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Sebastian Thiel

Syltfluch

Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Olha Rohulya / stock.adobe.com und Norwegische Nationalbibliothek, Oslo; https://urn.nb.no/URN:NBN:no-nb_digifoto_20160317_00405_NB_NS_NM_11943

ISBN 978-3-8392-7182-7

 

Prolog –
Eine verbotene Liebe

Wikingerstadt Haithabu, im Jahre 1049

Im Namen des Allvaters, war dieses Gelage in der gestrigen Nacht nötig gewesen?

Sein Kopf dröhnte so heftig, als würde der Drache Nidhöggr persönlich in seinem Schädel wüten und nicht an den Wurzeln der Weltenesche.

Frederik Tryggvason kniff die Augen zusammen, während er in das Licht der Sonne trat. Sie stand bereits hoch am Himmel und blendete ihn stechend.

Er würde bald hier sein.

Verächtlich spuckte Frederik auf den Boden. Mit Schmerzen in den Gliedern sah er an sich herab. Wieso um alles auf der Erdscheibe war er fast nackt? Nur ein dünnes Leinentuch bedeckte seine Männlichkeit. Er wankte und musste sich am Gerüstpfosten und der Wandfüllung aus Lehm abstützen. Voller Pein schüttelte er den Kopf. Es war die Mühe nicht wert, an vorangegangene Nacht zu denken, immerhin gab es Wichtigeres, was seine Aufmerksamkeit verlangte.

Mehrmals zog er Luft in seine Lungen und blickte hinaus auf die glitzernde See. Sie war wirklich wunderschön, wenn sie ruhig dalag. Einladend und verführerisch wie das Lächeln einer Frau und so strahlend hell, dass sie beinahe jede finstere Überlegung zu verdrängen imstande war.

Lediglich diese nicht.

»Frederik.« Der Bursche war fahl vor Angst und konnte kaum atmen. »Herr, er ist hier.«

»Jetzt schon?« Frederik ergriff einen Tonkrug mit klarem Wasser, füllte seinen Magen und spülte den Mund aus. Es tat gut, mit dem kühlen Nass die Lebensgeister zu wecken, die er gestern mit herbem Bjórr versucht hatte zu betäuben. »Und der König?«

Der Junge verbeugte sich tief. »König Sweyn wartet am Steg auf Euch.«

Frederik schüttelte erneut den Kopf, ihm war dies alles zuwider. Seitdem er einen Fuß auf das Festland gesetzt hatte und seine Taten im Schildwall lauthals besungen wurden, benahmen sich alle, als hätte er den Kriegsgott Tyr selbst besiegt. Dabei waren es nur eine Handvoll kleinerer Dörfer und nur wenige Schiffe gewesen, die er mit dem Dänenkönig Sweyn II. bezwungen hatte.

»Gut.« Frederik legte Wams und Mantel an, sehr zum Bedauern der jungen Maiden, die ihm verstohlene Blicke aus den benachbarten Hütten zuwarfen. Zuletzt folgten Messer und Axt. Oh, wie hoffte er, sie nicht benutzen zu müssen. »Sag dem König, dass ich auf dem Weg bin.«

Der Junge spurtete los. Erst jetzt fiel Frederik auf, dass der Markt der großen Handelsstadt Haithabu beinahe verwaist war. Keine christlichen Mönche, die jedermann zu bekehren versuchten, nicht ein byzantinischer Händler war zu sehen und kein slawischer Fischer, der seinen Fang lautstark feilbieten wollte. Selbst die jungen Schildmaiden suchten das Weite.

Kein Wunder. Wäre Frederik an ihrer Stelle gewesen, er hätte genauso gehandelt. Betont lässig schritt er los, zog den Ledergurt um seine Hüften enger und gönnte sich noch einen Schluck aus dem Krug, bevor er ihn auf dem Boden zerschellen ließ. Er mahnte sich zur Ruhe. Und es fiel ihm schwer.

Selbst von hier aus sah er die schier endlose Streitmacht. Die Drachenboote des norwegischen Königs Harald III. Hardråde hatten festgemacht. War er hier, um zu verhandeln, oder wollte er die Stadt auskundschaften?

Der Allvater war sein Zeuge, Frederik war des Krieges überdrüssig, doch niemals würde er diesem Sohn einer Hündin die Genugtuung gönnen, Angst in seinen Augen zu erkennen.

