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Elke Weiler

Rindviecher im Nebel

Ein Hundekrimi von der Nordsee

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Dneprstock / Shutterstock;
krambik / stock.adobe.com; 7089643 / pixabay;

VecTerrain / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7160-5

Zitate

»Konventionen interessieren mich eine feuchte Ackergülle.«

Julchen

*

»Lebe jeden Tag, als wäre es dein Geburtstag.«

Mademoiselle Julie

 

Widmung

Für die Chachaputis dieser Welt und alle, die es noch werden wollen, sowie sämtliche Vierbeiner ohne eigene Schreibkraft oder Lobby

 

Glossar: Julchens Welt

Madame: die Chefin in Julchens Zuhause. In anderen Haushalten sagen sie Frauchen. Wie niedlich!

Monsieur: der Mann von der Chefin, Herrchen sagen sie in anderen Rudeln. Julchens frühe französischsprachige Prägung hat sie vor der Übernahme derartiger Begriffe bewahrt. Wo das Französische herrührt, weiß keiner so genau. Als Welpe hat sie eher auf Julie gehört als auf Julchen.

Jannimann: von der Verwandtschaft so getaufter Mitbewohner namens Janni, auch die Schlumpfbacke genannt. Er stammt zwar aus derselben Geburtshütte wie Julchen, tickt aber ganz anders. Echt kein Vergleich!

Mademoiselle Julie: Julchens Alter Ego ist auf Psychotherapie spezialisiert. Ihr Geheimrezept: Buddeln hilft! Immer.

Grandmadame: Mutter von Madame und Partyhase. Erscheint stets pünktlich zu sämtlichen Feierlichkeiten auf der Bühne.

Gackervieh: unter Lutschern als Hühner bekannt, die nach Julchens Erfahrung ziemlich leckere Eier produzieren. Im Sommer hat sie nämlich mal ein Versteck im Schilf entdeckt und konnte zwei Stück probieren. Chapeau, liebes Gackervieh!

Lutscher: So nennt man abschleckwillige Zweibeiner. Also fast alle. Trifft es nicht zu, spricht man unter Hunden von Nichtlutschern.

Titi: kleiner Zweibeiner, meist groß im Buddeln und damit prädestiniert, Julchens Skills in dieser Disziplin entsprechend zu würdigen.

Löffelgesicht: in Lutscherkreisen auch Katze genannt.

Rennplüsch/Fellkartoffel: auch als Meerschweinchen bekannt. Als diese noch zahlreich in Julchens Rudel lebten, produzierten »Rennplüsch Media« ihre Filme. Aber das nur so am Rande.

Wollknäuel: Die Schafe sehen unserer Protagonistin zwar ähnlich, wie diverse Lutscher meinen, doch handelt es sich um eine andere Spezies.

Occupy-Bewegung: wenn Wollknäuel im Frühjahr die Deiche besetzen. Eigentlich ein Unding, weil Julchen dort am liebsten selber herumdüst, vor allem auf der Deichkrone.

Löffelträger/Feldflitzer: unter Lutschern als Hasen bekannt. In Julchens Augen überschreiten sie oft die auf den Fennen vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit und entziehen sich durch ihre brillante Fluchttechnik einem Verweis.

Superpiepmätze: Zugvögel, die im Frühjahr und Herbst in riesigen Scharen durch die nordfriesischen Lüfte ziehen und sich gerne an der Theke bedienen, sprich auf den Fennen der Bauern. Was zu Interessenskonflikten führt. Doch der Weg in den Süden oder Norden ist nun mal lang, und irgendwie muss man sich den Bauch vollschlagen.

Plüschomat: Lebewesen mit enorm viel Fell, egal, ob Hund, Schaf oder Moschusochse.

Himmelschafundmeer: typischer Fluch unter Hunden an der Nordseeküste.

Heilige Ackergülle: siehe oben.

Zum Pferdeäpfelpürieren: wenn etwas absoluter Mist ist.

Fenne: heißt eine Weide in Nordfriesland ganz offiziell.

Sankt Buddel: Julchen hat in Sankt Peter-Ording so prägende Erfahrungen gemacht, dass sie ihren Lieblingsort umgetauft hat.

Multifunktionaler Schnackapparat: Smartphone pflegen die Lutscher auf Neudeutsch zu sagen. Quasi die Verlängerung eines Lutscherarms. Neben der Blechhöhle und dem Wunderkasten gehört er zu den drei wichtigsten Dingen im Lutscherleben.

Statischer Schnackapparat: seltenes Teil, das in manchen Haushalten überlebt hat. Einst als Festnetztelefon bekannt.

Wunderkasten: Jeder hat sein Heiligtum. Was dem Gackervieh der Kompostierer, ist dem Lutscher der sogenannte Fernseher. In Wirklichkeit ein Nahseher. Die Welt in Klein. Für den Vierbeiner gilt der ritualisierte Abend vor der Glotze als Glücksfall. Zumindest dann, wenn er einen Platz neben seinem bevorzugten Lutscher ergattern und auf ein zünftiges Krauli hoffen kann.

