Peter Berling
Mein Dank gilt dem Verlag und meinen Mitarbeitern, angefangen mit dem mich stets gut beratenden Michael Görden bis zu den hilfreich ordnenden und eingebenden Händen von Dietmar Schneider, Sylvia Schnetzer, Claudia und Jan Grandjean.
Das Verdienst, dass bei allem Bemühen, Erinnernswertes zu erhalten und dennoch zu unterhalten, ein Buch in der vorliegenden Form entstanden ist, gebührt nicht zuletzt dem Lektor Arnd Kösling. Bei meiner Arbeit haben mich viele Freunde mit Informationen, ausführlichen Statements, erwähnenswerten Anekdoten und durch die Überlassung von Materialien unterstützt. Ich danke an dieser Stelle in willkürlicher Reihenfolge
Ingrid Caven,
Michael Fengler,
Werner Schroeter,
Thomas Schühly,
Irm Hermann,
Harry Baer,
Ulli Lommel,
Thies Brunner,
Renate Leiffer,
Wolfgang Limmer,
Mario Adorf,
Volker Schlöndorff,
Hanna Schygulla,
sowie Wolf Wondratschek
für die freundliche Genehmigung,
aus seinem »Bauer von Babylon« zu zitieren.
Bei etlichen, die ebenfalls durch ihre schriftlichen oder mündlichen Zeugnisse Wesentliches zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben, kann ich mich nur noch posthum bedanken.
Es sind dies vor allem:
Daniel Schmid,
Peer Raben,
Laurens Straub,
Kurt Raab,
Dieter Schidor
und Peter Chatel.
Ihnen und allen anderen, die uns verlassen haben,
ist dieses Buch gewidmet.
Peter Berling
Ich lernte Rainer Werner Fassbinder näher kennen, als ich 1969 drauf und dran war, München zu verlassen. Durch ihn wurden meine Pläne erheblich durcheinandergebracht. Ich hatte im Filmgeschäft zwischen Deutschland und Italien eine Marktnische entdeckt: die Vermittlung von Co-Produktionen. Das war damals eine ziemlich einseitige Angelegenheit, denn wir hatten nichts zu bieten, was die Italiener interessierte, hingegen ließ sich jeder Italo-Western – eine Ära, die leider auslief - und in der Nachfolge (fast) jeder Mafia-Film nahezu unbesehen nach Deutschland verscherbeln. Die offizielle Co-Produktion verhalf beiden Partnern zum nationalen »Ursprungszeugnis« (was wiederum Voraussetzung, ja Bedingung zur Erlangung der vollen staatlichen Subvention darstellte). Die dabei zu beachtenden Auflagen und gesetzlichen Vorschriften beherrschte ich bald perfekt, und ich begann mir eine Art Monopol aufzubauen. Meine Wege führten immer öfter nach Rom. Mario Adorf, den ich kannte, bestärkte mich in der Idee, mir dort zumindest ein Pied-à-terre zu schaffen. In diese Phase fällt der Eintritt Fassbinders in mein Leben. Sein Mich-in-Anspruch-Nehmen oder mein Fasziniertsein von seiner Art, »Neuen Deutschen Film« herzustellen, bewirkten, dass mein mit den Jahren zusehends schwerer werdender Körper zwar in Rom in der Hängematte schaukelte, mein Kopf, meine Gedanken aber weiterhin dem Filmemachen in Deutschland verhaftet blieben. Es war ein Auf- und Abgeschaukel zwischen Emporgehoben-Werden in innigster Freundschaft und Eingetaucht-Werden in erbittertste Feindseligkeit und fand erst ein Ende mit seinem Tod am Fronleichnamstag des Jahres 1982, dem 10. Juni.
Mein bisheriger Lebensweg ließ durch nichts darauf schließen, dass ich beim deutschen Film landen würde. Sehr zu meinem Unwillen wurde ich nicht in Berlin geboren. Meine Mutter fand die Idee schöner, auf dem Lande niederzukommen. Und so steht in meiner Geburtsurkunde »Peter Berling, geboren am 20. März 1934 (Uhrzeit 13.30) Meseritz-Obrawalde (Grenzmark)«. Heute heißt Meseritz auf Polnisch Mesjenic und liegt östlich der Oder, und wäre ich früher zur Welt gekommen, hätte ich, der Erstgeborene, den Namen ›Berliner‹ getragen.
Meine Eltern sind die Architekten und Poelzig-Schüler Dipl. Ing. Max und Asta Berling, geb. Stromberg. In Moskau und in St. Petersburg geboren, waren sie bei Ausbruch der Revolution geordnet nach Deutschland übergesiedelt bzw. nach dem Sieg der Bolschewiki Hals über Kopf geflohen. Sie hatten in Berlin studiert, als Assistenten des großen Poelzig geheiratet, als mit der Machtübernahme durch die Nazis eine weitere Camouflage und Absetzmanöver notwendig wurden. Aus dem jüdischen ›Berliner‹ wurde ›Berling‹, und man zog nach Osnabrück. Hier überstand ich die Bombardements, wäre fast auf die Napola gekommen, beendete den Krieg aber doch nur als schlichter Pimpf. Unsere Schulen lagen in Trümmern. Mein Vater, heil zurückgekehrt aus seiner Zwangsverpflichtung, spezialisierte sich auf die Rekonstruktion gotischer Sakralbauten und wünschte für mich eine vollhumanistische Ausbildung. Latein und Griechisch wurden mir im stockkatholischen Karolinum beigebracht, wo ich als protestantischer Ketzer nur geduldet war. Meine Mutter war mit ihrer zerbombten Firma für »Künstlerische Kindermöbel und Spielsachen« in die Schweiz gezogen, unter Mitnahme aller meiner jüngeren Geschwister. Die Ehe wurde geschieden, und ich kam auf ein Internat, den Birklehof im Schwarzwald. Direktor: Georg Picht. Die Schule gehörte früher mal zu Salem, war nach den gleichen Erziehungsprinzipien ausgerichtet, »angewandte Ehrlichkeit« und Frühsport auf nüchternen Magen. Sie beherbergte damals viele Kinder, deren Väter im Zusammenhang mit den Strafgerichten nach dem 20. Juli 1944 umgekommen waren. Auch unter unseren Lehrern waren viele von deren Angehörigen.
Ich war ausgesprochen gern auf dem Birklehof, im Sommer spielten wir Hockey, im Winter liefen wir Ski, und das Lernen fiel mir leicht. Meine Zimmergefährten waren Karl-Heinz Bohrer, Alfie von Oppenheim, Adrian von Braunbehrens und Sebastian Frobenius. Im Winter stiegen wir zu Heidegger auf, in seine Todtnauer Hütte, im Sommer verbrachte Albert Schweitzer seine Ferien von Lambarene an unserer Orgel und Wilhelm Kempff hämmerte Boogie-Woogie auf dem Flügel im Speisesaal, zu schmalster Kost. In den Ferien fuhr ich selten nach Haus, meistens verbrachte ich sie zwischen Ausstellungsbesuchen und Konzerten in Studentenwohnheimen oder bei Freunden. Meinem Vater fiel die Finanzierung dieser elitären Ausbildung immer schwerer, meine Leistungen schrien auch nicht nach einem Stipendium, und so musste ich – gleich nach der Währungsreform – Hinterzarten wieder verlassen.
