Band 1 der Reihe »Salzgarten-Saga«
Die erfolgreiche, aber gestresste Sterneköchin Julia will ihren Neffen eigentlich nur kurz auf die kanarische Insel La Palma begleiten. Doch dann entdeckt sie über einer wildromantischen Bucht eine alte Finca, die sie sofort verzaubert. Könnte sie sich hier ihren Traum von einem kleinen Restaurant am Meer erfüllen? Es scheint sich perfekt zu fügen, dass am Fuße der Klippe ein Salzgarten liegt, der in Familientradition von dem attraktiven Álvaro betrieben wird. Julia verliebt sich auf den ersten Blick in ihn, und auch er ist ihr sehr zugetan. Aber wie so oft im Leben kann das, was so einfach schien, ganz schön kompliziert werden …
Ein wunderbarer Roman um Liebe, einen großen Traum und einen traditionellen Salzgarten am Atlantik
Tabea Bach war Operndramaturgin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie wurde in der Hölderlin-Stadt Tübingen geboren und wuchs in Süddeutschland sowie in Frankreich auf. Ihr Studium führte sie nach München und Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald, Ausgangspunkt zahlreicher Reisen in die ganze Welt. Die herrlichen Landschaften, die sie dabei kennenlernt, finden sich als atmosphärische Kulisse in ihren Romanen wieder. Tabea Bachs Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Mit ihrer Kamelien-Insel-Saga gelangte sie sofort auf die Bestsellerliste. In den erfolgreichen Seidenvilla-Romanen wechselte der Schauplatz zu einer Seidenweberei in Venetien. Mit ihrer Salzgarten-Reihe führt uns Tabea Bach auf die Kanarischen Inseln.
Tabea Bach
SONNE ÜBER DEM
SALZ
GARTEN
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Titelillustration:© plainpicture/AWL/Walter Bibikow; © Richard Jenkins Photography; © www.buersosued.de; © Kathrin Ziegler/getty-images
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-0966-8
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lesejury.de
»Salz ist von den reinsten Eltern geboren,
der Sonne und dem Meer.«
Pythagoras
Julia probierte die Sauce, schloss kurz die Augen, und einen winzigen Moment lang trat die glänzende Restaurantküche aus Chromstahl samt ihrer Mannschaft in den Hintergrund. Auf Julias Zunge explodierte ein wahres Bouquet an Aromen: pfeffrig, fruchtig mit einem feinen Anteil an Bitterstoffen, den nur herausschmeckte, wer sich wirklich auskannte. Dann eine Spur von Zimt, Koriander und – das war ihr Geheimnis – Vanille. Das Fruchtfleisch einer halben Ananastomate spendete gleichzeitig Süße und Säure. So musste es schmecken, kein bisschen anders. Auch die Menge an Salz, natürlich feinstes aus dem Himalaja, stimmte genau. Der Begriff Sauce kam ja schließlich vom lateinischen salsus und bedeutete »gesalzen«. Julias Saucen jedoch waren weit mehr als »gesalzen«, sie waren es, die ihren Gerichten erst die unverwechselbare Note gaben. An jeder einzelnen Sauce, die an diesem Abend auf ihren großen Moment wartete, hatte Julia jahrelang gefeilt. Diese hier würde dem schonend gebratenen Heilbutt einen glanzvollen Auftritt bescheren. Mit dem iranischen Beluga Malossol Kaviar, von dem sie am Ende ein paar Perlen über das fertige Gericht streuen würde, erhielt dieses kulinarische Meisterwerk seine finale Note. Unter anderem dafür hatte sie erst vor wenigen Wochen den heiß begehrten Michelin-Stern für das Savoir Vivre errungen, und das im Alter von nur zweiunddreißig Jahren.
Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass die gefürchteten Inspektoren des Guide Michelin in dem Restaurant am Fuße des Schwarzwalds gewesen waren, und als ein früherer Kollege sie anrief, um ihr zu gratulieren, hatte sie im ersten Moment geglaubt, er nähme sie auf den Arm. Als sie endlich begriffen hatte, dass sie nun wirklich und wahrhaftig zu den Sterneköchen zählte, hatte sie ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchflutet, das sie alle Strapazen, die zu diesem Beruf gehörten, vergessen ließ und sie weiter anspornte, ihr Bestes zu geben.
Amelie, die den Service leitete, kam in die Küche und reichte Julia einen Zettel mit den neuen Bestellungen.
