Helmut Scharner
Mostbarone
Kriminalroman
Botschafter des Mosts Niederösterreich, August 2020: Franz Haider, Primus des Vereins Mostbarone, wird vor seinem Mostheurigen in Neuhofen an der Ybbs erschlagen aufgefunden. Die Tatwaffe liegt neben dem Toten, eine Flasche Most seines Vereinskollegen Martin Ebner. Ebner beteuert seine Unschuld, obwohl er sich jüngst mit dem Opfer überworfen hat. Der ermittelnde Major Brandner findet heraus, dass Haider sich als Vereinsprimus nicht nur Ebner zum Feind gemacht hat, sondern auch einem ehemaligen Weinbauern die erhoffte Mitgliedschaft bei den Mostbaronen verwehrte. Außerdem hatte Haider eine Affäre mit seiner Kellnerin. Ein verärgerter Mostbauer, ein geschmähter Winzer und eine betrogene Ehefrau – an Verdächtigen mangelt es nicht. Nur fehlt ein Beweis, der den Täter überführt. Da kommt es zu einem weiteren Mord, der neue Fragen aufwirft, und als der Fall sich zuspitzt, gerät auch Brandners Familie in Gefahr …
Helmut Scharner, geboren 1975 in Niederösterreich, ist derzeit als Sales Manager für den größten österreichischen Stahlkonzern tätig. Seine beruflichen und privaten Reisen führten ihn bisher in über 50 Länder. Mit seiner Familie lebt er im niederösterreichischen Mostviertel. Bewacht werden sie von der stets kampfbereiten Schmusekatze Hexi. Helmut Scharner hat bereits drei Krimis geschrieben, die in seiner Heimat spielen. Er ist Mitglied der Autorenvereinigungen »Das Syndikat« und der österreichischen Krimiautoren.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Daniel Abt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Weinfranz
ISBN 978-3-8392-7148-3
In der nachfolgenden Erzählung spielt der Verein »Mostbarone« eine Rolle. Diesen Verein gibt es tatsächlich im Mostviertel. Vom Primus des Vereins wurde die Erlaubnis für die fiktive Darstellung in diesem Werk erteilt. Die dargestellten Personen (speziell auch die Vereinsmitglieder), ihre Gedanken und Taten sind so wie die gesamte Handlung jedoch frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Neuhofen an der Ybbs
Donnerstag, 20. August 2020
Rechts und links der Fahrbahn wuchsen Birnbäume, wie Brandner an den üppigen Früchten erkannte. Weit und breit waren nur Felder, Wiesen und Bäume zu sehen. Kein Haus, nicht einmal ein Bauernhof, störte die Idylle.
Doch die friedliche Szenerie täuschte, sonst wäre Brandner nicht mit seinem Dienstwagen die schmale asphaltierte Straße mitten im Mostviertel entlanggefahren.
Der Klingelton seines Smartphones übertönte das Motorengeräusch des Audi. Brandner drückte auf den Knopf am Lenkrad.
»Hallo, Leo!« Die Stimme seiner Frau Eva erklang über die Freisprechanlage im Innenraum des Autos.
»Hallo, Schatz!«
»Hast du es schon gehört?«
»Was?«
»Sie verhängen jetzt auch eine Reisewarnung für die Balearen!«
Habe ich es euch nicht gesagt?
Brandner schluckte seinen besserwisserischen Kommentar hinunter. Eva wusste ohnehin, dass er von Anfang an gegen den Urlaub auf Mallorca gewesen war, den sie für sich und ihre beiden Töchter gebucht hatte.
»Was macht ihr jetzt?«
»Die Reiseagentur lässt uns Gott sei Dank kostenlos umbuchen.«
»Wollt ihr wirklich ins Ausland?«
Vor Brandner tauchte ein großer Vierkanthof auf.
»Die Mädchen schon, ich bräuchte es nicht mehr unbedingt«, erwiderte Eva.
Zwei Streifenwagen, das Fahrzeug der Kriminaltechnik und das der Gerichtsmedizin standen auf dem Parkplatz.
»Sie haben ihr Ziel erreicht«, ließ ihn die Frau aus dem Navigationssystem wissen.
Brandner stellte den A 6 neben den Kombi der Rechtsmediziner.
»Überleg es dir gut, du kennst ja meine Meinung dazu«, sagte er zu Eva.
»Ja, die kenne ich nur zu gut.«
Sie klang zerknirscht, aber noch wollte sie ihm gegenüber offenbar nicht eingestehen, dass er recht gehabt hatte und sie dem Wunsch der Regierung hätten nachkommen sollen. Der Kanzler hatte in den vergangenen Monaten auf den Österreichurlaub gepocht. Eva war vehement dagegen gewesen. Ihre beiden Teenagertöchter hatten sich, natürlich nicht ganz uneigennützig, auf die Seite ihrer Mutter geschlagen. Gegen die geschlossene Front seiner drei weiblichen Familienmitglieder hatte Brandner sich bisher kaum durchsetzen können, so auch diesmal nicht.
Es war sowieso nicht sein Urlaub, die drei wären ohne ihn nach Mallorca geflogen, da er arbeiten musste. Eva hatte dagegen die klare Vorgabe von ihrem Vorgesetzten bekommen, möglichst rasch und möglichst viel Urlaub abzubauen. Brandner hatte grundsätzlich nichts dagegen, wenn die drei hin und wieder ohne ihn verreisten, allerdings war in Zeiten von Covid-19 Vorsicht geboten.
»Eva, ich muss jetzt aufhören, ich bin am Tatort angekommen. Wir reden später weiter, okay?« Brandner nahm seinen Kaffeebecher aus der Halterung und trank einen Schluck.