Ich tröstete mich durch einen Solo-Abstecher nach Paris, kam aber rechtzeitig zur ersten Unterrichtsstunde. Für ein »normales« staatliches oder städtisches Gymnasium verdorben, formierten sich meine Zeugnisnoten in Osnabrück zu einer einheitlichen Kolonne von Fünfern, mit Ausnahme von Zeichnen, Geschichte und Religion, und ich setzte alles daran, von der Schule zu fliegen. Ich sollte – etwas anderes hatte sich nie angeboten – Architekt werden. Den Weg über die TH – Egon Eiermann erwartete mich schon in Karlsruhe – hatte ich mir verbaut, also trat ich eine Maurerlehre an, um mich via Praktikum doch noch für ein Studium zu qualifizieren. Zwischendurch entwarf und verfertigte ich für eine Kirche an der holländischen Grenze ein 14 Meter hohes ›Auferstehungsfenster‹, der Landesbischof Lilje dankte es mir, und ich ging für den Erlös mit meiner 15jährigen Freundin auf Italienreise; Hitchhiking bis Palermo.
Nach abgelegter Gesellenprüfung zog ich 1954 nach München an das Oskar-von-Miller-Politechnikum. Hier hielt es mich gerade ein Semester, dann ward mir durch eine Revuetänzerin in Barcelona klar, dass mein Leben sich solchen Zwängen wie Statik, Betonmischverhältnissen und Zugbelastungen nicht unterwerfen sollte. Ich wechselte auf eine Malschule, traf dort Barbara Trenker (Tochter des Luis), Jörg Henle (unter Pseudonym), die spätere Ausstatterin Nicola Hoeltz-Mack, den Layouter Jochen Papst, Elke Koerver und die damals noch unbekannten Zeichner Dieter Klama und »Janosch« und schrieb mich bald zur Aufnahmeprüfung in die Akademie der Bildenden Künste ein. Nach bestandenem Examen besuchte ich die Klasse für Werbegrafik von Professor Julius E. Schmidt.
Es wäre, nach all der vorausgegangenen Unstetigkeit, merkwürdig gewesen, wenn ich mich jetzt zielstrebig auf dieses Studium zur Erlangung eines Diploms, des Erwerbs von Fähigkeiten, die mir ein gesichertes Berufsleben garantiert hätten, geworfen hätte. Oh nein! Ich benutzte das hehre Institut als Heimathafen für meine Tramp-Reisen durch das ganze Mittelmeergebiet, organisierte im Schwabinger Nachtleben Schnellzeichner-Wettbewerbe, gründete mit Ado Schlier die »Île du jazz«, entwarf zwischendurch Lagepläne von Rittergütern für die Wiedergutmachung, Familienwappen und Etiketten für eine Schnapsfabrik. Und für den Professor Sagebiel, den Erbauer von Berlin-Tempelhof, der meinen Vater achtete und mich immer noch für der Architektur zugewandt hielt, machte ich erst Bauleitung für amerikanische Kasernen im Pfälzischen und dann Brückenkontrolle an der Autostrada del Sole. Als das in Arbeit ausartete, ließ ich mich von Professor Leimer, einem der wenigen privaten bayerischen Spielbankaktionäre, zur Überwachung der Croupiers anheuern, damit die bei »Les employés!« nicht zu viel in den Tronc schmissen. Das war schnell sehr einträglich, und ich konnte wieder auf Reisen gehen, nach Tunesien, nach Agadir und ins geliebte Andalusien. Zwischendurch achtete ich darauf, meinen Status als Student der Akademie mit plötzlichem Fleiß – und mitgebrachten Skizzen – zur Erbauung des Professors unter Beweis zu stellen. Doch ich spürte immer stärker, dass das Entwerfen von Plakaten, das Pinseln von Schriften bis hin zum flott hingefetzten Schriftzug unmöglich mein Leben ausmachen konnte.
Mein Mitwirken als »der dritte Lümmel rechts auf der hintersten Bank« in einem Schülerfilm mit Ruth Leuwerik verschaffte mir so viel Ansehen bei meinen Kommilitonen – weniger bei meinem Vater –, dass ich kurz darauf auch als Dolmetscher für das französische Ton-Team bei dem amerikanischen Kolossalfilm THE VIKINGS radebrechte. Der Studentenvermittlungsdienst erweckte so meine Vorliebe für Gagen, die höher waren als die für Teppichklopfen und Hunde ausführen. Aber es war dann der kurzfristige Job als Reiseleiter, der mich mein Talent als Organisator von Filmproduktionen entdecken ließ.
Das Entstehen des Buches Die 13 Jahre des Rainer Werner Fassbinder ist auf ähnliche Wellenbewegungen in meinem Leben zurückzuführen. Bald nach dem Exitus des RWF trat der renommierte New Yorker Random House Verlag an den in der Toskana lebenden, mir bekannten US-Autor Robert Katz heran. Der sah sich mangels genügender Sachkenntnis nicht in der Lage, die gewünschte Biografie allein zu liefern, und wir einigten uns auf eine Zusammenarbeit, die folgende Arbeitsteilung vorsah: Ich erstelle eine chronologische Vita und eine detaillierte Arbeitsübersicht mit allen Unterlagen, die mir zur Verfügung stehen, und er wird dann mein Material für den Auftraggeber, also für den amerikanischen Markt, aufarbeiten und unter Verwertung noch zu tätigender Interviews die endgültige Fassung schreiben.
Obgleich zahlreiche Personen aus der Umgebung Fassbinders, vor allem aus dem sogenannten »Kreis der Witwen«, in der Folge in die Toskana eilten, um dort viele Tonbänder lang Zeugnis abzulegen, geriet das Ergebnis insgesamt nicht zu meiner Zufriedenheit. Und heute – nach zehn Jahren – bin ich bei der Ansicht angelangt, dass ich eine Übertragung der Arbeit aus den Jahren 1983/85 ins Deutsche nicht mehr vertreten kann.
Ich beschloss also, das Buch völlig neu zu verfassen. Dabei bin ich von mehreren Überlegungen ausgegangen:
1. RWF war als Phänomen nicht isoliert. Zum einen – er konnte nicht allein sein – umgab er sich stets mit einem Kranz von Leuten, »suchte die Gruppe, wie die Gruppe mich suchte«, wie er es selbst einmal formulierte. Das ergab Abhängigkeiten auf beiden Seiten. Es wäre also falsch, diesen ›Anhang‹ nicht stets und ständig zu vergegenwärtigen. Zum anderen taucht die Erscheinung RWF nicht aus dem Nichts auf. Sie war anfangs ja keineswegs Speerspitze oder Inbegriff des »Neuen Deutschen Films«, sondern absoluter Nachzügler.
