Birgit Rückert
Der Abt von Salem
Historischer Kriminalroman
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Bilder von: © Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Sal. IXc, Breviarium abbatis pars hiemalis (Salemer Abtsbrevier I [Winterteil]) – Salem, 1493/1494, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/salIXc/0603 und Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Sal. VIII,16. Processionale – Frankreich/Burgund, 1. Hälfte 16. Jh., https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/salVIII16/0028
ISBN 978-3-8392-7066-0
Historische (und einige fiktive) Personen im 15. Jahrhundert
Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation:
Maximilian (1459 – 1519), ab 1486 römisch-deutscher König, ab 1508 als Maximilian I. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches; Sohn von Kaiser Friedrich III. (1415 – 1493), in erster Ehe verheiratet mit Maria von Burgund (1457 – 1482)
Bianca Maria Sforza (1472 – 1510), Tochter des Herzogs von Mailand, zweite Gemahlin von König Maximilian I.
Christoph, Markgraf von Baden (1453 – 1527), Vetter von König Maximilian I.
Thomas Berlower, Bischof von Konstanz (reg. 1491 – 1496)
Kloster Salem:
Johannes Scharpfer, aus Mimmenhausen, Mönch in Salem und Leiter des Skriptoriums (gest. 1510)
Johannes I. Stantenat, 18. Abt in Salem (reg. 1471 – 1494)
Jodokus Ower (1459 – 1510), Archivar und Sekretär des Abtes
Amandus Schäffer, junger Schreiber im Skriptorium, später Abt in Salem (reg. 1529 – 1534)
Hans von Savoy, Steinmetz und Klosterbaumeister, Freund von Johannes (Lebensdaten unbekannt)
Kloster Lützel:
Theobald Hillweg, Cellerar, später Abt in Lützel (reg. 1495 – 1532)
Ludwig Jäger, Abt in Lützel (reg. 1471 – 1495)
Überlingen:
Magdalena Reichlin von Meldegg (Lebensdaten unbekannt), Tochter des Arztes Andreas Reichlin von Meldegg (gest. 1477)
Matthias Reichlin von Meldegg (gest. 1510), Bruder von Magdalena
Apollonia, Matthias’ Gemahlin
Clemens Reichlin von Meldegg (gest. 1516), Bruder von Matthias und Magdalena
Agnes, Clemens’ Gemahlin
Gianni und Helena, Kinder von Magdalena
Hans Jakob Blarer von Wartensee, ein junger Patrizier
Sankt Gallen:
Christoph Zili, ehemaliger Novize in Salem, jetzt Tuchhändler, Neffe von Heinrich Zili (1434 – 1500)
Elisabeth, Christophs Gemahlin und Schwester von Johannes
*
Frankreich:
Karl VIII. (1470 – 1498), ab 1483 König von Frankreich, führt den Titel »Allerchristlichster König« (Rex Christianissimus)
Kloster Clairvaux:
Pierre de Virey (1425? – 1506), bibliophiler Abt von Clairvaux (reg. 1471 – 1496)
Jean de Vepria (Jean de Voivre, Johannes de Vepria), Schreiber im Skriptorium, später Prior von Clairvaux
Kloster Cîteaux:
Jean de Cirey (1434 – 1503), Abt von Cîteaux (1476 – 1501) und Generalabt des Zisterzienserordens
Conradus Leontorius (um 1465 – 1511, Konrad Törlitz, aus Leonberg), Mönch des Klosters Maulbronn und von 1489 bis 1495 Sekretär des Generalabtes Jean de Cirey
Cyprian, Bibliothekar
Isidor, Infirmarius
ein Grangienmeister
ein Novize
zwei Adelige:
François de Chalon
Philippe de Crèvecoeurs
Antoine de Roche, Zisterzienser, apostolischer Legat
Bartolomeo Ziliano, Franziskaner, Nuntius des Papstes
Äbte des Zisterzienserordens:
Alberich von Cîteaux (1050 – 1109)
Stephan Harding (1059 – 1134)
Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153, 1174 heiliggesprochen), bedeutendster Mönch des Zisterzienserordens mit dem Beinamen Doctor mellifluus
*
Italien:
Rodrigo Borgia (1431 – 1503), ab 1456 Kardinal, ab 1457 Vizekanzler der Kurie, Kardinalprotektor des Zisterzienserordens, ab 1492 Papst unter dem Namen Alexander VI.
Giuliano della Rovere (1443 – 1513), Bischof von Ostia und Avignon (Inhaber weiterer Bistümer), ab 1471 Kardinal, ab 1503 Papst unter dem Namen Julius II.
Ascanio Maria Sforza (1455 – 1505), Bruder von Ludovico Sforza, Onkel der Bianca Maria Sforza, ab 1484 Kardinal
Aeneas Silvius Piccolomini (1405 – 1464), Humanist und Schriftsteller, ab 1458 Papst unter dem Namen Pius II.
Julius Pomponius Laetus (1428 – 1498), humanistischer Gelehrter in Rom
Alessandro Farnese (1468 – 1549), humanistisch gebildeter Adeliger, ab 1493 Kardinal, ab 1534 Papst unter dem Namen Paul III.
Giulia Farnese (1474 – 1524), Schwester von Alessandro, genannt »la Bella«, seit 1489 mit dem römischen Adeligen Orsino Orsini verheiratet, Geliebte von Papst Alexander VI.
Ludovico Sforza (1452 – 1508), Herrscher von Mailand, ab 1494 mit Herzogstitel, Bruder von Ascanio und Onkel von Bianca Maria Sforza
Hermes und Gian Galeazzo Sforza, Biancas Brüder
Bona von Savoyen, Biancas Mutter; Tante des französischen Königs Karl VIII.