»Zweimal das Frühlingsmenü«, rief Julia ihrer Mannschaft zu. »Je einmal das vegetarische und das Degustationsmenü.«
Kaum hatte sie die neue Order ausgerufen, als sich ihre Kollegen auch schon als gut eingespieltes Team in Bewegung setzten. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte, um zum Ganzen beizutragen. Paul, der als Entremetier für Gemüse, Eierspeisen und sonstige Beilagen zuständig war, holte bereits die Zutaten für das vegetarische Menü aus seiner Kühlschublade, in der jeder Koch die Rohprodukte für die ihm anvertrauten Gerichte griffbereit aufbewahrte. Julias Souschef René wendete gekonnt das Filetsteak in der Pfanne, das gleich gemeinsam mit dem Heilbutt an Tisch eins serviert werden würde. Julia mochte den jungen Koch aus dem Elsass. Sie hatte ihn erst vor wenigen Monaten in einem Colmarer Lokal entdeckt und ihn im Auftrag des Restaurantbesitzers für das Savoir Vivre angeworben. René hatte zwar noch nicht die Finesse eines Sternekochs, doch er lernte schnell und arbeitete effizient. Und das zählte in einer so anspruchsvollen Restaurantküche, in der es stets hoch herging.
»Briggi«, rief Julia ihrer Kaltmamsell zu, während sie den Heilbutt aus der Pfanne nahm, wo sie ihn von beiden Seiten exakt eine Minute lang zartgolden angebraten hatte, »hast du die Vorspeisen im Griff? Oder soll Markus dir helfen?«
Markus sprang als Tournant stets dort ein, wo es am meisten eilte.
»Alles im Griff«, gab Briggi zurück, zählte wie immer leise die unterschiedlichen Gerichte vor sich hin, die sie nun vorzubereiten hatte, und griff bereits mit geübten Händen in die vorbereiteten Körbe mit den verschiedenen Salatsorten.
Julia nahm einen der vorgewärmten Teller aus dem Rechaud, gab kreisförmig Sauce darauf, was man in der Gourmetküche »einen Spiegel gießen« nannte, und setzte den Fisch hinein. Dann formte sie aus dem cremigen Champagnerrisotto mit dem Löffel zwei perfekte Nocken und platzierte sie neben dem Heilbutt, dekorierte ihn mit ein wenig Brunnenkresse, legte einen Faden aus mildem, kalt gepresstem Taggiasca-Olivenöl aus Albenga darum, holte die Dose mit dem erlesenen Kaviar hervor und verteilte einen halben Teelöffel von diesen prächtigen, hellgrau glänzenden Körnern über dem Gericht.
»Amelie«, rief sie. »Schnell. Der Fisch muss serviert werden.«
Auch René hatte seinen Teller fertig und stellte ihn neben den Heilbutt auf die Durchreiche. Da erschien Amelies bestürztes Gesicht in dem Fensterchen.
»Schlechte Nachrichten«, sagte sie. »Die Dame von Tisch eins hat es sich anders überlegt. Sie will den Heilbutt nicht mehr, sie sagt, sie fühle sich plötzlich nicht gut, und Fisch wäre jetzt eine ganz schlechte Idee. Sie will lieber ein Omelett.«
Julia glaubte, nicht richtig zu hören. »Ein Omelett? Das kommt nicht infrage. Bitte geh hin und erklär ihr, dass es zu spät ist fürs Umbestellen. Der Fisch ist fertig. Amelie, das ist Heilbutt. Mit erstklassigem iranischem Beluga Malossol!«
»Würde ich ja gern«, sagte Amelie leise und behielt dabei das Restaurant im Auge. »Aber Kercher hat ihr gerade gesagt, dass das gar kein Problem sei.«
Julia stieß einen frustrierten Laut aus. Kercher war zwar der Besitzer des Lokals, in ihren Augen jedoch ein Dilettant erster Güte. Er hatte weder Ahnung vom Kochen noch davon, wie man ein solches Restaurant zu führen hatte. Das Einzige, was er in die Waagschale werfen konnte, war sein offenbar unerschöpfliches Vermögen. Denn mit einem Sternelokal viel Gewinn zu erwirtschaften war schlechterdings unmöglich. Dazu waren die Gerichte zu aufwendig und die Zutaten zu teuer. Die Anzahl der Tische war zu gering und das Personal zu zahlreich. Die alteingesessenen Sterneküchen hatten meistens ein Hotel und noch ein oder zwei weitere Gaststätten mit ganz normaler Küche und großer Auslastung im Hintergrund, die genügend Umsatz brachten. Das Sternelokal betrieb man lediglich aus Prestigegründen. Das Savoir Vivre allerdings hatte nichts dergleichen. Sein einziger Trumpf war Julia.
»Machst du jetzt das Omelett?«, fragte Amelie und sah über die Schulter zurück ins Restaurant.