Die erste Welle, die der Kluge, Reitz, Schamonis (Peter und Ulrich), Senft, Hauff und Vesely, die »Oberhausener« genannt – ob sie nun das Manifest unterzeichneten oder nicht –, hatte sich längst etabliert, was einem Verebben, Verkrusten gleichkam. Die zweite, von frischer Brise getriebene: Lemke, Thome, Enke & Spils, Marangosov, Spieker, Roger Fritz, Roland Klick, van Ackeren, Thomas Schamoni, erwies sich teils als Schaum, teils als Flachläufer; nur wenigen gelang es durchzustehen. Erst die dritte – Schroeter, Herzog, Schlöndorff, Wenders – spülte aus dem aufgewirbelten Underground wieder Urwüchsiges, Bizarres, Faszinierendes an Land, und erst diesmal war Fassbinder dabei. Es gelang ihnen relativ schnell, die Zweiten zu überholen und zu den Ersten aufzuschließen. Es bildete sich an der Spitze das filmpolitische Triumvirat Kluge, Schlöndorff, Fassbinder: Kopf, Brust und Bauch; flankiert von den elitären Einzelgängern Wenders, Herzog, Schroeter. Das Bestehen und Arbeiten neben den Kollegen – man muss nicht von gegenseitiger Befruchtung reden – war sicherlich ein steter Anreiz und genügend Provokation. Fassbinder war also auch eingebettet in Zeitströme und umgeben von Zeitgenossen, die Filme machten und – wie er – um die Gunst der Presse, der Festivals, der Gremien kämpften.
2. Immer empfinde ich es als störend – bei allen Filmografien, besonders jedoch bei diesem schnell dahinrauschenden Produktionsfluss –, wenn die Reaktionen, Kritik der Presse wie aus der Öffentlichkeit, unmittelbar an das Produktionsereignis angefügt werden. Die Wirklichkeit – im Falle Fassbinder ist das ganz besonders evident – sieht anders aus. Es gibt – wie kurz, wie lang auch immer – Phasen der Planung (des Schreibens, der Vorbereitung), Phasen der eigentlichen Produktion (des Drehens, des Schneidens, des Vertonens – kurz: der Edition), und es folgen dann erst die Termine der Festivalaufführungen, der Kinostarts und schließlich der TV-Ausstrahlung.
In jeder dieser Phasen ist der Filmemacher den Reaktionen auf Vorangegangenes – manchmal weit Zurückliegendes – ausgesetzt, wird beeinflusst, ermutigt, deprimiert. Das beste Beispiel ist MARIA BRAUN. Hier lag zwischen Dreh und offiziellem Start gut ein Jahr – und ein Jahr war verdammt viel für einen RWF.
Die Realität des Schaffensprozesses ist wie ein riesiges Räderwerk zu begreifen mit Schöpfkellen und Zähnen und Haken, das dich – im denkbar ungeeignetsten Moment – mit einer kalten Dusche erwischt, dir Feuer unterm Hintern macht, dir mal die Finger oder die ganze Hand einquetscht, dich vor allem aber nie auslässt; es schreit dich an, trommelt und bespuckt dich, wenn du gerade in Ruhe nachdenken willst, es lullt dich ein mit beständigem Rauschen, dass du vergisst, dass du Teil der Mühle bist, gerade dann, wenn du wach sein solltest, um genau zu verstehen, was um dich herum, was mit dir geschieht. Diese Mühle: Rad, Wasser, Stein, Müller, Korn und Mehl genau und ineinandergreifend darzustellen war also auch eine Aufgabe.
Das heißt, auch der Arbeitsrhythmus von Rainer Werner Fassbinder bestand nicht, wie ein US-Magazin mal errechnete, aus 41 Filmen in 13 Jahren, sondern aus zumindest 170 Produktionsereignissen in diesem Zeitraum – wenn man das Schreiben, das Inszenieren von Theaterstücken, Hörspielen und das Reisen mal beiseitelässt und Fernsehserien wie BERLIN ALEXANDERPLATZ als einen Event zählen will.
Dazu kommt das Leben, und so ergibt sich die Rastlosigkeit, das viel gerühmte »Phänomen Fassbinder«: Ansaugen – Verdichten – Explodieren und Ausstoß des RWF-Verbrennungsmotors, der »The Machine Doesn't Stop«-Nimbus. Später erst kommen die Defekte, das Verbrennen der Kerzen, das Fressen der Kolben – der Stillstand. Das alles war ebenfalls vorzuführen, und zwar anhand eines Menschen, der eben keine Maschine war.
3. Ich habe diese dreizehn Jahre höchst unterschiedlich miterlebt, mal dicht und unmittelbar, dann wieder von Ferne, ich war mal drinnen, mal außen vor. Auf jeden Fall konnte ich dieses Buch nicht in der dritten Person schreiben, sondern musste mich selber einbringen, mal ehrenvoll, oft bekleckert, fast immer schonungslos. Ich habe versucht, aus dieser Not eine Tugend der Unterhaltung zu entwickeln, indem ich zu beschreiben versuche, was zur jeweils selben Zeit um Fassbinder herum vorgeht, was an verlockenden und – meist mehr – was an abschreckenden Beispielen neben ihm, ohne ihn, gegen ihn die Bühne passierte, geplant und gemacht wurde. Ich habe mich damals in meinem Verhältnis zu Fassbinder als alles Mögliche gesehen, doch sicher nicht als sein Chronist (sonst hätte ich ihn noch vieles zu fragen gehabt und hätte mir auch einiges mehr an Notizen gemacht), aber wie ich's auch drehe und wende, die dreizehn Jahre des RWF waren auch dreizehn Jahre meines Lebens. Niemand hat – und das gilt bis heute – mehr in mein Leben eingegriffen, mich gezwungen, mein Denken um ihn kreisen zu lassen, meine Handlungen auf ihn und seine Arbeit auszurichten. Fassbinder war – und das gilt sicher für viele, die in diesen Jahren mit Film in Deutschland zu tun hatten – einfach Bezug in Permanenz, der dankbar angenommene Orientierungsstern, wie der Polarstern am nächtlichen Himmel. Man wusste, dass er da war, und das war beruhigend. Dabei war er alles andere als ein Fixstern. Er war ein Reisender, einer, der es eilig hatte. Wie groß das Loch war, das der Einschlag des abgestürzten Kometen in die deutsche Filmwelt riss, spüren viele der Hinterbliebenen erst heute, zehn Jahre nach seinem Verlöschen, wenn sie am Rande des Kraters wandern, stehen bleiben und hinunterstarren in die Tiefe.