*
Personen im 21. Jahrhundert:
Benedikt Schönborn, Museumsleiter in Schloss Salem, einem ehemaligen Zisterzienserkloster am Bodensee
Sigi Seifert, Archäologe der Bodendenkmalpflege
Maddalena, Doktorandin der Kunstgeschichte
Cornelius Bauer, Kunsthistoriker aus Rom
Elena Bauer-Mazzarini, Mediävistin, Cornelius’ Frau
Theodor Gerstenmaier, Prof. h.c., Professor honoris causa (ehrenhalber), Leiter eines renommierten, aber überflüssigen Marktforschungsinstituts
Fürchtegott Reitzensteiner, Prof. em., (ordentlicher) emeritierter Professor für Kunstgeschichte
sowie
ein Kunsthistoriker und Bauforscher
eine Bibliothekarin
ein Mittelalterarchäologe
eine Anthropologin
eine Restauratorin
Vigilien: nächtliches Stundengebet, Beginn je nach Jahreszeit zwischen 2 – 3 Uhr morgens
Laudes: Morgengebet bei Tagesanbruch
Prim: Stundengebet zur ersten Stunde (das heißt bei Sonnenaufgang, je nach Jahreszeit , circa 5 – 6 Uhr)
Terz: Stundengebet zur dritten Stunde (circa 8 Uhr), danach Messe
Sext: Stundengebet zur sechsten Stunde (Mittagszeit, circa 11 – 12 Uhr), danach Mittagessen
Non: Stundengebet zur neunten Stunde (circa 15 Uhr)
Vesper: Stundengebet zur elften Stunde (Abendgebet, circa 18 Uhr), danach Abendessen
Complet: Nachtgebet zum Tagesabschluss (circa 20 Uhr), danach Nachtruhe
Von Bormio nach Nauders, im Dezember 1493
Die Hölle ist kein Feuerschlund, sondern ein Gebirge aus Eis und Schnee. Und sie steckte mittendrin – zumindest bis zur Hüfte.
Bianca hatte bereitwillig die langen Hosen angezogen, die man ihr gegeben hatte gegen die Kälte und die sie nun unter ihrem wollenen Rock trug. Und die hohen Lederstiefel, wie sie auch die Reiter ihres Onkels Ludovico Sforza, des Herrschers von Mailand, zu tragen pflegten. Sie hatte von ihrem Pferd absteigen müssen, als die Steigung den Berg hinauf immer steiler, der Schnee immer tiefer wurde.
Das Pferd führte nun einer ihrer Knechte; vor ihr bahnte sich ihr jüngerer Bruder Hermes einen Weg durch den Schnee. Sie folgte ihm in der Spur und versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Am wollenen Rocksaum hafteten gefrorene Schneeklumpen; ihren pelzgefütterten Mantel, der schwer auf ihre Schultern drückte, hätte sie am liebsten abgeworfen, denn trotz der Kälte war ihr vom anstrengenden Aufstieg heiß geworden. Ihr Untergewand klebte schweißnass am Körper. Hermes wandte sich ab und an zu ihr um und lächelte ihr aufmunternd zu. Dann stapfte er weiter durch den Schnee, den Berg hinauf zum Pass.
Hinter Bianca folgten in großem Abstand die Pferdeknechte, die mit den widerspenstigen Reit- und Lasttieren am Zügel dem kleinen, kaum weniger widerspenstigen Grüppchen der Hofdamen den Weg spurten. Die Pferdekörper dampften – für Mensch und Tier war die Reise über das verschneite Gebirge gleichermaßen quälend. Für zwei Mädchen aus dem Gefolge der jungen Königin war die Tortur zu groß gewesen; sie hatten erschöpft aufgeben müssen und durften nun nach Bormio zurückkehren. Jetzt, in diesem Moment, hätte es Bianca ihnen am liebsten gleichgetan. Die Anstrengung hatte ihre Vorfreude auf ihr zukünftiges Leben als Königin an der Seite von Maximilian, dem römisch-deutschen König, ausgelöscht.
Voller Neugier und Abenteuerlust hatte sie sich noch eine Woche zuvor in Como von ihrer Mutter Bona, ihrem Onkel Ludovico und ihrem älteren Bruder Gian Galeazzo verabschiedet. Ihr Brautgefolge hatte von dort den Rückweg nach Mailand angetreten, wo – es war erst wenige Tage her – ihre Vermählung mit einem grandiosen Fest gefeiert worden war. Gewiss, ihr Gemahl Maximilian hatte an den Feierlichkeiten nicht teilnehmen können. Er hatte seinen Vetter Markgraf Christoph von Baden geschickt, dem Bianca im Dom von Mailand vor Gott, dem Erzbischof und dem Volk von Mailand als Stellvertreter Maximilians das Ja-Wort gegeben hatte. Christoph hatte ihr Maximilians Ring an den Finger gesteckt, und der Bischof hatte ihr als Königin eine edelsteingeschmückte Krone auf das Haupt gesetzt. Nun war sie die Gemahlin des deutschen Königs und zukünftigen Kaisers des Heiligen Römischen Reiches – eines Mannes, den sie noch nie gesehen hatte.
Sie kämpfte mit den Tränen, vor Anstrengung, vor Angst, aber auch vor Wut. Worauf hatte sie sich da eingelassen, was tat man ihr an? Sie fühlte sich verlassen – von ihrer Familie, ihrem Onkel, der diese Ehe eingefädelt hatte; von ihrem Gemahl, der es nicht für nötig befunden hatte, sie persönlich in Mailand abzuholen. Von Markgraf Christoph, der doch so freundlich und einfühlsam gewesen war, sogar einige Worte auf Italienisch mit ihr gewechselt hatte. Aber gleich am Tag der Vermählung war er vorausgeritten, um ihren Empfang durch Maximilians Gesandtschaft in Tirol vorzubereiten. Hätte sie nicht darauf bestehen sollen, dass er an ihrer Seite blieb auf dem Weg durch diese eiskalte Hölle?
Trotzig überwand sie den Impuls, sich einfach in den Schnee zu werfen und liegenzubleiben. Sie raffte ihren Rock und trat Schritt für Schritt in die Fußstapfen ihres Bruders; so kämpfte sie sich mühsam vorwärts. Die Fellmütze hatte sie in die Hand genommen, mit der anderen griff sie in den Schnee und kühlte mit einem schmelzenden Schneeball ihre heiße Stirn. Strähnen lösten sich aus den Zöpfen ihres geflochtenen Haars, das, von der Wintersonne beschienen, golden schimmerte. Sie wusste, sie durften sich keine lange Pause gönnen, denn vor Einbruch der Dunkelheit mussten sie ihre Unterkunft erreicht haben. Eine Nacht im Freien konnte bei der Eiseskälte den Tod bedeuten. Bianca blieb kurz stehen, um zu verschnaufen. Sie drehte sich um und sah, wie sich ihr Gefolge wie ein schwarzes Gewürm aus Menschen, Hunderten von Pferden und Maultieren, die schwer bepackt ihre Mitgift trugen, den Berg hinauf schlängelte.