Blechhöhle: ein beliebtes Fortbewegungsmittel, in Lutscherkreisen auch Auto genannt. Julchens sichere Burg für lautstarke Verweise an Schafe, Kühe, Pferde, Hindernisse auf der Fahrbahn und vor allem: Höllenmaschinen.

Höllenmaschinen: das Schlimmste, was sich auf Nordfrieslands Straßen herumtreibt. Höllisch laut, aufreizend schnell und mit vermummten Lutschern bestückt.

Schwarzhosen: Bemannung der Höllenmaschinen. Alles andere als vertrauenswürdig aus Julchens Sicht.

Rüdenkram: Damit sind männliche Hunde meist über die Maße beschäftigt, wie Julchen findet. Der gemeine Rüde sucht die Konfrontation mit seinesgleichen und verteidigt »sein« Territorium bis aufs Messer, oder sagen wir: bis auf den Fangzahn.

Vorderpfotentaps: spezieller Paartanz der Bearded-Collie-Tradition, den auch andere Hunde beherrschen. Die Tänzer stellen sich dazu auf die Hinterbeine, berühren sich mit den Vorderpfoten und lassen es krachen.

Geburtshütte: das Haus der Königsfamilie, wo (fast) alle Bearded Collies der Gegend herkommen. Zumindest Julchen und ihr Mündel Janni. Die beiden sind nicht direkt verwandt. Na ja, um ein paar Ecken doch.

Boßeln: offizielle Bezeichnung für eine typische Sportart an den Nordseedeichen. Man wirft Kugeln durch die Gegend und legt dabei mehrere Kilometer zurück – egal bei welchem Wetter. Hunde dürfen den Kugeln auf gar keinen Fall hinterherrennen (Lutscher sind solche Spielverderber).

Oberjournalistisch und schafsköddelkorrekt: Julchens Devise. Als Ermittlerin ist sie nun mal der Wahrheit und nichts als der Wahrheit verpflichtet.

Das Große Eierfest: Die Lutscher nennen es Ostern. Als die Rennplüsche noch Teil des Rudels waren, wurde jedes Jahr ein Osterhase gekürt. Julchen gab sich zwar große Mühe, doch meist holte eines der Meerschweinchen den begehrten Titel.

 

1. Das Omen

Rülpsend lief ich über den Deich, Madame folgte mir unauffällig. Es war einer jener alten Deiche im Marschland, den die Lutscher als Rennstrecke nutzten. Schmal und ohne Wege für unsereins. Doch an diesem Tag war mir nicht nach lautstarken Verweisen, was die rasante Geschwindigkeit von Blechhöhlen betraf. Ich genoss die Morgensonne, die im Bodennebel badete. Nach dem unendlich langen, nassen und grauen Winter hatte ich bereits erste Boten des Frühlings aufgespürt. Man musste allerdings präzise hinsehen beziehungsweise schnuppern. Die Bäume noch blattlos, das Land aschfahl, nur der Himmel strahlte. Ich mochte dieses Blau, das zwei Drittel der Landschaft beherrschte. Es machte einen fast schwindelig, und die Sonnenstrahlen tanzten Boogie auf dem Fell.

Als wir in einen Seitenweg abbogen, vernahm ich sofort einen Geruch, der nicht in die Idylle passte. Ich folgte meiner Nase und bremste kurz vor der Leiche scharf ab. Reglos lag das Tier im Gras am Rande des Grabens. Natürlich merkten Lutscher solche Feinheiten nicht, sie rochen ja kaum etwas. Und was sie nicht sahen, schien nicht zu existieren. Ich warf Madame einen kurzen Blick zu, gedankenversunken starrte sie in die Ferne. Wir waren durch ein zartes Band miteinander verbunden, doch das störte mich selten. Madame ging ganz gut an der Leine. Zudem gab es einen Spielraum von mehreren Metern, der jedem von uns zugutekam.

Also schnupperte ich genauer. Die Leiche war frisch. Maximal ein paar Stunden alt. Da die Gerichtsmedizin noch nicht vor Ort war, nahm ich das tote Tier für erste Untersuchungen ins Maul, prüfte Gewicht und Festigkeit. Zur Todesursache konnte ich nichts Genaues sagen, äußere Verletzungen waren nicht festzustellen.

Madame schüttelte angewidert den Kopf und bezweifelte meine Zuständigkeit: »Pfui! Lass das arme Tier los!«

Wir einigten uns darauf, dass ich das mögliche Mordopfer nicht selbst in die Gerichtsmedizin brachte. Doch um die Aufnahme der Details kam ich nicht herum.

Vorname: Bisam.

Nachname: Ratte.

Fundort: Grabenrand in der nordfriesischen Marsch, Halbinsel Eiderstedt.

Todesursache: unklar, vermutlich Fremdeinwirkung.

Mir war zwar klar, dass die Feldhasen gerade hochaktiv über die Fennen hoppelten und dabei recht chaotisch agierten, doch einen Zusammenprall mit einem von ihnen konnte man als Todesursache definitiv ausschließen. Die Löffelträger verfügten über ein Eins-a-Reaktionsvermögen und waren zu Richtungsänderungen quasi in Schallgeschwindigkeit fähig. Diesbezüglich hatte ich selber schon einschlägige Erfahrungen machen dürfen.