Rom, den 29. Februar 1992
Peter Berling
Rainer Werner Fassbinder wurde am 31. Mai 1945 in Bad Wörishofen geboren. Irgendwann viel später, als er schon in München wirkte, gefiel es ihm, sein Geburtsdatum auf 1946 zu verschieben. Daniel Schmid hält das für einen Ausdruck seines latenten Monroe-Komplexes, es wird aber wohl eher damit zusammenhängen, dass er schon bald tönte, mit dreißig auch dreißig Filme vorweisen zu wollen, und ihm die Jahre knapp wurden. Die wenigen Personen, die Einsicht in seine Daten hatten, machten das Spielchen mit, so dass die kleine Unstimmigkeit erst sehr spät zutage trat. Manchmal, wenn Ältere wie ich von ihren Kriegserlebnissen sprachen, verriet er sich mit der Schilderung, alle Schrecken des untergehenden Reiches, Bombardements und Kanonendonner, im Embryonalstadium durchaus wahrgenommen zu haben, dass er den Mutterleib aber erst verlassen wollte, als alles vorbei war. Doch keiner rechnete es ihm vor.
Sein Vater war Arzt und seine Mutter Liselotte gelernte Dolmetscherin. Beider Sinn für »Höheres« – Dr. Hellmuth fühlte sich der Lyrik, Lilo, geb. Pempeit, mehr der Prosa verpflichtet – traf sich in der Verehrung für Rilke: »Maria«, blieb dem Kind aber erspart, Werner sprach sich besser aus – als Synonym »Mary« begleitete der Name ihn dennoch durchs Leben. Die Ehe der Eltern litt darunter, dass die junge Frau sich ein schweres Lungenleiden zugezogen hatte und immer wieder für längere Zeit wenn schon nicht das Krankenhaus, so doch Sanatorien aufsuchen musste. Man lebte in München, und Rainer selbst hat bruchstückweise Einblick in dies Leben seiner Kindheit gegeben:
»Es gab so viele Leute. In unserer Wohnung gab es die Praxis meines Vaters auf der einen Seite – auf der anderen Seite eine Pension. Dort lebten Leute auf längere Zeit, so dass ich als Kind mit diesen Leuten mehr zu tun hatte als mit meinen Eltern. So war es für mich schwer zu unterscheiden: Wer sind nun deine Eltern? Zu wem hast du intensivere Beziehungen zu haben? Also ich glaube, ich hatte niemand wirklich zum Anlehnen. Vielleicht hatte ich zu viele.«
»Fester Bezug?« Der Fragesteller ist Wolfgang Limmer.
»Vielleicht habe ich damals nach einem gesucht. Heute würde ich aber sagen, dass es gut war, dass es den nicht gegeben hat. Es hat mich reicher gemacht, dass ich eben keine normale Familie hatte. Schon als Kind war ich das, was man manisch-depressiv nennt. Die Arbeit hat mir sehr geholfen und tut es wahrscheinlich auch immer noch, um nicht in diese Gefahren reinzulaufen, die mich vielleicht nur noch depressiv sein lassen. Viele Manisch-Depressive sind ja dadurch gefährdet, dass die Depressivität überwiegt, dass sie dann halt nur noch dasitzen – vor allen Dingen mit den heutigen Therapien, wo sie diese Mittelchen eingeworfen kriegen. Die Gefahr ist immer die, dass das Depressive zu einer unheimlichen Ruhe wird. Also ich möchte nicht jemand sein, der einfach nur traurig ist, sondern ich möchte schon ganz gerne – oh mei, wenn ich jetzt wieder ›normal‹ sage, wird das missverstanden, aber ich sag's trotzdem –, ich möcht schon ganz gern lieber normal sein als depressiv. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, und zwar in grundlosem Wechsel. Es gibt keine Gründe, dass man plötzlich glücklich ist, und es gibt keinen Grund dafür, dass man plötzlich unglücklich ist. Als ich Kind war, hat sich das auch nicht viel anders geäußert als später. Ich war manchmal glücklich, lustig und hab wahnsinnig gerne mit andern Kindern gespielt – und plötzlich hatte ich keine Lust mehr. Dann habe ich mich einfach irgendwo hingesetzt. Die anderen haben das immer nicht verstanden. Sie haben gedacht, der spinnt. Natürlich spinnt das Kind dann irgendwo …
Die ersten Kindheitserlebnisse, an die ich mich erinnere? Das ist schwierig, weil einem ja vieles erzählt wird, und man glaubt, man hätte es als Erinnerung. Aber Erinnerungen gibt es ganz sicher an die Sendlinger Straße, in der mein Vater seine erste Praxis hatte. Das war die Hurenstraße Münchens. Und die Begegnung mit diesen Damen und mit Sicherheit auch die Verbote, mich mit denen abzugeben – an das kann ich mich sehr gut erinnern. Dann gibt es merkwürdige Dinge. Ich war mal ein paar Nächte gegenüber bei einer Familie mit ganz vielen Kindern, die alle in einem Bett geschlafen haben. Diese Kinder haben sich hauptsächlich für die Zehen interessiert. Die Zehen! Wer die größten Zehen hat oder kleinsten. Ich glaub, die größten waren die wichtigsten. Das ist zwar keine Erinnerung, die einen Sinn ergibt; aber das ist eine Erinnerung.
Dann die Münchner Asam-Kirche. An die kann ich mich irgendwie recht gut erinnern. Dazu gibt's eine Geschichte. Aber die ist mir bestimmt erzählt worden. Ich saß eines Tages auf dem Altar der Asam-Kirche. Meine Großmutter, die sehr strenggläubig katholisch ist, hat mich in der ganzen Nachbarschaft gesucht und mich in dieser Kirche – auf dem Altar sitzend – gefunden und wollte mich runterholen. Ich hab gesagt: Nee, ich geh' von dem Altar nicht runter. Da war ich drei. Das ist so eine Erinnerung, von der ich sagen würde, das ist eine Mischung aus Erinnerung und aus später Erzähltem …
Erinnerungen? Da gibt's zwei Erlebnisse, die beide mit Spielzeug zu tun haben. Der Sohn irgendeines Patienten hatte so ein Affenspielzeug dabei, und ich hab' zu diesem Kind gesagt, ich möcht' diesen Affen haben. Und dann hat er mir den Affen nicht gegeben, am ersten Tag nicht, am zweiten Tag nicht. Am dritten Tag hab' ich ihm den Affen kaputtgemacht. Dafür bin ich dann auch bestraft worden. Meine Großmutter hat mir, weil ich offensichtlich kein Spielzeug haben durfte, nach dem Affendings eine Puppe gemacht. Die war äußerlich aus Stoff, und innen waren Steine. Und dann hat sie mich geärgert in der Küche, und ich habe diese Puppe nach ihr geschmissen, und die ging kaputt. Und dann habe ich meine Großmutter so bedauert, weil sie so lange an dieser Puppe gearbeitet hatte und ich sie kaputtgeschmissen habe. Das tut mir heut noch leid. Was noch? Ein Affe und eine Puppe.«
1951 wird die Ehe der Eltern geschieden, der Vater setzt sich ab nach Köln. Das Kind Rainer Werner kommt zur Großmutter.