Sollten Haralds Mannen eben am Halbkreiswall scheitern und von den Palisaden Haithabus aufgespießt werden. Die Vorstellung ließ Frederiks Augen strahlen.

»Woran denkst du, Beutemeister?« König Sweyn wartete am Steg auf ihn, genau wie es der Junge gesagt hatte. »Lass mich an deinen Überlegungen teilhaben.«

»Ich denke daran, wie Haralds Männer an ihrem eigenen Blut ersticken.« Er lehnte sich zu seinem Herrn und nickte in die Richtung des größten und prächtigsten Schiffs des Norwegerkönigs. Frederik musste leise reden, denn er schritt bereits über das knarrende Holz der Hafenbrücke und war in Hörweite. »Und an den Frieden danach.«

»Was für ein schöner Gedanke«, hauchte König Sweyn, öffnete die Arme und begrüßte seinen Gast. »König Harald Sigurdsson der Harte von Norwegen, es ist schön, Euch und Euer Gefolge in Haithabu willkommen zu heißen.«

Wie konnte er nur so höflich zu dieser Schlange sein?

»Die Freude ist auf meiner Seite.« Seine Worte waren gütig, doch die Augen waren kalt wie das Eis des Nordens. Eine frische Brise ließ Harald Sigurdssons feuerrote Haare um ihn tanzen und den mächtigen Bart wehen. Seine Gesichtszüge wirkten verzerrt, als würde er den Hass nur mühselig im Zaum halten. Er schwieg lange, bemaß offensichtlich den Wert seiner Worte genau, bis er in einer groben Bewegung über die Planke seines Schiffs griff und ein Bündel Haare zu fassen bekam. Ohne mit der Wimper zu zucken, hievte er die Frau an ihrem Zopf auf die Beine.

»Meine Lieblingssklavin Mathilda. Sie wird meinen Schlafplatz vorbereiten.«

Frederiks Herz setzte für einen Moment aus.

Diese Frau, obwohl grün und blau geprügelt, war das schönste Wesen, das er jemals erblickt hatte. Er wusste, dass er sein Gesicht abwenden sollte, sich nicht in ihren dunklen Augen verlieren durfte. Jeder weitere Herzschlag war pure Gefahr, und dennoch vermochte er nicht wegzusehen. Ein Fluch schien sie in diesem Augenblick unsichtbar miteinander zu verbinden. Wenn sich so Liebe anfühlte, würde er nie wieder etwas anderes fühlen wollen.

Nie wieder.

Kapitel 1 –
Wieder zurück

»Meine sehr verehrten Fahrgäste, wie Sie sicherlich schon mitbekommen haben, wird der außerplanmäßige Zwischenstopp auf dem Hindenburgdamm etwas länger dauern …«

Durch die Musik ihrer Kopfhörer drang die knarzende Stimme des Zugchefs zu Lene Cornelsen durch. Sie erhob sich und öffnete die schmale Fensterluke des Intercity Westerland Expresses. Augenblicklich stieg der salzige Geruch des Meeres in ihre Nase und vermischte sich mit Kaffeeduft und einigen Schweißnuancen im Abteil, auf die sie allzu gerne verzichtet hätte. Eine Windbö der Orkanausläufer zerrte an ihren Haaren, hohe Wellen rollten auf die Schienen zu und brachen sich nur wenige Meter vor ihr. Zeitgleich spritzte weiße Gischt gegen den Waggon und der stürmische Wind trieb die dunklen Wolken in Richtung Festland. Dicke Regentropfen peitschten gegen die Scheibe, Donner grollte in der Ferne und Blitze boten am Horizont ein hektisches Spektakel. Sie sah in einen Sturm aus Wut und Grau.

Bald würden sie den Damm sperren und somit die letzte Verbindung zwischen Sylt und dem Festland kappen.

So kannte sie ihre Insel. Was für eine Begrüßung! Lene lächelte und zog die Kopfhörer von den Ohren. Sie war zu Hause. Nach all den Jahren.