Am späten Nachmittag hatten sie die Passhöhe des Umbrailpasses erreicht. Ihr Bruder Hermes hatte oben auf der Passhöhe auf Bianca gewartet. Ihr Blick folgte den letzten Sonnenstrahlen, die sich hinter die spitzen Schneegipfel des Gebirges zurückzogen. Nach kurzer Rast befahl der Anführer des Trosses, ein Vertrauter Ludovico Sforzas, wieder aufzusitzen, der Weg nach unten könne nun wieder zu Pferd zurückgelegt werden. Der Pfad war breiter, der Schnee unter den Hufen vieler Saumtiere, die den Weg vor ihnen begangen hatten, festgetreten. Zur Sicherheit führten die Knechte die Pferde Biancas und ihrer Hofdamen. Bianca konnte sich vor Erschöpfung kaum im Sattel halten, geschweige denn ein Pferd lenken.
Zwar verloren sie rasch an Höhe, aber es war bereits stockfinstere Nacht, als sie ihre Unterkunft im Nonnenkloster Sankt Johann in Müstair erreichten. Die Nonnen waren überrascht von dem hohen Besuch einer Königin mitsamt ihrem Tross und konnten nichts bieten außer einem kargen Abendessen und zum Schlafen blanke Holzbänke in ungeheizten kleinen Zellen. Bianca hatte noch nie in ihrem Leben so gefroren wie in dieser Nacht.
*
Eine stürmische Nacht in der Burg Naudersberg, 15. Dezember 1493
Magdalena schreckte hoch. Hatte sie ihren Namen gehört? Oder hatte sie sich getäuscht. Hier im Dunkeln, in dem kleinen Zimmer in der zugigen Burg in Nauders, konnte sie die vielen Geräusche nicht zuordnen: Draußen tobte ein Wintersturm, der die Fensterläden schlagen ließ und das Dachgebälk zum Knarren brachte. Nach einem kurzen unruhigen Schlaf war sie jetzt hellwach und lauschte: Tatsächlich, irgendwer rief ihren Namen, begleitet von einem kräftigen Klopfen an die Zimmertür.
Barfuß hüpfte sie vom Bett und wickelte sich in ihren Mantel, den sie wegen der Kälte in dem unbeheizten Kämmerchen als Zudecke benutzt hatte.
Tags zuvor, in dem Örtchen Mals, hatte sie zusammen mit Markgraf Christoph die junge Königin in Empfang genommen. Maximilian hatte das Empfangskomitee – in Anbetracht seiner eingeschränkten finanziellen Verhältnisse und ebenso eingeschränkter Zuneigung zu seiner italienischen Braut – ganz ordentlich ausgestattet. Zu den königlichen Gesandten unter der Führung des Markgrafen gehörten zahlreiche Ritter und Edelleute, die von 200 Fußknechten begleitet wurden. Bianca musste nun nicht mehr reiten, sondern durfte die Reise nach Innsbruck in einem von drei prächtig geschmückten Wagen fortsetzen, der von sechs weißen Pferden gezogen wurde. Bianca hatte sich in Mals aber von ihrem Bruder Hermes und von fast allen ihrer Edeldamen verabschieden müssen. Darum sollte sie mit Magdalena Reichlin von Meldegg, verwitwete Sforza, die einige Zeit am Mailänder Hof gelebt hatte, eine Vertraute an ihrer Seite haben. So hatte es Maximilian gewünscht.
Magdalena öffnete die Tür. Vor ihr stand, mit einer Kerze in der Hand, Markgraf Christoph in Reitstiefeln und ledernen Hosen; die Kälte schien ihm nichts auszumachen, er trug weder Wams noch Mantel, nur ein dünnes leinernes Hemd bedeckte seinen Oberkörper. Er hatte schon kältere Nächte erlebt auf dem Feld, in Schlachten, die er für den Kaiser ausfocht. Offenbar war die Angelegenheit so dringend, dass er sich nicht um höfische Etikette scherte, sondern sich direkt, kaum angemessen bekleidet, von seiner Schlafstatt auf den Weg zu Magdalenas Zimmer gemacht hatte.
Magdalena mochte ihn, sie mochte seine ruhige, besonnene Art, er war nicht so aufbrausend und ungeduldig wie Maximilian. Daher war der Markgraf auch Maximilians Mann für besonders heikle Angelegenheiten, die einen Ausgleich erforderten. Bei Friedensverhandlungen oder, wie nun schon zum zweiten Mal, in Heiratsdingen schickte Maximilian gerne Christoph als seinen Unterhändler, mehr noch: als seinen Stellvertreter. Jetzt machte der Markgraf allerdings einen ungewohnt nervösen Eindruck, seine Locken hingen ihm wirr ins Gesicht.
»Magdalena, du sprichst doch Italienisch. Du musst mitkommen, die Königin … ich glaube, es geht ihr nicht gut.«
Dann drehte er sich um und eilte den Gang entlang. Magdalena konnte in der dunklen Kammer soeben noch in ihre Schuhe schlüpfen, dann folgte sie dem Schein von Christophs Kerze bis ans Ende des Gangs. An einer Tür hielt Christoph an und legte sein Ohr an das Holz der Tür.