»Diese deutsche Nachkriegsgesellschaft war ja so merkwürdig, dass es da Konstellationen von Familien gab, die wirklich was Neues waren, eine Art Großfamilie, die aber keine familiären Hierarchien hatte. Und auch keine Schutzfunktion. Drum könnt ich das so simpel für mich nicht unterschreiben. Vielleicht hat es was damit zu tun, dass sich, als ich etwas älter war, meine Mutter mehr um mich gekümmert hat als mein Vater, der ging ja weg, als ich fünf war, also ich kann mich nur daran erinnern, dass ich die Leute nicht voneinander unterscheiden konnte. Die Rolle meiner Oma war ganz klar. Die war in der Küche und gab mir was zu essen. Das war schon ganz wichtig. Wir haben in derselben Straße eine andere Wohnung bezogen, in der dann nur noch Zimmer vermietet wurden. Da gab's auch andere Männer. Meine Mutter hatte zu meinem Missvergnügen einen siebzehnjährigen Liebhaber gehabt – da war ich acht oder neun. Siebzehn Jahre war der alt, und der wollte sich als mein Vater aufspielen! Da konnte ich nur drüber lachen.«
Es ist zwar an anderer Stelle noch von einem Gymnasium in Augsburg die Rede, gar von einem Internat. Ich erinnere mich auch, dass Rainer, als er mich zum wiederholten Mal im Tischtennis geschlagen hatte, mich damit tröstete, er sei halt auch Augsburger Jugendmeister gewesen, doch im Gespräch mit Limmer springt er direkt über auf die Rudolf-Steiner-Schule in München:
»Das ging nicht anders. Die haben mich aus der Volksschule rausgeschmissen. Die haben gesagt, dieses Kind kann in dieser Schule nicht bleiben, das muss zu den Schwererziehbaren. Und dann haben die – was weiß ich, wer: natürlich mein Vater und meine Mutter, wer sonst – beschlossen, mich auf die Steinerschule zu tun, weil sie mich nicht unter schwer erziehbaren Kindern haben wollten. Davon ist sicher was übrig geblieben, aber ich könnte es nicht formulieren. Ich hab' mich hinterher überhaupt nicht mehr mit anthroposophischen Ideen beschäftigt. Ein einziger Satz ist bei mir übrig geblieben: Die Kinder sollen aufwachsen wie die Blümchen. Das finde ich als Idee ja ganz schön. Nur war das sicher nicht so. Ich musste jeden Tag mit der Straßenbahn durch die ganze Stadt nach Schwabing fahren. Meine Mutter war im Krankenhaus und mein Vater nicht da. Da lag es ganz allein an mir, ob ich da hinging oder nicht.«
Wie auch immer, es ist anzunehmen, dass Rainer Werner immer weniger hinging oder auf dem Weg in der Stadt immer öfter hängen blieb, denn das Abitur machte er nicht. So wenig adäquat die Bemühungen der Anthroposophen am Objekt RWF nachträglich erscheinen mögen, bewahrt ihnen Fassbinder doch eine erstaunlich wohlmeinende Erinnerung, bewertet sie »als etwas Positives, wenn jemand etwas Positives daraus macht. Wenn man als Blümchen aufwächst – ungestraft, wenn man was Böses tut, oder ungelobt, wenn man was Gutes tut –, dann muss man sich allein für bestimmte Dinge entscheiden und interessieren. Wenn man das nicht tut, dann ist es sicherlich negativ. Aber da war natürlich irgendwas aus der ganz frühen Kindheit schon da. Zum Beispiel gab's bei uns zu Hause niemals diese normalen Kinder- und Bilderbücher. Kein Struwwelpeter und so'n Zeug, Comicstrips waren sowieso verboten. Bilderbücher waren für mich die Dürerbände, die da lagen, oder Altdorfer oder Michelangelo. Das waren meine Bilderbücher. Mein Vater ist jemand, der eigentlich über alles Bescheid weiß. Der kann alles erklären, ob Weltraumfahrt, Dürer oder Politik, der weiß schier alles ... Nee, der ist doch verrückt. Mein Vater ist ein komischer Mensch. Er ist eigentlich ein großer Künstler, ein großer Dichter, der nur das eine Handicap hat: Er kann erst künstlerisch tätig werden, wenn er finanziell abgesichert ist. Und das ist er natürlich nie. Er wird unabgesichert sterben, weil er nie in Gefahr gekommen ist, wirklich was Künstlerisches zu machen. Ich meine, er ist völlig verrückt – man muss sich das mal vorstellen: Er behauptet steif und fest, wenn er nur einmal in seinem Leben die Sicherheit gehabt hätte, die er zum Dichten braucht, dann hätte die Welt was erleben können.«
Der Vater war längst über alle Berge, die Welt des jungen Rainer Werner veränderte sich. Die Mutter verehelichte sich ein zweites Mal, diesmal mit einem Herrn Wolf Eder, einem Journalisten, der für ein ›christliches‹ Blatt schrieb, es war der Bayernkurier. Ihm war der Stiefsohn ein Gräuel, er ekelte sich vor ihm und wollte ihn nicht im Hause haben. Das verlangte der Herr sozusagen als Morgengabe von Frau Liselotte Eder – und sie brachte das Opfer dar. Andere Kinder wären an dieser Situation zerbrochen. Rainer, ein sowieso schon verrückter Knabe, wenn auch mit stark depressiver Komponente, reagierte damit, dass er sein Leben selbst in die Hand nahm und den Umständen seinen Willen entgegensetzte. Er beschloss, es in allen seinen Widersprüchlichkeiten voll auszuleben, biegsam und elastisch. Er wurde zum Chamäleon. Gewöhnte man sich an seine Kleidung, bestehend aus Jeans, Netzhemd und Lederjacke als provozierender Proletenlook, trat er unvermittelt im eleganten Designer-Outfit auf, alle modischen Accessoires wie Hut und Brille eingeschlossen. Hielten ihn oberflächliche Betrachter ob seiner talgigen Haut, seines mongolischen Bartwuchses auch für schmuddelig – Rumpelstilzchen liebte es, mehrmals täglich ein Bad zu nehmen. Und blieb ihm häusliche Geborgenheit versagt – wurde ihm verweigert –, so würde er sich selber eine ›Familie‹ gründen.
