aber es war vor allem dieser Blick. Er war nicht verrückt oder wild oder so was – er war kalt, ein bisschen distanziert, als ob Baz einen sehen, wirklich sehen und sich nicht bloß vorstellen würde, dass einem etwas Schlimmes passiert war, und als ob er das Schauspiel genießen würde. Vielleicht war er in der Lage, dieses Schlimme auch zu tun – vielleicht nicht, aber nur wenige Leute versuchten ernsthaft, es herauszufinden.
»Wann?«, fragte Siân. Baz starrte weiter Frank an, und Siân wiederholte ihre Frage drängender. »Wann, Baz? Um welche Uhrzeit?«
»Zeit ist relativ«, sagte Baz, ohne den Blick von Frank zu nehmen.
»Scheiße!« Siân griff nach seinem Ärmel und riss ihn so herum, dass er sie anschauen musste. »Ryan ist verschwunden, Baz. Weißt du, wo er ist?«
Baz kniff die Augen zusammen. Diese Art von Gefühlsausbruch schadete seinem coolen Image. Er sah Siân mit konzentrierter Aufmerksamkeit an.
»O Gott«, murmelte sie, »hast du ihm was gegeben? Hast du, Baz?«
Er legte seine Hand auf ihre und schob sie von seinem Arm, dann drückte er sie immer fester, bis Siân sich unter dem Druck wand. »Schrei nicht so, verdammt noch mal«, flüsterte er.
»Hast du ihm was ins Glas getan, Baz?«, fuhr sie fort, denn ihre Angst vor dem, was Baz tun könnte, war noch nicht größer als vor dem, was mit Ryan passiert sein könnte. »Weißt du, wie kalt es gestern war? Er könnte irgendwo liegen und erfrieren, Scheiße!«
Barry war schnell. Siân wich zurück, aber er hielt sie fest. Er verlangsamte die Bewegung seiner freien Hand von einem drohenden Hieb zu einem einzelnen, erhobenen Finger. Er legte ihn so nah an ihr Auge, dass ihre Wimpern ihn beim Blinzeln berührten. Er lächelte, aber seine Augen waren kalt und hart. Er legte den Finger auf seinen Mund.
Frank kam näher, riskierte einen Blick in Baz’ Gesicht und schüttelte den Kopf. Baz ließ Siâns Hand los und sagte, immer noch in diesem ruhigen, vernünftigen Tonfall, der einem Schauer über den Rücken jagen konnte: »Es ging ihm gut, als ich von ihm wegging. Er war nur ein bisschen high.«
»Ich dachte, du hast gesagt, er wäre von dir weggegangen.«
Baz betrachtete Siân nachdenklich. Seine Augenlider flatterten etwas. »Wie auch immer«, sagte er.
Nach der großen Pause wurde Dean krank nach Hause geschickt, Geri hatte also keine Möglichkeit, mit ihm zu sprechen. Sie saß in der Klasse während Sergeant Beresfords Vortrag; er kam mit der achten Klasse gut klar und schaffte es zu informieren, ohne schulmeisterlich zu erscheinen. Seit er die Stelle als Verbindungsbeamter angenommen hatte, war er sogar schon im Jugendclub der Schule aufgetaucht. Er war vom Thames-Valley nach Norden gekommen, zum Sergeant befördert worden, er war wieder in Uniform nach seiner Zeit als Detective Commissioner im Kriminaldienst.
Als die Kinder am Ende der Stunde aus dem Klassenzimmer gingen, blieb Geri stehen, um mit dem Polizisten zu sprechen. »Tut mir Leid, Vince, ich habe keine Zeit«, sagte sie, »elfte Klasse. Sachkunde.«
»Ich muss mit dir sprechen.« Vince blickte sich um, schaute auf die Menge der Jungen und Mädchen. »Vielleicht nach der Arbeit?« Zwei Mädchen sahen sich an und lachten los.
»Ihr habt eine schmutzige Fantasie, ihr zwei«, sagte Geri und die Mädchen gingen kichernd und mit rotem Gesicht weg. In Wirklichkeit schwärmten sie für Sergeant Beresford, wie die Mehrheit der Mädchen in der achten Klasse. Katholische Schule hin oder her, die Hormone bestimmten die Köpfe, Herzen und Gefühle der dreizehn- und vierzehnjährigen Mädchen. Geri nahm es ihnen nicht übel: Ihr gefiel der Sergeant selbst, mit seinem dicken, dunkelbraunen Haar und den graublauen Augen. »Ich ruf dich an, wenn ich nach Hause komme«, fügte sie hinzu, überrascht, dass Vince von der Aufmerksamkeit der Mädchen peinlich berührt schien.
Die elfte Klasse war voller Unruhe als sie ankam. Die Kinder schienen gereizt und unfreundlich, sie wollten die Stunde schnell hinter sich bringen und aus der Schule raus.
Ryans Platz war leer. Ryan fehlte nie und er schwänzte nicht, nicht einmal Sachkunde. »Wo ist Ryan?«, fragte sie.
