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© eBook: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

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Projektleitung: Nikola Teusianu

Lektorat: Ulrike Schöber, Dortmund

Bildredaktion: Nele Schneidewind

Covergestaltung: ki 36 Editorial Design, Sabine Krohberger

eBook-Herstellung: Viktoriia Kaznovetska

 

ISBN 978-3-8338-8411-5

1. Auflage 2022

 

Bildnachweis

Coverabbildung: Stocksy

Illustrationen: Judy Kaufmann (http://www.judykaufmann.com/) über kombinatrotweiss (https://kombinatrotweiss.de/); Getty Images; Istock; Stocksy; seasons.agency (© seasons.agency / Gräfe & Unzer Verlag / Rynio, Jörn)

Fotos: Stefanie Aumiller

Syndication: www.seasons.agency

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Fördern statt überfordern

Wie kommt es, dass so viele Kinder überfordert sind? Dass Stress nicht nur zu Schwierigkeiten in der Schule und im sozialen Miteinander, sondern auch auf der gesundheitlichen Ebene führt? Erschreckend viele Kinder leiden unter chronischen Schmerzen und Ängsten, haben Konzentrationsstörungen oder zeigen Verhaltensauffälligkeiten, die ihnen selbst, aber auch ihrem Umfeld das Leben manchmal schwer machen. Denn wenn Kinder überfordert sind, betrifft das immer auch die ganze Familie. Als Eltern versuchen Sie natürlich, Ihrem Kind zu helfen und es so gut wie möglich zu unterstützen. Nur allzu oft entsteht daraus aber eine regelrechte Stress-Spirale: Die Überforderung Ihres Kindes führt dazu, dass auch Sie sich überfordert fühlen. Sie wollen Ihrem Kind helfen und erreichen eher das Gegenteil!

Damit sind Sie nicht allein. Genau diese Problematik begegnet uns, Dr. Kurt und Reiner Mosetter, in unserer Praxis für Myoreflextherapie, neuromuskuläre Traumatherapie und Ernährungsmedizin (angewandte Neurobiochemie und Stoffwechsellernen) tagtäglich. Unser Anliegen ist es, Ihnen verschiedene Ansatzpunkte zu zeigen, wie Sie zusammen mit Ihrem Kind aus dieser Spirale der Überforderung aussteigen können. Gemeinsam mit Dr. Sabine Kubesch vom INSTITUT BILDUNG plus, die sich seit über 20 Jahren wissenschaftlich und praktisch mit der Förderung der Selbstregulation von Kindern und deren exekutiven Funktionen befasst, haben wir ein ganzheitliches Konzept entwickelt, das nicht nur Ihrem Kind, sondern auch Ihnen selbst Entlastung und neue Lebensqualität bringen wird. Außerdem hat Ilona Daiker, die sich seit Langem mit Meditation und Achtsamkeit beschäftigt, ihr Wissen aus diesem Bereich einfließen lassen.

In den ersten Kapiteln möchten wir Ihnen die theoretischen, wissenschaftlichen Grundlagen unserer Herangehensweise vermitteln. Da geht es um Stress und seine Auswirkungen beziehungsweise auch darum, wie Sie herausfinden, auf welche Stressfaktoren Sie bei Ihrem Kind besonders achten sollten. Noch medizinischer wird es beim Thema Stoffwechsel und Energiehaushalt sowie bei der Beschreibung einiger gesundheitlicher Beschwerden, die wir ausgewählt haben, weil sie bei Kindern heute besonders häufig vorkommen. Wir haben versucht, das nur so komplex wie nötig und so einfach und spannend wie möglich aufzubereiten. Denn wir sind überzeugt davon, dass es Ihnen bei der Umsetzung unseres Gesundheitskonzepts im Alltag helfen wird, wenn Sie die Hintergründe verstanden haben: Weshalb es zum Beispiel so wichtig ist, möglichst auf einfache, ungesunde Kohlenhydrate zu verzichten und dadurch zu vermeiden, was diese im Körper – und letztlich auch im Geist – anrichten, wenn wir uns hauptsächlich davon ernähren. Andersherum wird das Wissen darum, dass Bewegung und Sport uns schlau machen und dass unsere Muskulatur heilende Botenstoffe ausschütten kann, vermutlich auch Ihre eigene Motivation steigern, sich zu bewegen – gern mit Ihrem Kind.

