Mördersuche: Sechs Krimis
Published by Alfred Bekker, 2017.
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Mördersuche: Sechs Krimis
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Tanga Fatale
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Tod eines Schnüfflers
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Gefährliche Jagd
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Killer ohne Skrupel
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Die Thailand-Connection
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Further Reading: 1166 Seiten Thriller Spannung: Neun Top Thriller für den Sommer
Also By Alfred Bekker
Also By A. F. Morland
Also By Alfred Wallon
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von Alfred Bekker, Alfred Wallon & A. F. Morland
Der Umfang dieses Buchs entspricht 799 Taschenbuchseiten.
Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.
Dieses Buch enthält folgende sechs Krimis:
A. F. Morland: Sag zum Abschied leise Mord
A. F. Morland: Tanga Fatale
Alfred Bekker: Tod eines Schnüfflers
Alfred Wallon: Gefährliche Jagd
Alfred Bekker: Killer ohne Skrupel
Alfred Wallon: Die Thailand-Connection
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Authors
© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
––––––––

Sag zum Abschied leise Mord
VON A. F. MORLAND
Ein Gauner mit einer besonders gemeinen Masche.
Bount Reiniger auf einer falschen Spur.
Der Täter, den er sucht, scheint nur die Spitze des Eisberges zu sein. Plötzlich gerät der Detektiv in eine heimtückisch gestellte Falle – und schon brennt ihm die Zeit auf den Nägeln, denn es geht um mehr als nur um seinen Auftrag ...
1
Selbstmord ist die einfachste Sache der Welt, dachte Doris Vilas. Sie war nicht die erste, die freiwillig aus dem Leben scheiden wollte, und sie würde nicht die letzte sein. Die Unglücklichen springen von Aussichtstürmen, schneiden sich die Pulsadern auf, werfen sich vor Züge oder schlucken einfach eine Überdosis Schlaftabletten. Für diese Todesart hatte sich Doris Vilas entschieden. Sie wollte nicht, dass alles voll Blut war, wenn sie nicht mehr lebte. Sie hatte sich immer vor Blut geekelt, ob es nun das von fremden Menschen oder ihr eigenes gewesen war. Nein, es sollte kein Blut fließen. Sie sollte aussehen, als würde sie schlafen. Es würde schmerzlos sein. Und dann würde sie endlich Ruhe haben. Die grelle Nachmittagssonne stahl sich durch die Lamellenjalousie in das Schlafzimmer der Frau und zeichnete ein Gerippe auf den weichen, flauschigen Teppich.
Draußen war ein herrlicher Tag. Eigentlich viel zu schön zum Sterben. Doris hatte sich den Tag ihres Todes grau und düster vorgestellt. Die Welt nahm nicht einmal in diesem Augenblick Anteil an ihrem heftigen Schmerz.
Sie ging zur Schlafzimmertür und überzeugte sich, dass sie abgeschlossen war. Sie wollte in diesem schweren Moment nicht gestört werden. Ihr Entschluss stand unumstößlich fest. Nun wollte sie ihn durchführen und niemand sollte sie daran hindern.
Sie begab sich ins Bad und holte eine noch verschlossene Schlaftablettenphiole aus dem Medikamentenschrank. Ihr junges Gesicht verlor angesichts der zwanzig Tabletten, die für sie den Tod darstellten, die Farbe. Sie strich sich mit zitternder Hand das rostrote Haar aus der Stirn und öffnete dann den Aluverschluss.
Nun griff sie nach einem Glas und füllte es mit Wasser. Sie war aufgeregt und nervös. Aber sie hatte keine Angst vor dem Sterben. Sie hatte sich damit abgefunden, dass es sein musste. Sie hätte nur Angst vor quälenden Schmerzen gehabt, doch die verursachten Schlafmittel ja nicht.
Doris Vilas hielt das Glasröhrchen über das Wasserglas, kippte es leicht und ließ alle zwanzig Tabletten hineinfallen.
Geduldig sah sie zu, wie die weißen Tabletten weich wurden und sich schließlich auflösten. Das Wasser wurde zuerst trübe und dann weiß wie Milch.
Doris rührte das tödliche Getränk mit dem Griff der Zahnbürste um. Dann ging sie ins Schlafzimmer zurück und setzte sich auf den Bettrand.
Nun wurden ihre Knie doch ein wenig weich. Sie hatte Angst, der Mut könnte sie verlassen. Zwei kalte Tränen rollten über ihre heißen Wangen.
Sie setzte das Glas schnell an die bebenden Lippen und begann, hastig zu trinken. Es fiel ihr schwer, das bittere Zeug zu schlucken. Ihr wurde während des Trinkens übel, doch sie setzte das Glas nicht mehr ab.
Sie zwang sich, das Glas bis zum letzten Tropfen zu leeren. Ekel und ein bitterer Geschmack erzeugten ein Knebelgefühl in ihrem Hals.
Sie stellte das Glas angewidert auf das Nachttischen, griff nach dem Kuvert, das darauf lag, und lehnte es an das Glas, so dass niemand es übersehen konnte.
Es war der Abschiedsbrief für ihren Mann. Sie war sicher, dass Will aus allen Wolken fallen würde, wenn das hier vorbei war. Und sie hätte es bestimmt nicht getan, wenn sie einen anderen Ausweg gehabt hätte.
Seufzend griff sie nach der schwarzen Schlafmaske, die sie immer aufsetzte, wenn sie sich hinlegte. Sie legte sich das samtweiche Ding auf die Augen.
Eine wohltuende Dunkelheit umfing sie. Nun legte sie sich auf das Bett. Kerzengerade. Auf den Rücken. Als wäre sie aufgebahrt.
Dann musste sie warten. Sie fühlte, dass ihr Herz langsamer schlug. Und leiser. Sie spürte, dass sie ruhiger wurde. Die Welt um sie herum, das Schlafzimmer – alles wurde unwirklich.
Die Wehmut, mit der sie aus dem Leben schied, die Verzweiflung, die sie zu diesem Schritt getrieben hatte alles wurde klein, unscheinbar, unwichtig.
Eine bleierne Müdigkeit bemächtigte sich ihrer. Ihr Denkvermögen wurde allmählich schwächer. Sie konnte das alles genau registrieren.
Die Müdigkeit kroch von den Beinen nach oben. Höher. Immer höher.
Doch diesmal war es kein wohltuender, erfrischender Schlaf, der da kam.
Diesmal war es der Tod ...
––––––––

2
WILL VILAS KLETTERTE gutgelaunt aus seinem weißen Straßenschiff. Die Sonne tanzte übermütig auf seiner Nase. Sie sollte ruhig noch ein paar Wochen lang kräftig scheinen. Der gleißende Feuerball dort oben am Himmel war Vilas größter Verbündeter.
Will Vilas erzeugte Eiskreme. Ohne Sonne keine Eiskreme. Deshalb liebte er die Sonne und freute sich über jeden Tag, an dem sie schien.
Man konnte Will Vilas als einen sportlichen Typ bezeichnen. Er ging auf Großwildjagd, fischte, hatte eine Jacht und einen Sportwagen und flog ein eigenes Flugzeug. Eine Zeitlang war er bei der Luftwaffe gewesen. Aber da hatte es Vorgesetzte gegeben, mit denen er sich nicht verstanden hatte. Deshalb hatte er seinen Abschied genommen.