Vermutlich war es mal wieder die Schuld einer Blechhöhle, derartige Unfälle galten nach einer internen Statistik als häufigste Todesursache für Wild- und Katertiere in der gesamten Gegend. Wir konnten im Rudel ein Lied davon singen, ein trauriges. Kein adoptiertes Löffelgesicht war uns geblieben. Auch mein alter Kumpel Mats war entweder auf Weltreise gegangen, oder es hatte ihn eiskalt erwischt. Er galt als verschwunden, schon seit Jahren. Auch die Akte mit Bisams Tod würde nun den meterhohen Stapel der ungeklärten Fälle erhöhen.

Madame zog mich fort, bevor ich Näheres klären konnte. Sie hatte es plötzlich eilig, typisch Lutscher! Sie hatten einfach einen anderen Rhythmus als unsereins. Nie war genug Zeit, um vollständige Schnupper-Profile zu erstellen. In der Ferne maulte der Hund vom Haus am Schafswollweg. Dazwischen das beunruhigte »Määäh!« eines Wollknäuels, auf das seine Kollegen in periodischen Abständen antworteten. Der Chor der Schafe klang disharmonisch, doch ich konnte die tote Bisamratte als Grund dafür ausschließen. Vermutlich kannte man sich gar nicht, hatte sich höchstens mal flüchtig bei einer Grabenquerung gesehen. Machte ein Fuchs die Schafe nervös? Auch das konnte ich ausschließen, dafür war es zu hell. Ich lauschte dem Soundtrack der Marsch, erhoffte mir Hinweise auf das Geschehen. Am Ende setzten sich die Kühe von Bauer Thule akustisch durch. Mir schien, als ginge ihr Muhen über das durchschnittliche Palaver auf der Fenne hinaus. Irgendetwas lag in der Luft.

Als Madame mich von der Leine ließ, wischte ich alle Gedanken beiseite und peste wie ein Wildschwein durch die Gegend. Das Leben war schön! Und ich mochte Tage wie diese. Tagsüber mischten sich neue Duftnoten in die stumpfe Winterkälte, und gegen Abend kroch die Feuchtigkeit aus dem Boden und dampfte übers Land. In der Dämmerung trennte sie Häuser, Bäume und Horizont von der Realität. Mittendrin im weißen Nebel die Rindviecher als einzige Verbindung zum Hier und Jetzt. Endlich waren sie aus ihren Hütten hervorgekommen, um das Ende des Winters und die Freiheit auf den Fennen zu feiern. Manche hüpften vor Freude und jagten sich gegenseitig. Dann blieb ich stehen und schaute ihnen zu, bevor ich sie nach besten Kräften anfeuerte. Immer gemäß dem Motto: »Lebe wild und ungestüm!« Nach diesem endlos langen Winter im Stall hatten die Rindviecher alles Recht der Welt zu feiern und zu tanzen. Ja, sie gefielen mir, ganz ehrlich. Wie sie so vor sich hin mampften, sich gegenseitig putzten oder probeweise hoppelten wie die Feldflitzer. Wie sie dastanden. Als letzte Details einer Landschaft, die sich langsam auflöste.

Irgendwie fühlte ich mich zu ihnen hingezogen. Vielleicht zu stark, zumindest aus der Sicht von Madame und Monsieur. Die Sache hatte sich folgendermaßen zugetragen: In der ersten Wirbelblätterzeit meines Lebens kam ich zu der Überzeugung, dass Kühe die besseren Pferde waren. Sie interessierten sich stark für ihre Umwelt, waren stets neugierig, sozial und hatten ein sehr gutes Reaktionsvermögen. Sie traten zum Rapport an, wenn man es wünschte. Und wie man es wünschte! Nach unserem Umzug auf die schöne Halbinsel Eiderstedt freute ich mich über die neuen Nachbarinnen, die gemächlich an unserer Kate vorbeitrotteten. Fast gehörten sie zum Rudel, ohne es zu wissen. Monsieur nannte sie schlicht »die Mädels«. Und Madame? Jeden Morgen öffnete sie eigens das Küchenfenster, um ihnen ein fröhliches »Moin« entgegenzuzwitschern. Völlig übertrieben! Wünschte mir etwa jemand einen schönen Tag?

Trotzdem. Gute Beziehungen waren wichtig. In dieser Hinsicht galt ich als Profi, und in Sachen Lutscherbetreuung erhielt ich regelmäßig Bestnoten. Mit Schafen und Rindviechern war die Sache komplexer. Um die Mädels näher kennenzulernen, schlich ich mich geschmeidig wie ein Katertier durch die Büsche und sprang leichtfüßig über den trennenden Graben. Mir war klar, dass ich mich auf fremdem Terrain bewegte. Auch wenn die Gräben des Marschlandes der Entwässerung dienten, galten sie aus Sicht der Lutscher als Grenzen. Mein und dein? Überflüssige Begriffe, ginge es nach mir. Als Hund wusstest du: Nichts gehörte niemandem. Okay, der Napf, aus dem ich fraß, bildete eine vorübergehende Ausnahme. Auch teilte ich Madames Aufmerksamkeit ungern. Aber wie konnte man ein weites Land durch Grenzen verunstalten? Als Vierbeiner schlecht nachzuvollziehen.