Im Kapitel über die Förderung der Selbstregulation und die sogenannten exekutiven Funktionen geht es von der Theorie zur Praxis: Wir erläutern Ihnen spannende neue Erkenntnisse aus der Neuropsychologie und geben Ihnen auf dieser Grundlage auch ganz konkrete Erziehungstipps, wie Sie zum Beispiel Ihr Kind dabei unterstützen können, seine Aufmerksamkeit besser zu steuern oder seine Impulse zu kontrollieren.

In den letzten Kapiteln zu den Themen Bewegung, Ernährung und Achtsamkeit finden Sie zwar auch noch einiges Grundsätzliches, doch im Wesentlichen bekommen Sie in diesen Kapiteln Anregungen, Übungsanleitungen und Rezepte für den Alltag.

Wenn Sie also nicht so viel Zeit haben oder gleich in die Praxis einsteigen wollen, ist dies natürlich auch möglich. Vielleicht machen Sie es dann umgekehrt und lesen die Theoriekapitel später oder parallel.

Wie auch immer Sie es machen: Wir wünschen Ihnen viel Freude und einen guten gemeinsamen Weg mit Ihrem Kind!

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Dem Stress auf der Spur

Unsere Kinder wachsen in einer Welt auf, die sie auf vielfältige Weise überfordern kann. Mit einem ganzheitlichen Ansatz, dem neueste Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften sowie das Wissen aus traditionellen Heilsystemen zugrunde liegen, können wir die natürliche Entwicklung der Kinder auf verschiedenen Ebenen fördern, ihre Ressourcen stärken und einer zu hohen Stressbelastung entgegenwirken.

Stressfaktoren erkennen

Wie erkennen Sie, ob Ihr Kind überfordert ist? Und vor allem: Wie finden Sie heraus, welche Stressfaktoren es auszuschalten gilt und bei welchen Sie Ihr Kind unterstützen sollten, damit umzugehen?

Beginnen wir mit den Warnsignalen für Überforderung, die Sie ernst nehmen sollten: Sehr viele Kinder erfahren Stress sprichwörtlich am eigenen Leib, ihre Überlastung zeigt sich also auf der körperlichen Ebene in Form von Einschlafstörungen, nächtlichem Einnässen, Kopf- und Bauchschmerzen oder Müdigkeit. Auch Übergewicht und Immunschwäche können Warnsignale sein. Auf der seelischen Ebene neigen überforderte Kinder zu Symptomen wie Nervosität, Konzentrationsschwäche, Gereiztheit, Aggressivität, Ängsten oder Überdrehtheit. Im nächsten Kapitel (siehe >) werden wir noch näher auf die verschiedenen Gesichter der Überforderung eingehen.

INFO

Die wichtigsten Stressfaktoren für Kinder

  • Leistungsdruck in der Schule (zu viele oder zu schwere Hausaufgaben, Angst vor Prüfungen, Tests oder Präsentationen)

  • Termindruck: zu viele außerschulische beziehungsweise Freizeitaktivitäten

  • Streit mit Freunden, Mobbing

  • Familiäre Probleme und Sorgen (Konflikte, Krankheiten, finanzielle Sorgen)

  • Reizüberflutung durch soziale Medien

  • Zu viel Lärm und Trubel in der Schule oder Freizeit

  • Zu wenig Schlaf

Der Stress steckt in der Muskulatur

Es gibt aber noch eine andere Ebene, auf der wir ansetzen können. Wie wir vorhin gesehen haben, führt die Stressreaktion zu einer erhöhten Muskelspannung, die sich bei psychischen Auslösern aber nicht entladen kann. Im Alltag greifen wir oft auf sogenannte psychomotorische Verhaltensformeln und körperliche Reaktionsmuster zurück, die ursprünglich unserem Selbstschutz und der Möglichkeit zu Kampf und Flucht dienten. Sie sind stammesgeschichtlich sehr alt und haben sich in der Evolution lange bewährt, sind jedoch in der Schule oder im Büro fehl am Platze.