Er hatte dunkles Haar und dunkle Augen. Seine Haut war immer sonnenverbrannt.
Vilas ging mit federnden Schritten auf den Eingang seines Hauses zu.
Die Tür öffnete sich wie von selbst. Ein Mann im hellgrauen Anzug erschien. Der Diener. Er hieß Will Vilas wie jeden Tag herzlich willkommen. Als ob Vilas eben aus Afrika oder Indien zurückgekehrt wäre.
„Wie geht’s, Arthur?“, fragte Vilas.
Es war beinahe ein Ritual. Es war zu einem Spiel mit verteilten Rollen geworden. Arthur hieß den Dienstgeber herzlich willkommen, und dieser erkundigte sich nach dem Befinden des Dieners.
Und Arthur sagte auch heute wieder, so wie jeden Tag: „Danke, Sir. Mir geht es gut.“
„Fein“, erwiderte Will Vilas. Er griff in die Tasche seines senffarbenen Kammgarnanzuges und holte eine kleine, längliche, schmale Schachtel hervor. Auf dem Deckel waren Name und Anschrift eines New Yorker Juweliers in Gold eingeprägt.
„Wo ist meine Frau, Arthur?“, fragte Vilas mit einem jungenhaften Lächeln.
Er brannte darauf, seine Frau überraschen zu können.
Der Diener hob den Kopf und blickte zur Decke. Denn ungefähr da befand sich Doris‘ Schlafzimmer.
„Mrs. Vilas befindet sich in ihrem Schlafzimmer, Sir.“
Vilas lachte.
„Was? Um diese Zeit?“
„Sie sagte, sie fühle sich nicht wohl, Sir.“
„Haben Sie mal nach ihr gesehen?“ Der Diener schüttelte den Kopf. „Warum nicht?“, fragte Vilas.
„Sie sagte ausdrücklich, sie wünsche nicht gestört zu werden, Sir.“
„Vielleicht hätte sie irgendetwas gebraucht.“
„Mrs. Vilas sagte, sie würde klingeln, wenn sie etwas benötigte, Sir.“
„Sie wird sich gleich wohler fühlen, wenn sie sieht, was ich für sie gekauft habe.“
Da es sich für einen guten Diener nicht ziemt, dem Herrn Fragen zu stellen, begnügte sich Arthur mit einem fragenden Blick.
Will Vilas blinzelte ihn vergnügt an.
„In dieser kleinen Schachtel befindet sich das Platinarmband, von dem sie schon seit Wochen träumt.“ Arthur nickte.
Das war es, was er gern wissen wollte. Nun wusste er es. Ohne gefragt zu haben.
Vilas schob ihn zur Seite und lief auf die Treppe zu, die nach oben führte. Er nahm gleich drei Stufen auf einmal, um schneller im Obergeschoss zu sein.
Mit großen Sätzen rannte er auf die Tür zu, die in das Schlafzimmer seiner Frau führte.
Er klopfte.
„Mrs. Vilas?“
Er wartete und lächelte in Vorfreude.
„Mrs. Vilas!“, rief er noch einmal. „Ich bin es. Mr. Vilas! Darf ich eintreten?“
Er bekam keine Antwort. Deshalb klopfte er noch einmal. Diesmal lauter. Ungestümer. Vielleicht schlief Doris. Dann wollte er sie jetzt wecken. Der Tag war zu schön um zu schlafen. Er wollte ihr das Armband geben, wollte sich über ihre Freude freuen und wollte anschließend noch irgendetwas mit Doris unternehmen. Irgendetwas. Er war heute von einer unbändigen Unternehmungslust beseelt. Das kam nicht oft vor.
„Doris!“, rief er, nachdem er wieder geklopft hatte. „Doris?“
Drinnen blieb es still. Das kam ihm zwar sonderbar vor, aber er machte sich in diesem Augenblick noch keine Sorgen.
„Doris! Ich weiß, dass du da drinnen bist! Warum antwortest du nicht?“
Er griff nach der Klinke. Abgeschlossen, stellte er fest. Er rief wieder den Namen seiner Frau, nun schon ein wenig unruhig. Er klopfte erneut.
„Fühlst du dich nicht wohl, Doris? Was ist denn los? Warum machst du nicht auf?“
Will Vilas ballte die Faust und knallte sie ärgerlich an die Tür.
„Doris! Komm, sei doch nicht albern! Was soll der Unfug? Mach endlich auf. Ich habe dir etwas mitgebracht. Du musst es dir unbedingt ansehen.“
Allmählich stiegen in Vilas ernstliche Zweifel auf, ob mit seiner Frau alles in Ordnung war. Sie hatte sich schon einige Male in ihr Schlafzimmer eingeschlossen, doch da war immer ein Streit vorangegangen. Danach hatte sie allein sein wollen. Ein durchaus verständlicher Wunsch.
Aber was hatte das heute zu bedeuten? Sie hatten schon ein paar Monate lang nicht mehr gestritten. Es war alles in Ordnung zwischen ihnen.
„Doris!“, rief Vilas nun beunruhigt. „Um Himmels willen, Doris!“
Arthur kam wie ein geprügelter Hund die Treppe hochgeschlichen.
Vilas wandte sich mit flackerndem Blick nach ihm um.
„Es ist doch hoffentlich nichts passiert, Sir“, sagte der Diener mit belegter Stimme.
„Brechen Sie die Tür auf, Arthur!“, verlangte Will Vilas kurzentschlossen.
Der Diener riss die Augen auf.
„Sir ...“
„Machen Sie schon, was ich sage!“, bellte Will Vilas gereizt.
Arthur nickte. Er trat drei Schritte zurück und rannte dann gegen die Tür. Er warf sich mit der Schulter dagegen.
Dem ersten Ansturm vermochte die Tür standzuhalten. Dem zweiten und dem dritten ebenfalls. Arthur wurde puterrot im Gesicht.
Er keuchte und warf sich ein viertes Mal gegen die Tür, die bereits einmal leise geknackt hatte.
Diesmal splitterte das Holz mit einem hässlichen Geräusch. Die Tür flog auf und krachte gegen die Wand. Arthur taumelte in den düsteren Raum hinein.
Will Vilas drängte ihn zur Seite.
Doris lag kerzengerade auf dem Bett. Der Lärm hätte sie selbst dann wecken müssen, wenn sie eine oder zwei Schlaftabletten eingenommen hatte.
Es stimmte irgendetwas nicht mit ihr.
Vilas glaubte, sein Herz würde aussetzen, als er den Eindruck hatte, seine Frau würde nicht mehr atmen.
Er eilte zum Bett. Doris bot einen beunruhigenden Anblick. Ihr Gesicht war kreideweiß, soweit es nicht von der schwarzen Schlafmaske verdeckt war.
Sie lag vollkommen still auf dem Rücken. Als würde sie schlafen. Aber sie atmete nicht.
Will Vilas fasste blitzschnell nach ihrem Handgelenk. Kein Puls, dachte er entsetzt. Sein Gesicht wurde fahl. Er nahm seiner Frau die Schlafmaske ab. Die Lider waren geschlossen.
Sein entsetzter Blick irrte umher und fiel auf das Kuvert, das an dem Glas lehnte.
AN MEINEN MANN, stand darauf.
Ein Abschiedsbrief. Will Vilas erstarrte. Eine kalte Faust griff an sein Herz und versuchte, es zu zerdrücken.