Mehrmals atmete sie durch und genoss die kühlende Luft, bis sich die anderen Passagiere lautstark beschwerten. Ihre Nervosität war beinahe greifbar, immer wieder blickten sie auf die graue Wand draußen hinter dem Fenster und zuckten zusammen, wenn das Licht für einige Sekunden ausfiel. Die Leute vom Festland wussten nicht, was ein Sturm war. Sie allerdings hatte schon einige erlebt. Früher. Das war lange her. Vielleicht zu lange, um die Insel noch ihr Zuhause nennen zu können.

Als sie mit 19 Jahren ihre Heimat verlassen hatte, um in Düsseldorf ein neues Leben zu beginnen, hatte sie sicher einem halben Dutzend der gewaltigen Naturphänomene beigewohnt. Doch diesmal war es anders. Wind, Regen und Wellen schienen sie von der Insel fernhalten zu wollen. Fast wie eine lautstarke Warnung, die noch einmal mit ganzer Intensität in den Waggon pfiff, bevor sie das Fenster schloss. Abgesehen von einer kurzen und schmerzhaften Ausnahme hatte sie vor 13 Jahren das letzte Mal einen Fuß auf den matschig-sandigen Boden des Eilands gesetzt und der Zeitpunkt ihrer Rückkehr hätte nicht schlechter sein können. Gerade jetzt, wo sie ihren Dienst in der Polizeiwache Westerland antreten sollte, gab es eine Sensation zu vermelden, und das passierte auf Sylt bestimmt nicht oft.

Lene seufzte, nahm wieder Platz und setzte die Kopfhörer auf, um das angespannte Gemurmel der anderen Fahrgäste auszublenden. Die Artikel über ihre Heimatinsel kannte sie mittlerweile fast auswendig, trotzdem öffnete sie den zerknitterten »Weser-Kurier« und studierte die Abbildung.

Es war nur eine grobkörnige Aufnahme, bei der man die Silhouetten höchstens schwerlich erahnen konnte. Aber mit einiger Fantasie war es tatsächlich möglich, so etwas wie ein Wikingerschiff auszumachen.

Natürlich gab es im Internet mittlerweile bessere Bilder, doch dieses hier gefiel Lene am besten. Es hatte etwas vom legendären Seeungeheuer Nessi. Mit dem Unterschied, dass die Fotografie nicht aus Schottland, sondern vom Sylter Morsum-Kliff stammte. Hätten die tief hängenden, bleischweren Wolken und der Regenwall die Sicht nicht eingeschränkt, hätte sie von ihrem Platz sogar die hellen Sanddünen des Kliffs ausmachen können. Fast spürte Lene den roten Limonitsand zwischen ihren Zehen, eine leichte Brise auf ihrer Haut …

Erneut wurden ihre Gedanken von der knarzenden Stimme aus den Lautsprechern unterbrochen: »… leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass sich die Weiterfahrt noch verzögert.«

Diesmal schaltete sie die Musik aus und verstaute die Kopfhörer in ihrer Reisetasche. Während die Menschen um sie herum laut stöhnten, intensivierte Lene ihren Blick, als ob sie so durch die dichten Regenschleier sehen könnte. Wer hätte das gedacht? Ein echtes Wikingerschiff vor dem beschaulichen Sylt? Kein Wunder, dass Weltpresse und Archäologen ein Wettrennen veranstalteten, um als Erste am Wrack zu sein, wenn sich das Wetter endlich bessern sollte. Die Insel platzte aus allen Nähten und ausgerechnet jetzt kündigte der Wetterdienst die Gefahr einer Sturmflut an. Es gab definitiv bessere Zeiten, um nach Hause zurückzukehren … und vor allem bessere Gründe. Behutsam, fast zärtlich streichelte sie über den Ringfinger ihrer rechten Hand. Anstatt auf Widerstand zu treffen, spürte sie lediglich die Abdrücke auf ihrer Haut. Seltsam, wie schnell man sich an Dinge gewöhnte.

Der Ehering, der sie über Jahre begleitet hatte, lag nun wohlbehütet bei einem Düsseldorfer Pfandleiher. Hoffentlich würde er einem anderen Mädchen mehr Glück bringen. Wenigstens hatte sie ihren Mädchennamen behalten und musste nun nicht bis zum Ablauf des Trennungsjahrs Steinke heißen. Vielleicht lag es daran, dass sie die letzten Monate in Düsseldorf schnell vergessen wollte. Besonders die geheime Liebschaft zwischen ihrem Ex-Mann und ihrer Kollegin und ehemaligen besten Freundin. Monatelang hatte er sie betrogen, bis Lene es zu ihrer vollumfänglichen Demütigung auf der Weihnachtsfeier auf der Polizeiwache erfahren hatte. Natürlich hatte sie ihrem Ex vor versammelter Mannschaft und mit voller Wucht in die Weichteile treten müssen, was weitere Probleme nach sich gezogen hatte.