»Sie weint, bitterlich … Das geht schon die ganze Nacht so. Kannst du nachsehen, Magdalena, was der Königin fehlt? Frag’ sie, ob sie krank ist. Du weißt, ich bin für ihr Wohlergehen verantwortlich, ich muss sie wohlbehalten nach Innsbruck bringen. Aber ich kann ja nicht einfach ihre Kammer betreten …«
Magdalena hatte verstanden. Wortlos zwängte sie sich an Christoph vorbei, klopfte sachte an die Tür und rief auf Italienisch: »Bianca, hörst du mich? Ich bin es, deine Zia, Tante Magdalena. Darf ich eintreten?«
Der Markgraf drückte Magdalena den Halter mit der flackernden Kerze in die Hand und schob die schwere Holztür auf. Magdalena schlüpfte durch die nur eine Handbreit geöffnete Tür. Mit der Rechten schützte sie die Kerzenflamme vor dem kalten Luftzug im Zimmer. Das Licht der Kerze vermochte kaum, die Kammer zu erhellen. Auf dem Bettkasten an der Seite des Raumes lag Bianca, zusammengekrümmt, das Gesicht in ihre Armbeuge gelegt, und schluchzte. Magdalena trat näher an das Bett heran. Das Mädchen war nackt, sein langes blondes Haar bedeckte kaum seinen Oberkörper. Magdalena wusste, dass es im wärmeren Mailand üblich war, nackt, ohne Nachtgewand, zu schlafen. Hier, mitten im Gebirge, im Winter, in den kalten Gemächern der Burg konnte diese Sitte ernsthafte Folgen für die Gesundheit des Mädchens haben.
Magdalena öffnete eine Truhe, die offenbar die nötigsten persönlichen Dinge der jungen Königin barg, und griff nach dem erstbesten Kleidungsstück – ein besticktes Manteltuch, das innen vollständig mit Pelz gefüttert war: der Nachtmantel, ein Stück ihrer Aussteuer, das sie in der Kälte eigentlich tragen sollte. Magdalena wickelte den Mantel um den zitternden Körper des Mädchens und umschlang es mit beiden Armen, um es zu wärmen und zu trösten.
Bianca schmiegte sich an Magdalena: »Oh, Zia Maddalena, bring’ mich weg von hier. Bring mich zurück zu meinen Brüdern, zu meinen Schwestern, zu meiner lieben Mutter …« Ein Weinkrampf schüttelte sie. »Es ist so furchtbar hier, die Kälte, dieser schreckliche Sturm, die Berge.«
Magdalena streichelte sanft über Biancas Kopf und versuchte, sie zu trösten: »Sei unbesorgt, morgen, wenn erst die Nacht vorbei ist, wenn der Wind aufgehört hat zu blasen, sieht alles ganz anders aus. Du wirst sehen, wenn die Sonne auf den frisch gefallenen Schnee scheint, wird dir nicht mehr angst und bange sein, dann wirst du dich freuen, wie schön das Gebirge sein kann.«
»Was hat mein Onkel Ludovico mir bloß angetan, dass er mich verheiratet hat …«
Magdalena strich Bianca eine ihrer blonden tränennassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Wolltest du denn diese Ehe nicht? Du hast doch eingewilligt?«
»Ich musste meinem Onkel gehorchen – und meiner Mutter. Sie haben mir alles versprochen, wonach ich mich sehnte, ein prächtiges Hochzeitsfest, schöne Kleider, Schmuck. Und ich würde eine Königin sein …«
»Aber das bist du doch jetzt. Du bist Königin, ja bald sogar Kaiserin. Und Ehefrau des mächtigsten Mannes der Welt.«
»In einem fremden, kalten Land werde ich leben müssen. Allein, ohne meine Familie. Sag’, Zia, ist es immer so kalt hier?«
Magdalena musste lächeln: »Wenn das deine größte Sorge ist, dann kann ich dich beruhigen: Nein, mein Kind, es ist nicht immer so kalt.«
»Und mein Ehemann ist schon alt …«
»Nun, ich würde sagen, er ist im besten Mannesalter …«, entgegnete Magdalena.
»Kennst du ihn gut, Zia? Erzähl’ mir von ihm.« Bianca hatte sich aus Magdalenas Umarmung gelöst und schaute sie erwartungsvoll mit fast kindlicher Neugier an.
Und Magdalena erzählte ihr von Maximilian, von seinem Aussehen, seinem Auftreten, seinem einnehmenden Wesen, so, wie sie ihn selber gern sehen mochte.
Sie erzählte ihr nichts davon, dass für Maximilian die Ehe mit Bianca Maria Sforza vor allem ein Geschäft war: Geld für den ewig klammen Kaiser im Gegenzug für Ansehen und den Herzogtitel für Ludovico Sforza.
Sie erzählte ihr nichts von Maximilians zahlreichen »Schlafweibern«, den schönsten Töchtern aus angesehenen Patriziergeschlechtern, mit denen er sich über den Verlust seiner geliebten ersten Frau hinwegtröstete.
Dafür schilderte sie Biancas zukünftiges Leben am Hof von Innsbruck in den schillerndsten Farben, die schönen Zerstreuungen mit Musik und Tanz, Turnieren und Jagdgesellschaften, die Maximilian für sie ausrichten würde.
Bianca hatte ihren Kopf in Magdalenas Schoß gelegt und schien sich beruhigt zu haben. »Und du hast ja noch ein kleines Gefolge aus Mailand um dich, Leute, die dir vertraut sind und mit denen du dich in deiner Muttersprache unterhalten kannst, wenn dich das Neue und Fremde überanstrengt.«
Bianca hob den Kopf und sagte: »Ja, einen alten Priester und ein paar dumme Gänse als Kammerfrauen. Was habe ich mit denen zu schaffen? Zia Maddalena, kannst du nicht bei mir bleiben? Ich wünschte mir so sehr, dass du zu mir an den Hof kommst als eine meiner Hofdamen. Meinst du, der König würde dies erlauben?« Sie klang nun entschlossen, aus ihrer Situation das Beste zu machen; ihre ungewisse Zukunft schien sie nicht mehr so sehr zu ängstigen, als sie anfügte: »Sobald ich meinem Gemahl vorgestellt bin, werde ich ihn darum bitten.«
Magdalena streichelte nachdenklich Biancas Haarschopf: »Liebes Kind, ich muss dich wohl enttäuschen, ich kann nicht bei dir bleiben. Du musst wissen, ich bin im Herzen nicht frei. Sobald Markgraf Christoph und ich dich wohlbehalten nach Innsbruck gebracht haben, muss ich zurück an den Bodensee.« Bianca richtete sich auf und schaute Magdalena direkt ins Gesicht. Mit ungeduldiger Neugier fragte sie: »Was ist es, das dich zurück in deine Heimat zwingt? Willst du es mir sagen oder ist es ein Geheimnis?«
Das Geheimnis heißt Johannes, dachte Magdalena, fast hätte sie seinen Namen laut ausgesprochen. Stattdessen sagte sie zu Bianca: »Schlaf’ jetzt noch ein wenig. Morgen früh geht es weiter, vor dem Weihnachtsfest müssen wir Innsbruck erreicht haben.«
Ganz ohne Sonne und Licht fließt jeder Tag dahin, an dem mir nicht dein Antlitz wie die Sonne aufgeht.