Er begriff.
„Doris!“, schrie er in wahnsinnigem Schmerz auf. Dann ließ er sich erschüttert auf das Bett fallen und umklammerte weinend seine Frau. Er hatte nicht die Kraft, sich zu beruhigen.
––––––––

3
„RUFEN SIE SOFORT DR. Bedell an, Arthur!“, keuchte Vilas nach einigen Minuten. „Sagen Sie ihm, dass meine Frau vermutlich eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt hat. Er soll auf dem schnellsten Weg hierherkommen.“
„Ja, Sir. Ja!“, presste Arthur benommen hervor. Er wankte aus dem Schlafzimmer und hastete die Treppe hinunter.
Es hatte keinen Zweck mehr, Dr. Bedell zu bemühen. Doris Vilas war nicht mehr zu retten. Doch ihr verzweifelter Mann weigerte sich, diese schreckliche Tatsache zu akzeptieren.
Vilas wischte sich mit dem Handrücken über den zitternden Mund. Mit ebenfalls zitternden Fingern griff er nach dem Briefumschlag. Zögernd, als hätte er Angst vor dem Inhalt dieses Kuverts.
Ungeschickt begann er, den Umschlag aufzureißen. Er leckte sich mit der Zunge über die strohtrockenen Lippen.
Ein Blatt Papier fiel ihm in den Schoß. Leer. Oder beinahe leer. Die wenigen Worte, die ihm Doris geschrieben hatte, konnte man mit einem Blick übersehen.
Doris war sehr aufgeregt gewesen, als sie diese Worte geschrieben hatte. Vilas erkannte ihre Schrift kaum wieder. Ihre Hand musste gezittert haben. Ein heller Fleck zeigte an, dass Doris während des Schreibens geweint hatte.
Vilas las: „Bitte verzeih mir, Will. Ich wusste nicht mehr weiter.“
Das ist alles?, dachte Vilas und knüllte das Papier verzweifelt zusammen. Was war das für ein Brief? Was sollte er damit anfangen? Der Brief gab ihm keinen Aufschluss, warum Doris sich das Leben genommen hatte.
„Warum, Doris?“, rief Will Vilas gequält. „Warum hast du das getan?“ Zehn Minuten, nachdem ihn Arthur angerufen hatte, traf Dr. Bedell ein. Er war ein kleiner Mann mit schlohweißem Haar, einer stabilen Hornbrille auf der Nase und Millionen von Sommersprossen im faltenreichen Gesicht.
Während Dr. Bedell die Frau untersuchte, mussten Vilas und der Diener vor dem Schlafzimmer warten. Vilas rauchte nervös zwei Zigaretten hintereinander.
Dann öffnete sich die Schlafzimmertür.
Dr. Bedell brauchte kein Wort zu sagen. Sein Gesicht war fahl.
Will Vilas starrte den Arzt, mit dem er befreundet war, fassungslos an. Es schien, als würde er durch ihn hindurchsehen.
Dr. Hyram Bedell zuckte bedauernd die Achseln. Auch ihn traf Doris’ Tod schmerzlich.
„Tut mir leid, Will ...“
„Sie ist ...“
„Ja, Will. Ich konnte nichts mehr für sie tun.“
Vilas war von dieser Nachricht, mit der er gerechnet hatte, so niedergeschmettert, dass er wankte.
„Soll ich dir eine Beruhigungsspritze geben, Will?“, fragte der Arzt besorgt.
Vilas hörte ihn nicht. Er schüttelte zwar den Kopf, doch das galt seiner Frau und ihrem Tod, den er einfach nicht begreifen konnte.
––––––––

4
DAS WEITLÄUFIGE GRUNDSTÜCK von Will Vilas wurde von hohen, beinahe gewaltig wirkenden Pittosporum-Sträuchern eingesäumt.
Bount Reiniger ließ seinen silbergrauen Mercedes 300 SE auf das Haus des Eiskremeerzeugers zurollen. Es war eine imposante Villa im spanischen Stil. Grauweiß und so kahl und unpersönlich wie eine Behörde.
Bount faltete sich aus dem Wagen und klingelte. Arthur öffnete. Bount sagte sein Sprüchlein auf. Arthur nickte und bat ihn einzutreten.
Der Diener führte Bount durch eine düstere Halle an einem spanischen Lehnstuhl vorbei. Er führte ihn weiter durch eine schwere Eichentür in eine eichengetäfelte Bibliothek.
Aus den tiefen Fenstern hatte man einen herrlichen Ausblick auf das Grundstück.
In einem Lehnstuhl am Fenster saß ein Mann. Er hatte ein Buch auf den Knien liegen, las aber nicht. Sein Gesicht war fast genauso weiß wie die Decke.
„Mr. Reiniger, Sir“, sagte Arthur leise, als wollte er Vilas nicht erschrecken.
Will Vilas nickte wie in Trance. Er erhob sich mechanisch. Er lächelte, doch Bount wusste, was von diesem Lächeln zu halten war.
„Guten Tag, Mr. Reiniger“, sagte Vilas und reichte Bount seine kraftlose Hand.
„Guten Tag“, sagte Bount und drückte nicht sehr fest zu.
„Bitte nehmen Sie Platz.“
Bount sagte: „Danke“, und setzte sich in den ledergepolsterten Fauteuil, auf den Will Vilas gezeigt hatte.
„Möchten Sie einen Drink, Mr. Reiniger?“, erkundigte sich Vilas.
„Einen Johnnie Walker, wenn’s möglich ist“, erwiderte Bount.
Vilas nickte.
„Natürlich ist es möglich. Arthur!“
Der Diener nickte und begab sich zur Bar. Er brachte den Drink und stellte das Glas vor Bount auf den niedrigen Rauchtisch.
Vilas setzte sich in den Fauteuil, der Bount gegenüberstand. Arthur zog sich lautlos aus der Bibliothek zurück.
Bount nippte am Drink. Vilas starrte auf den Boden und schien nach Worten zu suchen.
„Ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll“, sagte er mit einem hilflosen Achselzucken. „Es ist sehr schwer für mich ... Doris – meine Frau – hat sich gestern das Leben genommen. Mit Schlaftabletten.“
„Mein Beileid“, sagte Bount.
Will Vilas schüttelte den Kopf. Er biss sich in die Unterlippe und legte die Stirn in Falten.
„Ich kann es immer noch nicht begreifen, Mr. Reiniger.“
„Ich kann Sie sehr gut verstehen“, sagte Bount.
„Doris und ich ... Wir führten eine gute Ehe. Es hat fast nie ein böses Wort zwischen uns gegeben. Deshalb verstehe ich nicht, wie es zu solch einer Kurzschlusshandlung kommen konnte. Sie hatte alle Annehmlichkeiten, die man sich vorstellen kann. Ich war bestrebt, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Und plötzlich passiert so etwas. Sie bringt sich mit Schlaftabletten um. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum sie das getan hat. Das macht mich fast wahnsinnig. Können Sie das verstehen?“
„Natürlich, Mr. Vilas.“ Bount nickte und trank dann einen Schluck Whisky. Nachdem er das Glas abgesetzt hatte, sagte er: „Menschen, die Selbstmord begehen, hinterlassen im allgemeinen einen Abschiedsbrief, in dem sie ihre Verzweiflungstat begründen.“
Will Vilas wischte sich mit zitternden Fingern über die müden Augen. Er hatte während der vergangenen Nacht kein Auge zugetan. Das sah man ihm an.