Dem Interviewer drängt sich – das bisher Geschilderte vor Augen – als Folgerung die Frage auf:
»Klassische Ausgangssituation für homosexuelle Fixierung?«
»Homosexualität ist sicherlich eine gesellschaftliche Sache und keine angeborene. Man kann sie ja schlecht weitervererben. Es hat bestimmt auch etwas mit dem zu tun, was man als Kind erlebt hat.«
»Also ein relativ frühes ›Coming-out‹, immerhin zu einer Zeit, als dies gesellschaftlich noch keineswegs als tolerierte Möglichkeit angesehen wurde und es noch im Strafgesetz den Paragrafen 175 gab?«
»Für mich ist das gleichzeitig gewesen: Erkennen und zu erkennen geben, das war für mich kein Problem. Ich habe wiederum Glück gehabt. Vielleicht einfach deshalb, weil mir alles ziemlich Wurscht war, da war auch das mir ziemlich Wurscht. Als ich das Gefühl hatte, ich bin schwul, habe ich es auch gleich allen Leuten erzählt. Das war so mit vierzehn, fünfzehn oder so.«
»Und in diese Zeit fiel auch die Lektüre des ›Alexanderplatz‹?«
»Ja, es war wohl so. Ich habe die Geschichte ja sehr viel homoerotischer gesehen und gelesen, als sie es vielleicht ist. Sie ist es wahrscheinlich schon, aber sie ist vielleicht versteckter oder umschriebener, als ich sie gelesen habe. Ich hab' sie halt ganz direkt als etwas gelesen, wo zwei Menschen daran zugrunde gehen, weil sie sich nicht klar darüber werden, dass sie eine Beziehung zueinander haben, die, wenn sie sich dieser Beziehung klar werden könnten, sie glücklich machen kann. Das hat überhaupt nichts mit Sex zu tun gehabt in dem Fall, sondern mit einer Liebe, die nicht unter Zwängen steht, die nicht ausbeutbar ist. Das ist sicherlich was ganz anderes, was da in dem Roman zwischen diesen beiden Männern passiert, als ein ›Coming-out‹, wenn man plötzlich sagt: ›Okay, ich bin schwul.‹ Trotzdem hat es mir sehr geholfen.«
»Kann man das mit so leichter Hand?«
»Ich ja.«
»Reaktionen?«
»Meine Mutter war ziemlich hysterisiert. Sie hat gesagt, sie habe die Erziehungsberechtigung bis achtzehn, da könne sie nicht die Verantwortung übernehmen. Da hab ich erst gemerkt, was für ein Problem das für manche Leute ist. Für mich war es keins, überhaupt nicht. Ich hab's nie als Problem empfunden und tue das auch heut noch nicht.«
Mit Gleichaltrigen konnte er wenig anfangen, seine Präferenzen galten auch nicht ephebischen Jünglingen – sondern Männern. Es gibt da die Anekdote, dass der herumstreunende Rainer endlich einen Menschen gefunden hatte, der bereit war, eine Verbindung mit ihm einzugehen. Es war ein Grieche. Stolz schleppte er ihn zu seiner Mutter – und musste erleben, wie die ansonsten Tolerante bemäkelte, dass es kein der deutschen Sprache mächtiger Mann war und vor allem kein Akademiker. Um ein weiteres Mal arg enttäuscht, aber diesmal mit einer »Wut im Bauch«, zog Rainer mit seinem Gastarbeiter wieder ab.
Das Verhältnis zu seiner Mutter verbesserte sich durch solche Vorkommnisse nicht, wenngleich er den Druck sah, dem sie durch ihre Ehe mit Herrn Eder ausgesetzt war. Aber er betrachtete seine Beziehung zu ihr als seine Privatangelegenheit, und wehe dem, der meinte, er könne dazu auch nur affirmativ seine Meinung kundtun. Dann reagierte Rainer mit unerwarteter Heftigkeit, was nur zeigt, wie tief diese Wunde saß, denn de facto verleugnete die Mutter ihren Sohn, ließ ihn quasi nicht ins Haus, höchstens verstohlen, wenn die Luft rein war, und sie gab ihm auch kein Geld, so dass Rainer zwangsläufig zum Herumtreiber und naheliegenderweise zum Stricher wurde.
Auch sein Vater, der inzwischen im Rheinland praktizierte, unterstützte seinen heranwachsenden Filius nicht. Er ließ ihn zwar eine Zeit lang zu sich nach Köln kommen, wo er dann Udo Kier kennenlernte, doch an der Lebensführung Rainers änderte der Vater nichts.
Udo, mit vollem Nachnamen Kierspe, war ein Jahr älter und ein Schönheitsschock. Noch zwanzig Jahre später, Kier war längst ein internationaler Star, blieben die Touristen an der Via Veneto stehen und starrten dieses Gesicht, diese Augen unter seidigen Wimpern an, fasziniert, irritiert. Wie schön muss er erst mit fünfzehn, sechzehn gewesen sein. Ein tolles Paar: der bewusst auf halbstark getrimmte Prolet und das Schneewittchen von Ossendorf – kein Liebespaar, eine Interessensymbiose.
Dr. Fassbinder betätigte sich zu der Zeit auch auf dem Immobiliensektor, d.h., er vermietete Unterkünfte an Gastarbeiter. Rainer übernahm willig das Eintreiben von Außenständen, verschaffte es ihm doch Zugang zu wahren Paradiesen. Spätestens in der Kölner Zeit muss sich Rainer seiner erotischen Ausstrahlung, seiner sexuellen Wirkung auf Menschen beiderlei Geschlechts bewusst geworden sein. Rainer war nicht schwul, wurde nicht schwul, sondern wollte schwul sein. Das war ein Willensakt, wie er ihn ähnlich später noch einmal durchgeführt hat, mit der Droge. Grund war sicher auch hier wieder das Bedürfnis, die bürgerliche Umwelt vor den Kopf zu stoßen, ihre ›Normalität‹ infrage zu stellen. Aussehen wie er, Macho mit Lederjacke, aber homosexuell agieren, mit Nutten, Zuhältern und Gastarbeitern herumlungern, aber des korrekten Umgangs mit der deutschen Sprache mächtig sein wie ein Germanistikprofessor, in den Werken der Weltliteratur beschlagen sein wie ein Bibliothekar.
Später wird er sich mit Frauen umgeben, doch mit den schönen Exemplaren schläft er nicht, mit einer Ausnahme: Ingrid Caven – und die heiratet er dann auch. Sein Kontrastprogramm – oder besser sein Crashkurs – ging vom Kopf aus, dazu bestimmt, ihm und allen anderen zu beweisen, dass es sein Wille war, der seine Welt bestimmte, nicht die Umwelt. Spätestens 1962 muss man die Phase seiner Jugend – das Ausprobieren, Verwerfen und Ausleben von Vorlieben – als abgeschlossen betrachten.
Rainer Werner Fassbinder ist eine orientierte Persönlichkeit geworden, von der nur noch keiner weiß.
1962 ist das Jahr des »Oberhausener Manifestes«. Unter der Führung von Alexander Kluge erklären die wichtigsten deutschen Jungfilmer, die sich bislang nur durch Kurzfilme hervortun durften, Papas Kino für tot und ihren eigenen Anspruch, den »neuen deutschen Spielfilm« zu schaffen.