»Er ist tot.« Es war eine typische Antwort, es ging bei den Jungs als Witz durch und brachte sie manchmal sogar zum Lachen, aber dieses Mal erntete der Witzereißer nur ein paar giftige Blicke vom Rest der Gruppe.
»Vielleicht hat er einen Kater«, schlug Baz vor.
Geri starrte ihn an. Sie fragte sich oft, was die anderen in ihm sahen; nicht größer als der Durchschnitt, mit schmutzigbraunen Augen und einer leicht aknenarbigen Haut, er war in nichts besonders gut, soweit sie wusste, aber sie schienen zu ihm aufzusehen wie zu einem Führer. »Es ist mitten am Nachmittag, Barry«, sagte sie. »Weiß irgendjemand, wo Ryan ist, Siân?« Siân sprang auf und warf dabei ihren Stuhl um. »Fragen Sie sie!«, schrie sie und kämpfte gegen die Tränen. »Fragen Sie sie!« Sie rannte hinaus, und Geri drehte sich um, um den Rest der Klasse anzusehen.
»Also?«, sagte sie und schaute Baz Mandel an.
»Also was?«, erwiderte er abwehrend. »Warum fragen Sie mich?« Sie wartete. »Woher soll ich das wissen? Wir sind Kumpel, kein Pärchen!«
Das brachte die anderen zum Lachen, dann kommentierte eines der Mädchen. »Vielleicht verschimmelt er in einem dunklen Keller.«
Geri ignorierte den Spruch. »Also, niemand weiß, was mit ihm los ist.« Der Witzereißer hinten in der Klasse sah aus, als ob er gleich mit einer Liste kommen würde, aber Geri brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Ein paar, die nicht zu Baz’ magischem Kreis gehörten, sahen verwirrt aus, aber der Rest wich ihrem Blick aus. Sie dachte noch einmal an Dean, der nach der Pause heimgeschickt worden war; vielleicht grassierte ein Virus in der Familie, und das war alles. Dann fiel ihr Blick zufällig noch einmal auf Barry. Er saß ganz hinten, außerhalb des Blickfelds der meisten in der Klasse, aber seine Augen bewegten sich von einem zum anderen, blieben einen Moment an ihren Hinterköpfen haften. Obwohl sie es als Fantasie abtat, hätte sie schwören können, dass jeder Einzelne sich unter Barrys Beobachtung anspannte.
Vince Beresford erwischte Detective Sergeant Garvey am Getränkeautomaten. Als er von St. Michael’s zurückgekommen war, musste er feststellen, dass Garvey eine seiner Beamtinnen ohne Absprache zu einer Razzia mitgenommen hatte, die nicht durchdacht war und für die es nicht genügend Deckung gab. Er kam gerade von einem Gespräch mit der betroffenen Beamtin und hatte sie nach Hause schicken müssen.
»Das nächste Mal, wenn du Beamte aus meinem Team brauchst, um für dich die Drecksarbeit zu machen, frag mich vorher«, sagte er.
Garvey nahm seine Limodose aus dem Automaten und drehte sich zu Vince um. Sein Gesicht war ebenso rot wie seine Lippen, was ihm ein reptilienhaftes Aussehen verlieh.
»Was ist los, Beresford, hast du Angst, sie wären nicht gut genug für den Job?«
»Ich weiß, dass sie das sind«, sagte Vince. »Du bist es, der mir Sorgen macht!«
Garvey machte den Mund auf, um ihn anzumachen, aber Vince ließ ihm keine Chance. »Ich habe bei der Kripo gearbeitet, Garvey. Ich kenne die Typen. Du bist der schlampige Typ. Der Typ, der sich aus allem Schmutzigen, Anstrengendem oder Gefährlichem heraushält – normalerweise, indem er einen armen Trottel die Arbeit für sich machen lässt.«
»Sie war froh, die Chance zu bekommen, einmal richtige Polizeiarbeit zu leisten«, sagte Garvey, während er sich im Geiste eine Notiz von der Information machte, dass Vince nicht immer ein Streifenpolizist gewesen war.
»Sie ist unerfahren«, sagte Vince, etwas leiser, weil ein paar Polizisten vorbeigingen. »Sie fühlte sich unter Druck gesetzt, deinem hirnlosen Plan zuzustimmen.«
»Sagt sie das?«
»Das braucht sie nicht.«
»Komm schon, Vince«, grinste Garvey »Sie hat die Nerven verloren. Sie hätten ihr nichts getan.«
»Das weißt du also?«
Garvey lächelte und öffnete die Dose. Vince brauchte seine ganze Selbstkontrolle, um sie ihm nicht in den Hals zu rammen, als Garvey gierig trank. Er beugte sich näher über ihn.