„Doris hat einen Brief hinterlassen, Mr. Reiniger. Aber sie erklärt darin nichts. Überhaupt nichts.“
„Darf ich den Brief sehen?“, fragte Bount.
Vilas nickte. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und brachte ein zerknülltes Blatt Papier zum Vorschein. Bevor er es Bount überreichte, versuchte er, es kurz zu glätten.
Bount entfaltete das Blatt. Er las die wenigen Worte und gab das Schreiben wieder zurück.
„Ihre Frau muss sich in einer ausweglosen Lage befunden haben, Mr. Vilas.“
„Das ist es ja, was ich mir nicht vorstellen kann. Sie hätte mir sicher gesagt, was sie bedrückt. Sie hat es mir immer gesagt. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander.“
Bount hob leicht die Hand.
„Ganz bestimmt können Sie das nur von sich selbst behaupten, Mr. Vilas.“
„Ich bin ganz sicher.“
„Kein Mensch vermag in die Seele des anderen hineinzusehen“, sagte Bount Reiniger kopfschüttelnd.
„Ich kannte meine Frau so gut wie mich selbst.“
„Vielleicht hatte sie nur ein einziges Geheimnis vor Ihnen. Und gerade das wurde ihr zum Verhängnis.“ Vilas seufzte.
„Deshalb habe ich Sie angerufen und hier hergebeten, Mr. Reiniger. Ich gebe zu, es besteht die Möglichkeit, dass meine Frau ein solches Geheimnis gehabt hat. Obwohl ich es nicht glauben kann. Es ist eine furchtbare Ungewissheit.“
Will Vilas erhob sich. Er ging mit steifen Schritten in der Bibliothek auf und ab.
Bount sah ihm bei seiner Wanderung zu, sagte aber kein Wort.
Vilas war gebrochen. Ein Blitz hatte ihn aus heiterem Himmel getroffen.
Bount trank den Whisky aus und schob das Glas von sich. Das sollte jedoch nicht heißen, dass er noch einen Drink haben wollte.
Es war eine abschließende Geste.
Vilas blieb vor Bount stehen. Reiniger sah zu ihm auf. Vilas schaute ihn mit seinen unendlich traurigen Augen lange an.
Dann sagte er: „Diese Ungewissheit macht mich ganz krank, Mr. Reiniger.“
„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte Bount Reiniger.
„Ich muss Klarheit haben, Mr. Reiniger.“
„Natürlich.“
„Ich muss wissen, warum meine Frau so etwas Schreckliches getan hat.“
„Danach würden Sie sich auf jeden Fall wohler fühlen“, meinte Bount.
„Finden Sie die Wahrheit heraus, Mr. Reiniger“, sagte Will Vilas ernst. Seine Kiefer mahlten. Seine Backenmuskeln zuckten. „Ich will es wissen. Ich muss es wissen. Ich muss alles wissen. Selbst wenn es sehr bitter für mich sein sollte.“
––––––––

5
DER MANN, DER AUS DEM grauen Cadillac stieg, trug einen schilfgrünen altmodischen Anzug. Abgetragen und an den Ärmeln leicht abgestoßen. Dies ließ darauf schließen, dass der Mann in diesem Anzug nicht gerade mit irdischen Gütern gesegnet war.
Der Mann im schilfgrünen Anzug war mittelgroß und pockennarbig. Sein Gesicht war rund. Er schien slawischer Herkunft zu sein. Seine Augen waren schwarz wie schwarze Knöpfe. Er hatte einen – dicken muskulösen Nacken und Hände, mit denen er sicher fest zupacken konnte, wenn es verlangt wurde.
Sein Äußeres hatte nichts Gewinnendes an sich. Sein Blick war verschlossen, grimmig, unaufrichtig.
Er hatte mit den Zähnen einen großen Kaugummiklumpen geknetet, der ihm nun zu geschmacklos geworden war. Deshalb spuckte er ihn in hohem Bogen auf den Gehsteig.
Die Kugel rollte in die Gosse. Der Mann holte zwei neue Pfefferminzkaugummiplättchen aus der Tasche und schob sich die grauen Plättchen dann zwischen die vom Kariesteufel angenagten Zähne.
Er blickte auf das Grundstück von Will Vilas. Genauer gesagt auf das Haus.
Dann bückte er sich in den Wagen, klappte das kleine Türchen des Handschuhfachs nach unten und holte ein handliches Fernglas heraus.
Er setzte sich die Stielaugen vors Gesicht und blickte durch das Fernglas auf das Haus.
Als sich das Eingangstor öffnete, straffte sich der Körper des Mannes.
Bount Reiniger trat mit Will Vilas aus dem Gebäude. Die beiden Männer reichten sich die Hände. Ein kurzes Schütteln. Ein paar Worte, die der Mann nicht hören konnte.
Dann tippte sich Bount Reiniger grüßend und lächelnd an die Stirn.
Er ging zu seinem Mercedes. Der Wagenschlag schwang auf. Bount ließ sich hinter das Lenkrad fallen.
Der Mann sah die kleine weiße Wolke aus dem Auspuff fliegen. Reiniger hatte den Wagen gestartet.
Gleich darauf setzte sich der Mercedes in Bewegung.
Der Mann im schilfgrünen Anzug nahm das Fernglas von den Augen. Er handelte schnell, beinahe überstürzt.
Er sprang in seinen grauen Cadillac, warf die Tür hinter sich zu, steckte das Fernglas in das Handschuhfach, klappte den Deckel zu und wartete geduckt.
Bounts SE kam zur Grundstücksausfahrt.
Der Mann im schilfgrünen Anzug ließ den Motor seines Wagens an. Kauend wartete er.
Reinigers Mercedes rollte auf die Straße heraus. Bount bog nach rechts ein. Der Mann wartete noch eine halbe Minute.
Dann fuhr er hinter dem Mercedes her.
––––––––

6
BOUNT DACHTE ÜBER DEN neuen Fall nach. Es war ein ungewöhnlicher Auftrag. Der Tod der Frau war ein Geheimnis. Niemand brachte sich ohne Grund um.
Und Doris Vilas war nicht geisteskrank gewesen, als sie zu dieser Verzweiflungstat geschritten war.
Dass sie Schwierigkeiten gehabt hatte, hatte sie in ihrem Abschiedsbrief angedeutet. Eine Zeile mehr hätte vielleicht erklärt, warum es ging. Doch diese Zeile war nicht geschrieben worden.
Bount hatte nun die Aufgabe, den Abschiedsbrief zu ergänzen.
Keine leichte Aufgabe.
Bount schaltete das Autoradio ein. Dean Martin machte sich über einen Protestsänger lustig. Die Platte war eine Rarität.
Bount Reiniger warf wieder einmal einen Routineblick in den Rückspiegel. Sonderbar. Der graue Cadillac war immer noch da.
Bount hatte ihn zum ersten Mal bemerkt, als er Vilas’ Grundstück verlassen hatte. Nun fuhr er bereits fünfzehn Minuten lang, und der Cadillac folgte immer noch seinen Stopplichtern.
Da stimmte doch irgendetwas nicht.
Ein Zufall?