Für Fassbinder bedeutete das – ebenso wenig wie für die Unterzeichner des Manifests, die er damals kaum kannte – sicher keine Initialzündung, aber es lag nun etwas in der Luft, das auf Veränderung drängte, und Veränderung, etwas anders machen, das war sicher auch seine Zielvorgabe. Er war jetzt siebzehn.
Ich bekam Ende der fünfziger Jahre, ich war noch an der Münchener Kunstakademie in der Klasse für Werbegrafik eingeschrieben, meine ersten, allerdings vielfältigen Kontakte mit dem Gewerbe, das mich magisch anzog: Film. Ich lernte die Bavariastudios von innen kennen, und als Untermieter eines veritablen Aufnahmeleiters, Karl Helmer, wurde ich ›Second Assistant Director‹ von Edward Dmytryk bei dessen Remake von DER BLAUE ENGEL – wohl nur weil Helmer Englisch noch schlimmer radebrechte als ich. Meine Klasse in der Akademie ließ ich inzwischen auch nicht verkommen. Ich organisierte das Ausmalen von Bars und Nachtklubs, gab jeweils die Grundidee, nach der meine Kommilitonen, hochbegabte Künstler, dann pinselten. So gestalteten wir auch das Lokal in der Türkenstraße um – inzwischen trägt es längst wieder seinen alten Namen »Der Simpl« – zu einem ungarischen Speiselokal namens »Paprika«. Der Geist der Lale Andersen und viele andere Geister bis hin zur leibhaftigen Toni Netzle mögen solche Untat verzeihen! Jedenfalls drang mein Ruhm als zupackender Organisator »mit Filmerfahrung« bis in die Studierstube des Philologiestudenten Enno Patalas, der – weshalb man ihn in der Ainmillerstraße achtungsvoll grüßte – in der Süddeutschen Zeitung Filmkritiken schrieb. Eines Tages sprach Enno mich an, er kenne einen frischgebackenen Doktor der Rechte, der aber Filmregisseur werden wolle und einen Produzenten suche –? Er stellte mich Alexander Kluge vor. Um es kurz zu machen, wir fabrizierten zusammen RENNEN und AMORE, erhielten das Prädikat »wertvoll« und unser Geld zurück, und als sich unsere Wege trennten, dedizierte er mir das Drehbuch zu PROTOKOLL EINER REVOLUTION. Das war wohl die verrückteste Kurzfilmproduktion: ein Dreimannteam. Kamera und Regie: Günter Lemmer, Assistent für alles: Peter Wortmann, und ich den Rest: vom Producer bis zum Requisiteur.
Wenn die beiden als Darsteller, »Chef des Geheimdienstes« und »Leutnant der Rebellen« im Erschießungskommando bzw. als zu Erschießender, vor der Kamera agierten, musste ich auch noch hinter die Lupe. Wir vagabundierten von Barcelona (ausgewiesen von Francos Polizei) bis Syrakus (Kampfhandlungen mit scharfer Munition – nicht wegen des »echteren« Gesichtsausdrucks, sondern weil's billiger war), hievten Ruderboote des Nachts aus dem Englischen Garten ins Nordbad, für Unterwasseraufnahmen, und verschnitten aus den Mülltonnen der Fox-Tönenden-Wochenschau geklaubtes Material vom Sturm Castros auf Havanna mit unseren Einsätzen. Ergebnis: die erste Bundesfilm-Prämie.
Solchermaßen auf das Beste eingeführt, lernte ich die Schamonis kennen; Peter, mein Jahrgang, nahm mich mit zu Max Ernst und schärfte mir Augen und Profitsinn für die in der Welt der Kunst verborgen schlummernden Schätze (wenn man sie abfilmt). Und eine begeisterungsfähige Redakteurin des Bayerischen Rundfunks schleppte mir Klaus Lemke an. Mit ihm, unter Exklusiv-Vertrag, stellte ich eine ganze Serie von gängigen, gut verkäuflichen Kurzfilmen her. Mein Unternehmen wuchs, und Lemkes Kollegen, Freunde und Assistenten wie Martin Müller, Niklaus Schilling und Wolfgang Limmer drängten bald ebenso an den Trog der Fior Film Organisaton GmbH, wie der gedeihliche Laden hieß. Ich residierte mittlerweile über einer Bank Ecke Franz-Joseph-/Leopoldstraße, und im Vorzimmer dämpfte ein Perser die Schritte der Besucher. Die Fior war Untermieter einer betuchten Anwaltskanzlei. Im Nebenzimmer saß die Konvera Konzert & Theater-Veranstaltungsgesellschaft des Herrn Eberhard Radisch. Die Sekretärin teilten wir uns. Zu den Brötchen des Kurzfilms – Kosten (schwarz/weiß) ca. 6.000 DM, Verkaufswert bei Prädikat 12.000 DM, Gagen selbstredend hintangestellt – kamen die Butter in Form von Fernsehauftragsproduktionen und der Kaviar – löffelchenweise – als Prämien und Preise und gelegentlichen Festivalehrungen. Es ließ sich leben, wenn auch der Sinn insgeheim nach den höheren Weihen des Spielfilms stand. Allerdings schwebte mir keineswegs die Art von »Neuem Deutschem Film« vor, wie ihn jetzt die Oberhausener zu realisieren begannen. Ich hatte – von Filmgeschichte und kritischer Auseinandersetzung mit derselben – völlig unbefleckte Vorstellungen. Ich war kein Cineast und wollte Filme produzieren, wie ich sie selber gerne sah: die Historie als eine rastlose Folge großer Abenteuerschinken, wobei ich die Geschichte der Menschheit weit bis in graue Vorzeit sah, in der sich Legenden und Fabeln mit der aufkommenden, faszinierenden Science-Fiction trafen. Das aber war in den bilderstürmenden sechziger Jahren der deutschen Jungfilmer nicht gefragt, ja verpönt.
Und ich galt nicht als »Filmemacher« im strengen Sinn der von Alexander Kluge & Co. eingeführten Richtlinien, hatte nie das Bedürfnis verspürt, selbst Regie zu führen, sondern mich damit vergnügt, es anderen zu ermöglichen. Obgleich fast alle Unterzeichner des Oberhausener Manifestes meine Freunde waren, hatte man mich als »zu sehr dem Kommerziellen verhaftet« nicht aufgefordert, mit zu unterschreiben. Ich produzierte also weiter ideologielos vor mich hin und genoss die Früchte der Arbeit anderer – und wartete auf den Tag, das Ereignis, die Menschen, die dann auch meine Tätigkeit würdigen sollten.