Vorsichtig steuerte ich damals auf die Mädels zu. Diese Sozialtiere schienen sich über den unangekündigten Besuch zu freuen und bauten sich in einer Reihe vor mir auf. Doch die Sache ging gründlich schief, denn Monsieur entdeckte mich auf der Weide, pfiff mich zurück und baute flugs einen Zaun. Mein Kontakt zu den Rindviechern war daher oberflächlich geblieben. Natürlich trotteten sie weiterhin am Haus vorbei, oder man stand sich mal am Graben gegenüber, grüßte sich. In solchen Fällen boten Janni und ich den Zuschauerinnen exquisites Wiesen-TV mit Tanz und Gesang. Doch trotz unserer Bemühungen blieb es ein Verhältnis auf Abstand.

*

Am Nachmittag steuerte ich mit Madame mein heiß geliebtes Sankt Buddel an, wo weder Bisamratten noch Rindviecher anwesend waren. Allenfalls mal ein Seehund. Die Sandwüste galt als Hotspot auf Eiderstedt, beliebt bei Ferienlutschern und Vierbeinern aus nah und fern. Meist vermieden wir den Trubel im Sommer und stürmten den überdimensionierten Sandkasten in der Nebensaison. Zwar konnte ich auch hier der Lutscherlogik nur schwer folgen, bot der Sommer doch zahlreichere Kontakte mit Gleichgesinnten im sogenannten Hundeauslauf. Aber gut. Herbst, Winter und Frühling waren auch cool. Nur noch an der dänischen Westküste konnte man meinen Erfahrungen zufolge besser flirten als in Sankt Buddel.

Ein windstiller Tag. Das leise Rauschen des Meeres in der Ferne. Die Nordsee hatte Pfützen hinterlassen, in denen sich die Wolken spiegelten. Leichtfüßig sprang ich darüber. War ich in einem früheren Leben ein Hase gewesen?

»Chachaputi!«, hörte ich Madame rufen. Sie war manchmal so. Nicht, dass ich sie nicht verstand. Angeblich kam der Begriff aus einem verschollenen Inka-Dialekt und bedeutete so viel wie »Sonne im Herzen und Hummeln im Hintern«. Sie hatte mir das mal erklärt. Für mich war es der verrückteste aller Namen, die Madame gemeinhin für mich verwendete. »Suzette«, »Knödel«, »Ciabattina«, nicht selten hatten ihre Schöpfungen einen kulinarischen Bezug. Manchmal sagte sie einfach nur »Chacha«, und ich hatte längst aufgehört, mich zu fragen, ob damit der Herz- oder der Hinterteil gemeint war. Ich hoppelte also über die Pfützen und tobte durch den Sand, bis wir die Wasserkante erreichten. Die Wellen klatschten mir vor den Bauch, ich konnte nicht anders und bellte das impertinente Meer an. Es gab sich gerne temperamentvoll, galt aber als unzuverlässig. Dieses ständige Kommen und Gehen führte dazu, dass man sich umso mehr danach sehnte. Es machte sich rar, wenn auch nicht gerade in Sankt Buddel. Hier konnte man es zuverlässig treffen, man musste bei Ebbe nur etwas weiter über den Strand düsen. Aber an vielen Orten der nordfriesischen Küste verschwand das Meer zeitweise ganz aus dem Blickfeld.

Manchmal war die Nordsee, wie sie die Lutscher nannten, wild und aufbrausend wie der Wind. Manchmal ruhig und lässig. Hier an der Küste verfügten wir zudem über eine Art Bonus: das Watt. Eigentlich gab es kaum eine gesündere Materie als diesen schlabbrigen Boden! Wer also wie ich auf Badeaktivitäten weitgehend verzichtete, wählte alternativ den Schlick. Am besten gleich die volle Packung. Wenn das wunderbare Watt blubberte und unter den Pfoten knatschte, herrschte Ebbe. Es war die beste Zeit, sein Frisbee in den Schlamm zu werfen und sich selbst gleich hinterher. Von allen Matscharten hatte Schlick einfach die beste Konsistenz und Haltbarkeit. Und in solchen Momenten des Glücks mutierte ich zu dem, was man gemeinhin ein Schlickschwein nannte.

Mit der taupefarbenen Umgebung verschmelzend machte ich mir Gedanken über das Wann und Wie. Vor allem über das Wieso und Warum. Und dann kam mir die Erleuchtung. Es musste mit meinem fortgeschrittenen Alter zu tun haben, immerhin hatte ich nun schon etliche Monde auf dem Plüschrücken. Unser Meer war zwar impertinent und unzuverlässig, aber äußerst großzügig! Die Hälfte der Zeit überließ es uns einen Teil seines Bodens, damit wir die genialsten Hüpfer darauf machen konnten. Ich fand diese Erkenntnis umwerfend.