Die Gefährtin der Angst und der Unsicherheit ist die Aggression. Bei aggressivem Verhalten geht es darum, sich angesichts einer Bedrohung und Ängstigung tatkräftig zur Wehr zu setzen. Auch dabei werden der Körper in Alarmbereitschaft versetzt und die Grundspannung des Organismus erhöht. Die Körperenergie bleibt jedoch auch bei vielen Kindern im Organismus stecken und staut sich auf, weil wir sie dazu anhalten, solchen Handlungs- beziehungsweise Aggressionsimpulsen nicht einfach zu folgen und nicht draufloszuhauen. Weder in der Familie noch in der Schule können sich die Kinder (und erst recht nicht wir Erwachsenen!) so zur Wehr setzen, wie es der Körper eigentlich möchte.

Wie innen, so außen – und umgekehrt!

Im Gesicht beziehungsweise in der Mimik lassen sich die Spannungen, die ein Mensch mit sich trägt, oft deutlich erkennen. Da gibt es die sogenannte Zornesfalte, die auch mit Trauer, Misstrauen oder Ekel zu tun haben kann, oft aber auf unterdrückte Aggressionsimpulse zurückzuführen ist. Auch beim Kaumuskel (Musculus masseter), einem der kräftigsten Muskeln, die wir überhaupt haben, sieht man die Anspannung meist schon von außen. Vor allem aber führt sie häufig zu nächtlichem Zähneknirschen, das auch schon bei Kindern vorkommt. Wer ängstlich ist und sich am liebsten verstecken möchte, nimmt unwillkürlich eine Beugehaltung ein: Die Schultern werden nach oben und vorn gezogen, um den Brustkorb, unsere weiche, empfindliche Seite, zu schützen. Der Nacken und die Halswirbelsäule werden ebenfalls eingezogen und angespannt.

Kurzfristig ist das kein Problem. Nehmen wir diese Körperhaltung aber gewohnheitsmäßig an, weil sich unsere Muskeln auf der Körpervorderseite nicht nur aus emotionalen Gründen, sondern auch einfach durch zu viel Sitzen verkürzt haben, entwickeln wir umgekehrt ein Gefühl von Angst, weil wir geduckt stehen oder sitzen. An diesem Beispiel sieht man sehr gut, wie Körper und Psyche als untrennbare Einheit zusammenwirken: Es ist schlicht und ergreifend kaum möglich, sich in einer geduckten Körperhaltung, in der die Atmung eingeschränkt ist, selbstbewusst und frei zu fühlen! Aus diesem Grund ist es notwendig, auch an der Körperhaltung und den Dysbalancen der Muskulatur zu arbeiten, wenn wir unser psychisches Befinden und unsere innere Haltung verbessern beziehungsweise wieder ins Lot bringen wollen. Auch unsere Mimik ist gleichsam unser eigener Spiegel. Sie wirkt nicht nur »nach außen«, sondern auch »nach innen«.

Mit den KiD-Übungen, die Sie in diesem Buch finden (siehe ab >), können Sie Ihrem Kind ein wunderbares und einfaches Hilfsmittel an die Hand geben, mit dem es sich in akuten Stresssituationen besser entspannen kann. Wenn Sie regelmäßig zusammen üben, verhindern Sie außerdem, dass sich Verspannungen und Fehlhaltungen bei Ihrem Kind chronifizieren, und tun sich selbst auch etwas Gutes.

Keine Zeit, keine Zeit!

Hand aufs Herz: Wie oft ermahnen Sie Ihr Kind, dass es doch bitte nicht herumtrödeln, sondern endlich in die Gänge kommen soll? »Bist du immer noch nicht fertig angezogen!«, »Wir müssen jetzt wirklich los!«, »Mach schnell, sonst kommen wir zu spät!« – Wir haben so viel mehr freie Zeit zur Verfügung als die Generationen vor uns, und doch stehen wir ständig unter Zeitdruck, haben immer zu wenig Zeit für die Dinge, die uns eigentlich wichtig sind, weil vorher unbedingt noch dieses oder jenes erledigt sein will. Ist es nicht verrückt? Je mehr Freizeit uns der technische Fortschritt beschert, desto weniger verstehen wir es scheinbar, damit umzugehen.