»Sie war umzingelt«, sagte er, seine Stimme war ein wütendes Zischen. »Gefangen mit vier Kriminellen in einem Keller, einer von ihnen mit einem Messer.«
Garvey hasste das. Die Art wie Beresford Sachen sagte wie ›einer von ihnen‹. Er widerstand der Versuchung seinen Cockneyakzent nachzuahmen und sagte: »Ja, o.k., wir werden es nie wissen, weil sie anfing, wie wild zu schreien und die ganze Aktion ruinierte.«
»Sie fühlte sich bedroht.«
»Wir haben Stanfield verloren, weil sie sich bedroht fühlte. Er ist untergetaucht, und die LKW-Ladung Alkohol, die er gestohlen hatte, könnte inzwischen überall sein.«
»Das ist nicht mein Problem. Du hast eine unerfahrene Beamtin undercover eingesetzt, ohne ausreichende Vorbereitung und mit ungenügender Deckung.«
Das klang offiziell. Garvey sah Vince direkt an. »Das schreibst du in deinem Bericht, oder?« Das Grinsen in seinem Gesicht konnte seine Angst kaum verbergen.
Vince erwiderte den Blick mit kalter Verachtung. »Das ist nicht einmal die Hälfte davon«, sagte er.
Es war kalt. Kalt genug, dass sich bereits Eis auf dem trüben Wasser im Rinnstein und in den tiefen Rissen der Pflastersteine gebildet hatte. Geri vergrub ihre freie Hand tief in der Manteltasche, mit der anderen trug sie frierend ihre Schultasche. Sie hatte ihre Handschuhe zu Hause vergessen, als sie sich beeilt hatte von Nick wegzukommen.
Sie hätte auf den Bus warten können, aber das Letzte, was sie nach einem Schultag tun wollte, war, auf Kinder aufzupassen – und sie wusste, dass sie flegelhaftes Verhalten von Schülern der St.-Michaels-Schule auch außerhalb der Unterrichtsstunden nicht ignorieren konnte.
Der Verkehr würde sowieso stärker werden, es war bald Rushhour, und der Winterschlussverkauf war auch noch nicht vorbei, was die Straßen noch mehr verstopfen würde. Also würde zu Fuß schneller sein.
Geri wohnte eine halbe Meile vom Zentrum entfernt, im Westen der Stadt, und die Geschäfte und Büros dienten als eine Art Puffer zwischen ihrem Zuhause und der Schule. Wenn sie an den zwei Türmen der North-West-Versicherung vorbei war, hatte sie das Gefühl, dass der Schultag zu Ende war.
Als ihre Familie in den Norden gezogen war, kurz nach ihrem zehnten Geburtstag, hatte sie sich zuerst von den engen Straßen mit roten Backsteinreihenhäusern und den imposanten viktorianischen Gebäuden eingeengt gefühlt. Heute hatten die Massivität der Häuser, die Sandsteinfassaden des Museums und der Kunstgalerie sowie die liebevoll geplanten und gepflegten Gärten und Parks, die selbst im zugebautesten Teil der Stadt zu Fuß zu erreichen waren, in ihren Augen etwas Beruhigendes. Das war mehr ihr Zuhause als es irgendeines der schönen Vororthäuser, die ihre Eltern für kurze Zeit gemietet hatten je gewesen war. Das war der Ort, an dem sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben wohl fühlte. Ihr Vater war Handelsvertreter gewesen, für alles, von der Doppelverglasung bis zu Grußkarten, und wenn er eine Stelle verlor, was wegen seines Trinkens immer wieder passierte, zogen sie zur nächsten. Während ihrer ersten neun Jahre hatte Geri am Rand von nicht weniger als acht Städten und Großstädten gewohnt, von den Midlands bis in den Norden Englands.
Sie ging schnell, versuchte warm zu bleiben, und jetzt, da die Ablenkungen und die Verantwortung des Schultages vorüber waren, konnte sie nicht länger verdrängen, was am Morgen passiert war.
Es hatte gut angefangen. Nick hatte sich angeboten, aufzustehen und mit ihr zu frühstücken. Als sie aus der Dusche und in die Küche getappt kam, hatte Nick bereits die Jalousien geöffnet, und silbriger Wintersonnenschein glänzte auf den Stahltöpfen, die neben dem Herd an einer Schiene hingen. Sein kurzer Frotteebademantel zeigte ein verführerisches Stück Oberschenkel. All das Metall zu stemmen hatte auf jeden Fall seine Muskeln sehr schmeichelhaft aufgebaut.
Sein dunkles Haar war zerzaust, sein Kinn frisch rasiert, sodass sie ihn fast in Verdacht hatte, eine Art dramatischen Moment inszenieren zu wollen. Nick tat das manchmal, normalerweise nach einem ihrer etwas größeren Streits. Aber auch wenn sie am Samstagabend wieder einen routinemäßigen Ausbruch an Kabbeleien gehabt hatten, war dies nichts Heftiges oder Verbittertes gewesen, sodass sie keinen Grund für diesen plötzlichen Anfall von anscheinend ziellosem Charme erkennen konnte.
Nick war absolut gut gelaunt, schüttete Müsli in die Schalen, kochte Kaffee und toastete Brot, als ob er so etwas jeden Tag tun würde.