Doch Madame spielte die Klugscheißerin und meinte, es hätte mit dem Mond zu tun. Das erschien mir unlogisch. Wie sollte ein so großes Wasser einer Mini-Leuchtkugel hinterherrennen? Und mit welcher Motivation? Die Sache ließ mir keine Ruhe. Einmal stand ich nachts draußen und befragte die helle Sichel, von der ich genau wusste, dass sie sonst rund war! »Wuff!« Ich wiederholte mein Anliegen. Wurde lauter, drängender. Kein Kommentar. Monsieur stand sogleich auf der Matte und wollte wissen, was los war. Stumm deutete ich in Richtung Mond. In typischer Lutschermanier zuckte Monsieur die Achseln und verschwand in der Hütte. So viel zu fruchtbaren Diskussionen mit Zweibeinern.

Ich sah mich um. Folgten auch die Rindviecher dem Mond? Sie waren immer in Bewegung, grasten mal hier und mal dort. Folgten wir alle irgendwie dem Mond, ohne es zu merken? Die angebliche Macht des Mondes über das Meer brachte mein Weltbild ins Wanken. Abergläubisch war ich jedenfalls nicht. Daran konnte auch eine tote Bisamratte nichts ändern.

2. Verschwunden

Auf dem Nachhauseweg sang Madame lauthals irgendein Lied im Radio mit. Ohne den Text zu kennen, stimmte ich wuffend ein. Gemeinsames Jodeln stärkte den Gemeinschaftssinn ebenso wie gemeinsames Jaulen. Leider wurde unser vielversprechendes musikalisches Duett abrupt beendet: Madame musste bremsen. Ein möglicherweise suizidgefährdeter Hase lief geradewegs vor die Scheinwerfer der Blechhöhle. Heilige Ackergülle! Waren denn plötzlich alle Löffelträger vor die Pumpe gerast? Hatten sie das Gras geraucht, statt es zu fressen? Der Vorfrühling machte sie kirre. Aber mir war nicht nach einer weiteren Leiche! Madame schlich über die Straße, immer nach dem konfusen Hasen Ausschau haltend. Doch der Flitzer nahm die Chance nicht wahr und behielt den Zickzackkurs bei. Als wäre es zu viel verlangt, sich mal für eine Seite zu entscheiden! Natürlich blies ich ihm gehörig den Marsch. Dummerweise war der Typ ebenso beratungsresistent wie mein Mündel Janni. Oder schirmte die Blechhöhle den Ton zu gut ab? Okay, dann drehte ich halt den Verstärker auf. Endlich verschwand der Hase aus unserem Blickfeld, und Madame heizte ein. Anscheinend knurrte nicht nur mir der Magen. Dinner-Zeit!

Aber was musste ich da hören, führte Madame etwa Selbstgespräche? Ich rappelte mich hoch und checkte die Lage. Gerade fuhren wir an Bauer Thules Hof vorbei, wieder reduzierte Madame das Tempo. Alle Türen standen offen, und Lazlo bellte wie ein Besessener. Letzteres war nun wirklich kein Normalzustand. Ich fiel akustisch ein, und das nicht nur aus Höflichkeit. Am liebsten würde ich nach dem Rechten sehen. Auf dem Hof schien das pure Chaos zu herrschen. Die Rindviecher liefen kreuz und quer über den Hof, vermutlich hatten sie sich mit dem verrückten Hasen zusammengetan. Meine Fantasie lief auf Hochtouren. Vor meinem geistigen Auge waberten dichte Nebelschwaden, die nicht wetterbedingt waren. Kühe, Schafe, Hasen, Rehe feierten zusammen. Halluzinierte ich aufgrund von akutem Hunger? Ich scannte den Hof ab. Wo trieb sich bloß der Aufsicht führende Feldlutscher herum?

Madame bremste hart: Nach dem Löffelträger hatte sich eine Kuh auf die Fahrbahn verirrt. Nordfriesland in Reinform. Da stand das Rindvieh und guckte direkt ins Cockpit. Wollte es vielleicht auf der Kühlerhaube Platz nehmen?

Unbeherrscht fuhr ich die Kuh an. Keine Reaktion. Madame und ich brauchten dringend Verstärkung, schließlich waren diese Rindviecher außer Rand und Band und uns kräftemäßig überlegen. Dazu noch in der Überzahl! Wenn nun alle auf die Straße kämen? Ich wurde immer nervöser, doch zumindest Madame schien einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie zückte nicht den mobilen Schnackapparat, sagte nichts, sie sah einfach nur hinaus. Blickte der Kuh geradewegs in ihre hübschen Augen, während diese auf die Windschutzscheibe starrte. Wer würde zuerst aufgeben, Madame oder die Kuh? Es war der reinste Nervenkrieg.