Im Vokabular eines Privatdetektivs durfte es das Wort Zufall nicht geben. „Zufälle“ durfte es nicht geben – sonst geriet er eines Tages ganz zufällig unter die Räder.
Bount beschloss, einen kleinen Test zu machen.
Er fuhr auf die nächste Espenstraße und beschleunigte ein wenig. Er überschritt absichtlich die Geschwindigkeitsgrenze.
Der graue Cadillac überschritt sie ebenfalls. Das war bereits der zweite Minuspunkt für den Verfolger.
Nun änderte Bount mehrmals die Fahrtrichtung. Der Cadillac blieb hinter ihm. Das konnte kein Zufall mehr sein.
Der Bursche macht das nicht gerade besonders clever, dachte Bount. Wahrscheinlich ein Anfänger.
Er blickte grimmig in den Spiegel. Warum interessierte sich der andere so für ihn?
Bount schüttelte ärgerlich den Kopf. Es kann der Frommste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.
Bount Reiniger hätte jetzt nach Hause fahren und den Verfolger einfach vergessen können.
Da er aber von Natur aus äußerst neugierig war, wollte er der Sache auf den Grund gehen. Er wollte wissen, warum man solches Interesse an ihm hatte. Er wollte wissen, warum er auf einmal beschattet wurde.
Er verließ New York in nördlicher Richtung. Er ließ den Mercedes auf eine schmale Sandstraße rollen, fuhr an zwei stillen Weihern vorbei und fuhr auf ein kleines Wäldchen zu.
Die Sonne strahlte auf die Blätter der ausladenden Baumkronen. Licht und Schatten fanden sich zu einem reflexartigen Spiel.
Die Sandstraße führte mitten durch das Wäldchen. Sie machte einen scharfen Knick nach links. Bevor Bount in die Kurve fuhr, blickte er noch einmal in den Rückspiegel.
Natürlich, dachte er grinsend. Mein Schatten ist immer noch da.
Er trat auf das Gaspedal. Der Mercedes hüpfte um die Kurve und entschwand für kurze Zeit den Blicken des Verfolgers.
Nun handelte Bount schnell. Er trat hart auf die Bremse. Die Räder blockierten. Die Pneus knirschten über den Sand.
Dann stand der Mercedes.
Bount sprang aus dem Fahrzeug, nachdem er den Motor abgestellt hatte. Der Cadillac war noch nicht zu sehen. Aber Bount konnte ihn bereits hören. Und er konnte die hochsteigende Staubwolke erkennen, die von dem Fahrzeug aufgewirbelt wurde.
Bount lief auf das Unterholz zu. Er versteckte sich hinter dem dicken Stamm einer altehrwürdigen Eiche. Er wartete, ohne besonders aufgeregt zu sein. Er war lediglich neugierig.
Neugierig auf den Kerl, der ihn verfolgte.
Neugierig auf die Antworten, die ihm dieser Kerl geben musste, wenn er verhindern wollte, dass ihm die Schneidezähne ausgeschlagen wurden.
Der Caddy schaukelte heran.
Bount sah ihn, als er vorsichtig hinter dem Baum hervor spähte.
Als der Fahrer Bounts Mercedes erblickte, trat er auf die Bremse. Die Pneus des grauen Wagens knirschten wie zuvor die Reifen des Mercedes.
Dann stand der Wagen. Vorerst geschah nichts. Doch dann öffnete sich der Wagenschlag. Der Mann im schilfgrünen Anzug stieg aus.
Bount nahm die Nase zurück und wartete ab.
Der Mann betrachtete den SE. Dann machte er den Hals lang und sah sich um. Der Mercedes war offensichtlich leer. Wo war der dazugehörige Mann?
Die Blicke des Kerls streiften über die nähere Umgebung. Auch Bounts Eiche nahm er kurz in Augenschein. Doch außer einer rissigen Rinde konnte er an ihr nichts entdecken.
Der Mann schüttelte den Kopf und ging zu Bounts Wagen. Er bückte sich und glotzte hinein.
Leer!, musste er feststellen.
Er richtete sich auf und blickte sich wieder um. Über ihm rauschten friedlich die Bäume. Die Sonne kam nur sporadisch durch. Dann erhellte sie das Gesicht des Mannes und warf einen scharfen Nasenschatten auf die rechte Gesichtshälfte.
Der Mann kratzte sich am Schädel. Sein blondes Haar geriet dadurch in Unordnung, doch das störte ihn nicht.
Er ging einige Schritte die Straße entlang. Dabei kam er an Bounts Eiche vorbei.
Reiniger trat hinter dem Baum hervor und pflanzte sich hinter dem Kerl auf.
„Na, mein Freund. Wieder mal auf der Pirsch?“
Der Mann erstarrte augenblicklich zur Salzsäule.
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7
DOCH DIE ERSTARRUNG wich nach einem kurzen Augenblick. Dann wirbelte der Mann im schilfgrünen Anzug wie von der Tarantel gestochen herum.
Sein Gesicht hatte einen bösartigen Ausdruck.
Er machte die typische Handbewegung zum Schulterholster.
Bount ließ ihn die Waffe nicht ziehen. Er schlug sofort zu.
Der Mann bekam Bounts harte Faust ans Kinn. Sein Kopf flog hoch und zurück. Um die Balance nicht zu verlieren, machte der Mann ein paar schnelle Schritte zurück.
Bount folgte ihm, hämmerte auf den Solarplexus des Fremden und zertrümmerte ihm mit vier wuchtigen Schlägen mindestens drei Rippen.
Der Mann stöhnte fürchterlich, deckte schlecht und kassierte Treffer um Treffer. Ab und zu schlug er zurück. Doch Bount wich den Hieben des Gegners aus oder blockte sie ab.
Als der Mann wieder einmal zuschlug, war er völlig ungedeckt.
Bount nützte diese Chance eiskalt. Mit zwei Schlagdoubletten schickte er den Kerl in den Straßenstaub.
Der schilfgrüne Anzug wurde beschmutzt. Doch die Flecken störten kaum. Es kamen noch andere Flecken hinzu. Blutflecken. Denn der Mann begann, aus der Nase zu bluten.
Noch einmal erhob er sich. Noch einmal stürzte er sich, jegliche Vorsicht außer acht lassend, auf den kampferprobten Detektiv.
Er stürzte sich mitten in einen vorbildlich geschlagenen Aufwärtshaken. Die Folgen waren vorhersehbar.
Der Mann kippte nach hinten weg und fiel aufs Kreuz.
Bount war sofort über ihm. Er riss ihm die Beretta aus dem Schulterholster und holte das Magazin aus der Kammer.
Inzwischen rappelte sich der Fremde auf. Er hatte sein Pulver verschossen.
Bount rückte die Patronen aus dem Magazin und streute sie wie Saatkörner ins Unterholz. Dann schob er den leeren Rahmen in den Waffengriff zurück.
Er reichte dem Fremden die nunmehr ungefährliche Waffe.
Grinsend sagte er: „Damit du mir keine Löcher in meinen Käse schießt.“
Der Mann tupfte sich mit einem zerknitterten Taschentuch das Blut von der Nase. Sein Gesicht war fahl. Schweiß klebte an seinen Wangen. Schweiß und Staub.
„Jetzt mal raus mit der Sprache! Wie heißt du?“, fragte Bount mit einem gefährlichen Knurren. Es deutete an, dass er bereit war, gleich in die zweite Runde zu gehen.