»Ist gut, pass auf dich auf!«, sagte Eva.
»Du auch!«
Sie beendeten das Gespräch und Brandner trank noch einmal vom Kaffee. Den Polizisten, der voller Elan auf das Auto zugelaufen war, als er eingeparkt hatte, ignorierte er bewusst. Er kannte den Uniformierten.
Statt den Polizisten zu begrüßen, musterte Brandner aus dem Auto die Umgebung. Zuerst landete sein Blick wieder auf dem imposanten Vierkanthof. Die Fassade leuchtete in einem kräftigen Gelb, die unzähligen Fenster waren weiß umrandet, sie wirkten ohne Blumen etwas lieblos. Das Dach war mit roten Ziegelsteinen gedeckt.
Linker Hand ragte ein Ahornbaum in die Höhe und auf der rechten Seite eine Trauerweide. Hinter der Trauerweide befand sich der Pferdestall, aus dessen Boxen ein Schimmel und ein Rappe interessiert in Brandners Richtung schauten. Neben dem Stall stand etwas abseits ein großes Wohnhaus mit mehreren Giebeln und einem Wintergarten. Brandner mutmaßte, dass dort Urlaubsgäste untergebracht wurden.
Einen Kilometer zuvor hatte ihn ein Hinweisschild am Straßenrand darüber informiert, dass die schmale Straße zum Mostheurigen »Hofbauer« führte und man dort Ferien auf dem Bauernhof bei Familie Haider verbringen konnte.
Er trank seinen Kaffeebecher leer, öffnete die Autotür und verließ den klimatisierten Innenraum. Es war erst 9 Uhr am Morgen und trotzdem schon brütend heiß. Früher hatte sich Ende August meist schon der Herbst angekündigt, davon spürte Brandner im Moment nichts.
Der Polizist wartete mit einem Respektabstand von mehreren Metern, einige Augenblicke musste er sich noch gedulden, denn Brandner zog sein dunkelblaues Sakko aus und warf es ins Wageninnere auf den Beifahrersitz.
In seinem weißen Kurzarmhemd ließ sich die Hitze besser ertragen, auf die Krawatte hatte er an diesem Morgen verzichtet, wie er es meistens tat. Falls ihn die Presse zu einer Stellungnahme samt Foto oder gar mit TV-Kamera nötigte, hatte er immer ein Langarmhemd und einen Schlips im Auto.
Brandner warf die Wagentür zu und begrüßte den Uniformierten.
»Major Brandner, gratuliere zu Ihrer Beförderung!«
»Danke schön, Herr Reitbauer!«
Brandner schüttelte die entgegengestreckte Hand, trotz Covid-19. Der neue Titel, Major, klang noch immer ungewohnt in seinen Ohren, aber nach mehreren erfolgreichen Jahren beim LKA Niederösterreich hatte er sich die Beförderung verdient und war stolz darauf.
Viel Freude bereitete es ihm nicht, dass er mit Reitbauer ausgerechnet jenen Polizisten am Tatort antraf, den er von früheren Mordfällen rund um die Statutarstadt Waidhofen an der Ybbs kannte, bei deren Ermittlungen er, Brandner, sich nicht gerade durch eine rasche und fehlerlose Aufklärung hervorgetan hatte.
Egal, das liegt Jahre zurück, sagte er sich. Es war nicht Reitbauers Schuld, dass nicht alles glatt gelaufen ist. Die Vergangenheit abhaken. Konzentration auf den neuen Fall!
»Fällt Neuhofen an der Ybbs in Ihre Zuständigkeit? Das war mir nicht bewusst.« Brandner konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen, denn der Tatort lag geschätzte 30 Kilometer entfernt von Waidhofen im oberen Ybbstal und deutlich näher bei der Bezirkshauptstadt Amstetten.
»Seit etwa einem Jahr. Ich leite jetzt die Polizeiinspektion in Amstetten.«
Reitbauer hatte es also geschafft. Er hatte die nächste Sprosse der Karriereleiter innerhalb des Polizeiapparates in jungen Jahren erklommen. Immerhin würde er in der neuen Umgebung nicht jeden Tatverdächtigen und Zeugen persönlich kennen wie damals in Waidhofen, hoffte Brandner. Es hatte durchaus seine Vorteile gehabt, aber unkomplizierter war es dadurch nicht geworden.
Vielleicht war es überhaupt keine Beförderung, sondern eine Versetzung, weil Reitbauer den Einheimischen zu nahe gestanden hat? Zu schaden schien Reitbauer die neue Arbeitsstelle nicht, der Inspektionskommandant wirkte fit, wie Brandner ihn in Erinnerung hatte.
»Die Leiche liegt da vorn, gleich beim Eingang in den Hof«, erklärte der junge Polizist.
Der Tatort war mit rot-weißem Band abgesperrt, dahinter erkannte Brandner die Gerichtsmedizinerin Dr. Heiß. Seine bevorzugte Kriminaltechnikerin Elfriede Auer war ebenfalls schon mit drei Kollegen zugange. Brandner und Reitbauer warteten an der Absperrung und schlüpften darunter hindurch, als Auer ihnen winkte.
Dr. Heiß begrüßte Brandner und machte einen Schritt zur Seite.
»Kein schöner Anblick«, stellte sie fest. »Zertrümmerter Hinterkopf.«
Einer der Kriminaltechniker fotografierte eine volle Glasflasche, deren Inhalt gelblich schimmerte. Sie lag einen Meter neben der männlichen Leiche auf den Pflastersteinen am Boden.
»Die Tatwaffe?«, folgerte Brandner.