Geri fragte ihn nach seinen Plänen, er hatte den Tag frei und er erzählte ihr, dass er an seinem Motorrad basteln wolle. Nick hatte in einer Gartenbau-Forschungsanstalt Arbeit gefunden, nach drei Jahren mit befristeten Verträgen in unqualifizierten, und schlecht bezahlten Stellen. Erst nach einer unangenehm langen Pause fragte er sie nach ihrem Zeitplan; er wusste, dass es gute und schlechte Tage gab, aber er konnte sich nie erinnern, welcher wie war.
»Nicht schlecht«, sagte sie, »Doppelstunde in der Achten, fünfte und sechste, aber ich habe zwei Freistunden heute Morgen und die elfte Klasse in den letzten zwei Stunden.« Was sie daran erinnerte, dass sie ihnen noch einen Stapel Hausarbeiten zurückgeben musste.
Nick sagte etwas, aber sie unterbrach ihn: »Entschuldige, aber ich muss das hier machen, bevor ich es vergesse.«
Sie lief die Treppe hinauf, um die Arbeiten zu holen, die sie im Bett korrigiert hatte. Als sie zurückkam, stopfte sie sie in ihre Aktentasche, bevor sie eine Scheibe Toast nahm und sich wieder an den Tisch setzte.
»Wie weit bist du mit deinem Motorrad?«, fragte sie.
Die Triumph Bonneville lag seit sechs Monaten in Einzelteilen in einem Holzschuppen neben dem Haus. Zu groß, um Unterstand genannt zu werden, und zu klein für eine Garage, Nick nannte es seine Werkstatt.
Er sah sie an, aber antwortete nicht.
»Nick?«
»Entschuldigung«, sagte er, »hast du mit mir gesprochen?«
Geri spürte ein bekanntes Gefühl von nagendem Unbehagen aufsteigen. In seinem Grinsen lag dieser bockige Ausdruck, der meist einem seiner unangenehmeren Ausbrüche vorausging. »Nick, was ist mit dir los?« Zuerst antwortete er nicht, aber sie konnte sehen, dass er sich auf eine Antwort vorbereitete.
»Nick?«, wiederholte sie.
»Ich bin mitten in einem verdammten Satz, und sie springt einfach auf und geht raus«, sagte er zu einer unsichtbaren dritten Person.
»Ich mache mich für die Arbeit fertig, ich kann nicht unvorbereitet hingehen.«
»Trotzdem«, fuhr er fort, ohne ihre Erklärung zur Kenntnis zu nehmen, »was könnte ich überhaupt sagen, das für dich scheißinteressant oder wichtig wäre?«
»Warum musst du das tun?«, fragte sie. »Warum musst du ausgerechnet jetzt einen Streit anfangen, wo ich so gut wie aus der Tür bin?«
»Ich hab nicht angefangen, das warst du.«
Sie hob ihre Hände. »Nein«, sagte sie. »Nein, ich lasse mich darauf nicht ein.« Sie nahm ihre Aktentasche und ging zum Flur. Nick kam hinter ihr her.
»Sollte ich einen Termin absprechen, oder was? Wann hättest du denn diese Woche Zeit, mit deinen Elternabenden und deinem Jugendclub und deinen ständigen, verfluchten Theaterproben?« Seine dunklen Augen funkelten zornig.
Geri nahm ihren Mantel von der Garderobe und spürte etwas zupacken und ziehen.
»Es ist mein Beruf, Nick, mit ihm bezahlen wir die Hypothek.«
»Genau, wirf mir das vor. Vielleicht sollten wir es offiziell machen, du könntest ein kleines blaues Mietbuch für mich machen, wie Laurens!«
»Ich wollte nicht – ich habe nicht gemeint …« Er schaffte es immer, es so hinzubiegen, dass es aussah, als ob sie die Zicke wäre.
»Ach ja? Was hast du dann gemeint?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mit dir reden, wenn du so bist. Du hörst nicht zu. Du verdrehst alles, was ich sage.«
»O.k.« Er verschränkte die Arme. »Los, ich höre zu.«
»Ich hab keine Zeit, Nick!«
»Das ist das Problem«, sagte er und folgte ihr brüllend bis zur Tür. »Du hast verdammt noch mal nie Zeit!«
Geri hörte die Tür hinter sich zuschlagen. »Scheiße«, murmelte sie. »Scheiße, Nick.« Als sie merkte, dass sie ihre Autoschlüssel nicht von der Flurgarderobe mitgenommen hatte, beschloss sie zu Fuß zu gehen. Es war nicht viel mehr als eine Meile bis zur Schule, und das Laufen würde vielleicht ihre Stimmung heben. Sie hatte den ganzen Tag nicht an Nick gedacht, aber jetzt, als sie auf ihrem Weg nach Hause, über den glitzernden Bürgersteig schlitterte, kam all der Ärger und die Frustration, die sie morgens gefühlt hatte, wieder.