Sicher, das ist nicht immer einfach, doch eines der Zauberworte lautet in diesem Zusammenhang »Entschleunigung«. Das soll nicht bedeuten, dass Sie Ihr Kind beliebig herumtrödeln lassen und nicht dafür sorgen sollen, dass es pünktlich zur Schule kommt. Versuchen Sie vielmehr, von vornherein mehr Zeitpuffer einzuplanen und Ihre Tages- oder Wochenplanung nicht »auf Kante zu nähen« – auch wenn das bedeutet, dass der eine oder andere Termin, den Sie vielleicht noch dazwischenschieben wollten, eben nicht stattfinden kann.

Auch wenn in der Schule einmal mehr ansteht, streichen Sie gerade dann möglichst nicht das Sport- oder Bewegungsprogramm Ihres Kindes, sondern lieber die Computer- oder Fernsehzeiten. Wenn Ihr Kind in der ersten oder zweiten Grundschulklasse länger als eine halbe Stunde für seine Hausaufgaben benötigt oder in der dritten und vierten Klasse länger als eine Stunde, klären Sie im Gespräch mit der Schule, woran das liegt, denn das sollte in diesem Alter nicht sein.

Anspannung und Entspannung im Wechsel

Gesund und ausgeglichen bleiben wir nur dann, wenn es uns gelingt, uns zwischen den beiden Polen von Anspannung und Entspannung zu bewegen und immer wieder aufs Neue ein lebendiges Gleichgewicht herzustellen. Nach dem Unterricht, bei dem sie viel sitzen müssen, sollten die Kinder sich bewegen. Ideal ist da ein Nachhauseweg, den sie zu Fuß oder mit dem Fahrrad bewältigen können. In der Ganztagesbetreuung ist es wichtig, dass die Kinder auf dem Pausenhof toben dürfen, bevor sie zum Mittagessen gehen. Auch vor den Hausaufgaben sollte es wieder Zeit für Bewegung geben, damit sie sich besser konzentrieren können.

Auf einen Tag, an dem sehr viel los war, sollte ein ruhiger folgen und umgekehrt. Abwechslung hält uns gesund und auch wach. Denn wenn das Leben zu eintönig verläuft, tut uns das auch nicht gut. Kleinere und ab und zu auch größere Herausforderungen im Sinne von positivem Stress sind wichtig für die Entwicklung von Kindern, aber auch für Erwachsene, damit sie ihr Leben nicht in Routinen »verschlafen«.

Unverplante Zeit – der wahre Luxus

Gehören Sie auch zu den Menschen, deren Terminkalender schon auf Wochen verplant ist – voll mit beruflichen und privaten Terminen? Dann sollten Sie sich vornehmen, sich regelmäßig nicht verplante Zeit zu gönnen. Markieren Sie diese Zeit in Ihrem Terminkalender als nicht verfügbar. Das ist eines der schönsten Geschenke, das Sie sich selbst und Ihrem Kind machen können. Denn zu den größten Stressfaktoren, die Kinder in den Stressstudien benannt haben, gehören die vielen festgelegten Termine, die keinen Freiraum mehr lassen für spontane Entscheidungen und Wünsche. Wenn es diesen Raum nicht gibt, diese Inseln der Ruhe, diese Pausen, in denen nichts erledigt werden muss, hat ihr Kind kaum Chancen, einfach in sich hineinzuhorchen, zu spüren, ob es müde ist, ob es kuscheln oder herumhüpfen möchte – oder auch einmal nichts tun. »Und dann braucht man ja noch Zeit, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen«, wie es so schön und sehr weise bei der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren heißt.