Heiß nickte. »Mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit.«
Das war eine ungewöhnlich klare Aussage für die Gerichtsmedizinerin, normalerweise ließ sich Heiß immer eine deutlich größere Hintertür offen, doch in diesem Fall verschmierten Haare, Blut und eine klebrige Masse das Glas sowie das Etikett der mutmaßlichen Tatwaffe. Eindeutiger ging es kaum. Brandner sah sich den Toten genauer an.
Er trug eine dunkelrote Trachtenweste, darunter ein weißes Hemd, dunkle Stoffhosen und schwarze Lederschuhe. Das Gesicht konnte Brandner nicht erkennen, da das Opfer auf dem Bauch lag. Der Hinterkopf war stark deformiert, Gehirnmasse und Knochensplitter vermischten sich mit Blut und den braunen Haaren des Mannes. Um den Hals trug er eine goldene Kette, daran schienen lauter unterschiedlich geprägte Münzen befestigt zu sein. Den rechten Ringfinger zierte ein goldener Ehering, an der linken Hand trug er eine Armbanduhr mit schwarzem Lederband und silbernem Ziffernblatt mit römischen Zahlen. Die Arme des Mannes waren gebräunt.
Brandner hockte sich neben die Flasche. Auf der Schulter unter dem Flaschenhals war der Schriftzug »Most« in das Glas eingeprägt, der Boden der Ein-Liter-Flasche war quadratisch ausgeführt. Obwohl das Etikett verschmiert war, konnte Brandner den goldenen Schriftzug lesen. »Rote Pichlbirne, Birnbauer, Ab-Hof 2020« stand da geschrieben. Darunter folgte die Information »7,1% vol. Bio-Birnenmost«. Zusätzlich zum Text zierte das Etikett eine Birne mit Stängel. Als Erzeuger wurde Familie Ebner in Euratsfeld angegeben, das Logo von »Bio-Austria« war ebenso aufgedruckt, daneben befand sich ein Barcode.
Brandner nahm sein Smartphone und schoss ein Foto des Etiketts.
»Ich bin hier fertig«, teilte Dr. Heiß mit.
Brandner richtete sich auf und steckte das Smartphone in die Tasche. »Todeszeitpunkt?«, fragte er.
»Zwischen Mitternacht und 3 Uhr früh. Enger kann ich es wegen der Hitze nicht eingrenzen, auch nicht, wenn ich ihn später bei mir in der Gerichtsmedizin untersuche.«
»Verstehe.«
Brandner wandte sich an Reitbauer.
»Die Identität wurde mit absoluter Sicherheit festgestellt?«
»Ja, es handelt sich um Franz Haider«, antwortete Reitbauer. »Ihm gehören der Hof und der Heurige. Seine Frau und seine Tochter haben ihn identifiziert.«
»Wo sind die Angehörigen jetzt?«
»Die werden drinnen von einer Psychologin betreut.«
Elfriede Auer trat an die Gruppe heran.
»Wenn die Kriminaltechnik alles erledigt hat, kann der Tote abtransportiert werden«, erklärte Brandner.
Auer und Dr. Heiß nickten.
»Brauchbare Spuren am Tatort?«, wollte er wissen.
»Das Opfer ist hier erschlagen worden. Wir haben auch Gehirnmasse und Blut an der Haustür sichergestellt.«
»Gute Arbeit, sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«
»Fingerabdrücke wurden an der Tür genommen. Wir haben alles eingetütet, worauf DNA zu finden sein könnte, aber das ist der Haupteingang zum Mostheurigen.«
Brandner wusste, worauf sie hinauswollte.
»Aufgrund der Fingerabdrücke oder DNA können wir also nicht auf den Täter schließen«, stellte er fest. »Sicherstellen müssen wir sie trotzdem. Das macht ihr schon richtig. Am wichtigsten sind natürlich die Flasche, der Leichnam und sein Gewand. Da kann uns alles weiterhelfen, was wir finden.«
Auer nickte. »Darum kümmere ich mich im Labor.«
Brandner beobachtete, wie der Tote auf eine Bahre gehievt und in das Fahrzeug für den Transport zur Gerichtsmedizin geladen wurde.
»An der Eingangstür seid ihr fertig, oder?«, fragte Brandner zur Sicherheit.
»Ja, dort ist alles klar«, bestätigte Auer.
Brandner drehte sich zu Reitbauer.
»Wir reden mit den Angehörigen.«
Reitbauer trat vor, drückte die geschmiedete Türklinke hinunter und schob die Tür nach innen auf. Der Polizist trat ein und Brandner folgte ihm.
Der Vorraum war mit beigen Holzfliesen ausgelegt, im Gegensatz zu draußen war es einigermaßen kühl. An der Wand stand eine alte Kommode, darüber waren Schwarz-Weiß-Bilder vom Hof und mehrere alte Familienfotos aufgehängt. Eines zeigte Männer und Frauen mit Sensen in den Händen, sie standen inmitten einer frisch gemähten Wiese und blickten stolz in die Kamera.
»Hier entlang.« Reitbauer führte Brandner nach links in einen großen Raum mit einem grünen Kachelofen im Zentrum, um den sich mehrere Tische mit Bänken und Stühlen aus hellem Holz gruppierten. Die Wände und die Decke waren weiß gestrichen und von dunklen Holzbalken unterbrochen, sodass ein uriges Raumgefühl entstand, fast so als wäre man in einer Almhütte. Neben der Eingangstür sprang Brandner eine alte Obstpresse ins Auge.
Die Stimmung unter den Anwesenden passte nicht zur Umgebung, in der ansonsten sicher oft ausgelassen gefeiert wurde. Trauer, eine gewisse Unsicherheit, Nervosität und vielleicht sogar so etwas wie Ärger oder gar Hass lagen in der Luft. Brandners Magen drohte zu rebellieren, er schluckte die Magensäure bewusst hinunter und atmete einmal durch.