»Paul«, sagte Julia aufgebracht zu ihrem Entremetier. »Ein Omelett für Tisch eins, bitte.« Sie atmete tief durch, um ihren Ärger zu dämpfen. »Und das Filet kommt solange in den Wärmeschrank. Mit dem Fisch geht das ja leider nicht, den können wir keinem anderen Gast mehr servieren.« Zu Amelie gewandt fügte sie, noch immer empört, hinzu: »Ist dir klar, was wir da wegwerfen müssen? Dieser Kaviar kostet achttausend Euro das Kilo und …«
»Bitte, Julia«, unterbrach Amelie sie. »Ich finde das auch blöd. Aber es hilft ja nichts. Und es ist schließlich nicht dein Geld, das in den Müll wandert.«
Das tröstete Julia kein bisschen. Ihr ging es doch gar nicht ums Geld. Ihr ging es ums Prinzip. Und um die skandalöse Verschwendung kostbarer Zutaten. Ihr ging es um die Liebe, die sie in diese Gerichte steckte. Deshalb bin ich nicht Köchin geworden, dachte sie erbittert, während sie die ersten fertigen Vorspeisen der neuen Bestellungen kontrollierte. »Eine Schande ist das«, murmelte sie halblaut vor sich hin und probierte, ob das Dressing für den Frühlingssalat die richtige Säure hatte.
»Was machen wir jetzt damit?«, fragte Kevin, der Jüngste in der Truppe und fürs Ab- und Aufräumen zuständig. Er wies auf den wunderschön angerichteten Teller mit dem Heilbutt. »Soll ich das wirklich wegtun?«
Julia zögerte. Nein, sie brachte es einfach nicht übers Herz.
»Pack es in Folie und stell es in den Kühlschrank«, bat sie Kevin.
Ihr Zorn war verraucht und einer riesigen Niedergeschlagenheit gewichen. So viele entbehrungsvolle Jahre lagen hinter ihr. Und eine Karriere, so steil wie der Aufstieg zum Montblanc – und wofür? Sie erinnerte sich an die schwierigen Lehrjahre unter strengen Chefs, die sie als Frau besonders hart herangenommen hatten. »Frauen haben in den Küchen der gehobenen Gastronomie nichts zu suchen«, hatte ein weltberühmter Maître de Cuisine ihr ins Gesicht gesagt und ihr das Leben so schwer wie nur möglich gemacht. Aber Julia hatte sich durchgebissen, hatte sich nicht unterkriegen lassen. War immer die Beste gewesen. Und wofür? Dass man ihr Essen in den Müll warf, weil so eine dumme Pute auf einmal lieber ein Omelett wollte? Wenn das ein Einzelfall wäre, dachte Julia, dann könnte man ja darüber hinweggehen. Leider kamen solche Szenen viel zu häufig vor.
Nein, wegwerfen würde sie den Heilbutt nicht. Wie so oft würde sie die Delikatesse der obdachlosen alten Frau in dem Park geben, an dem sie auf ihrem Nachhauseweg vorüberkam.
Sie selbst aß außerhalb der Restaurantküche selten mehr als ein Müsli am Morgen. Der tagtägliche Umgang mit Speisen machte sie im Gegensatz zu vielen Kollegen nicht hungrig, sondern eher von vornherein satt. Außerdem musste sie ja häufig probieren. Obwohl es sich dabei stets um minimale Mengen handelte, kam im Laufe eines Tages doch einiges zusammen. Während andere Küchenchefs mit den Jahren auseinandergingen wie Julias berühmte Germknödel, war sie bislang schlank geblieben, und das lag sicher an der allgegenwärtigen Hektik. So wie jetzt, als es galt, nicht nur die Speisefolge der vier Menüs für Tisch fünf so abzuarbeiten, dass jeder Gang den vier Gästen gleichzeitig serviert werden konnte, sondern auch die Bestellungen der übrigen Tische umzusetzen.
Die ersten Gänge für Tisch fünf waren fertig, die Teller standen in Reih und Glied. Julia inspizierte jeden einzelnen, korrigierte hier eine Dekoration, wischte dort mit einem sauberen Tuch über einen Tellerrand.
»In Ordnung«, sagte sie, und die Vorspeisen verließen die Küche.
Die Messer der Köche blitzten und zerkleinerten in rasender Geschwindigkeit marktfrisches Gemüse. Der Dampfgarer wurde geöffnet und entließ eine kleine Wolke. In Renés Pfanne zischte ein Entrecôte vom Angusrind. Markus prüfte die Lammkeule und schnitt sie in perfekte, acht Millimeter dicke Scheiben auf. In der Patisserie nebenan zerteilte Henry ein Blech glacierten Zitronenbiskuit in Rauten und richtete diese mit feinem Himbeerpüree, frischen Waldbeeren und Eis von der Tonkabohne sowie einem winzigen Gläschen mit Mousse au Chocolat an. Dann verzierte er das Ganze mit einem hauchfeinen Fächer aus gitterförmiger Bitterschokolade.
Amelie brachte neue Order in die Küche. Julia gab sie weiter, und ihre Mitarbeiter fingen sie auf wie imaginäre Bälle, jedes Gericht eine Komposition aus der Welt der Sinne. Und wieder geschah es, alles fügte sich, wie es sollte: Die Jakobsmuscheln verwandelten sich unter den Händen ihrer Köche in Zungenschmeichler, das Lauchsoufflé in eine Wolke aus Gartenträumen, der karamellisierte grüne Spargel in ein kulinarisches Erlebnis. Nein, es musste nicht immer Kaviar sein. Radieschen konnten ebenso ihren Charme entfalten – wie etwa in einer Vorspeise, in der sie ganz und mit der kleinen Wurzel serviert wurden an einer Vinaigrette, die ihresgleichen suchte.