Obwohl sie es nicht wollte, stahl sich ein breites Grinsen in ihr Antlitz. Sicher war es nicht einer ihrer glorreichsten Momente gewesen, allerdings dachte sie allzu gerne daran, wie er mit schmerzerfülltem Gesicht zusammengesackt war. Sie war noch in derselben Nacht ausgezogen, hatte online alle Daueraufträge gekündigt und das gemeinsame Konto aufgelöst. Die letzten Wochen hatte sie in einem billigen Motel am Rand der Stadt verbracht. Nur weg, nur vergessen. Er alleine würde das schicke Loft in Oberkassel nie halten können.

Viel Spaß bei der Wohnungssuche, du Arsch!

Zumindest dieser kleine Triumph war ihr geblieben.

»Liebe Fahrgäste, wie Sie erkennen können, lässt es die Wetterlage nicht zu, dass wir unsere Fahrt nach Sylt fortsetzen.«

Protestierende Rufe vermischten sich mit erleichtertem Gemurmel. Offensichtlich waren einige Reporter mehr als glücklich, nicht auf die sturmflutbedrohte Insel zu müssen. »Wir werden langsam nach Niebüll zurücksetzen. Von dort aus können Sie …«

Die letzten Worte bekam Lene nicht mehr mit. In einer raschen Handbewegung ergriff sie ihre Tasche und drängte sich zwischen wild telefonierenden Journalisten und empörten Urlaubsgästen hindurch. Zurück ans Festland? In ihr altes Leben? Niemals.

Heute sollte der erste Tag eines Neuanfangs sein, eines ruhigen Polizistendaseins, fernab von stressigen Ermittlungen im Großstadtmilieu. Lene wollte runterkommen, wie man so schön sagte, sich mit gestohlenen Fahrrädern und geklauten Touristengeldbeuteln beschäftigen, statt mit Drogendealern und Zuhältern. Alleine der Gedanke an eine Verzögerung ließ sie schaudern.

Geübt griff sie in ihren langen brünetten Zopf, entfernte das Haargummi und legte ihr charmantestes Lächeln auf, als sie den Bahnmitarbeiter endlich zu fassen bekam.

»Entschuldigen Sie bitte, ich müsste ganz dringend nach Sylt«, säuselte sie zuckersüß. »Wäre es möglich, dass Sie mich hier einfach herauslassen? Das letzte Stück würde ich zu Fuß gehen.«

Der junge Mitarbeiter blickte kurz hoch, schüttelte den Kopf und tippte im Anschluss wieder auf seinem elektronischen Lesegerät herum. »Leider nicht möglich«, knurrte er. »Haftungsfrage.«

Puh, allem Anschein nach hatte sie das Flirten tatsächlich verlernt. Nicht verwunderlich nach sieben Jahren Ehe und einem ziemlichen Knacks im Selbstbewusstsein. »Ich kenne mich hier aus«, beteuerte Lene und berührte sanft seine Schulter. »Schon als kleines Mädchen habe ich auf dem Damm gespielt, wenn die Tiden es zuließen.«

»Das Spielen auf Bahngelände ist strengstens untersagt«, ratterte er monoton herunter und drehte sich abweisend zur Seite, um die nächste Reklamation entgegenzunehmen, während seine Finger unablässig über das Display sausten.

Natürlich. Was hatte sie denn gedacht?

Die Klamotten trug sie seit zwei Tagen, sie könnte mit Sicherheit eine Dusche vertragen und ihre Augenringe waren so groß wie Wagenräder. Lene hatte sich sofort auf den Weg gemacht, als ihr Versetzungsantrag genehmigt worden war. Weg von der Wache, wo sie zu jeder Zeit auf sie treffen konnte. So ein spontaner Umzug kostete Kraft und auf so manche Annehmlichkeit galt es zu verzichten. Außerdem war sie keine 18 mehr, und das süße Püppchen zu spielen stand ihr einfach nicht.