Der Anblick des Toten draußen hatte ihn vor keine großen Herausforderungen gestellt, viele Jahre Ermittlungsarbeit in Mordfällen hatten ihn abgehärtet, aber das hier war schwieriger zu bewältigen. Die Gespräche mit den Angehörigen der Ermordeten waren immer unangenehm und eine Gratwanderung. Sie wurden trotz jahrelanger Erfahrung nicht einfacher.
Viele Angehörige waren ehrlich erschüttert und trauerten, und doch musste er sie zu den Hauptverdächtigen zählen, da am häufigsten im engen Familienkreis gemordet wurde. Die Statistik war unerbittlich.
Immerhin brauchte er heute die schlechten Nachrichten nicht mehr selbst zu überbringen, der Tote war vermutlich von einem Familienmitglied gefunden worden. Wie genau das abgelaufen war und was sich in der vergangenen Nacht zugetragen hatte, galt es jetzt herauszufinden.
Drei der acht Tische der Heurigenstube waren besetzt. Brandner sah jede Menge Arbeit auf sich zukommen, aber auch die Chance, dass jemand brauchbare Informationen für ihn hatte.
Rasch verschaffte er sich einen Überblick: Eine Familie mit drei Kindern saß am Tisch rechter Hand, vermutlich machten sie Urlaub auf dem Bauernhof. Zwei weibliche Bedienstete blickten ihm vom Tisch nebenan entgegen. Die vermeintliche Hausherrin hatte links Platz genommen. Mit ihr am Tisch saßen zwei jüngere Frauen, ein Mann, kaum älter als die Frauen, und die Psychologin.
Die Witwe trug bereits ein schwarzes Kostüm. Eine der beiden anderen Frauen steckte in Tracht und wirkte nicht so mitgenommen wie die zweite, die in Jeans und T-Shirt gekleidet war. Vielleicht ist die Frau in Tracht gar keine Tochter des Ermordeten, schlussfolgerte Brandner. Der Mann am Tisch trug ein weißes Trachtenhemd und eine Lederhose.
Die Psychologin stach mit ihrem eleganten lila-gelben Sommerkostüm und ihrem stark geschminkten Gesicht deutlich hervor. Brandner schätzte sie auf Mitte 40.
Reitbauer hatte seinen kurzen Auftritt und stellte Brandner den Anwesenden als den leitenden Ermittler des LKA Niederösterreich vor. Mehrmals betonte er Brandners neuen Rang – Major.
Brandner bekundete danach zuerst sein Beileid, das Wort »aufrichtig«, das bei dieser Floskel in Niederösterreich normalerweise üblich war, ließ er dabei bewusst weg, schließlich hatte er niemanden der Anwesenden persönlich gekannt und auch den Toten nicht.
Danach stellte Brandner seine erste Frage an die Runde: »Wer von Ihnen hat Herrn Haider gefunden?«
Er schaute zum Tisch, an dem die Witwe mit ihren nächsten Angehörigen saß, doch dort blieben alle stumm.
»Das bin ich gewesen.« Die Stimme einer Frau, etwas zaghaft, aus dem Hintergrund.
Brandner drehte seinen Kopf nach rechts, eine der beiden Bediensteten war aufgestanden. Sie hatte lange blonde Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, und trug ein Hemd mit einem blauroten Karomuster. Sie sah aus wie Anfang 20.
»Und Sie heißen?«
»Karoline Unger, unsere Stallhilfe«, antwortete die Witwe anstelle der Angesprochenen.
»Ich bin heute früh kurz vor 5 Uhr auf den Hof gekommen, um mich um die Pferde zu kümmern, da habe ich den Chef gefunden«, erklärte Karoline Unger nun selbst.
»Danke.«
Brandner drehte sich wieder zur Hausherrin.
»Ich werde mit jedem hier einzeln reden müssen und Herr Reitbauer wird die Personalien von allen aufnehmen. Könnten Sie uns dafür bitte einen Raum zur Verfügung stellen, in dem wir ungestört sind und niemandem zur Last fallen?«
Die Witwe seufzte, als würde Brandner etwas Schwieriges von ihr verlangen, dann richtete sie ihren Blick zum Tisch der Bediensteten. »Sigrid«, kläffte sie, »zeig dem Herrn Major die Moststube, wird’s bald?« Sie schaute wieder zu Brandner. »Dort sind Sie ungestört. Können wir Ihnen vielleicht etwas anbieten? Unser Birnensaft ist ganz vorzüglich!«
»Danke, das Angebot nehme ich gerne an. Bei der Hitze kann man gar nicht genug Flüssigkeit zu sich nehmen.«
»Karoline, kümmere dich darum, zack, zack!«
»Jawohl, Chefin.«
Die junge Frau lief eilig davon.
Anscheinend war Karoline nicht nur für die Pferde, sondern auch für die Gästebewirtung zuständig.
Brandner folgte der anderen Angestellten, die ein modernes Dirndl trug, dessen Rocksaum knapp über den Knien endete. Die Frau war schlank, groß gewachsen und hatte lange dunkle Haare. Sie schien etwas älter als Karoline Unger zu sein.
»Bitte schön, das ist unsere Moststube!«
In der Moststube hatten gut und gerne zehn Personen Platz an einem großen Tisch. Die Bänke und Stühle waren gepolstert. Zwei kleine Fenster, die in den Innenhof führten, ließen Licht herein, es war allerdings deutlich dunkler als in dem großen Raum mit dem Kachelofen.
»Wie war er denn so als Chef?«, fragte Brandner.
Die Bedienstete, Frau Haider hatte sie Sigrid genannt, hatte sich bereits umgedreht und die Stube verlassen wollen, die Frage hielt sie jedoch davon ab.