Und so vergingen die folgenden Stunden, bis auf einmal Kercher in der Küche erschien und streng sagte: »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie während des Restaurantbetriebs nicht zu sprechen sein sollen.«
»Bin ich auch nicht«, gab Julia knapp zurück.
René hatte gerade unter ihrer Anleitung einen wundervoll zarten Käse aus Schafsmilch frittiert, sodass er außen knusprig und innen cremig geworden war, und der musste nun so schnell wie möglich hinaus und auf den Tisch.
»Da ist ein Mann für Sie am Telefon«, fuhr Kercher fort, und erst jetzt bemerkte Julia das Restauranttelefon in seiner Hand. »Er sagt, er sei Ihr Bruder.«
»Jens?« Auf einmal war Julia ganz Ohr. Jens lebte auf der Kanareninsel La Palma und rief nie an. Und wenn er es tat, hieß das meistens nichts Gutes. »Bitte sagen Sie ihm, dass ich ihn später zurückrufe.«
»Das hab ich schon, aber er lässt sich nicht abwimmeln. Hier.« Kercher hielt ihr erbost das Telefon hin. »Sagen Sie es ihm selbst.«
Julia stöhnte innerlich auf und wischte sich die Hände ab. Dann griff sie nach dem Hörer. »Jens?«
»Herrgott, Julia, du hast dein Handy ausgeschaltet«, drang die aufgebrachte Stimme ihres Bruders an ihr Ohr.
»Natürlich. Ich arbeite«, gab sie zurück. »Lass uns morgen sprechen. Gegen drei Uhr hab ich Zeit.«
»Emil ist abgehauen«, fuhr Jens fort. Julia erstarrte. Emil war ihr zwölfjähriger Neffe, Jens’ Sohn. »Das Internat hat gerade angerufen. Du musst unbedingt etwas unternehmen.«
Julia schluckte. Sie liebte Emil. Er war zwar eine Nervensäge und hatte einen unfassbaren Dickschädel, doch das änderte nichts daran, dass er einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen einnahm. Sie sah auf die große Uhr in der Restaurantküche. Es war kurz vor zehn. In einer halben Stunde würden Tisch drei und fünf neu besetzt werden, eine Gesellschaft, die zuvor ein Konzert besucht hatte. Vor zwei Uhr würde sie auch in dieser Nacht nicht nach Hause kommen.
»Hör zu«, sagte sie, nachdem sie sich wieder gefasst hatte. »Ich kann jetzt überhaupt nichts tun. Das Restaurant ist voller Gäste und …«
»Es ist dir also völlig egal, wenn Emil etwas zustößt?«
Manchmal konnte ihr Bruder so ein Idiot sein. Die beste Strategie war, das einfach zu ignorieren.
»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte sie. »Aber schick mir alle Details per Mail. Dann kümmere ich mich morgen darum.«
»Du bist so was von unflexibel! Hat dir das schon mal jemand gesagt?«
»Ich leg jetzt auf, Jens«, sagte Julia entschlossen und drückte den roten Knopf.
»Ist etwas passiert?« Kercher betrachtete sie neugierig unter seinen Hängelidern hervor.
»Mein Neffe ist aus dem Internat abgehauen«, sagte sie. Und auf einmal wurden ihr die Knie weich.
Wie sie es vorhergesehen hatte, war es kurz nach zwei Uhr morgens, als sie das Restaurant verließ. Sie hatte all ihre Reserven mobilisieren müssen, um bis zuletzt die Leistung zu erbringen, die man von ihr erwartete – und vor allem sie von sich selbst. Ständig hatte sich Emils Gesicht vor ihre Arbeit geschoben, seine schlaksige Gestalt und sein blonder Schopf mit den vielen Wirbeln. Wenn er nur keinen Blödsinn machte. Julia durfte gar nicht daran denken, was ihm alles passieren konnte!
Dass er das Internat am Bodensee hasste, in das ihn sein Vater gesteckt hatte, seit er gemeinsam mit dieser blutjungen Frau nach La Palma ausgewandert war, das wusste Julia schon lange. Wann immer sie es möglich machen konnte – und das war leider nicht oft der Fall –, fuhr sie zu Emils Internat oder zahlte ihm die Fahrkarte, damit er sie am Wochenende besuchen konnte, auch wenn sie eigentlich überhaupt keine Zeit für ihn hatte. Es war verantwortungslos von ihrem Bruder, seinen Sohn so bald nach dem Unfalltod seiner Mutter allein zu lassen. Doch mit Jens war nicht zu reden gewesen. Zu allem Überfluss hatte Emil sich mit Tanja, der neuen Partnerin seines Vaters so gründlich zerstritten, dass weder er noch die junge Frau bereit gewesen waren, gemeinsam unter einem Dach zu leben.