»Miss, Miss Simpson, hallo!«
Geri drehte sich um, immer noch mit einem finsteren Blick, und sah ein Mädchen in einer langen grünen Regenjacke und einer Trainingshose. Ihr helles Haar hing offen über ihren Schultern, und sie hatte einen Wollhut tief in die Stirn gezogen. Sie lächelte schüchtern.
Es dauerte einen Augenblick, bis ihr der Name einfiel. »Adèle!«, rief Geri aus. »Entschuldigung, ich war …« Adèle hüpfte von einem Fuß auf den anderen, ihr Big Issue-Heft hielt sie fest gegen die Brust gepresst wie einen Kälteschutzschild. »Dir muss kalt sein«, meinte Geri mitfühlend.
»Ich war fast den ganzen Tag in der Bibliothek. Ich dachte, ich verkaufe noch ein paar, bevor ich …« Sie zuckte unsicher die Schultern. Bevor sie einen Platz zum Schlafen suchte, das war es, was sie eigentlich sagen wollte, aber es war nichts, über das sie so einfach sprechen konnte.
»Wie ist das Wohnheim?«, fragte Geri. Das letzte Mal, als sie sie gesehen hatte, hatte Adèle ihr erzählt, dass sie das Wohnheimleben ausprobieren wollte.
Sie sah verlegen aus. »Ich mochte es nicht.«
Geri sah sie einen Augenblick lang an. »Du bist nicht mehr da?«
»Nicht wirklich …« Sie sah aus, als ob sie gleich weinen würde, ihre Zähne klapperten, und ihr Gesicht war fleckig vor Kälte. Es war schon nach fünf, aber obwohl sie noch Arbeit erledigen musste, hatte Geri keine Eile zu Nicks brütendem Schweigen zurückzukehren. Die strafenden Blicke und ungeduldigen Seufzer waren mehr, als sie im Augenblick verkraften konnte.
»Hast du Zeit für einen Kaffee?«
Adèle sah auf die Digitaluhr über dem Bestattungsinstitut – kein sehr subtiler Hinweis darauf, dass keiner weiß, wann ihm die Stunde schlägt, dachte Geri immer …
»In einer Viertelstunde ist der Betrieb vorbei.«
»In Ordnung, ich treffe dich im Café, gib mir eine von denen, o.k.? Dann hab ich was zu tun, während ich warte.« Sie griff in ihre Tasche und zog ihren Geldbeutel hervor. »Die zweite, noch vier übrig«, sagte Adèle und gab ihr eine Zeitschrift.
Adèle kam, als Geri gerade ihren zweiten Kaffee bestellte. Daphna’s lag in einer Seitenstraße voller Weinbars und Restaurants gegenüber dem gedrungenen Viereck der St. Cecilia Kirche. Daphna’s war meistens bis sieben geöffnet und erwischte so noch ein paar der Theaterbesucher, die zwar keine Zeit für ein Restaurant hatten, aber zu hungrig waren, um mit dem Essen bis nach der Vorstellung zu warten.
Geri bestellte noch ein Sandwich und einen großen Milchkaffee für Adèle und kaufte zwei ungeheuer riesige Gebäckstücke dazu.
»Du mochtest das Wohnheim also nicht?«, fragte Geri.
Adèle stierte in ihren Kaffee. »An solchen Orten gibt es ein paar schlechte Leute«, sagte sie düster.
Sie führte das nicht näher aus, aber Geri wusste, was sie meinte. Ein paar der Typen, mit denen Adèle im Wohnheim wahrscheinlich zu tun hatte, waren genau die Männer, wegen denen Geri die Straßenseite wechselte: Betrunkene, Drogenabhängige, die Verrückten und die Fiesen; Raubtiere, die Verletzlichkeit wittern konnten.
»Kann Paul dir keinen Platz in einem reinen Frauenwohnheim besorgen?« Paul war der Manager des örtlichen Big lssue Büros. »Es gibt hier nicht so viele, und ich will nicht aus der Gegend wegziehen.«
»Trotzdem …« Geri biss sich auf die Unterlippe: Adèle war nicht mehr ihre Schülerin, sondern eine junge Frau, die die Erniedrigungen von Drogenabhängigkeit und Obdachlosigkeit durchgemacht hatte. Es gab keine simplen Lösungen für Adèle, keine schnellen Hilfen, aber das hielt Geri nicht davon ab, sich Sorgen zu machen.