Eigentlich hatte Brandner vorgehabt, entweder zuerst mit der Witwe ausführlich zu sprechen oder mit Karoline Unger, die den Toten am frühen Morgen gefunden hatte. Er beschloss kurzfristig, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und die Angestellte spontan zu befragen.
»Setzen Sie sich bitte«, begann er.
Er bemühte sich um einen freundlicheren Tonfall, als ihn die Hausherrin zuvor ihr gegenüber angeschlagen hatte, und nahm selbst auf der Sitzbank Platz. Der Bediensteten war es sichtlich unangenehm, kurz zögerte sie sogar, dann setzte sie sich Brandner gegenüber.
Reitbauer schnappte sich notgedrungen den Sessel an der Längsseite des Tisches als Sitzgelegenheit und notierte sich den Namen der Frau: Sigrid Landsteiner, sie wohnte in der Bezirkshauptstadt Amstetten und war unverheiratet. Sie habe die vergangene Nacht allein in ihrer Wohnung verbracht.
»Was für eine Art Chef ist Herr Haider nun gewesen?«, fragte Brandner nach Erledigung der Formalitäten noch einmal.
Nach einigen Augenblicken entgegnete Sigrid Landsteiner: »Ein guter.«
Brandner registrierte die wässrigen Augen der Frau. Sie hatte sichtlich Mühe, nicht in Tränen auszubrechen.
»Können Sie etwas konkreter werden?«
»Er hat nie ein böses Wort gegenüber uns Angestellten verloren.«
»Verstehe.« Ganz im Gegensatz zur Hausherrin, mutmaßte Brandner. »Haben Sie einen Verdacht, wer ihn ermordet haben könnte?«, wollte er wissen.
Sigrid Landsteiner schluckte.
Die Tür wurde geöffnet, Karoline Unger trug ein Tablett, auf dem sich zwei Gläser Birnensaft befanden. Sie stellte eines vor Reitbauer ab, der sich artig bedankte.
»Nein«, antwortete Sigrid. »Ich habe keine Ahnung, wer das getan haben könnte, aber ich habe den Chef privat nicht allzu gut gekannt. Daher kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«
»Entschuldigung!« Wegen einer ruckartigen Bewegung hatte Karoline einige Tropfen des Birnensaftes vor Brandner verschüttet. »Ich wische das gleich weg.« Es war ihr sichtlich peinlich, mit hochrotem Kopf lief sie zur Tür hinaus.
»Gut, dann sind wir fertig. Danke, Frau Landsteiner.«
»Wenn Sie noch Fragen haben, kontaktieren Sie mich gerne jederzeit.«
Sigrid Landsteiner stand auf und verließ die Stube, kurz danach kam ihre Kollegin zurück und säuberte mit einem Wischtuch die Tischplatte vor Brandner.
»Entschuldigen Sie bitte nochmals, ich bin manchmal so ein Tollpatsch!«
»Nehmen Sie doch bitte gleich Platz, wo Frau Landsteiner gesessen hat.«
Reitbauer notierte sich ihre Personalien: Karoline Unger lebte im Nachbarort Hausmening bei ihren Eltern.
»Das muss heute Morgen ein Schock für Sie gewesen sein«, stellte Brandner fest.
»Ich bin nicht stolz darauf, aber ich habe tatsächlich geschrien wie am Spieß«, antwortete Karoline Unger. »Ich habe geglaubt, mein Herz explodiert, und dann, als mir eingefallen ist, dass der Mörder vielleicht noch in der Nähe herumläuft, habe ich am ganzen Körper gezittert. Gott sei Dank ist die Nina herausgekommen. Sie hat mich beruhigt, obwohl es für sie ein noch größerer Schock gewesen sein muss als für mich.«
»Nina, Nina Haider, so heißt die Tochter des Ermordeten?«, fragte Brandner.
»Genau, ich war so fertig mit den Nerven, das können Sie sich gar nicht vorstellen! Normalerweise bewahre ich einen kühlen Kopf, auch wenn irgendetwas mit den Pferden ist, aber heute war ich komplett von der Rolle. Nina hat sich um alles gekümmert, die Polizei gerufen und ihre Mutter aufgeweckt.«
»Verstehe.«
Brandner trank von seinem Saft. Der süß-säuerliche Geschmack war intensiv, als hätte er in eine frische Birne gebissen. Kurz schloss er die Augen, dann schluckte er und stellte das Glas zurück auf den Tisch.
»Schmeckt gut, der Birnensaft vom ›Hofbauer‹«, stellte Karoline Unger fest.
»›Hofbauer‹, das ist der Name des Bauernhofs und Heurigen, oder?«
»Ja, der Bauernhof hier heißt einfach nur ›Hofbauer‹. So kennt man ihn weit und breit. Sie machen die besten Säfte im Mostviertel und der Birnenmost ist auch nicht zu verachten. Unser Chef ist nicht umsonst der Primus der Mostbarone gewesen.«
»Mostbarone? Was versteht man darunter?«, fragte Brandner.
»Das ist der Verein im Mostviertel, der sich der Verbreitung der heimischen Mostkultur verschrieben hat, mit allem, was dazugehört, aber die Chefin kann Ihnen da sicher mehr darüber erzählen als ich.«
»Herr Haider war Primus, also der Vorsitzende des Vereins?«
»Soweit mir bekannt ist, ja, aber wie gesagt, besser weiß da die Chefin Bescheid.«
Brandner trank nochmals, diesmal nahm er zwei größere Schlucke, dann stellte er seine nächste Frage.