Was für eine verfahrene Situation, dachte Julia, als sie das windschiefe, vielfach geflickte Zelt der Stadtstreicherin im Schutz eines riesigen Kirschlorbeerstrauchs in der Ecke der Grünanlage erreichte, das von den Behörden seit Wochen übersehen oder stillschweigend geduldet wurde. Leise stellte sie die Plastiktüte mit dem Essen davor und ging rasch nach Hause.
An der Eingangstür des Mietshauses angekommen, in dem sie wohnte, lehnte sie kurz die Stirn gegen das Sicherheitsglas. Sie war so unendlich müde. Dann schloss sie auf und ging die vier Stockwerke hinauf, vorüber an drei Wohnungstüren pro Etage, hinter denen jetzt Menschen schliefen – Julia hatte keine Ahnung, wer oder wie viele. Sie war viel zu selten zu Hause, um ihre Mitbewohner zu kennen. Der Vorteil der Wohnung unter dem Dach war, dass sie keine Nachbarn hatte, hier oben befand sich nur ihr Apartment. Sie war ganz benommen vor Erschöpfung, sehnte sich nach ihrem Bett. Auf einmal schreckte sie zusammen. In dem düsteren Winkel hinter ihrer Wohnungstür bewegte sich eine zusammengerollte Gestalt. Mit einem Schlag war sie hellwach, das Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. War hier etwa jemand eingedrungen und lauerte ihr auf?
»Julia?« Nylonstoff raschelte. Die Gestalt setzte sich auf und rieb sich die Augen.
»Emil!«, stöhnte Julia auf. »Mein Gott, hast du mich erschreckt. Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja klar.« Umständlich krabbelte der Junge aus seinem Schlafsack. Seine blonden Haare standen in alle Richtungen ab. Julia hätte weinen können vor Erleichterung, ihn zu sehen. »Ich bin abgehauen, Julia.«
»Ich weiß«, antwortete Julia und schloss ihren Neffen in die Arme.
»Für eine Köchin ist dein Kühlschrank ziemlich leer.«
Julia hatte eben die Couch im Wohnzimmer ausgezogen und das Bettzeug hergerichtet. Als sie nun in die Küche kam, musste sie über Emils enttäuschtes Gesicht lachen, das bläulich von der Lampe im offenen Kühlschrank beleuchtet wurde.
»Bist du hungrig?«, fragte sie und begann in ihrem Vorratsschrank zu kramen. Fehlanzeige.
»Ja, ziemlich«, antwortete Emil. Er hatte die Kühlschranktür geschlossen und beobachtete Julias Suche hoffnungsvoll. »Hast du nicht wenigstens Kekse oder so was?«
»Ich fürchte nicht«, gestand Julia und zog sich ihre Jacke wieder an.
»Wo willst du hin?«, fragte Emil misstrauisch.
»Ins Restaurant«, erklärte Julia. »Ist nur ein Katzensprung. Da gibt es alles.«
Sie gingen schweigend nebeneinanderher. Julia legte dem Jungen den Arm um die Schulter, was dieser nur widerwillig zuließ. Alles kam ihr so unwirklich vor. Jens fiel ihr wieder ein, vor lauter Müdigkeit hatte sie ihn ganz vergessen.
»Wir sollten deinen Vater anrufen«, sagte sie schuldbewusst und schloss die Hintertür des Restaurants auf.
»Lieber nicht«, antwortete Emil trotzig.
»Morgen«, entschied Julia und schaltete die Deckenleuchten in der Küche ein. »Worauf hast du Appetit?«, fragte sie und rieb sich die müden Augen. Sie wusste auswendig, was sich im Kühlraum befand. »Ein Kalbsschnitzel? Oder lieber Lammcarrée? Oder soll ich dir eine Forelle braten?«
Emil wirkte blass in dem hellen Neonlicht. »Kannst du mir nicht einen Grießbrei machen?«, fragte er mit kleiner Stimme, so als wäre er keine zwölf Jahre alt, sondern höchstens acht.
»Grießbrei?« Julia rieb sich den verspannten Nacken. »Lass mich mal nachsehen.«
Im Schrank fand sie tatsächlich eine Packung Weizengrieß. Sie nahm eine kleine Kupferkasserolle vom Haken und maß einen halben Liter Milch ab. Dann fügte sie Zucker und eine Prise Salz hinzu und schabte das Innere einer Vanilleschote hinein. Als die Milch kochte, ließ sie den Grieß einrieseln und rührte kräftig weiter, während es im Topf brodelte wie in einem kleinen Vulkan. Sie reduzierte die Hitze, trennte ein Ei und ließ eine Küchenmaschine das Eiklar im Handumdrehen zu festem Schnee schlagen, während sie den Topf vom Herd nahm, einen Schuss Schlagrahm zum Brei gab und den Dotter einrührte, ehe sie den Eischnee unterhob. Emil, der auf einem der Küchenhocker saß, sah ihr fasziniert dabei zu.