Der Fremde schwieg.
Bount fletschte ärgerlich die Zähne.
„Ich frage in der Regel nur einmal. Dann gibt’s was auf die Vorderzähne, Kleiner. Also!“
„Ich bin Cash Rankin“, sagte der Mann schnell. Seine Stimme wurde durch das Taschentuch gedämpft. Es war eine unangenehme Stimme.
„Und weswegen fährt der gute Cash Rankin hinter mir her?“, wollte Bount wissen. „Autogrammwünsche werden von mir per Post erledigt.“
Der Mann funkelte Bount feindselig an.
„Ich will kein Autogramm, Reiniger.“
Bount war nicht erstaunt, dass der Kerl seinen Namen kannte.
„Was darf es sonst sein? Ein blaues Auge vielleicht? Kannst du gern haben.“
Cash Rankin wendete immer wieder sein blutbesudeltes Taschentuch. Er fand bald keine Stelle mehr, die er noch nicht besudelt hatte. Und das Nasenbluten hörte immer noch nicht auf.
„Warum bist du mir gefolgt?“, bellte Bount ihn an.
„Ich habe den Auftrag, Sie zu beschatten.“
„Jetzt mach aber einen Punkt, Freundchen.“
„Es ist so.“
„Du willst doch damit nicht etwa andeuten, dass wir Kollegen sind?“ Cash Rankin nickte trotzdem. „Doch, Reiniger. Ich bin Privatdetektiv wie Sie.“
Bount zog die Mundwinkel verächtlich nach unten. Er streifte den Mann mit einem kritischen Blick.
„Jetzt verstehe ich, warum viele die Nase rümpfen, wenn man sagt, dass man Privatdetektiv ist. Solange es solche Versager gibt wie dich, ist das Naserümpfen völlig berechtigt. Kannst du dich ausweisen, Kollege?“ Der Mann hatte die Blutung wider Erwarten doch stillen können. Er schob das rote Taschentuch in die Hosentasche.
Dann leckte er sich über die angeschwollenen Lippen und zuckte verlegen die Achseln.
„Tut mir leid, Reiniger. Ich habe nicht gewusst, dass ich meine Lizenz heute brauchen werde.“
Bount nickte grimmig.
„Wie lautet dein Auftrag – Kollege?“
„Ich soll Sie beschatten.“
Bount zeigte die Zähne.
„Du solltest mal einen Blick ins Handbuch für Detektive werfen. Du stellst dich beim Beschatten nämlich verdammt dämlich an. Dich würde sogar ein Blinder bemerken.“
Der Mann erholte sich merklich von den Hieben, die er bezogen hatte. Seine Haltung wurde wieder ein wenig straffer. Sein Blick bekam einen trotzigen Ausdruck.
„Wer ist dein Auftraggeber, Cash Rankin?“, wollte Reiniger wissen.
Der Mann verzog seine geschwollenen Lippen zu einem Grinsen.
„Nicht doch, Reiniger. Das können Sie von mir nicht verlangen.“
„Ich kann!“, sagte Bount ernst.
„Ich bin zwar um einige Nummern kleiner als Sie, aber ich weiß trotzdem, was sich gehört“, sagte Rankin.
„Du wirst gleich noch ein paar Nummern schrumpfen, wenn du nicht sagst, was ich wissen will!“, fauchte Bount. „Hast du schon mal einen kollegialen Hammer auf die Hörer gekriegt, Freundchen?“
Cash Rankin riss erschrocken die Augen auf. Er trat einen Schritt zurück und hob abwehrend die zitternden Hände.
„Du meine Güte!“, presste er ängstlich hervor. „Sie werden doch nicht noch mal über mich herfallen, Reiniger!“
„Das hängt von dir ab“, sagte Bount kalt.
„Wieso von mir?“
Bount packte die Aufschläge des schilfgrünen Jacketts. Er schüttelte den Mann mehrmals kräftig, um ihn zur Vernunft zu bringen und ihm die nötige Angst einzujagen.
„Ich habe dich nach dem Namen deines Auftraggebers gefragt!“
Der Mann zitterte schneller, als Bount ihn schütteln konnte.
„Ich höre nichts!“, fauchte Reiniger.
„Ich – ich sehe nicht ein, weshalb ich mich seinetwegen von Ihnen verprügeln lassen sollte“, stöhnte Rankin.
Bount ließ den Kerl los.
„Na also.“
„So gut zahlt er auch wieder nicht“, sagte Cash Rankin, als wollte er begründen, weshalb er nun reden wollte. Er wollte sich wohl auch gleichzeitig vor sich selbst rechtfertigen.
„Bist ein kluger Junge, Cash!“, sagte Bount. „Vielleicht wird doch noch mal etwas aus dir.“
Rankin scharrte mit dem Schuh nervös im Staub. Sein rechtes Augenlid flackerte. Es war ihm anzusehen, dass ihm diese Unterhaltung äußerst unangenehm war. Er wünschte sich weit weg von hier. Weit weg von Bounts harten Fäusten.
„Wie heißt der Mann, der dich bezahlt?“, fragte Bount bohrend.
Cash Rankin holte tief Luft, als wollte er nun laut zu schreien anfangen.
Dann sagte er ganz leise: „Tino Marino. Ich soll ihn über jeden Ihrer Schritte unterrichten.“
Bount horchte erstaunt auf.
Diese Überraschung war Cash Rankin hervorragend gelungen.
Tino Marino war ein alter Bekannter von Bount. Ein Heiratsschwindler, dem Bount zu einigen Jahren Gefängnis verholfen hatte.
Bount konnte sich noch gut an den Fall erinnern. Marino hatte eine Menge Mädchen und Frauen unglücklich gemacht. Er hatte ihnen hoch und heilig die Ehe versprochen, hatte ihnen unter den dreistesten Vorwänden Geld herausgelockt und war damit auf Nimmerwiedersehen von der Bildfläche verschwunden, um sich an das nächste Opfer heranzumachen.
Eines Tages war Bount von einer der Geschädigten engagiert worden.
Die Jagd hatte nicht sehr lange gedauert. Dann war der Hase erlegt gewesen. Er wurde abgeurteilt und wanderte in den Knast. Der hübsche Junge Tino Marino.
Und nun war er wieder frei.
Und er hatte nichts Besseres zu tun, als einen zweitklassigen Privatdetektiv hinter Bount herzuschicken.
Es hatte ganz den Anschein, als wollte sich Marino für den Gefängnisaufenthalt bei Bount revanchieren.
„Wo wohnt Tino Marino?“, bellte Bount Cash Rankin an.
Rankin erschrak. Er zuckte heftig die Schultern.
„Das weiß ich nicht, Reiniger. Wirklich nicht.“
„Wieso nicht?“
„Ich bekam den Auftrag per Telefon – und das Geld per Post.“
„Das nehme ich dir nicht ab, Cash.“
„Es ist die Wahrheit, Reiniger. Sie müssen mir glauben. Ich habe diesen Marino nie zu Gesicht bekommen. Ich weiß nicht mal, wie er aussieht. Ich möchte tot umfallen, wenn es nicht stimmt.“
„Da siehst du wieder, was man von solchen Sprüchen halten kann“, knurrte Bount. „Du stehst immer noch.“
„Weil ich die Wahrheit sage.“
„Nimmst du einen weisen Rat von einem weisen Mann an, Cash?“
„Was für einen Rat, Reiniger?“
„Lauf mir ja nicht mehr über den Weg, verstanden? Sonst schlage ich dich grün und blau – Kollege! Und Mr. Tino Marino kannst du bestellen, er täte gut daran, sich nicht mit mir anzulegen. Sonst ist er nämlich schneller wieder im Knast, als er seinen Namen buchstabieren kann.“
„In Ordnung, Reiniger“, sagte Rankin unterwürfig. „In Ordnung, ich sag’s ihm.“
„Das möchte ich dir auch geraten haben“, knurrte Bount.