»Heute Morgen, als Sie Herrn Haider gefunden haben, ist Ihnen da irgendetwas aufgefallen? War außer Nina Haider noch jemand da?«
»Nein.« Karoline schüttelte energisch den Kopf, die Antwort war wie aus der Pistole geschossen gekommen. »Darüber habe ich schon länger nachgedacht, aber da war niemand, zumindest keiner, den ich gesehen habe. Andererseits war ich total durch den Wind.«
Brandner nickte verständnisvoll, auch wenn ihm Karoline Unger gar nicht so schreckhaft vorkam. Ihre Nerven waren eindeutig angespannt, deshalb hatte sie zuvor den Saft verschüttet.
Oder hatte das einen anderen Grund? Vielleicht hat sie ja Sigrid Landsteiners Antwort aus der Fassung gebracht. Brandner beschloss, dem nachzugehen.
»Wie eng war der Kontakt zwischen Sigrid Landsteiner und Ihrem Chef wirklich?«, fragte er sein Gegenüber.
Karoline Unger wirkte perplex. »Was meinen Sie damit?«, fragte sie.
»Sie haben den Saft genau zu dem Zeitpunkt verschüttet, als Frau Landsteiner mir gegenüber behauptet hat, sie hätte ihren Chef nicht gut gekannt.«
»Das … das war nur Zufall.« Karoline Unger verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Es ist nur so«, sagte sie verschüchtert, »wir alle, die hier arbeiten, haben den Chef natürlich gekannt.« Sie presste die Lippen einen Augenblick aufeinander. »Ich bin der Meinung«, fuhr sie fort, »dass wir ihn auch gut gekannt haben. Das ist scheinbar Auslegungssache, wenn Sigrid anderer Meinung ist.«
Brandners Telefon vibrierte in seiner Hosentasche.
»Entschuldigen Sie einen Moment.«
Er nahm sein Smartphone heraus und sah, dass Eva ihn erreichen wollte.
»Danke, Frau Unger«, sagte er rasch. »Wir sind vorerst fertig.«
Wien
Donnerstag, 20. August 2020
»Hallo, Schatz!«
»Hallo, Leo!«
Eva Brandner war erleichtert, sie musste sich einfach mit ihrem Mann austauschen, auch wenn er gerade zu einem Tatort gerufen worden war. Sie saß auf dem Balkon ihres Einfamilienhauses, umgeben von rosa Pelargonien, Tomatenstauden, einer Zitruspflanze und einem Olivenbaum, ihrer neuesten Errungenschaft, auf die sie besonders stolz war. Doch im Moment hatte sie keine Augen dafür.
»Wir bekommen so kurzfristig keinen anderen Flug in den Süden«, informierte sie ihren Mann. »Zumindest in keine unbedenkliche Region.«
»Schade, was macht ihr jetzt?«
»Isabella und Selina wollen mich überreden, mit dem Auto in den Süden zu fahren.«
»Das ist nicht euer Ernst!«
»Ich weiß, ich weiß, Kroatien ist nicht mehr sicher, aber nach Italien könnten wir«, antwortete sie.
»Das kann sich jeden Tag ändern!«
Ihr Leo regte sich normalerweise nicht so leicht auf, aber jetzt war er hörbar außer sich.
»So schnell geht das auch wieder nicht«, versuchte sie ihn zu beruhigen.
»Und wie war das mit Spanien, den Balearen und Kroatien?«
Leo musste immer alles besser wissen! Eva schwieg bewusst einige Augenblicke, das würde ihn noch unruhiger machen. »Du hast ja recht«, räumte sie schließlich ein. »Aber die beiden wollen unbedingt ans Meer!«
»Zwölf Stunden an der Grenze im Stau!«
»Das war einmal, das wird nicht wieder vorkommen!«
»Das weißt du nicht. Willst du dir das wirklich antun?«
Wieder war Eva still.
Natürlich wollte sie nicht, aber die beiden Mädchen wünschten es sich so sehr, und nach diesem vollkommen verunglückten Frühling und dem bisherigen enttäuschenden Sommer hatten sie es sich mehr als verdient.
Und ich selbst brauche diesen Urlaub! Vielleicht sogar mehr als die Mädchen.
»Nein, aber was soll ich machen?«, spielte sie den Ball zu ihrem Mann zurück. Sollte ihm doch etwas einfallen.
»Urlaub in Österreich.«
»Den Gefallen wollte ich unserem Kanzlerbuben nicht machen.«
»Ich weiß, aber es ist euer Urlaub und eure gemeinsame Zeit, da solltet ihr das Beste daraus machen und nicht wegen einer Trotzreaktion darauf verzichten.«
Flug bekommen wir keinen mehr. Stundenlang im Auto sitzen? Österreich ist eigentlich die einzige Alternative, bei der ich einigermaßen ausgeruht nach Hause komme.
»Gut, ich schaue, ob ich etwas finde, aber das muss schon was hermachen, damit die Mädels mitspielen.«
Sogar durchs Telefon hörte sie ihren Mann erleichtert ausatmen.
»Gut«, sagte er, »schau in Ruhe und gib mir bitte Bescheid. Ich habe hier sicher noch den ganzen Tag zu tun.«
Sie wünschte ihm viel Erfolg und legte auf.
Aus Erfahrung wusste sie, dass ihr Mann mit Hochdruck an der Lösung des Falls arbeiten würde. Sie rechnete nicht damit, ihn viel zu Gesicht zu bekommen, bevor sie mit ihren Töchtern in den Urlaub fahren würde. Egal, wohin.
Auf ein Neues, dann suche ich eben in Österreich.
Ihren beiden Töchtern würde sie die Neuigkeit erst präsentieren, nachdem sie eine akzeptable Urlaubsresidenz gefunden hätte, sonst wäre der Streit vorprogrammiert. Sie hatte keine Ahnung, wo sie in Österreich auf die Schnelle eine schöne Reise organisieren sollte, aber versuchen würde sie es.