»Das sieht alles so easy aus bei dir«, staunte er, als Julia den luftigen Brei auf einen Teller füllte.
»Zucker und Zimt?«, fragte sie, und als Emil nickte, stäubte sie die Mischung, die Henry stets parat hatte, über die duftende Oberfläche.
Sie zog einen weiteren Hocker heran und sah ihrem Neffen zu, wie er auf seinen Löffel mit dem heißen Brei pustete.
»Das riecht nach früher«, sagte er, und Julia zog es das Herz zusammen.
Sie hatte Emils Mutter sehr gemocht. Mit Alice hatte sie sich viel besser verstanden als mit ihrem Bruder. Außerdem war Jens an der Seite dieser fabelhaften Frau, die als Kinderkrankenschwester gearbeitet hatte, viel umgänglicher gewesen. Vor drei Jahren war sie auf dem Nachhauseweg von einer Nachtschicht von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Ihr überraschender Tod hatte nicht nur Emil aus der Bahn geworfen, sondern auch ihn.
»Jetzt erzähl mal«, forderte Julia ihren Neffen sanft auf, um das Thema zu wechseln. »Warum bist du vom Internat weggelaufen?«
»Weil die spinnen«, erklärte er und probierte vorsichtig, um sich nicht die Zunge zu verbrennen. »Ich geh da nie wieder hin.«
»Dein Vater wird wohl ein Wörtchen mitreden wollen«, entgegnete Julia.
»Papa kann mich mal!«, gab Emil heftig zurück. »Weißt du, dass er mich noch kein einziges Mal im Internat besucht hat?« Ja, Julia wusste das, und sie war entsetzt darüber. Dennoch hielt sie es für klüger, jetzt nicht zu antworten. »Es interessiert ihn einen Scheiß, wie es mir geht.«
»Emil«, mahnte Julia leise.
»Es stimmt. Das findest du doch auch.« Emils tiefblaue Augen waren fest auf sie gerichtet. »Kannst es ruhig zugeben. Ich verrat es ihm bestimmt nicht.«
»Ich finde es auch nicht gut, wie Jens sich verhält«, räumte Julia ein. »Ich bin allerdings nur deine Tante und habe nicht das Sorgerecht für dich. Und du bist erst zwölf.«
Emil schwieg und starrte finster auf seinen Teller.
»Was ist? Schmeckt es dir nicht?«
»Doch, schon«, sagte Emil und nahm einen weiteren Löffel. »Aber eins musst du wissen: Ich geh nie mehr ins Internat zurück. Ganz egal, was Papa sagt.«
»Warum? Was ist denn passiert?« Emil tat so, als hätte er ihre Frage nicht gehört, und widmete sich ganz und gar seinem Grießbrei. »Willst du es mir nicht erzählen?«
»Nein«, sagte Emil und sah sie trotzig an. »Es gibt nichts zu erzählen. Der ganze Laden ist unterirdisch. Die haben Erziehungsmethoden wie im Mittelalter. Das tu ich mir nicht länger an.«
»Und was willst du sonst machen?«, fragte Julia. »Du musst schließlich zur Schule gehen.«
Emil kratzte den letzten Rest Brei aus dem Teller. Dann legte er den Löffel hin und sah sie an. Der Ausdruck in seinen Augen hätte einen Stein zum Erweichen gebracht. »Kann ich nicht bei dir wohnen?«, fragte er flehentlich. »Hier gibt es doch garantiert auch eine Schule. Ehrlich, Julia. Du bist die Einzige auf der Welt, der ich nicht egal bin.«
Julia schluckte. Vor Müdigkeit flimmerte es ihr vor den Augen. Im Grunde hatte er recht. Der Haken war nur – wie sollte sie sich bei ihrem Beruf um einen Zwölfjährigen kümmern?
»Lass uns morgen darüber sprechen«, schlug sie vor und erhob sich.
Mechanisch stellte sie Topf und Teller ins Spülbecken und ließ ein wenig Wasser hinein.
»Du willst mich auch nicht«, hörte sie Emil hinter sich sagen, und seine Stimme klang so unfassbar traurig, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. »Sogar dir bin ich egal.«
»Sag so was nicht«, bat sie und schloss ihn in die Arme. »Ich hab dich lieb, Emil. Wir werden eine Lösung finden. Das verspreche ich dir.«
Emil schlief längst tief und fest im Wohnzimmer, davon hatte sich Julia überzeugt. Sie hingegen lag wach und starrte an ihre Schlafzimmerdecke.