Die großen Rhythmen des Lebens

Auch wenn wir manchmal so tun, als ob wir völlig unabhängig wären von der Natur, und manche Menschen tatsächlich aufgrund ihrer Arbeit gezwungen sind, die Nacht zum Tag zu machen, und hin und her wechseln müssen zwischen Tag- und Nachtschichten – unserem natürlichen Rhythmus entspricht das sicher nicht. Für Kinder ist es besonders wichtig, dass sie sich im Alltag an Regelmäßigkeiten orientieren können, und das gilt besonders für folgende zwei Dinge: das Essen und den Schlaf.

Warum unser Schlaf so wichtig ist

Unsere biologische Uhr steuert im Gehirn unseren Schlaf-Wach-Rhythmus. Schlafforscher haben nachgewiesen, dass unsere innere Uhr in einem Tageszyklus von durchschnittlich 24 Stunden und 11 Minuten tickt. Diese innere Uhr befindet sich in einem kleinen Areal im Zwischenhirn, direkt hinter den Sehnerven, und ist verantwortlich für die Steuerung unseres Ruhe-Aktivität-Zyklus. Sie gibt uns also vor, wann wir abends müde und morgens wieder munter werden. Dabei spielen wieder einmal Hormone eine entscheidende Rolle. Schlaf ist ein sogenanntes Vitalbedürfnis.

Ob wir Frühaufsteher oder Morgenmuffel, also sogenannte Lerchen oder Nachtigallen sind, auch ob wir eher lang oder kürzer schlafen müssen, ist genetisch festgelegt. Arbeits- und Schulzeiten nehmen darauf leider keine Rücksicht und es bleibt uns während der Woche nichts anderes übrig, als uns diesen vorgegebenen Zeiten anzupassen. Bei unseren Kindern sollten wir aber unbedingt darauf achten, dass regelmäßige, rechtzeitige Zubettgeh-Gewohnheiten und Schlafenszeiten die Normalität darstellen. Kinder nehmen tagsüber so viele neue Eindrücke wahr, sie haben so vieles zu verarbeiten, und nur wenn sich ihr Gehirn in der Nacht erholen kann, ist es tagsüber in der Lage, seine Lern- und Erinnerungsfunktionen reibungslos ablaufen zu lassen.

Überforderte Kinder, die unter starker Stressbelastung leiden, haben oft Schwierigkeiten einzuschlafen. Sie sind zwar erschöpft, können sich aber schlecht entspannen, und so entsteht ein Teufelskreis: Wegen ihrer inneren Unruhe schlafen sie zu spät ein, und am nächsten Tag ist ihre Belastbarkeit und Selbstregulationsfähigkeit natürlich noch geringer. Um aus diesem Stresszyklus auszusteigen, sind Rituale am Abend enorm wichtig, die Ihr Kind zur Ruhe kommen lassen. Das mag das klassische Vorleseritual sein, bei dem das Kind auch seine Kuscheltiere um sich versammelt. Aber auch verschiedene Achtsamkeitsübungen, wie wir sie in diesem Buch (siehe > ff.) vorstellen, können dabei helfen.

Essen im Biorhythmus

Regelmäßige Mahlzeiten sind ein Faktor, den die meisten Menschen unterschätzen, wenn man über Stressbelastungen spricht. Man nimmt nebenbei einen Snack ein, die Süßigkeiten zwischendurch verderben den Appetit auf die Hauptmahlzeit. Das Radio oder gar der Fernseher laufen während des Essens, jeder hat sein Smartphone neben dem Teller liegen und hat es schon wieder eilig, mit dem Essen fertig zu werden. So merken wir kaum, dass und was wir essen. Das kann nicht guttun, selbst wenn die Nahrungsmittel aus dem Biomarkt stammen! Lesen Sie mehr darüber im nächsten Kapitel und beim Thema Ernährung.