Neuhofen an der Ybbs
Donnerstag, 20. August 2020
Brandner stand draußen im Schatten der Trauerweide. Bereits jetzt deutete nichts mehr darauf hin, dass hier erst vor wenigen Stunden ein Mord verübt worden war. Die Idylle war zurück, nur der Mörder lief noch frei herum.
Das musste Brandner so schnell wie möglich ändern. Er schüttelte die Gedanken an das Telefonat mit seiner Frau ab, und auch das kurze, aber intensive Bedürfnis, das er während des Gesprächs verspürt hatte, begrub er tief in seinem Inneren. Noch war es viel zu früh für ein alkoholisches Getränk.
Ja, die Bauern hatten früher Most zur Vormittagsjause und zu Mittag getrunken, aber diese Zeiten waren vorbei. Für ihn als Beamten herrschte sowieso striktes Alkoholverbot, wenn er im Dienst war.
Er musste sich zusammenreißen und die wichtigen Gespräche mit der Witwe und der Tochter des Ermordeten führen. Bisher hatte er keine Ahnung, was Franz Haider spätnachts vor seinem Haus zu suchen gehabt hatte.
Brandner wischte sich mit einem Papiertaschentuch den Schweiß aus der Stirn und trat unter dem Baum hervor. Sofort spürte er die heißen Sonnenstrahlen auf seinem Rücken. Rasch flüchtete er wieder ins Innere des Vierkanthofes, dort war es zwar mittlerweile nicht mehr kühl, aber immerhin nicht annähernd so heiß wie draußen.
»Frau Haider, dürfte ich Sie bitten, mit mir mitzukommen?«
Euphorie löste er mit seiner Bitte bei der Hausherrin nicht aus. Als sie sich ihm gegenüber in der Moststube an den Tisch setzte, wirkten ihre Gesichtszüge grimmig.
So ganz passt ihr Gesichtsausdruck nicht zu dem einer trauernden Witwe.
»Warum haben Sie vor mir mit Sigrid und Karoline gesprochen?«
Das ist also ihr Problem?
»Frau Haider, ich habe Sie dadurch keinesfalls vor den Kopf stoßen oder übergehen wollen«, begann Brandner.
»Haben Sie aber!«
Maria Haider saß kerzengerade da und sah ihn tadelnd an.
Brandner musste so schnell wie möglich klarstellen, wer hier das Sagen hatte, sonst würde die Befragung zu nichts führen.
»Frau Haider, wie ich meine Ermittlungen führe, überlassen Sie mir. Es gibt gute Gründe dafür, warum ich mit einigen Personen früher spreche und mit anderen später.«
»Na, die würde ich gerne hören!«
»Die gehen Sie aber rein gar nichts an.«
Maria Haiders linkes Auge zuckte mehrmals. Ihr Mund war nur ein schmaler Strich.
Reitbauer kritzelte etwas in sein Notizbuch und mied den Blickkontakt mit Brandner, auch die Witwe sah er nicht an. Mehrere Sekunden sagte keiner der drei Anwesenden etwas, dann nahm Brandner bewusst langsam sein Glas und trank es leer.
»Ihr Birnensaft schmeckt fantastisch!«, stellte er fest. »Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben einen besseren getrunken.«
»Möchten Sie noch einen?« Maria Haider griff sich sein Glas und verließ eilig die Moststube.
»Da haben Sie ja gerade noch die Kurve gekriegt«, stellte Reitbauer fest.
»Was hätte ich machen sollen? Die hat doch glatt geglaubt, sie hat hier das Zepter in der Hand.«
»Die Hofbäuerin ist bekannt dafür, etwas kratzbürstig zu sein.«
Also hat Reitbauer auch schon rund um Amstetten seine Kontakte zu den Einheimischen geknüpft.
Maria Haider kam mit leeren Händen zurück in die Moststube. Sie setzte sich, ohne ein Wort über den Birnensaft zu verlieren, den sie Brandner zuvor versprochen hatte. »Fragen Sie mich doch endlich, wer meinen Franz ermordet hat!«
Jetzt versucht sie schon wieder, das Heft in die Hand zu nehmen.
Brandner schüttelte demonstrativ seinen Kopf.
»Die Frage kommt noch«, sagte er. »Zuerst sagen Sie mir bitte, wann Sie Ihren Mann zuletzt gesehen haben.«
Die Witwe schaute beleidigt drein und antwortete: »Das war so gegen 8 Uhr am Abend.«
»Was hat er danach gemacht?«
»Franz ist zum Vereinstreffen der Mostbarone gefahren.«
»Wo hat das stattgefunden?«
»In Stift Ardagger im ›Mostbirnhaus‹.«
»Ist er allein gefahren?«
Maria Haider schüttelte ihren Kopf. Bevor sie antworten konnte, wurde die Tür geöffnet und Sigrid Landsteiner streckte ihren Kopf herein.
»Der Birnensaft für Herrn Brandner.«
»Das hat aber lange gedauert!«, tadelte die Hausherrin.
»Entschuldigung.« Sigrid Landsteiner ging mit gesenktem Blick zum Tisch und stellte das volle Glas vor Brandner ab.
»Vielen Dank!« Brandner lächelte sie aufmunternd an.
»Gerne.« Sigrid Landsteiner lächelte nicht zurück und verließ eilig die Stube.
»Gutes Personal ist heutzutage schwer zu finden«, erklärte Maria Haider.
Vor allem wird es bei der Behandlung auch nicht lange bleiben.
»Ihr Mann hatte also Mitfahrer?«, kam Brandner wieder auf das ursprüngliche Thema zurück.