Eine Lösung finden, ja, das sagte sich so einfach. Aber welche? Sie war Sterneköchin, ein Beruf, der sie rund um die Uhr beanspruchte. Nicht nur abends stand sie in der Küche, auch wenn das Savoir Vivre zum Glück erst ab 18 Uhr geöffnet hatte. In aller Herrgottsfrühe fuhr sie zum Großmarkt, um frische Lebensmittel einzukaufen, erstklassiges Gemüse, Obst, Fisch und Fleisch. Ein paarmal hatte sie bereits René mitgenommen, um ihn bei den Händlern bekannt zu machen, noch traute sie ihm die Auswahl der kostspieligen Ware nicht allein zu.
Bis sie alles im Kühlraum verstaut hatte, war es zehn, und dann galt es, die Vorbereitungen für den Abend zu treffen.
Julia drehte sich auf die andere Seite, ging im Geiste die Arbeitsschritte vom kommenden Tag durch und überlegte, was sie vereinfachen könnte. Denn ihr blieb nur die Zeitspanne zwischen diesen Vorarbeiten und dem Beginn des Restaurantbetriebs, um gemeinsam mit Emil nach einer Lösung zu suchen. Ein Zeitfenster von zwei, drei Stunden.
Sie warf sich wieder auf die andere Seite und blinzelte aus vor Müdigkeit brennenden Lidern zu den Leuchtziffern ihres Weckers hinüber. 04:13 zeigte er an. Julia seufzte. In etwas mehr als einer Stunde würde er läuten. Eigentlich konnte sie ebenso gut jetzt gleich aufstehen. Und genau, als sie das dachte, schlief sie ein.
Als der Wecker klingelte, fuhr sie aus bleiernem Schlaf hoch und brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren. Mühsam kämpfte sie sich aus dem Bett und ging unter die heiße Dusche, die sie nach einigen Minuten auf kalt einstellte und die Zähne zusammenbiss, bis ihre Haut fühllos wurde und ihr Kopf klar. Sie rubbelte sich mit dem Handtuch ab, schlüpfte in ihren Bademantel und ging leise zurück ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
»Was machst du denn so früh?« Emil stand in der Tür, fuhr sich durch sein ohnehin schon verstrubbeltes Haar und gähnte herzhaft.
»Ich muss zum Großmarkt«, antwortete Julia. »Einkaufen. Aber du kannst noch eine Runde schlafen.«
»Wann kommst du wieder?«
Julia biss sich auf die Unterlippe. »Am Nachmittag«, sagte sie und warf Emil einen schuldbewussten Blick zu. »Gegen drei.«
Emil riss die Augen auf. In seinem Kopf schien es zu arbeiten.
»Dann komm ich mit«, sagte er entschlossen und ging zurück ins Wohnzimmer. Kurz darauf erschien er wieder in Jeans, T-Shirt und Anorak. Auch Julia war bereits startklar.
»Und du willst wirklich mitkommen?«, fragte sie skeptisch, prüfte den Inhalt ihrer Handtasche und schaltete ihr Handy an.
»Was ist mit Frühstück?«, fragte Emil.
»Später«, antwortete Julia. »Du weißt ja, ich hab eh nichts im Haus.«
Im Großmarkt ging sie wie immer zuerst zu ihrem Fischhändler, denn hier galt es, den besten Fang zu ergattern. An diesem Morgen gab es Seeteufel aus der Bretagne und – Julia wurde ganz aufgeregt, als sie das sah – Seeigel, eine Rarität. Sie erwarb das letzte Dutzend und entschied sich außerdem für wilde Austern, komponierte im Geiste bereits ein neues Menü und hoffte auf Gäste, die derart seltene Genüsse zu schätzen wüssten. Sie gab Emil den Autoschlüssel, damit der Gehilfe des Fischhändlers die eisgekühlten Boxen direkt in ihren Kombi laden konnte.
»Wir treffen uns bei dem Obsthändler da drüben«, sagte Julia zu ihrem Neffen und machte sich bereits auf den Weg.
Konzentriert prüfte sie das Angebot und wählte rasch. Natürlich nahm sie weißen Spargel, es war der erste der Saison. Außerdem empfahl ihr der Händler junge, zarte Artischocken von einem Biobauern aus Sizilien. Dazu passten Blutorangen der Sorte Il Fragolino, die Julia ganz besonders mochte und die auch Henry gern bei seinen Desserts verwendete. Sie probierte gerade eine Himbeere, als ihr Handy klingelte.
»Ja, bitte?«, meldete sie sich und bereute es sofort. Es war Jens, und er war in heller Aufregung.
»Das Internat will die Polizei verständigen«, überfiel er sie. »Emil muss etwas passiert sein.«
»Er ist bei mir«, antwortete Julia und erlebte etwas, was sehr selten vorkam: Jens blieb offenbar die Luft weg. Dann setzte ein solches Donnerwetter ein, dass Julia den Hörer ein Stück vom Ohr weghielt. Sie drehte sich um und sah Emil durch den Gang auf sich zukommen. Er wirkte übermüdet, aber ansonsten erstaunlich glücklich. Dass sie ihn ernst nahm und wie einem Küchengehilfen den Autoschlüssel anvertraut hatte, machte ihn offensichtlich stolz.