*
Clairvaux, im Frühjahr 1494
Der Mönch öffnete die Tür zum Skriptorium und stellte die Talglampe auf seinem Pult ab. Er war allein, die anderen Schreibermönche lagen schon auf ihren Strohsäcken in den Zellen nebenan.
Die kleine Schreibstube lag im Obergeschoss des Mönchshauses, dort, wo Ost- und Südflügel aneinander stießen, gleich neben dem Dormitorium. Sie war vom darunter gelegenen Kalefaktorium, einem der wenigen beheizbaren Räume im Kloster, über eine Wendeltreppe zugänglich.
Abt Pierre de Virey, dem die Büchersammlung des Klosters und noch mehr die Gesundheit der Schreibermönche sehr am Herzen lagen, hatte entgegen zisterziensischen Gepflogenheiten für einige Annehmlichkeiten, wenn man es denn so nennen wollte, gesorgt. So hatte er die hohen Fensteröffnungen gegen Süden verglasen lassen, sodass die einfallenden Sonnenstrahlen den Innenraum wärmten; die Kamine im Kalefaktorium hatte er so ausbauen lassen, dass die Wärme auch in den darüber liegenden Raum einströmte. So konnten die Schreiber nun auch in den kälteren Monaten arbeiten, mit genügend Licht von oben und Wärme von unten, ohne dass die Tinte zäh und die Finger steif wurden.
In den vergangenen 25 Jahren hatte der Abt den Bücherbestand in Clairvaux beträchtlich erweitert – Bücher, um die ihn andere Äbte beneideten, darunter aber auch Schriften, die bei Äbten anderer Klöster wohl einiges Unbehagen ausgelöst hätten; Bücher, die den gewöhnlichen Mönch nur verwirrten; bisweilen Texte, die man als anstößig, manche gar als häretisch ansehen konnte. Dom Pierre hatte in den vergangenen Jahrzehnten viele Bücher für sein Armarium erwerben können, die ihm auf offiziellem Weg, durch Abschriften und Tausch mit anderen Klöstern, überlassen oder eher inoffiziell, gar heimlich, von guten Freunden mitgebracht worden waren. Diese hielt er lieber unter Verschluss. Nur einigen wenigen seiner Mönche vertraute er sie zum Studium und zur Abschrift an, wie Jean de Vepria, dem begabten Schreiber, der mit seinem Abt die Leidenschaft für Bücher teilte.
Seit Bruder Jean zum Prior ernannt worden war, widmete er sich einem wichtigen Unterfangen: Er sichtete alle Bücher und Schriften, schaffte neue Schränke an und verfasste ein Verzeichnis aller Bücher, sodass sie, geordnet nach Autoren und Fachgebieten, im Armarium ihren Platz erhielten, an dem man sie wiederfinden konnte.
Abends, wenn die übliche Schreibarbeit erledigt war, stöberte Bruder Jean in den Schriften – seine besondere Leidenschaft galt den »unnützen« Büchern, also Schriften, die nicht der Liturgie oder der geistlichen Unterweisung der Mönche dienten, sondern Bücher, die zu lesen wegen der Schönheit der Sprache oder Besonderheit des Erzählten ein reines Vergnügen war. Aus reinem Vergnügen zu lesen, ziemte sich allerdings nicht für einen Zisterziensermönch, daher verschob Jean seine Lektüre meist auf die späten Nachtstunden zwischen Complet und Vigil, wenn seine Brüder lange schon schnarchend in ihren Bettkästen lagen.
Bruder Jean hatte sich, wie schon oft, vom Abt den Schlüssel für einen besonderen Schrank geben lassen. Darin verwahrte der Abt einige ganz spezielle Bücher, Bücher, die es schon seit Jahrhunderten in Clairvaux gab, aber auch einige, die Abt de Virey von seinen Reisen aus Italien oder Paris mitgebracht hatte.
Gleich neben den Schriften der Alten wie Cicero und Ovid, die Jean schon mehrmals mit besonderer Hingabe gelesen und auch kopiert hatte, stand ein kleiner Codex. Diesen nahm er sich heraus und trug ihn zu seinem Schreibpult.
Jean legte seine Schreibutensilien, Feder und Tinte, bereit und schlug das Buch auf. Die hölzernen Buchdeckel waren in schneeweißes Leder einer jungen Ziege geschlagen. Die sorgfältig in winzigen, sauberen Buchstaben beschriebenen Blätter bestanden aus feinstem Pergament, ebenso weiß wie der Umschlag. Nur einen einzigen Makel hatte das Büchlein: An der rechten oberen Ecke fehlte ein Stück! Eine Maus hatte viertelkreisförmig die Pergamentbögen angefressen, die Abdrücke der Mäusezähnchen waren gut zu sehen, genau bis dorthin, wo in schwarzer Tinte die erste Zeile des Textes geschrieben stand. Jean blätterte eine Seite nach der anderen um, bis er an die Stelle gelangt war, an der er einen Tag zuvor mit dem Abschreiben aufgehört hatte. Wer mochte dieses Buch wohl geschrieben haben? Kein Eintrag wies auf den hin, der die Zeilen verfasst hatte. Und wann hatte sich zugetragen, was hier niedergeschrieben war? Und wie war es nach Clairvaux gelangt? Einer seiner Vorgänger, ein Bücherfreund wie er, fand es wohl für wert, es im Kloster aufzubewahren. Obwohl es kaum für Augen und Ohren, Geist und Seele eines Zisterziensermönchs geeignet war. Über lange Jahre, wenn nicht Jahrhunderte, hatte sich keiner mehr dafür interessiert, in einem alten Schrank unter der Dormitoriumstreppe war es weggeschlossen, vergessen worden. Bis Bruder Jean sich im Auftrag seines Abtes daran gemacht hatte, alle Bücher der Abtei ans Licht zu holen.