1963 traf Rainer Werner auf die Person, die sein Leben nachhaltig, zielstrebig und aufopfernd in die Bahn lenken sollte, die dann zur Startrampe der einzigartigen Rakete, der gewaltigen, sprühend funkelnden Wunderkerze ›R.W. Fassbinder‹ wurde: Michael Fengler. Seine Elternkonstellation ist auf den ersten Blick verblüffend ähnlich: Auch Fenglers Vater ist Arzt und seine Mutter Journalistin. Doch damit ist die Analogie schon erschöpft. Denn im Gegensatz zu Rainers Hintergrund aus brüchigem Bürgertum und nicht ausgelebter Boheme verläuft die Jugend des am 14. November 1940 in Königsberg geborenen Fengler nach den üblichen Kriegswirren und abenteuerlicher Flucht dann in Westdeutschland grundsolide. Der Junge besucht das Internat St. Blasien, macht sein Abitur und beginnt in Frankfurt mit dem Studium der Germanistik und Romanistik, für das er in Long Island auf der NY-State-University gastieren darf, bevor er es in München fortsetzt. Hier hat er auch eine Freundin, Kerstin Dobbertin, genannt Molly (heute die Frau von Veith von Fürstenberg und eine der ruhmreichen ›Olgaproduzentinnen‹ von MÄNNER). Sie besuchte die Schauspielschule Leonhard, genauso wie übrigens Hanna Schygulla, Marite Greiselis – und Rainer-Werner Fassbinder! Damals gab es in München noch keine Filmhochschule, wohl aber das Deutsche Institut für Film und Fernsehen (DIF) in der Kaulbachstraße. Rainer und sein fünf Jahre älterer Freund Michael fanden sich sehr schnell in ihrer Begeisterung für den Film. Sie benutzten Telefon und Namen des ziemlich verwaisten, wenn nicht verlotterten DIF, um sich von den Verleihfirmen Kopien aller Filme zu bestellen, die sie gern sehen wollten. Dann saßen sie stundenlang in den Instituts-Schneideräumen und ließen die Filme vorwärts und rückwärts laufen, bis sie jede Bewegung, jeden Satz in sich aufgesogen hatten – und die übrige Zeit rannten sie ins Kino. Oft sahen sie drei, vier Filme an einem Tag. Es war jetzt überhaupt keine Frage mehr, wie ihre Zukunft aussehen würde: Sie wollten Filme machen!
Über diese Zeit mit Fengler gibt es von Fassbinders Seite keinen, zumindest keinen veröffentlichten Bericht. Als er in die Jahre kam, in denen er für seine Weggefährten der ersten Schritte schriftlich Zeugnis ablegte, wie etwa für Hanna, war sein Verhältnis zu Michael Fengler längst so gestört, dass er nicht im Traum – oder vielleicht nur im Traum – daran dachte, sich der Bedeutung des Freundes zu erinnern. Über die Schygulla und die Zeit auf der Leonhardschule ließ er sich im Nachwort zu ihren Memoiren aus, die sie – in weiser Erkenntnis des richtigen Zeitpunkts – gleich nach LILI MARLEEN schrieb:
»Meine Gründe, diese Schule zu besuchen, und die der Hanna Schygulla unterschieden sich jedoch weitgehend von denen unserer Kollegen. Die Bühne, das Theater, Schauspieler zu werden um jeden Preis, waren unsere Gründe nicht. Schauspielunterricht (der im Übrigen recht teuer, in keinem Verhältnis zu den Einnahmen junger Menschen war, versteht sich), bestehend aus Sprach- und Atemunterricht, Rollenstudium und einem Etüdenabend, der einmal in der Woche jeden Mittwochabend stattfand, wo sich alle Mitschüler trafen, um gemeinsam etwas zu versuchen, was man sich als freies Improvisieren zu einem vorgegebenen Thema vorstellen muss.
Nun, mein Grund, diese Schule trotzdem weiter zu besuchen, ist einfach erklärt. Ich wollte Filme machen, seit ich über meine Zukunft nachdachte. Filmhochschulen gab es damals noch nicht, für Regieassistenzen war ich denkbar ungeeignet, da mir fast jede Kameraposition, jede Kamerabewegung, jede Regieanweisung lächerlich und gleichzeitig falsch erschien, aber mich einzumischen, dies und jenes zu diskutieren, gab ich schon sehr bald auf, nachdem einige zaghafte Versuche als schlicht lästige Störungen der Arbeit abgeschmettert worden waren. Also hab' ich ein bisschen Ton gemacht, habe gelernt, den Schneidetisch zu bedienen, habe bei Requisite und Ausstattung geholfen; als wahres Lernen des Filmemachens allerdings betrachte ich das systematische Sehen von etwa drei bis vier Filmen pro Tag. Da kam eines Tages das Gerücht auf, dass in etwa zwei bis drei Jahren in Berlin eine Filmhochschule gegründet werden solle. Allerdings, so hieß es, würde mit ziemlicher Sicherheit irgendein echter Abschluss, welcher Art auch immer, als Voraussetzung zu einer eventuellen Aufnahme notwendig sein. So habe ich mich, in Ermangelung sonstiger Ideen, bei einer Schauspielschule beworben und wurde auch angenommen.
Hanna Schygulla wiederum studierte Germanistik und, wenn ich mich recht erinnere, Englisch und Französisch. Sie wollte wohl Lehrerin werden. Aber irgendwann begann sie sich zu langweilen, ihr Leben schien ihr zu geheimnislos, zu vorgezeichnet, zu lustlos, unfrei, zu eng.
Da nahm Hanna Schygulla nebenbei, ihre Eltern waren heftig dagegen, heimlich Schauspielunterricht, um etwas mehr über sich und ihre wahren Bedürfnisse zu erfahren. Sie ging also in die Schauspielschule, fast wie man zu einem Psychoanalytiker geht. Natürlich hat es nicht allzu lang gedauert, bis die Schygulla den Schwindel durchschaut hatte und sehr traurig und ziemlich enttäuscht der Schule den Rücken kehrte. Es hat wohl kaum ein Jahr gedauert bis dahin.
Sonderbarerweise galten Hanna Schygulla und ich, wenngleich wir beide auch recht bald als relativ unfolgsame, das heißt ausgesprochen kritische Außenseiter entlarvt wurden, doch für die interessantesten Begabungen auf der Schule, zwar schwierig, aber eben von hoffnungsvollstem, wenn auch abnormem, eher beängstigendem Talent ...
An einem dieser Abende wurde mir ganz plötzlich von einer Sekunde auf die andere, wie von einem Blitz getroffen, glasklar, dass die Schygulla einmal der Star meiner Filme – und dass ich Filme machen würde, bezweifelte ich keinen Augenblick – werden würde, ein wesentlicher Eckpfeiler möglicherweise, vielleicht gar so etwas wie ein Motor.
Die Schygulla hat von diesem Gedanken mit Sicherheit nichts geahnt, während ich mir meiner Sache bombensicher war, ich habe allerdings nicht einmal andeutungsweise mit der Schygulla darüber gesprochen, mag sein aus Feigheit, mag sein aus unerschütterlicher Sicherheit, dass meine Wünsche, meine Bedürfnisse sich früher oder später, wie verrückt oder hochmütig es heute auch klingen mag, erfüllen würden.«