Er ließ den Mann, der ihm so unsympathisch war wie des Teufels Großvater, stehen, wandte sich um und ging zu seinem Mercedes zurück.
Der Motor heulte kurz auf. Dann machte der SE einen Satz nach vorn. Direkt auf Cash Rankin zu, der sich mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit brachte.
Bount sah den Mann im Rückspiegel rasch kleiner werden. Rankin blieb auf der Straße stehen und sah ihm nach. Er ging nicht zu seinem Cadillac zurück.
Er hatte nun nicht mehr die Absicht, Bount zu beschatten.
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8
DAS PORTAL DER BAR war zwanzig Meter lang. Schaukästen, wohin man sah. Mit nackten Mädchen darin. Die Mädchen waren durchweg gut gebaut und hatten an den jugendgefährdenden Sichtstellen kleine glänzende Sternchen.
Nur hier draußen, wie ein unübersehbares Schildchen dem geilen Betrachter versprach.
DROP IN stand in breiten Leuchtbuchstaben über dem Portal.
Unübersehbar. Verlockend. Den Himmel auf Erden verheißend.
Ein livrierter Portier stand an der Tür. Er sah aus wie ein abgetakelter Fregattenkapitän. Jedem, der die Bar betreten wollte, machte dieser Portier mit einem freundlichen Lächeln die Tür auf.
Selbstverständlich trug der Portier weiße Handschuhe. Wahrscheinlich weil er keine Krätze bekommen wollte.
Auch für Tino Marino machte der Portier die Tür auf.
Er wünschte Marino einen angenehmen Aufenthalt in der Bar.
O ja, dachte Tino Marino lächelnd. Es wird ein angenehmer Aufenthalt für mich werden. Ein sehr angenehmer Aufenthalt sogar. Und ein gewinnbringender dazu.
Marino hatte den Oberlippenbart von Clark Gable. Er hatte den Blick von Rock Hudson, die Eleganz von Cary Grant, den Charme von Jean-Paul Belmondo, die Frisur von Marcello Mastroianni – und das Ganze war zu allem Überfluss auch noch mit einem Schuss Rodolfo Valentino durchsetzt.
Diese geballte Mischung musste einfach auf die Frauen wirken. Und sie wirkte tatsächlich. Die paar Jahre Knast hatten Marinos Schönheit keinen Abbruch getan.
Im Gegenteil. Sein Gesicht war männlicher geworden. Attraktiver. Markanter.
Es war später Nachmittag, als Marino das „Drop in“ betrat. Um diese Zeit lief noch keine Show mit nackten Mädchen. Es war ihm lieber so, denn die Mädchen hätten ihn zu sehr von seinen Geschäften abgelenkt.
Marino trug einen mausgrauen Anzug und einen schwarzen Attachékoffer aus Leder. Mit verchromten Beschlägen, die im Licht der Foyerbeleuchtung blitzten und funkelten.
Er betrachtete sich kurz im Spiegel, der die ganze rechte Wand bedeckte. Mit einem schnellen Griff brachte er den breiten Krawattenknopf dahin, wohin er gehörte.
Dann schlug er den weinroten Vorhang zur Seite und betrat die schummerige Bar.
Links war der Tresen. Verwaist. Zwei Keeper gähnten im Duett. Einer steckte den anderen an. Um diese Zeit war noch nicht viel los.
Legionen von Flaschen aus aller Herren Ländern standen auf den breiten Spiegelregalen. An den Tischen saßen vereinzelt Leute.
Aus versteckten Lautsprechern rieselte Barmusik über die Köpfe der Gäste. Die Bühne, über die die heißesten Striptease-Shows von New York liefen, wirkte nüchtern und kalt. Sie war unbeleuchtet. Ebenso unbeleuchtet war das Podium, das von einer Viermannband allabendlich bevölkert wurde.
Über dem Schlagzeug hing ein rotes Tuch, um den Staub fernzuhalten. Sonst befanden sich keine Instrumente auf dem Podium.
Tino Marino ließ den Blick durch den Raum schweifen.
An einem der Tische saß eine junge Frau. Schwarzhaarig. Und sehr nervös. Sie rauchte mit hastigen Zügen.
Ein zynisches Lächeln huschte über Marinos Gesicht. Er strich sich mit einer selbstgefälligen Geste über den Bart.
Dann ging er auf die Frau zu. Sein Lächeln fiel kalt aus, als er sagte: „Tut mir leid, meine Liebe, dass ich dich warten ließ.“
Die Frau erschrak, als er sie ansprach. Sie sah ihn wütend an. Ihre Augen schienen zu glühen.
„Nenne mich nicht ,meine Liebe‘!“, fauchte sie gereizt.
Tino Marino setzte sich unaufgefordert. Das kalte Lächeln blieb auf seinen Lippen. Er winkte den Kellner herbei und verlangte einen Highball.
Er musterte die Frau triumphierend.
Sie ist sehr schön, dachte er stolz. Und sie ist die Frau eines der einflussreichsten Politiker unseres Landes. Trotzdem ist sie auf mich hereingefallen – Mrs. Gwen Calhoone.
Der Highball kam. Marino hob das Glas.
„Auf dein Wohl, meine Liebe.“
„Warum verhöhnst du mich auch noch?“, fragte Gwen Calhoone mit einem vorwurfsvollen Blick.
Er zuckte gelassen die Schultern und trank.
Sie sah ihn verächtlich an.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du zu so etwas fähig wärst, Tino.“
„Ist doch halb so schlimm“, meinte Marino grinsend.
„Kommst du dir nicht schäbig vor?“
Marino lachte spöttisch.
„Dasselbe könnte ich dich fragen, Gwen. Kommst du dir nicht schäbig vor? Du hast immerhin deinen Mann mit mir betrogen.“
Gwen senkte den Blick.
„Ich habe mich in dich verliebt. So etwas kommt leider manchmal vor. Ich wäre froh, wenn es mir nicht passiert wäre. Ich hätte nie gedacht, dass einer Frau wie mir so etwas passieren könnte. Ich fühlte mich so sicher. Heute könnte ich mich ohrfeigen, weil ich auf einen so skrupellosen Kerl wie dich hereingefallen bin.“ Tino Marino lachte überheblich. „Es waren doch schöne Stunden für dich. Du hast mir das immer wieder beteuert. Schöne Dinge haben nun mal ihren Preis.“
„Du bist kalt und berechnend.“
„Nichts auf der Welt ist umsonst, meine Liebe.“
„Erst heute kenne ich dein wahres Gesicht, Tino. Es gefällt mir nicht. Warum tust du mir das an? Warum?
Marino nippte gleichgültig an seinem Highball.