INFO

Die Halswirbelsäule als Taktgeberin

Früher dachte man, der einzige Außenreiz für die Produktion unseres Ruhehormons Melatonin sei das Tageslicht. Neuere Forschungen haben jedoch gezeigt, dass auch Verspannungen im Nacken die innere Rhythmik beeinträchtigen können. Und zwar dann, wenn die verspannte Muskulatur Symmetriestörungen der Kopfgelenke und eine Hyperaktivität der Halsganglien des Nervus sympathicus zur Folge hat. Man weiß mittlerweile, dass neben dem Licht alle Informationen des Körpers auf dem Weg zur Zirbeldrüse (Epiphyse), dem Produktionsort des Melatonins, den Rhythmus mitbestimmen. Wenn hohe Spannungen und Fehlstellungen der oberen Halswirbelsäule zu einer Irritation des Melatoninwegs führen, verursachen sie Störungen unseres Schlaf-Wach-Rhythmus und unseres inneren Zeittaktes. Deshalb ist es auf umgekehrtem Weg auch möglich, durch Myoreflextherapie oder spezifische Übungen eine neuromuskuläre Regulation dieser Regionen zu erreichen.

Was unsere Kinder heute überfordert

Die Coronapandemie hat uns – einem Brennglas gleich – Umstände und Missstände in unserer Gesellschaft überdeutlich vor Augen geführt. Karin Böllert, Professorin für Erziehungswissenschaft und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, erklärte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung im Mai 2021: »Kinder haben in Deutschland eine schlechte Lobby. Das war auch schon vor Corona so. Corona hat die Situation verschärft und sichtbar gemacht.« Aber nicht nur wirtschaftliche Sorgen lasten auf den Seelen der Kinder und Jugendlichen. Bereits im Frühjahr 2021 konstatierte Jakob Maske, der Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in Berlin, die Kinder- und Jugendpsychiatrien seien voll. Die psychische Not der Kinder sei so groß, dass diejenigen, die nur eine Depression hätten und nicht suizidgefährdet seien, gar nicht mehr aufgenommen werden könnten. Ende 2021 kämpfte etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen mit coronabedingten psychischen Auffälligkeiten. Depressionen, Ängste und Essstörungen stehen dabei im Vordergrund: All das sind schwerwiegende seelische Veränderungen, die bei unserem Nachwuchs Spuren hinterlassen.

Die vielen Verbote und Gebote, die in der Lockdown-Zeit erlassen wurden, angefangen bei der Pflicht, Masken zu tragen, über weitgehende Kontaktverbote, die Schließung der Sportstätten und Musikschulen sowie das Verbot jeglicher kultureller Veranstaltungen, Feiern oder Stadtteilfeste bis hin zum Homeschooling, waren für Kinder und Jugendliche besonders gravierend. Einzelkinder hatten kaum noch die Möglichkeit, mit anderen Kindern zu spielen. Monatelang konnten sie ihre Klassenkameradinnen nicht mehr sehen. Besuche bei den Großeltern galten als gefährlich. Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen, die mit Eltern und Geschwistern auf engem Raum leben, konnten sich nicht mehr zurückziehen, sich nicht mehr entfalten. Allen Kindern und Jugendlichen fehlten unterschiedlich stark ausgeprägt Struktur und Freiraum gleichermaßen.

Die Coronapandemie hatte ihnen die Orte weggenommen, an denen sie selbstständig Kontakte aufnehmen und sich frei bewegen konnten. Mehr Handy, mehr Tablet, mehr Laptop und PC – diese Tendenz war auch schon vor Corona auffällig. Es gibt immer mehr »kalte« Kontakte. Aber die »warmen« Begegnungen fehlen und viele Kinder und Jugendliche fühlen sich einsam – ganz egal, wie viele Freunde und Freundinnen sie auf Facebook, Instagram oder TikTok haben.

INFO

Digitale Medien beeinträchtigen die Hirnentwicklung

Fernseher, digitale Medien, Computerbildschirm, Tablet und Smartphone überreizen und überfordern alle Module des kindlichen Gehirns. Schnelle Bildsequenzen und digitale Welten führen zu wiederholten, schnellen Dopaminausschüttungen und der Aktivierung einer Kurzschlussverbindung in der Reward-Schleife des Gehirns. In der Folge entstehen Übererregung und Suchtverhalten. Gleichzeitig trocknen die langsamen Dopaminwege im Stirnhirn aus und verursachen dort eine unkoordinierte Neubildung von nicht ausgereiften Nervenzellen. Darunter leiden die Aufmerksamkeitsspanne, der Antrieb, das Gedächtnis und der Schlaf. Gleichzeitig bleiben die Entwicklung von Weitsicht, Antizipation, Konfliktbewältigung, Arbeitsgedächtnis und Sozialkompetenz auf der Strecke. Der Hirnforscher Manfred Spitzer spricht in diesem Zusammenhang gar von »digitaler Demenz«.