Adèle riss ein Stück von ihrem Gebäck ab, während sie überlegte, wie sie es erklären sollte. »Der Unterschied ist, dass du ihnen auf der Straße aus dem Weg gehen kannst und wenn nötig, dich vor ihnen verstecken. Im Wohnheim wissen sie, wo sie dich finden.«
»Sie?«
Sie runzelte plötzlich wütend die Stirn, als ob Geris vorsichtiges Nachhaken nach einer Erklärung sie wieder an einen Ort zurück bringen könnte, an dem sie nicht sein wollte. Sie holte tief Luft und fuhr hastig fort. »Es gibt zwei Sorten von Typen im Heim, o.k.?« Sie legte die eine Hand auf den Tisch, dann die andere, mit den Innenflächen nach oben. »Die, die was kaufen wollen und die, die was verkaufen wollen. Ich brauche solchen Abschaum nicht, der mir Schwierigkeiten macht.« Sie wurde rot, als sie merkte, dass sie lauter geworden war, und nippte an ihrem Kaffee, bevor sie weitersprach. »Ich weiß, ich bin kein Engel, aber ich versuche sauber zu bleiben.«
»Ich weiß«, sagte Geri, »ich weiß, dass du das tust.« Adèle hatte ihr erzählt, dass sie für eine Wohnung sparte. Paul hatte sie in die Liste für eine Sozialwohnung eingetragen. Schon einmal hatte sie es ohne Erfolg versucht, aber sie hatte ihre Drogenabhängigkeit jetzt besser unter Kontrolle und hielt sich von ihren Freunden auf der Straße fern. »Hast du schon was gehört?«
Adèle ließ die Mundwinkel hängen. »Es gibt eine lange Warteliste«, sagte sie. Sie brauchte nicht viel Ermutigung, um über ihre Pläne zu reden. Wenn sie erst einmal eine Wohnung hätte und sie nach ihrem Geschmack eingerichtet haben würde, wollte sie einen Job suchen, vielleicht als Friseurin, dann könnte sie während der Ausbildung was verdienen. Vielleicht würde sie zusätzlich einen Abendschulkurs für Kosmetikerinnen besuchen.
»Du wärst gut«, sagte Geri. »Du siehst gut aus, und du hast ein großartiges Mundwerk.«
Adèle lachte. »Ich hab in Ihrem Unterricht immer Probleme wegen Schwätzens bekommen, oder?«
Geri lachte. »Ich hatte es eigentlich als Kompliment gemeint, du kannst gut mit Leuten umgehen«, fügte sie hinzu. Adèle grinste. »Glauben Sie wirklich, Miss?«
»Geri«, sagte sie und zuckte zusammen, »nenn mich Geri.«
»O.k., Geri.« Adèle kicherte. »Klingt aber, als ob ich frech wäre.«
Ihr Gesicht hatte nach dem Kaffee und dem Essen Farbe bekommen. Geri sah in ihr wieder das Mädchen, das sie vor zwei, vielleicht drei Jahren unterrichtet hatte. »Sag mir nur Bescheid, in welchem Salon«, sagte sie, »dann bin ich deine erste Kundin.«
»Klientin«, korrigierte Adèle sie. »Sie nennen sie heute Klientinnen.«
»Klientin«, wiederholte sie.
»Klingt professioneller.« Adèle fuhr mit dem Finger über einen Kaffeering, den ihre Tasse hinterlassen hatte. »Ja, wenn ich mich nur wieder in den Griff kriege.«
Sie würde Geri gerne einmal von sich erzählen, nicht nur das Gute, das, was sie von der Zukunft erhoffte, sondern auch wie es für sie auf der Straße gewesen war. Es wäre anders als mit den Sozialarbeitern zu reden oder dem Arzt, den Paul ihr besorgt hatte. Das Arschloch behandelte sie, als ob sie eine Art Aussätzige wäre oder ein Idiot. Beides. Sie brauchte es Geri nicht haarklein zu erklären.
Geri hörte so zu, wie Paul es tat. Man hatte das Gefühl, ihm Tatsachen zu erzählen, Dinge, die dir passiert sind, Dinge, die du getan hast. Man musste sich nicht entschuldigen, man musste ihm nicht sagen, dass es einem Leid tat oder dass man sich schämte. Er wusste, wie schwer es nachts auf der Straße war und dass man Dinge tat, auf die man nicht stolz war, aber man konnte sie ihm sagen, sodass er einem den besten Weg weisen konnte.
Sie griff nach Geris Hand und drückte sie. Geri sah überrascht auf. »Bist du in Ordnung?«, fragte Adèle.
»Warum fragst du?«
»Naja, eben sahst du gestresst aus und jetzt …« Sie runzelte die Stirn und versuchte, das Gefühl, das sie gesehen hatte, genau zu beschreiben. »Traurig.« Sie sagte es in einem Tonfall, den Geri als Frage interpretieren konnte.
Geri zog die Augenbrauen hoch. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie so leicht zu durchschauen war. Was sollte sie ihr erzählen? Den ersten Teil, über Nick und seine kindischen Wutanfälle? Es schien so trivial, nachdem sie Adèles Hoffnungen und Träumen zugehört hatte. Oder sollte sie ihr von Ryan erzählen? Was gab es da zu erzählen? Dass ein Siebzehnjähriger nicht zum Unterricht erscheint und sie sich seinetwegen Sorgen machte? Sie lächelte.
»Nichts«, sagte sie. »Ein schlechter Tag.« Aber sie sah Deans Gesicht vor sich, blass und kränklich, Schatten unter den Augen, als ob er nicht geschlafen hätte und den lockeren Spruch, den Aidan als Witz gemeint hatte, als sie nach Ryan gefragt hatte. Er ist tot.