Ihre Gesichtszüge wurden mit einem Mal ernst, der Ton ihrer Stimme so rau wie das Wetter. »Lene Cornelsen, Kriminalpolizei.« Eine gewisse Genugtuung überkam sie, als der junge Reisebegleiter erstarrte und mit verwunderter Miene zum gezückten Dienstausweis sah. »Sie behindern eine polizeiliche Ermittlung. Machen Sie die Türen auf, lassen Sie mich raus, ich übernehme die volle Verantwortung.«

Lene steckte den Ausweis in die Hosentasche und tippte mit den Fingern ungeduldig auf ihren Unterarm. Dabei bohrte sich ihr Eisblick in ihn hinein. Zumindest das hatte sie nicht verlernt. Wenn es darum ging, einen Verdächtigen in Grund und Boden zu starren, konnte ihr niemand so schnell etwas vormachen. Das Geheimnis war, einfach einen Punkt auf der Nasenwurzel zu fixieren. Doch das war hier kaum nötig.

Anscheinend glücklich, zumindest einen der nörgelnden Passagiere loszuwerden, zog der Mann einen Schlüssel, öffnete die Tür und ließ Lene mitsamt Reisetasche in die kalte Herbstluft frei.

Rau, schroff und herausfordernd war ihr erster Schritt in die alte Heimat. Sie musste die Augen zusammenkneifen, indes sie die zerschlissene gelbe Regenjacke aus der Tasche zog. Der Friesennerz hatte einmal ihrer Mutter gehört. Lene hatte bei ihrem Auszug das Erstbeste gegriffen, was ihr in die Finger gekommen war, und es als Schicksal angesehen, dass es gerade Mutters Lieblingsstück gewesen war, das sie mit nach Düsseldorf entführt hatte. Nun war es wieder hier. Genau wie sie.

Das Pfeifen des Zugs drang für einen Moment durch die Geräuschkulisse aus zornigem Rauschen. Mit einem Mal war die miefige Hitze des Abteils einer feuchten Kälte gewichen. Ja, sie war wieder zu Hause.

Sie zog die Jacke zu, atmete einmal durch und erkannte durch die Schleier aus Regen und dunklen Wolken ihre Insel. Sekunden später setzte sich der Intercity in Bewegung. Zurück aufs sichere Festland.

»Dem haben S’ aber zeigt, was a Harke is.«

Erst meinte Lene, das Flüstern des Windes würde ihr einen Streich spielen. Dann drehte sie sich um und tatsächlich erkannte sie einen klein gewachsenen Mann mit Strickpulli, Vollbart und Nickelbrille, der schlotternd die Hände in die Hosentaschen presste.

»Wie bitte?«

»Dem Bahndeppen, dem Batzi«, sagte er mit lauter Stimme und hörbarem bayrischen Dialekt, während er ängstlich die abfahrende Bahn neben ihnen beobachtete. Anhand der vollgestopften Taschen und der Fotoausrüstung war es nicht schwer zu erraten, womit er sein Geld verdiente. »Was haben S’ dem denn g’sagt?«

»Ich bin Polizistin.« Lene sah sich um. Der Sturm nahm zu und bald würde selbst sie mit ihren geübten Augen und den schweren, wasserfesten Stiefeln nur ungern auf den rutschigen Gräsern des Bahndamms stehen und Kaffeekränzchen halten. Ganz zu schweigen von dem Reporter mit seinen drei Taschen und den Sommersneakern. »Morgen beginnt mein Dienst auf der Insel und Sie sollten nicht hier sein.«

»Hab mich mit rausg’schlichen«, rief er dem lauter werdenden Wind entgegen.

»Das habe ich mir gedacht.« Sie fasste ihre Tasche und drehte sich zur Insel. »Wir sollten hier verschwinden. Es ist nicht mehr sicher und, bei Gott, ziehen Sie sich endlich Ihre Jacke an!«

»Ja mei, wissen S’ …«, druckste der Mann und begann schwer ächzend die vielen Taschen zu schultern, »… ich hab dacht, die Nordsee is schee im Frühherbst.«

»Ist sie auch.« Lenes Stimme wurde leise, beinahe zu einem Wispern. »Schön … und gefährlich.«

Sekunden vergingen, in denen einzig die Brandung ihr einsames Lied mit kraftvoller Vehemenz an ihre Ohren warf.