Reaktionen auf eine »ver-rückte« Umwelt

Im von Kurt und Reiner Mosetter geleiteten Zentrum für interdisziplinäre Therapien in Konstanz (ZiT) haben Kinder seit der Coronapandemie häufiger geäußert, dass sie nicht mehr ein noch aus wissen, sich alleingelassen und eingesperrt fühlen. Einige wollten morgens nicht mehr aufstehen, sich nicht mehr waschen oder nichts mehr essen, weil die Situation ihnen den Magen »abschnürte«. Andere fühlten sich bleischwer, müde, hatten den Eindruck, keine Luft mehr zu bekommen oder konnten nicht mehr schlafen. Wieder andere waren ständig krank, weil ihr Immunsystem nicht mehr mitspielte. Sehr verbreitet waren auch chronische Schmerzen im ganzen Körper, Migräne, Muskelverspannungen und neuromuskuläre Probleme wie Tics. Verhaltensauffälligkeiten nahmen deutlich zu. Sehr viele Kinder hatten Angst, ihre Mama oder ihren Papa »krank zu machen«, womöglich schuld zu sein am Tod von Oma oder Opa oder selbst zu sterben. So drastisch, wie sich das anhören mag, ist es auch. All diese Probleme sind nicht selten, sondern stellen seit Monaten eher die neue »Normalität« dar! Die Kinder reagieren im Grunde »normal« auf eine »ver-rückte« Situation, wie die Pandemie sie darstellt.

Wenn die Umwelt verrückt spielt, kriecht diese Umwelt sozusagen langsam unter die Haut – und wird zur inneren Wirklichkeit. Kinder glauben der Welt der Erwachsenen und verinnerlichen diese. Kinder werden zu dem, was sie wahrnehmen, sich vorstellen, erleben, erfahren, sehen, hören und denken. Die Kinder schreien um Hilfe, offenbaren ihre Not, versuchen, so gut wie möglich zu überleben. Wenn nichts anderes mehr hilft, spannen sie alle Muskeln an, beamen sich innerlich weg, schlagen um sich, verstecken sich, wollen unsichtbar werden, wollen davonlaufen, schreien, erstarren oder wollen sogar sterben. Doch noch ist es nicht zu spät: Kinder verfügen über ein hohes Maß an Resilienz und meist lassen sich diese Stressreaktionen auf natürlichem Weg über Bewegung, genügend Schlaf, ausgewogene Ernährung und Achtsamkeit wieder regulieren.

Mögliche Folgen andauernder Stressbelastung

Ist die Stressbelastung, unter der die Kinder stehen, konstant zu hoch und dauert zu lange an, erholen sie sich womöglich nicht mehr von allein und die Anfälligkeit wird größer – selbst gegenüber schwächeren Stressoren. Schon vor Beginn der Coronapandemie hatten immer mehr Kinder mit Übergewicht, chronischen Schmerzen, AD(H)S, Lernschwierigkeiten und Antriebsstörungen sowie neuromuskulären Stressreaktionen zu kämpfen. Die folgenden alarmierenden Zahlen stammen aus verschiedenen Studien aus den Jahren 2017 bis 2019:

Übergewicht und seine Folgen

Schmerzen

Lernschwierigkeiten

Wie neuromuskuläre Stressreaktionen sich äußern

Einen Fall von neuromuskulärer, pandemiebedingter Stressreaktion aus unserer Praxis möchten wir Ihnen schildern. Noras Geschichte ist zwar extrem, zeigt aber überdeutlich, was Stress und Überforderung auslösen und wie wir therapeutisch damit umgehen können.