Für ein paar selige Augenblicke saß er in seinem Auto, der Motor lief ruhig, er wärmte sich nach der furchtbaren Kälte in den verfallenden Cottages. Er schloss seine Augen, schwindelig und glücklich. Sie hatten fast den ganzen Tag zusammen verbracht, er und Ryan. Er nannte es gerne so, sie verbrachten Zeit zusammen – was er für Ryan empfand, war nichts Schmutziges. Trotzdem roch er nach Schweiß und Sex. Er musste nach Hause fahren, sich duschen und umziehen, aber das bedeutete, dass er Ryan früher hatte verlassen müssen, als er wollte.
Er ärgerte sich; Ryan war ins Bett gebracht worden, aber er wollte bei ihm sein, ihn wärmen, seinen Körper berühren, ihn küssen, entdecken … Er stöhnte. Er war versucht, den Motor auszumachen und zurückzugehen. Aber er wurde erwartet. Es hatte keinen Sinn, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und nichts konnte ihn davon abhalten, den Jungen zu besuchen, wann immer er das Bedürfnis nach menschlicher Nähe hatte. Nichts konnte ihn davon abhalten, zu tun, was er zum Teufel immer tun wollte.
Es war nach sieben, als Geri in der Gresford Avenue um die Ecke bog und den langsamen Anstieg nach Hause begann. Ein Band aus Frostkristallen glitzerte auf dem Pflaster und leuchtete im Mondlicht auf den Backsteinen der Gartenmauern wie eine feine Spitzenborte.
Nachdem sie Adèle verlassen hatte, hatte Geri den langen Weg nach Hause genommen, an drei Seiten um einen Block herum statt quer durch die Seitenstraßen. Sie spürte ihre Finger nicht mehr und nur, weil er alle paar Schritte gegen ihr Bein schlug, wusste sie, dass sie ihren Geldbeutel noch hatte. Ihr Gesicht war taub, ihre Wangen fühlten sich an wie Marmor.
Ihr wurde klar, dass sie ihr Nachhausegehen verzögert hatte, in der Hoffnung, dass Nick sie vielleicht schon aufgegeben hatte und noch etwas trinken gegangen war. Mit ein bisschen Glück würde sie schon schlafen, wenn er zurückkäme.
Der Bewegungsmelder ging an, als sie zur Vordertür ging. Das Flurlicht war ein sanfter Schein hinter dem Lilienmuster des Tiffanyglases in der Haustür.
Geri atmete tief ein und suchte in ihrer Manteltasche nach den Schlüsseln. »Sei nett«, sagte sie zu sich selbst. »Bleib ruhig.« Sie stellte ihre Aktentasche ab und befahl ihren Fingern, die Türklinke loszulassen und in der anderen Manteltasche zu suchen.
»Mist.« Sie öffnete ihre Aktentasche und durchwühlte sie. Keine Schlüssel. Das Außenlicht ging aus, und ihr blieb nur noch das sanfte Leuchten aus dem Flur, das Wärme versprach.
»Verflucht und zugenäht!« Sie ergab sich in das Unausweichliche, nämlich dass Nick sich über sie lustig machen würde, und klingelte. Der schrille, scheppernde Ton hallte durch das Haus, aber ohne Reaktion; kein Licht durch geöffnete Türen, keine dumpfen Schritte auf der Treppe. Das Haus war leer.
»Verdammte Scheiße!« Sie drehte sich von der Tür weg, dann noch einmal zurück, weil sie dachte, sie hätte etwas gehört, ein Geräusch im Haus. Sie wartete noch einen Augenblick, aber niemand kam. Sie trat fluchend gegen die Tür und ging dann die vorderen Treppenstufen hinunter. Es war zu abscheulich kalt, um in einer solchen Nacht draußen bleiben zu können. Es bestand zwar die Möglichkeit, wieder zurück in die Stadt zu gehen und in einem Restaurant zu essen, aber es gab keine Garantie dafür, dass jemand zu Hause sein würde, wenn sie zurückkam. Die Bibliothek schloss montags um sieben; Lauren würde bald zu Hause sein. Am besten war es wohl, wenn sie auf sie wartete. Und was, wenn Lauren direkt von der Arbeit noch ausgeht? Mist. Geri stand am Ende der Einfahrt und stampfte mit dem Fuß auf. Sie sah die Straße hinauf und hinunter und hielt Ausschau nach Rettung. Vielleicht wartete sie doch lieber.
Geri hatte das Haus nach dem Tod ihrer Mutter vor fünf Jahren geerbt. Mit neunzehn stand sie allein in der Welt, unfähig, die letzten Bande zu ihrer Vergangenheit zu verkaufen und so zu verlieren, aber auch unfähig, das große Edwardianische Anwesen zu unterhalten.