„Sieh mal, Gwen, man muss schließlich von irgendetwas leben. Das verstehst du doch.“
Gwen glühte ihn mit abgrundtiefem Hass in den Augen an.
„Ich wollte, du wärst tot, Tino!“ Marino warf den Kopf zurück und lachte herzlich.
„Nicht doch, meine Liebe. Im Grunde deiner Seele kannst du mir doch immer noch nicht ernstlich böse sein. Ich kenne dich doch.“
Gwen Calhoone schüttelte aufgeregt den Kopf.
„Diesmal irrst du dich, Tino“, zischte sie. „Ich bin kuriert. Ein für allemal. So etwas passiert mir ganz bestimmt nicht wieder.“
Tino Marino trank seinen Highball aus. Er straffte seinen Rücken. Sein Gesicht wurde hart.
„Hast du das Geld, Gwen?“
„Ja.“
„Wo ist es?“
Gwen Calhoone holte ein braunes Päckchen aus ihrer Handtasche. „Hier ist es.“
Marino traten die Augen vor Gier aus dem Kopf.
„Gut“, sagte er zufrieden. „Zwanzigtausend Dollar. Du kannst nachzählen.“
Marino schüttelte lächelnd den Kopf.
„Das ist nicht nötig. Ich habe Vertrauen zu dir.“
Er griff schnell nach dem Päckchen und schob es auf seine Seite des Tisches.
„Ich hätte zur Polizei gehen und dich anzeigen sollen, Tino!“, sagte Gwen Calhoone leise. „Ein Lump wie du gehört ins Gefängnis.“
Marino grinste spöttisch.
„Du weißt ganz genau, dass du nicht zur Polizei gehen kannst.“
Gwen Calhoone schwieg. Sie wusste, dass Marino recht hatte.
„Wenn den Gegnern deines Mannes diese höchst delikaten Bilder in die Hände gekommen wären, wäre es mit der steilen Karriere dieses überaus tüchtigen Mannes für immer vorbei gewesen.“
Marino hatte den Attachékoffer auf den Tisch gelegt. Er strich beinahe liebevoll darüber.
„Gib mir jetzt die Fotos!“, verlangte Gwen aufgeregt. „Und die Negative.“ Marino ließ die Verschlüsse auf-schnappen. Er öffnete jedoch nicht sofort den Deckel, sondern sah Gwen lächelnd ins bleiche Gesicht.
„Wenn du mich jetzt umbringen könntest, würdest du es tun, was?“
„Ich glaube, ja“, sagte Gwen heiser. „Gib mir die Sachen.“
Marino klappte den Deckel auf. Er nahm ein verschlossenes Kuvert heraus und reichte es Gwen. Dann legte er das Geldpäckchen in den Koffer und klappte den Deckel wieder zu.
Es war ein Geschäft wie jedes andere.
„Du kannst nachsehen, ob alles drin ist“, sagte Marino lächelnd.
Gwen schüttelte erschrocken den Kopf. Sie sah sich vorsichtig um.
„Nicht hier. Ich habe dir die zwanzigtausend Dollar gegeben. Ich kann nur hoffen, dass du mich nicht noch einmal hereinlegst.“
Marino lachte.
„Du kannst sicher sein, dass alles in Ordnung ist, meine Liebe. Ich bin Geschäftsmann. Und ich lebe nach der Devise: Geld gegen Ware. Du hast das Klügste getan, was du für deinen Mann tun konntest. Du hast seine Karriere gerettet.“
„Ach, hör doch auf damit, Tino.“
„Es muss doch gesagt werden, wie edel du gehandelt hast, meine Liebe. Dein Mann hat sicher noch einen erfolgreichen Weg vor sich. Er ist ein guter Mann. Ich hatte Gelegenheit, einige von seinen zündenden Reden zu hören. Er ist gerissen. Er ist dynamisch. Und er ist beliebt. Wer weiß, vielleicht wird er noch mal Präsident der Vereinigten Staaten. Dazu hättest du ihm dann direkt verholfen.“
Marino schob den Stuhl zurück und erhob sich. Er deutete eine kleine Verbeugung an. Dann fand er einige belanglose Abschiedsworte.
„Ich würde mich freuen, wenn du dir auf der Heimfahrt das Genick brechen würdest, Tino!“, sagte Gwen Calhoone ehrlich.
Marino lachte amüsiert.
„Nicht alle frommen Wünsche gehen in Erfüllung, meine Liebe. Glücklicherweise, kann ich nur sagen.“
Er bezahlte beim Kellner im Vorbeigehen mit einem Schein seinen Highball. Er konnte es sich leisten, großzügig zu sein. Immerhin hatte er soeben zwanzigtausend Dollar kassiert.
Steuerfrei!
Das machte ihm so schnell keiner nach.
Tino Marino verließ das „Drop in“. Wenige Augenblicke später saß er in seinem Buick und rollte mitten im träge fließenden Verkehr seiner Wohnung entgegen.
Fünfzehn Minuten später war er da.
Er lief die Treppe hoch.
Auf der Stufe vor seiner Wohnungstür saß ein Mädchen im rehbraunen Hosenanzug. Eine gelbe Wollkappe verwegen auf dem Blondkopf. Mit meergrünen Augen und meergrün lackierten Fingernägeln.
Tino Marino setzte sein gewinnendstes und zugleich verschlagenstes Lächeln auf.
„Peggy, mein Schatz!“, rief er erstaunt aus. Er schüttelte ärgerlich den Kopf, denn er war ärgerlich über sich. „Du musst mich einen Esel nennen, weil ich dich so lange warten ließ!“
Peggy Mackinson erhob sich lachend. Er wusste, dass sie ihm nicht böse sein konnte.
Sie legte ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn auf den Mund.
Dann flüsterte sie: „Ich bin eben erst gekommen, Liebling.“
Er drückte sie glücklich an sich. Er konnte wunderbar Gefühle vortäuschen.
„Was hast du deinem Mann gesagt?“, fragte er besorgt.
Peggy lachte wieder.
„Er musste wegen irgendeines sehr, sehr wichtigen Vertrags nach Panama fliegen. Ich brauchte also niemanden zu belügen, um zu dir kommen zu können.“
Tino schloss schnell die Wohnungstür auf. Sie traten ein. Marino klappte die Tür leise hinter sich zu.
„Ich freue mich sehr darüber, dass du da bist, kleine Peggy.“
Peggy küsste ihn innig.
„Ich bin glücklich, dass du mich in deine Wohnung eingeladen hast, Tino. Wenn man sich liebt – richtig liebt – will man alles voneinander wissen. Wo der Geliebte wohnt, wie er seine Wohnung eingerichtet hat – alles.“
Sie durchschritten die Diele und traten ins Wohnzimmer.
Eine breite Ledercouch beherrschte den Raum. Die Fauteuils waren ebenfalls mit Leder überzogen. An den Wänden hingen stimmungsvolle Landschaftsbilder.
Tino Marino ging zum Fenster und ließ die Jalousie herunter.
Peggy betrachtete sich inzwischen im breiten Wandspiegel.
„Sie mal, hier ist die Bar“, sagte Marino. „Mach uns was zu trinken.“
Er ging zum Plattenspieler, zog die LP mit den schwülen Standardnummern aus der Hülle und legte sie auf den Teller. Dann setzte er den Saphir auf. Eine Frau mit rauchiger Stimme begann, von Liebe zu singen.