Nach endlosen Minuten des Wartens trottete die Kuh in aller Gemütsruhe zur Seite. Gewonnen! Auf dem restlichen Weg mussten wir weder mit kleineren noch mit größeren Hindernissen rechnen. Während ich meine wohlverdiente Abendmahlzeit einnahm, Biohuhn mit Reis, lief Madame wie ein aufgescheuchtes Huhn hin und her. Die chaotische Situation auf dem Hof schien ihr keine Ruhe zu lassen. Also hängte sie sich an den statischen Schnackapparat. Die gesamte Nachbarschaft schien bereits im Bilde zu sein. Auch wenn die Lutscher auf Eiderstedt meist außerhalb ihrer Rufreichweite wohnten, war hier jeder wohlinformiert. Alles wurde registriert. Man kümmerte sich umeinander. Man zerbrach sich den Kopf. Man half. Ich sowieso! Und wir Hunde hatten eh ein funktionierendes System aufgebaut, um uns auch über Kilometer noch auszutauschen. Allein an der Art des Bellens konnte ich erkennen, wie der Nachbarshund drauf war.

Das tierische Chaos auf dem Bauernhof beschäftigte alle, doch anscheinend hatte niemand den Feldlutscher mehr gesehen, er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Eines ließ Madame hörbar aufatmen: Ein Kollege und Freund von Thule kümmerte sich um das verstreute Vieh. Tamme ging zwar aufs Rentenalter zu, galt aber als ausgesprochen fit, trotz der jahrelangen körperlichen Arbeit auf dem eigenen Hof. »Dat is een Klacks för mi«, war einer seiner Lieblingssprüche. Eigentlich wollte er sich bald zur Ruhe setzen, ohne sich ganz von seinen Tieren zu trennen. Als Bauer hatte man es nicht leicht. Die Marsch forderte einen, davon wussten auch Madame und Monsieur bereits ein Lied zu singen, waren sie doch selbst unter die Gärtner gegangen und bauten Gemüse an. Der Boden der Marsch entstand aus Wattboden. Zwar galt er als äußerst fruchtbar, aber auch als kompliziert und wurde daher oft als Weide genutzt. Auch beim Buddeln hatte man seine liebe Not. Ich zog Sandstrände vor, konnte aber das im Herbst beliebte Mausloch-Buddeln nicht ganz vermeiden. Madame und Monsieur wollten derlei Aktivitäten nicht gutheißen. Erstens, weil das Grundstück dann zur Kraterlandschaft mutierte; zweitens, weil meine Pfoten ein schwarzes Finish bekamen. Aber als viel beschäftigter Hund konnte ich nicht auf alles und jeden Rücksicht nehmen.

Was Thule anging, wollte ich nachhaken: Die Fahndung lief doch, oder? Mir schwante nämlich, dass dem nicht so war.

»Sucht die Polizei nach Thule?«, sprach nun auch Madame in den Schnackapparat. Ein typischer Fall von Gedankenübertragung. Manchmal tickten wir eben doch gleich. Kein Wunder nach all den gemeinsamen Jahren. Ich war überzeugt, dass nur eine möglichst rasche Spurensuche vor Ort erste Hinweise liefern konnte. Mir kribbelte es schon unter den Pfoten.

»Okay«, murmelte Madame nun. Das klang nicht gut. Als sie aufgelegt hatte, erzählte sie Monsieur, der ebenfalls in Sorge war, dass die Polizei zunächst nichts unternehmen wollte. Gar nichts! Schließlich wäre Thule ein erwachsener Mann und konnte tun und lassen, was er wollte. Man würde noch warten, bevor man einschritt. Dass seine Exfrau und seine Söhne sowie diverse Freunde sich Sorgen machten, wog augenscheinlich nicht genug, um eine Suchaktion zu starten.

Es war zum Pferdeäpfelpürieren! Bis dahin konnte alles Mögliche passieren, wenn es nicht schon geschehen war. Ich entwickelte einen Einsatzplan und zog Madame während des Spätgassis in Richtung Bauernhof. Die Kühe muhten um die Wette, alles schien aus dem Ruder zu laufen. Natürlich kümmerte Tamme sich, so gut es ging, doch schienen sie Thule und seine Rundumbetreuung zu vermissen. Oder spürten die Rindviecher, dass etwas passiert war?

Madame erlaubte mir nicht, auch nur eine Pfote auf das Grundstück zu setzen. Heilige Ackergülle! Wie sollte man so präventiv ermitteln? Und war nicht eigentlich Gefahr in Verzug? Ich zog also weiter zum Hof hin, doch Madame sträubte sich. Mit Worten versuchte sie mich von meinem Plan abzuhalten: »Wenn der Bauer zurückkommt, sähe das nach Hausfriedensbruch aus.«

Hausfriedenswas? Himmelschafundmeer! Was war denn nun mit der viel beschworenen Fürsorge und den guten nachbarschaftlichen Verhältnissen auf unserer Halbinsel?

Ich bellte kurz, aber bestimmt. Umso besser, wenn der Bauer wieder dort wäre! Dann könnte man »Moin« sagen und vielleicht drei Takte miteinander schnacken. So ging Nachbarschaft.

Doch Madame wusste genauso gut wie ich, dass kein Zweibeiner auf dem Hof war. Die Unruhe der Tiere verhieß nichts Gutes. Genau deswegen wollte Madame den Hof nicht betreten. Es war gespenstisch, sie fühlte sich nicht wohl. Mir erschien es klar wie Kloßbrühe, dass der Bauer nicht einfach abgehauen war. Man hörte es. Man roch es. Man schlussfolgerte es: Warum zur Ackergülle sollte dieser fürsorgliche Mensch seine Tiere allein lassen?