»Ja, sie wechseln sich immer ab, diesmal war Franz dran mit dem Fahren. Er müsste Elisabeth Furtner und Martin Ebner mitgenommen haben.«
Das ist doch was!
»Diese beiden sind auch Mostbarone?«
»Ja sicher, die Elisabeth ist natürlich eine Baronin, oder wie sie selbst gerne sagt: eine Baroness. Franz war der Primus der Mostbarone, er hat gestern die Primus-Kette getragen, mit je einem geprägten Taler von jedem Mostbaron. Die Kette ist das Amtszeichen des Vorstands. Franz musste sie bei öffentlichen Auftritten tragen, aber er war so stolz darauf, dass er jede Gelegenheit genutzt hat, sie sich um den Hals zu hängen, so auch gestern.«
»Haben Sie gehört, wann ihr Mann heimgekommen ist?«
»Natürlich nicht! Dann hätte ich ja nachgeschaut, warum er nicht zu mir ins Bett kommt, aber ich schlafe wie ein Igel im Winter.«
»Den Zeitpunkt werde ich also nur weiter eingrenzen können, wenn ich mit seinen Mitfahrern spreche.«
»Jetzt fragen Sie mich schon, wer ihn ermordet hat! Ich habe keine Lust, hier länger herumzusitzen, wenn es so klar auf der Hand liegt! Sie brauchen ihn nur zu verhaften!«
Brandner beugte sich nach vorn. Er war gespannt, wen ihm die Witwe als Mörder ihres Mannes präsentieren würde. »Wer hat Ihren Mann erschlagen?«
»Martin Ebner ist es gewesen! Es war seine Mostflasche, die neben meinem Franz gelegen hat. Das habe ich gleich erkannt. Außerdem hat Franz sicher Elisabeth zuerst heimgebracht und am Schluss den Martin. Dazu kommt, dass er ein Motiv hatte!«
Neuhofen an der Ybbs
Donnerstag, 6. August 2020
Jeder Tisch im Innenhof des »Hofbauer« war besetzt. Drei Monate zuvor hatte Franz Haider stark daran gezweifelt, dass das möglich sein würde, aber die Mostviertler hatten nach den Entbehrungen des Frühlings nur darauf gewartet, endlich ihre beliebten Mostheurigen wieder aufzusuchen.
Zumindest diejenigen, bei denen die Qualität der Produkte, das Ambiente und der Service stimmten. Da musste alles passen, und darauf achteten er und seine Familie. Nur so war der große Andrang zu erklären.
Es war 8 Uhr abends und die letzte Mostprobe für die Gäste aus Wien stand an. Sigrid schenkte jedem der Gäste ein. Hinter ihr stand seine Nichte Melanie mit den Bauernkrapfen bereit, die sie denjenigen servierte, die sich bereits an der Meterjause satt gegessen hatten.
Franz Haider hätte am liebsten selbst in einen der Krapfen hineingebissen, war sich jedoch sicher, dass seine Frau Maria das nicht gutheißen würde. Sie kassierte gerade am Nachbartisch ab, trotzdem würde es ihr nicht entgehen, wenn er in aller Öffentlichkeit schwach würde.
Auf einen Anpfiff vor den Gästen konnte er verzichten. Was er hingegen im Geheimen trieb, wenn sie nicht in der Nähe war, davon hatte sie keine Ahnung.
Die Wiener hatten die Verkostung der »Gourmet-Moste« der Mostbarone gebucht.
»Liebe Gäste! Nach dem spritzig leichten ›Brous‹ zu Beginn und dem eleganten ›Preh‹ genießen Sie nun den kraftvollen ›Exibatur‹.«
Sigrid hielt die beiden Flaschen mit dem lila Etikett in die Höhe, sodass alle am Tisch den Schriftzug lesen konnten.
»Auch der ›Exibatur‹ ist ein Cuvée-Most«, fuhr Franz Haider fort. »Er setzt sich aus ausgewählten Sorten zusammen, und zwar aus Dorschbirne und grüner Pichlbirne.«
Sigrid füllte das Glas des Hausherrn zu einem Viertel.
»Der Name ›Exibatur‹ wurde aus dem Mostviertler Dialekt übernommen, übersetzt bedeutet der Name ›Ackergerät‹, was gut zum erdigen Geschmack dieses Mosts passt.«
Der Mostbaron hob sein Glas. Die Gäste taten es ihm gleich.
»G’sundheit! Sollts leb’n!«
Die Wiener prosteten mit demselben Trinkspruch zurück, den er ihnen zu Beginn der Verkostung beigebracht hatte.
»Du nimmst mir alle Gäste weg!«
Franz Haider hielt in seiner Trinkbewegung inne.
Martin Ebner stand nur wenige Schritte von ihm entfernt. Auch er trug die Tracht der Mostbarone; dunkle Hose, rote Kurzarmweste und dunkles Jackett. Sogar den schwarzen Hut mit dem roten Band und der weißen Feder hatte er auf seinem Kopf.
Franz Haider wandte sich nochmals seinen Gästen zu. »Sollts leb’n!«, wiederholte er und trank sein Glas mit einem Zug leer.
»Du ruinierst mich!« Martin Ebner kam näher.
Der Hausherr stellte sein Glas auf dem Tisch der Wiener ab. »Entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss hier etwas klären«, sagte er zu seinen Besuchern. Dann drehte er sich zu seinem Vereinskollegen um. »Martin, komm, gehen wir hinein.«
»Warum ins stille Kämmerlein? Es können ruhig alle hören, was ich zu sagen habe!«
»Nicht vor meinen Gästen.« Haider versuchte, ihn am Unterarm Richtung Hauseingang zu ziehen, doch Martin Ebner schüttelte seine Hand ab.