Abend für Abend las er nun Seite für Seite und kopierte die Schrift – aber nicht jede Zeile, nicht jeden Satz. Denn nicht alles, was hier niedergeschrieben war, mochte er seinen Brüdern zumuten. Nur das Ziemliche, die Essenz der Geschichte der beiden, Mann und Frau, Liebhaber und Geliebte, wollte er erhalten. Sie beteuerten sich ihre gegenseitige Liebe und tauschten sich über die Freundschaft aus. Sie stritten miteinander und versöhnten sich. Sie erinnerten sich an Liebkosungen und Berührungen, von der Art, wie sie Jean nie erfahren hatte und niemals erleben durfte. Er las die Gedanken eines Mannes und einer Frau, wie er sie nicht denken durfte, von ihrer Sehnsucht und ihrer Lust, wie er sie sich insgeheim wünschte, aber nie erfahren würde. Bruder Jean las alles, aber er schrieb nicht alles auf. Die geheimsten Geheimnisse der Liebenden wollte er nicht mit anderen teilen. Er kam sich vor wie jemand, der durch ein Schlüsselloch, einen Türspalt das Paar beobachtete; und er blickte beim Lesen und Abschreiben oft unwillkürlich hinter sich, ob er nicht doch entdeckt würde – und damit das Paar der Entdeckung preisgab. Es erschien ihm aber nicht, als tue er etwas Verbotenes. Das Lesen war noch keine Sünde; selbst in den Klöstern gab es Schriften über die Liebe und die Freundschaft, und es gab Schriften der alten Römer wie die des Ovid oder des Catull, die bei Weitem lasziver, gar derber waren, die noch immer gelesen und abgeschrieben wurden. Aber es waren alte Texte, von Römern, Heiden eben, und Heiden kannten keine Sünde. Doch die Briefe dieses Paares berührten Jean weit mehr als Ovid, als würde er die beiden kennen, wie seine eigene Schwester oder seinen Bruder.
Auch wenn das, was er las, ihm bisweilen ein Schmunzeln entlockte, ihn ergriff oder gar erschütterte, ihm ganz und gar Vergnügen bereitete, so sollte es geheim bleiben, und er wollte es, wenn überhaupt, nur mit wenigen teilen.
Ihm schien es geboten, allzu Geheimes auszulassen, nicht abzuschreiben, um den zukünftigen Leser nicht unnötig zur curiositas zu reizen, der unverzeihlichen, sündhaften Neugier.
Aber nicht der Geheimnisse wegen, allein um der Schönheit der Sprache willen, wegen der Anmut und Ehrlichkeit der Gedanken wollte er diese Schrift für andere bewahren. Und er musste schnell handeln, rasch schreiben, vieles auslassen. Nicht mehr lange, dann würde der Abt von Cîteaux zum jährlichen Generalkapitel rufen, zu dem sich alle Zisterzienseräbte einzufinden hatten. Dann würde der große Schlagabtausch zwischen dem Generalabt des Zisterzienserordens und seinem ewigen Widersacher, dem Abt von Clairvaux, stattfinden. Den eingeforderten Vorrang des Generalabtes vor allen anderen Äbten wollte der Abt von Clairvaux nicht hinnehmen. Die von Cîteaux geplanten Reformen würden so manchem Kloster gewisse Unbequemlichkeiten bescheren, den Mönchen ein sehr viel strengeres Leben auferlegen und, was Bruder Jean und seinen Abt am meisten beunruhigte, die Lektüre auf Ziemliches beschränken, bestimmte Schriften gar verbieten. Würde man ein solches Buch bei einer Visitation des Generalabtes vorfinden, war zu erwarten, dass es im Feuer landete.
Bruder Jean legte einen Papierbogen zurecht, tauchte die Feder in die Tinte und begann zu schreiben: »Es drängt mich, die Hitze in meinem Geist in Worte zu fassen, die meine Sinne zerstört und das Innerste in meinem Herzen quält. So sehr sehne ich mich danach, atemlos wie ich bin, dich und deinen Busen zu berühren, wie einer, der nach Wasser verlangt, wenn die Glut der Sonne ihn versengt.«
Salem, im 21. Jahrhundert
In seinem Büro tippte Benedikt Schönborn, Museumsleiter in Schloss Salem am Bodensee, die letzten Sätze des Ankündigungsflyers für das diesjährige Kolloquium in seinen Computer.
Benedikt las das Vortragsprogramm der mehrtägigen Konferenz durch, die demnächst in der ehemaligen Klosterbibliothek in Salem stattfinden sollte. Ja, alles, was Rang und Namen hatte in der Mediaevistik, Kunstgeschichte, Archäologie und Ordensforschung, war vertreten. Neueste Forschungsergebnisse warteten darauf, aus den behaglichen Gelehrtenstuben oder aus den nüchternen Bibliotheken funktionaler Universitätsbauten in die Welt getragen zu werden, den Fachkollegen – die Kolleginnen nicht zu vergessen – wie auch einem interessierten Laienpublikum, das sich bei solchen Ereignissen gerne in Salem einfand, zur Diskussion vorgestellt zu werden. Abgesehen von den Untersuchungsergebnissen der jüngsten Ausgrabungen lag diesmal der thematische Schwerpunkt auf der Bücherproduktion des Zisterzienserklosters. Benedikt fragte sich, ob sich einige seiner Fachkollegen nicht kürzer und präziser fassen würden, wenn sie ihre Gedanken, wie die Mönche früher, mit Tinte und Federkiel auf Pergament aufbringen müssten, statt sie, wie heutzutage, in digitalen Wolken ausschweifen zu lassen.
Unter den Referenten waren einige alte Bekannte, Freunde und Kollegen aus gemeinsamen Tübinger Studienzeiten, die nun an renommierten Institutionen untergekommen waren oder an Universitäten lehrten.