Noch etwas wunderte mich: Lazlos Bellen fehlte. Wenn er keinen Ton von sich gab, war er nicht da. Vielleicht hatte er sich selbstständig gemacht? Wenigstens Lazlo suchte sein Herrchen! Oder Tamme hatte ihn vorübergehend zu sich genommen. Schrill bellte ich noch ein paar Mal in den Hof hinein. Keine Antwort. Ich sah Madame an und empfahl dringend, einen größeren Suchtrupp einzurichten – mit mir an der Spitze. Schließlich konnte ich Lazlos Fährte aufnehmen, wenn es eine gab. Madame ignorierte mich.

Stattdessen traten wir den Heimweg an. Ein letztes Mal bellte ich in die Nacht. Vielleicht hörte Lazlo mich ja irgendwo? Vielleicht funktionierte unser inselweites Kommunikationssystem, wenn man es wirklich einmal brauchte? Normalerweise erfuhr ich postwendend, wenn wieder mal Wollknäuel auf Wanderschaft gegangen waren, wenn der Postbote unterwegs war oder ein Katertier gesichtet wurde. Heute waren keine klaren Zeichen zu erkennen. Überall Stille, überall nur Ratlosigkeit.

Zurück im Garten, wachte ich noch eine Weile draußen, um alle Geräusche zu scannen und professionell auszuwerten. Schließlich rief Madame mich zur Nachtruhe hinein, und ich fiel in einen tiefen Schlaf mit heftigem Pfotenzucken. Im Traum rannte ich hinter Lazlo her, konnte ihn aber nicht erreichen. Er schlug Haken wie ein Hase, verschwand und tauchte wieder auf. Wo wollte er mich hinführen? Mit jedem Meter, den ich rannte, stieg die Gewissheit, dass er etwas wusste. Vielleicht sogar alles. Mir hing die Zunge aus dem Hals, doch ich konnte, ich wollte nicht aufgeben. Manchmal blieb Lazlo stehen, drehte sich um und wollte bellen. Aber kein Laut kam aus seiner Kehle.

3. Die Spur

Madame und ich galten als ausgewiesene Langschläfer, während Monsieur sich um Haus, Hof und Hühner kümmerte und schon mal das Frühstück vorbereitete. Janni unterstützte ihn tatkräftig bei allen Unternehmungen rund ums Haus. Doch er tat das nicht ganz uneigennützig, seine Motivation hieß Fressen, Fressen und noch mal Fressen. Vielleicht fiel bei den Hühnern etwas für ihn ab? Oder beim Lutscherfrühstück? Ganz sicher war er sich dessen, wenn Grandmadame bei uns weilte. Nicht nur, dass sie ihre berühmten Wurstbrote mitbrachte, die eigentlich als Verpflegung für die Zugfahrt gedacht war. Sie verwöhnte uns auch während des Frühstücks. Mal fiel etwas Käse für uns ab, mal ein Scheibchen Wurst. Madame und Monsieur versuchten unsinnigerweise, ihr diese Großzügigkeit abzugewöhnen. Doch bislang waren sämtliche Bemühungen im Sande verlaufen. Was natürlich nicht nur Janni freute.

Beim Frühstück wurden meist Pläne geschmiedet, wohin und in welcher Konstellation die aktuellen Tagesgassis stattfinden sollten. Heute würden Madame und ich den Außendeich kontrollieren. Die Möwen durften nicht zu frech und zu laut sein, die Schafe sollten brav grasen und die Gäste glücklich sein. Wie sich das äußerte? Meist strahlten die Urlaubslutscher, wenn sie mich und andere Plüschomaten erblickten oder einfach am Meer waren. Meine Aufgaben hatte ich für mich klar definiert, wobei Madame mich natürlich hier und dort unterstützen konnte. Klar, ein bisschen Spaß würden wir auch haben.

Außerdem musste ich die Situation rund um Thules Hof im Auge behalten. Als wir dort vorbeifuhren, nahm ich dieselbe Tristesse wie gestern wahr. Madame hielt kurz an und kurbelte das Fenster herunter. Eine rätselhafte Ruhe lag über dem Ort. Ich bellte in die Stille. Keine Antwort. Kein Lazlo. Und die Rindviecher schienen irgendwo auf der Weide zu sein. Vermutlich ausgeführt von Thules Kollegen. Oder waren sie noch im Stall? So still? Was war passiert? Gegen meine Empfehlung fuhren wir weiter.