Aus unserer Praxis: Die Geschichte von Nora

Wie aus heiterem Himmel wachte Nora eines Morgens 2020 mit gelähmten Beinen auf. Sie wurde in die Notfallambulanz der Uniklinik eingeliefert, wo umfassende neurologische Untersuchungen und psychiatrische Begutachtungen gemacht wurden. Mit der Diagnose einer »psychogenen Lähmung« unklarer Genese wurde Nora nach fünf Tagen entlassen. Zu Hause angekommen, verschlechterte sich ihr Zustand weiter. Ihre Mutter nahm Kontakt zum ZiT auf, weil wir Nora bei Kopf- und Nackenschmerzen schon einmal helfen konnten. Noras Augen blickten mit großen Pupillen in die Ferne. Aus unserer Sicht war Nora vor lauter Angst, Stress und Verzweiflung wie eingefroren und versteckt oder offen erstarrt. Die Mutter erzählte weinend, Nora sei trotz »den allgemeinen Coronabedingungen« stolz in die Schule gegangen. Ihr Mann habe ihr deshalb Vorwürfe gemacht, weil er mit Adipositas, Bluthochdruck und Diabetes schließlich zu den Risikopatienten gehöre. Nora entgegnete ihm, dass er ja selbst schuld sei und sie unbedingt in die Schule gehen wolle, was sie auch tat. Ihr Vater zog sich wütend zurück und »schützte sich« vor ihr. Trotzdem hatte Nora ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht an einem möglichen Tod ihres Papas schuldig sein wollte. Nach einer Woche wachte sie dann mit den Lähmungen auf.

Durch die Behandlung mit Myoreflextherapie kam bei Nora langsam etwas Gefühl zurück. Unterstützt wurde die Therapie durch Fußmassagen, warme Fußbäder, Trampolin- und KiD-Übungen (siehe >). Nach wenigen Behandlungen konnte Nora wieder auf ihren Beinen stehen und einige Schritte gehen. Im Laufe der kommenden Wochen wurde sie wieder gesund. Entscheidend für den Therapieerfolg waren konsequente körperliche Behandlungen, die Nora ihren eigenen Körper wieder zugänglich machten. Sie konnte sich wieder besser spüren und ihr Körper auf diese Weise seine muskulären Spannungen regulieren – er konnte ent-stressen. Eng damit verwoben war eine familientherapeutische Psychotherapie, denn für Noras Heilung musste auch die psychosoziale Schieflage reguliert werden.

Ressourcen fördern

Konzepte wie das »Aktionsprogramm Aufholen nach Corona«, mit dem pandemiebedingte Lernrückstände behoben werden sollen, sind zwar gut gemeint. Doch anstatt die Kinder jetzt damit noch mehr unter Druck zu setzen, sollten wir versuchen, sie zu stärken, und ihnen dabei helfen, ihre Stärken und Möglichkeiten wahrzunehmen und sich (wieder) zu entfalten – damit sie sich zu gesunden, lernfähigen und glücklichen Menschen entwickeln. Genau dazu möchten wir mit diesem Ratgeber beitragen.

Kleine Kinder ergreifen und erfassen ihre Umwelt mit dem Mund, den Händen und in Bewegung. Dies geht den kognitiven Prozessen des »Be-greifens« und des »Er-fassens« notwendigerweise voraus. Die Eroberung der Welt mit Händen und Füßen nährt und stabilisiert das Timing der sensomotorischen Entwicklung. Im aktiven Wahrnehmen reifen unsere Sinnessysteme gleichzeitig mit unseren motorischen Fertigkeiten, also unseren Bewegungsfähigkeiten.

Soziale Interaktion, also die Beziehung zu anderen Menschen, und sämtliche Bewegungen wie Spielen, Singen, Klettern, Ballspielen, Musizieren fördern die Reifung der Körper-Gefühlslandschaft und des Stirnhirns. Die große Besonderheit des Stirnhirns liegt nicht nur in der Verschaltung von kognitiven Fertigkeiten. Es ist auch verantwortlich für die Entwicklung sozialer Fertigkeiten im Miteinander. Es hilft bei der Balance von Emotionen und der Bewältigung von Konfliktsituationen, indem es die Sachverhalte bewertet und übergeordnet zur Beruhigung beiträgt.