»Jetzt halt mal die Luft an«, unterbrach Julia den Redeschwall ihres Bruders. »Dein Sohn saß vor meiner Wohnungstür, als ich gestern von der Arbeit kam. Es war zwei Uhr nachts. Wir wollten dich nicht stören. Überhaupt«, fügte sie hinzu und sah auf ihre Armbanduhr. »Wieso bist du so früh schon auf?«
Emil hatte sie erreicht, sein Lächeln erstarb. Offenbar erriet er, mit wem Julia telefonierte.
»Ich will ihn sofort sprechen«, schrie Jens aus dem Hörer.
»Dein Vater will dich sprechen«, wiederholte sie unnötigerweise für Emil und reichte ihm das Handy.
Der griff nur zögernd danach. »Ja?«, fragte er. Dann sagte er eine Weile gar nichts mehr, sondern lauschte den Worten seines Vaters. Seine Miene verschloss sich immer mehr. »Nein«, sagte er nach einer Weile. »Nein.« Und immer wieder: »Nein.«
»So geht das nicht«, sagte Julia entschlossen und nahm ihm das Telefon aus der Hand. »Hör zu, Jens. Emil will nicht mehr zurück ins Internat, begreif das bitte. Und bei mir kann er nicht bleiben.« Die Enttäuschung in Emils Gesicht zu sehen tat ihr weh, aber es ging nicht anders. »Mit meinem Beruf ist das unvereinbar. Leider. Wie wäre es denn mit La Palma?« Emil fing an, abwehrend mit den Händen herumzufuchteln, und auch Jens schien nicht begeistert von dem Vorschlag zu sein. »Nun hört doch mal zu«, insistierte Julia und sah mit Bedauern, wie ein Konkurrent die ganzen Himbeeren aufkaufte, die sie gern gehabt hätte. »Es muss ja nicht für immer sein. Wie lange ist es her, dass du deinen Sohn gesehen hast? Ein halbes Jahr? Länger? Das ist kein Zustand, Jens. Zumindest müsst ihr euch aussprechen und gemeinsam überlegen …«
»Aber nur, wenn du mitkommst«, erklärte Emil und zerrte an ihrem Arm.
»Ich fürchte, da brauchen wir dich als Mediatorin«, sagte Jens gleichzeitig. »Sonst garantiere ich für nichts.«
»Prima«, meinte Julia. »Dann komm her und hol ihn ab.«
»Ausgeschlossen«, tönte es aus dem Telefon. »Wir sind die nächsten Monate ausgebucht. Tauchergruppen. Wandergruppen. Mountainbiker. Der Laden läuft endlich. Es hat lange genug gedauert. Das kriegt Tanja nicht allein hin. Warum kommst du nicht mit und machst ein bisschen Urlaub auf der Isla?«
»Ich fliege da sowieso nur hin, wenn du mitkommst«, wiederholte Emil störrisch.
»Ich. Muss. Arbeiten«, entgegnete Julia aufgebracht. »Und weil wir gerade dabei sind: Wir vertagen das Gespräch. Sonst schnappen mir die anderen die besten Produkte vor der Nase weg. Wir hören uns, Jens. Bis bald.«
Sofort warf sie sich ins Getümmel, um sich eine Charge Walderdbeeren zu sichern sowie wundervolle Freilandkräuter und den ersten Bärlauch der Saison. Und weiter ging es zu verschiedenen Fleischlieferanten.
Es war halb neun, als sie endlich alles beisammen hatten und Julia ihren Neffen zu einem kurzen Frühstück am Stand eines französischen Bäckers einlud.
»Ich will nicht auf die blöde Insel«, protestierte Emil und bemerkte gar nicht, dass er Puderzucker von dem Vanillehörnchen auf seiner Nasenspitze hatte.
»Andere machen da Urlaub«, entgegnete Julia. Und plötzlich kam ihr ein Gedanke. Urlaub. Wann hatte sie ihren letzten gehabt? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Sie hatte so rasant von einer Gourmetküche in die nächste gewechselt, um so viele Erfahrungen wie nur möglich zu sammeln, dass sie sich außer ein paar freien Tagen hier und dort keine Auszeit erlaubt hatte.
»Also, ich geh da wirklich nur hin, wenn du mitkommst«, quengelte Emil und verteilte mit dem Handrücken den Puderzucker im ganzen Gesicht. »Du musst Papa erklären …«
»In Ordnung«, hörte Julia sich sagen und erschrak sofort. War sie verrückt geworden? Wer sollte im Savoir Vivre nach dem Rechten sehen?
Eine Woche kommen die auch ohne mich klar, beruhigte sie sich dann selbst. Und wenn nicht, weiß Kercher wenigstens, was er an mir hat.