Lauren, zehn Jahre älter als sie, hatte sie unterstützt, ohne sie zu bevormunden. Sie bezahlte ihre Miete pünktlich und beglich immer peinlich genau »ihren Lebensmittelanteil und Nebenkosten«. Dieses Arrangement war eine große Erleichterung für Geri gewesen, und bis vor kurzem war es gut gelaufen. Sie wollte nicht darüber nachdenken, warum sie angefangen hatte, Schulden zu machen. Nach ein paar Minuten wurde Geri unruhig und versuchte es an Nicks Werkstatt. Sie war verschlossen. Sie öffnete das Seitentor und ging den schmalen Weg an der Seite des Hauses entlang. Das Mondlicht warf tiefe Schatten auf den Rasen, aber der gepflasterte Teil hinterm Haus und der Weg durch den Gemüsegarten und zum Schuppen waren gut beleuchtet, das Moos zwischen dem Fischgrätmuster der Backsteine erhob sich schwarz. Geri stellte ihre Aktentasche ab und blies auf ihre Finger, während sie den dünnen Haken und das leichte Vorhängeschloss an der Schuppentüre abschätzte.
»Hebel«, murmelte sie, und suchte nach etwas, das dazu zu gebrauchen wäre. Da war nichts. Nicht einmal eine Gartenkelle. »Verdammte Scheiße!«, stieß sie hervor, und aus ihrem Atem wurden zwei weiße, feuchte Wölkchen, die in der kalten Luft schnell aufstiegen. »Mein Gott, ich muss aus dieser Kälte raus!«
Sie griff nach einem der Dekorsteine am Rande des Wegs. Er war festgefroren, und ihre Finger rutschten ab, die Kälte ging ihr durch und durch.
»Mist!« Sie steckte ihre Hände unter ihre Arme und bearbeitete den Stein mit ihrem Absatz. Endlich löste sich der Stein und sie hob ihn auf. Auf dem Weg zum Schuppen lavierte sie den eiskalten Stein von einer Hand in die andere, dann schlug sie mit ihm ein paar Mal schwungvoll auf das Schloss.
Als sie ihren Arm gerade zum dritten Mal anhob, schrie eine hohe, ängstliche Stimme: »Ich habe die Polizei gerufen. Es wäre besser, Sie verschwinden sofort!«
Geri ließ den Stein fallen. »Lauren? Alles in Ordnung. Ich bin’s.«
Lauren kam um die Hausecke herum: eine große, dünne Frau, gegen die Kälte vermummt. Sie hielt ein paar Bücher vor sich, ob als Schutz oder Waffe, konnte Geri nicht sagen.
»Was zum Teufel tust du hier?«, wollte Lauren wissen. »Du hast mich zu Tode erschreckt!«
»Ich habe meine Schlüssel vergessen«, sagte Geri und kam sich dämlich vor.
»Na, das erklärt alles.«
»Sag mir bitte, dass du deine hast«, flehte Geri und hob einen Fuß an, weg von der durchdringenden Kälte des Bodens. Lauren hielt ihren Schlüsselbund hoch und klingelte mit den Schlüsseln, Geri schrie vor Erleichterung auf, – denn Lauren stand oft so spät auf, dass sie ihre Schlüssel in der ganzen Hektik, pünktlich zur Arbeit zu kommen, im Haus liegen ließ.
»Ich habe dich heute morgen Weggehen gehört«, sagte sie. »Ich dachte, ich brauche sie vielleicht.«
Geri zuckte zusammen. »Entschuldigung.« Sie ging den Weg mit knirschenden Schritten zurück, holte ihre Aktentasche und trieb Lauren vor sich zur Eile an. »Du hattest letzte Nacht Dienst, oder?« Lauren arbeitete ehrenamtlich für die Telefonseelsorge der Samariter, und sonntags hatte sie üblicherweise ihre Nachtschicht.
»Ich bin um halb sieben nach Hause gekommen. Ich war gerade am Einschlafen, als der Weltuntergang losging.«
Geri murmelte noch einmal »Entschuldigung.«
Lauren schloss die Tür auf. Im Haus war es warm. Geri warf ihre Tasche von sich, lief zu einem Heizkörper und umarmte ihn.
»Du kriegst Frostbeulen«, warnte Lauren.
»Das ist es mir wert.«
Lauren legte die zwei Bücher auf das Fensterbrett. Sie hatte ein fantastisches Profil: eine zarte Knochenstruktur und eine fein gezeichnete Nase. Ihre Haare lagen weich um ihr Gesicht, was ihre elfenhaften Züge noch verstärkte. Sie zog ihren Mantel und Schal aus und hängte sie auf. Sie schien zu überlegen, ob sie ihre Weste ebenfalls ausziehen sollte, entschied sich dann aber dafür sie anzubehalten. Wie schafft sie es bloß, mit flachen Schuhen und zwei Lagen Wolle derart elegant auszusehen?, fragte sich Geri.
»Was siehst du dir an?«
Geri schielte auf die Buchtitel neben ihrer Freundin. »Quiltzauber und Spaß mit Stoffdekorationen. Wenn ich wirklich ein Einbrecher gewesen wäre, hättest du mich ja immer noch damit zu Tode langweilen können.«