Doch am Meer vergaß ich alle Probleme der Welt und wälzte mich ausgiebig im Gras einer schmalen Landzunge, die bei Ebbe zum Strand mutierte. Immer mehr Sand lagerte sich ab, der vermutlich von Westerhever hierhergespült worden war. Das Land an der rauen Westküste veränderte sich ständig, das ging schon seit Jahrtausenden so, erzählte man sich unter Zwei- und Vierbeinern. Auch wenn die Lutscher seit Jahrhunderten in diesen ewigen Kreislauf einzugreifen versuchten und es sich hinter den Deichen gemütlich machen wollten. Sie errichteten Mauern in Form von Deichen. Ich war gespannt, wie lange das Meer diesen Affront noch dulden würde. Was es überhaupt von der landschaftlichen Umgestaltung hielt. Ich wusste ja, dass es ganz schön aufbrausend sein konnte. Bereits als Welpe hatte es mich einfach so nass gespritzt. Was ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen konnte. Jedes verdammte Mal habe ich ihm die Meinung gegeigt. Das hatte sich bis heute nicht geändert, wenn das Meer mal wieder über die Stränge schlug. Vor allem wenn der Wind eine Schippe zulegte, brauste das Meer auf. Während mich der Wind energetisierte, brachte mich das Meer in diesem erregten Zustand zur Weißglut.

Jedenfalls nutzte ich den neuen Strand und wälzte mich nach Herzenslust. Der Sand machte das Fell noch fluffiger, als es ohnehin schon war. Einfach hineinwerfen und dann ausschütteln, lautete mein bevorzugter Beauty-Tipp. Viel frische Luft dazu! Und ein bisschen Body-Styling. Ich konnte meilenweit auf dem Rücken robben, auch den Deich runter, was sämtliche Lutscher in Verzückung geraten ließ. Wälzen als endemische Fortbewegungsart an der Küste. Meine Lieblingsspezies zum Lachen zu bringen, galt mir als oberstes Anliegen. Vor allem Madames glockenhelles Gackern liebte ich sehr. So war ich eben: Superjulchen, Entertainerin erster Sahne. Ich stand gerne im Mittelpunkt, genoss die Aufmerksamkeit aller, egal, ob Kollege, Kuh, Pferd oder Mensch. Das Salz in der Suppe des Lebens.

Es herrschte Ebbe, vor uns breitete sich der quatschende, blubbernde Meeresboden aus, der voller Leben war. »Wattwurm, hab acht!« Der Schlick spritzte nur so in alle Richtungen, als ich lospreschte. Irgendwo im Land der Hügelchen aus beigegrauen Spaghetti, feinstem Sand, ausgeschieden von unzähligen Wattwürmern, irgendwo dort draußen hielt ich inne. Das Wattknistern erschien mir heute besonders gefällig komponiert. Wie eine geräuschvolle Stille. In die nun Madames Stimme brach. Ich sah mich um: Was war da los? Madames Rückrufaktion schien tatsächlich mir zu gelten. Ich hatte ein »lecker« vernommen, wichtigstes Codewort zwischen den Lutschern und uns. Zumindest galt das in meinem Rudel. Augenblicklich flog ich zurück. Doch Madame gab bizarre Kreischtöne von sich, als ich sie erreichte.

»Schlickschwein«, schimpfte sie, hatte Angst um ihre Klamotten, hielt sich aber gleichzeitig den mobilen Schnackapparat ans Ohr.

»Nein, nicht du«, korrigierte sie sich, was die Verwirrung komplett machte.

Fassungslos starrte ich sie an: Wo blieb meine Belohnung? Und wieso schnackte sie mit einem Schlickschwein, wenn doch eines vor ihr stand? Madame stand gerade nicht der Kopf nach Scherzen, das merkte ich wohl.

Und auch mich holte die harte Realität wieder ein. Bauer Thule. Madame war wohl auf dem neuesten Stand, die Polizei würde die Ermittlungen nun aufnehmen. So etwas hatte es noch nie auf unserer verschlafenen Halbinsel gegeben! Zumindest nicht, solange wir hier wohnten. In grauen Vorzeiten, ja, da bestimmt. Heute verunglückten hier vor allem Rehe, Katzen, Igel, Hasen und Mäuse – meist durch rasende Blechhöhlen. Vor einiger Zeit hatten wir sogar einen Nerz tot am Straßenrand gefunden. Einen amerikanischen! Da halfen mein ganzes Gezeter nicht, meine unermüdlichen Kontrollen am Straßenrand, die unzähligen Verweise an rasende Blechhöhlen. Die Tiere bezahlten es mit ihrem Leben, dass die Lutscher so schnell wie möglich von A nach B kommen wollten. Und außer mir schien niemand etwas dagegen zu unternehmen. Musste ich etwa eigenpfotig eine Petition für mehr Lebensqualität auf unserer Halbinsel einreichen? Die Raserei machte auch Madame und Monsieur ganz durcheinander, das war mir natürlich nicht entgangen.

Aber was war nun mit Bauer Thule? Er wird doch wohl nicht unter die Räder gekommen sein! Langsam fuhren wir nach Hause, alles ruhig auf dem Weg. Zu ruhig. Immer noch kein Mucks von Lazlo. Totenstille, als wir an Thules Hof vorbeifuhren. Mich machte das verrückt. Ich konnte unmöglich länger warten. Sobald Madame oder Monsieur Zeit hatten, mussten wir aktiv werden. Spuren aufnehmen, solange sie frisch waren. Auch Janni mit seiner exzellenten Nase musste helfen, suchen, finden.