So Sigi Seifert, Archäologe der Bodendenkmalpflege und Dozent in Tübingen, der seit Jahren die Notgrabungen in Salem durchführte. Sigis Part war es, die Ergebnisse der neuesten Ausgrabungen und Funde vorzustellen. Vor einiger Zeit war man bei Restaurierungsarbeiten im Münster zufällig auf ein Grab gestoßen, dessen Inhalt recht ungewöhnlich war: Man hatte neben dem Skelett einen zweiten menschlichen Schädel gefunden. Sigi hatte wohl eine Erklärung für diesen seltsamen Befund, die er aber noch nicht verraten hatte und auf die Benedikt schon neugierig war.
Benedikt hatte sich auch gefreut, dass sein Freund Cornelius Bauer mit seiner bildschönen Frau die Teilnahme am Kolloquium zugesagt hatte. Gestern Abend waren sie aus Rom gekommen. Elena Mazzarini-Bauer hatte die wissenschaftliche Ausgabe und Übersetzung eines besonderen Buches besorgt, das vor einiger Zeit im Grab eines Salemer Mönchs gefunden worden war. Der Titel von Elenas Vortrag lautete: Liebeslyrik für einen Zisterzienser? Beziehungen der Salemer Zisterzienser zum römischen Renaissance-Humanismus. Im Gegensatz zu Sigis Vortrag wusste Benedikt, was es damit auf sich hatte. Elena hatte ihm geholfen, den Fund zu übersetzen, und es hatte sich herausgestellt, dass es eine Sammlung von Gedichten aus dem Umkreis des römischen Gelehrten Pomponius Laetus war, der seinem Freund Johannes Salemitanus, Mönch in Salem, das Buch persönlich gewidmet hatte.
Ein Schwerpunkt des diesjährigen Kolloquiums war die Zeit der Renaissance, einige kunsthistorische Vorträge beschäftigten sich mit den Spuren, die die Renaissance auch in Salem hinterlassen hatte, wie Wandmalereien in der Kirche, die kürzlich freigelegt werden konnten.
An einem Namen blieb Benedikts Blick hängen, sein Herz klopfte etwas schneller, er lächelte: Sie hatte vor Kurzem an der Universität Heidelberg ihre Dissertation eingereicht und galt inzwischen als beste Kennerin der Renaissance-Architektur nördlich der Alpen. Beim Salemer Kolloquium wollte sie speziell zu den italienischen Einflüssen auf die frühe deutsche Palastarchitektur am Beispiel des Patrizierhauses der Reichlin von Meldegg in Überlingen sprechen. Für sie und Benedikt ein ganz besonderer Ort, eben dort waren sie sich zum ersten Mal begegnet. Er hatte den Augenblick vor sich, als sei es erst gestern geschehen. Ihre langen rotbraunen Haare schimmerten im Sonnenlicht, als sie am Fenster im Obergeschoss des Meldegg’schen Hauses, heute das Stadtmuseum in Überlingen, gedankenverloren auf den See hinausschaute. Als sich ihre Blicke zum ersten Mal trafen, hatte er das Gefühl, als würde er sie schon immer kennen. Da schon ahnte er: Es war um ihn geschehen. Sein ungebundenes Junggesellenleben war dahin. Anfangs hatten sie sich noch selten sehen können, Benedikt war an seine Aufgabe in Salem gebunden, Maddalena in Heidelberg mit ihrer Dissertation beschäftigt. Doch immer öfter blieb sie auch für längere Zeit am Bodensee. Und Benedikt, der, zumindest vor seinen Freunden, immer ungebunden bleiben wollte, wäre es am liebsten gewesen, sie wäre ganz zu ihm nach Salem gezogen.
Nachdenklich legte Benedikt den Flyer aus der Hand. Was mochte die Zukunft für sie beide bringen? Sollte er sie zu einer Entscheidung drängen? Maddalena war zehn Jahre jünger als Benedikt, ihre berufliche Karriere lag noch vor ihr, und wohl kaum am Bodensee …
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Es war Sigi, der ihm mit einem Grinsen einen Karton auf den Tisch stellte. Darin befand sich ein menschlicher Schädel.
Benedikt schaute Sigi erwartungsvoll an. Dieser hob mit einem dünnen Baumwolltuch vorsichtig den Schädel aus dem Karton und hielt ihn neben sein Gesicht. Im Oberkiefer des Totenschädels steckte noch die komplette Zahnreihe. Ein lebendiger Sigi und ein unbekannter Toter grinsten Benedikt an.
»Die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen«, sagte Benedikt genervt. Wie Sigi und einige seiner Kollegen manchmal mit menschlichen Knochen umgingen, ärgerte ihn, waren es doch die Überreste von Verstorbenen, denen man nach abgeschlossenen wissenschaftlichen Untersuchungen ihre Totenruhe wieder zurückgeben sollte.
Sigi verstand. »Ist ja gut.« Mit diesen Worten legte er den Schädel behutsam wieder in den Karton zurück und schlug das Baumwolltuch darüber. »Unsere Vorfahren sind aber auch nicht gerade zimperlich mit dem guten Mann umgegangen.«
»Was meinst du?«, fragte Benedikt. Von den Ausgrabungen vor allem im Mönchsfriedhof und rund um die Kirche wusste er sehr wohl, dass bei Bauarbeiten im Kloster ältere Bestattungen ohne Rücksicht auf die Totenruhe zerstört, die Knochen beiseite geräumt oder ungeordnet wieder vergraben worden waren. Selbst die Äbte in ihren Gräbern unter dem Fußboden im Münster waren im Lauf der Jahrhunderte oft recht rücksichtslos umgebettet worden. Allenfalls das Totengedenken war den Zisterziensern wichtig gewesen, die sterblichen Überreste dagegen nicht.
Sigi erklärte: »Unser Freund hier«, dabei deutete er auf den Schädel im Karton, »den wir in dem Laiengrab gefunden hatten, hatte wohl eine längere Reise hinter sich. Wir haben den Schädel mit C14 untersuchen lassen und einen Zahn einer Isotopenanalyse unterzogen. Der Schädel ist rund 1500 Jahre älter als das vollständige Skelett im Grab.«
»So alt? Seid ihr euch sicher?« Benedikt war skeptisch.
»Du darfst unseren Kollegen in Tübingen schon glauben, die arbeiten sauber«, entgegnete Sigi ernst.
»Aber das Grab selbst dürfte im 16. Jahrhundert angelegt worden sein, das zeigen doch die Beifunde.«
»Ja, das stimmt, der Mann, der in dem Grab bestattet worden ist, hat um 1500 gelebt. Der zweite Schädel allerdings ist fast eineinhalb Jahrtausende älter – und jetzt kommt’s!« Sigi machte eine Pause. »Der junge Mann – der Schädel gehört zu einem männlichen Individuum – also, der männliche Körper, auf dem dieser Schädel einst saß, ist nicht am Bodensee aufgewachsen, sondern südlich der Alpen herumspaziert. Unsere Kollegen tippen auf die vulkanischen Landschaften Mittelitaliens.«
»Seltsamer Befund. Was hat das zu bedeuten?«
»Ich liefere nur die Untersuchungsergebnisse. Um die Deutung müsst ihr Historiker euch kümmern«, erwiderte Sigi.
Benedikt sagte nachdenklich: »Ein Kopf ohne Körper? Der spaziert nicht einfach von Italien nach Salem. Jemand hat also den Schädel von dort mitgebracht. Was meinst du, Sigi: Reliquienhandel?«
Hell sei deine Nacht, außer mir soll dir nichts fehlen. Mich sollst du sehen, wenn du schlummerst, an mich denken, wenn du wachst, wie ich selbst das deine bin, so sollst du mir mein Leben sein.
*
Überlingen, im Juni 1494
Johannes strich Magdalena sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht und legte sie hinter ihr Ohr. Dann küsste er sie auf den Hals und sagte leise: »Ich kann dir noch nicht sagen, wann ich dich wieder sehen darf, wann der Abt mir einen Besuch hier erlaubt.«
Magdalena nickte stumm. Sie wusste, es war keineswegs leicht für Johannes, sich aus dem Kloster zu entfernen und zu ihr nach Überlingen zu kommen, sei es auch nur für wenige Stunden. Zwar war Abt Stantenat einfallsreich genug, immer wieder einen Vorwand, einen Auftrag für Johannes zu finden, der ihn nach Überlingen führte; er durfte bei dieser Gelegenheit auch im Meldegg’schen Haus einen Besuch abstatten. Magdalena war das Mündel des Salemer Abtes, der ihrem Vater, dem berühmten Arzt Andreas Reichlin von Meldegg, auf dem Totenbett versprochen hatte, sich um sie zu kümmern. Magdalenas Wohlergehen und das ihrer beiden Kinder lagen dem Abt daher sehr am Herzen.
»Ich muss jetzt gehen, bis zur Complet muss ich zurück im Kloster sein«, sagte Johannes. Magdalena schlang ihren linken Arm um seinen Hals, zog seinen Kopf sanft zu sich heran und küsste ihn zum Abschied auf den Mund. Johannes ließ es mit sich geschehen.
Plötzlich sprang die Zimmertür auf. Apollonia stand mit offenem Mund im Türrahmen. Johannes zwängte sich an ihr vorbei durch die Tür, nickte kurz zum Gruß und verließ das Zimmer.
Apollonia kreischte: »Also stimmt es doch, was man sich erzählt.«
Magdalena erwiderte mit einem gespielten Seufzer: »Was erzählt man sich denn schon wieder, liebste Schwägerin?«
Magdalena wusste, dass sie ihre Schwägerin allein mit herablassender Ruhe reizen konnte. Apollonia war ein junges, unbedarftes Ding. Magdalena war zwar anfangs froh gewesen, dass ihr Bruder Matthias im fortgeschrittenen Alter doch noch eine Frau gefunden hatte, jung, hübsch und noch dazu als Ulmer Patriziertochter aus bestem Hause. Aber nach Magdalenas Geschmack war sie zu ungebildet und zu frömmelnd. Apollonia litt auch darunter, dass sich nach zwei Jahren Ehe immer noch kein Nachwuchs eingestellt hatte, und betrachtete Magdalena und ihre beiden gedeihenden Kinder, den achtjährigen Gianni und die vierjährige Helena, zunehmend mit giftigem Neid.
»Was wollte der Mönch hier bei dir?« Apollonias Stimme überschlug sich.
»Wie du weißt, Apollonia, ist unsere Familie dem Kloster Salem besonders zugetan. Und Matthias berät das Kloster und den Abt in medizinischen Angelegenheiten, wie übrigens unser Vater vor ihm.«
»Wenn das so ist, warum kommt der Abt nicht selber, warum schickt er immer diesen Bruder?«
Magdalena entgegnete ärgerlich: »Dieser Bruder, wie du ihn nennst, ist uns freundschaftlich verbunden, schon länger, als du hier bist. Johannes haben wir es zu verdanken, dass Matthias damals aus dem römischen Kerker frei kam.«
Apollonia ließ nicht locker: »So, und was hat er dann mit dir zu schaffen?«
»Als Herrin des Hauses ist es meine Pflicht, wenn Matthias nicht selber da ist, ihm unsere Gastfreundschaft zu gewähren.«
»Gastfreundschaft hinter geschlossenen Zimmertüren. Mit einem Mönch. Das ist reichlich ungebührlich. Das italienische Hofleben hat dich wohl verdorben.« Apollonia fügte trotzig hinzu: »Und außerdem: Wenn jemand einen Gast empfängt, dann bin ich das wohl. Ich bin jetzt die Hausherrin, als Matthias’ Gemahlin. Du bist nur …«
»Was bin ich nur?« Magdalenas Augen funkelten zornig. »Sprich es aus!«
Apollonia hatte sich in Rage geredet: »Das verstoßene Weib eines italienischen Söldners. Und jetzt die Hure eines Mönchs.«
Magdalena brauchte nur einen kleinen Schritt auf Apollonia zuzugehen, dann holte sie mit der Rechten aus und schlug dem Mädchen mit der flachen Hand ins Gesicht, dass es klatschte. Einen ganz kurzen Moment herrschte Stille. Apollonia starrte Magdalena fassungslos an, dann verzog sie ihren Mund und heulte laut los.