Dieser Bayer würde sich noch den Tod holen.

Schließlich stöhnte Lene genervt auf, ließ ihre Tasche sinken und kramte aus dieser ihre Dienstjacke hervor. Dankbar nahm der Mann sie entgegen, sogar ein wenig Stolz schwang in seiner Stimme mit.

»Jetzt bin i a richtiger Polizist.« Er grinste breit, bis er sich der nicht ungefährlichen Situation bewusst wurde. »Bin übrigens der Michi. Michi Müller vom Merkur aus München.«

»Lene.« Wie er seine Ausrüstung zu schleppen versuchte, konnte man nicht mit ansehen. Schnell schulterte sie eine seiner Taschen und vollführte einen Schritt auf dem feuchten Grün. »Was hast du mit dem ganzen Kram vor? Ein Fotostudio eröffnen?«

»Mein Chef will a Story, und zwar a richtig große. Da darf i kein Batzn machen, sonst bin i den Job los. Ja mei, München is teuer. Alle Großstädt sind kaum zu bezahlen, weißt?«

»Nur zu gut.«

Gischt spritzte auf ihre Kleidung, wild zogen die Böen an ihren Haaren und die Wolken schienen der Sonne keine Chance geben zu wollen, ihren Weg ein wenig zu erhellen. Ein gewaltiger Donnerschlag stimmte in die wilde Symphonie der Brandung mit ein und ließ den Mann zusammenzucken.

Sie straffte ihr Kreuz. »Wir sollten nun wirklich gehen.«

»Ganz deiner Meinung, Frau Kommissarin.«

»Oberkommissarin.«

»Wie bitte?« Der Reporter musste brüllen, um gegen den Wind anzukommen.

»Ach, nichts.« Lene schritt voran und achtete genau darauf, dass Michi mit seinen ganzen Taschen nicht den Halt verlor und in die düsteren Wogen stürzte. Sosehr sie das Meer mochte, es blieb eine gefährliche Geliebte. Wunderschön und atemberaubend im Sonnenuntergang, wütend und schnaubend bei Sturm. Doch so zornig, so rasend hatte Lene die Nordsee selten erlebt.

»Bist öfters hier?« Michi stöhnte vor Anstrengung. Seine Haare waren nass, er atmete mit offenem Mund. »Hier auf der Insel?«

»Nein.« Obwohl sie es nicht wollte, erstarben ihre Bewegungen für einen Moment. Lene wusste nicht, ob es Freude oder Furcht war, die ihren Körper erfüllte.

»Ich war lange weg. Aber das wird sich jetzt ändern.«

Kapitel 2 –
Immer im Dienst

Irgendwann gab es einen Punkt, an dem konnte man nicht mehr nasser werden.

Obwohl physikalisch unmöglich, wurde Lene trotzdem das Gefühl nicht los, dass sie diesen irgendwie überwunden haben musste. Zumindest fühlte es sich so an, als sie komplett durchnässt und erschöpft die Polizeiwache in Westerland betrat. Wie oft war sie als kleines Mädchen an dem roten Backsteingebäude mit dem Fahrrad vorbeigefahren? Oder ein paar Jahre später mit ihrem Mofa, bis dieser überkorrekte Polizeianwärter Helge Mathissen auf die Idee gekommen war, sich auf ihre Kosten zu profilieren, und ihre fahrbaren Untersätze allesamt konfisziert hatte? Dabei waren sie nur ein bisschen frisiert gewesen, kaum der Rede wert.

»Was für a Sauwetter«, schimpfte Michi, putzte seine Brille und lächelte dankbar. »Endlich simmer da.«

Auf dem Weg über die Bahnschienen hatte sie mehr als einmal seine Arme packen müssen, um ein unfreiwilliges Ende seiner Recherchen zu verhindern. Nicht auf einem einzigen Stein hatte er gerade stehen können und war Dutzende Male ausgerutscht. Da Lene auf ein Bad in ihrer geliebten Nordsee bei dem Wetter getrost verzichten konnte, hatte sie ihn einfach kurzerhand bei sich eingehakt, bis sie die Polizeiwache erreicht hatten. Dieser Mann stieß an alles, was ansatzweise im Weg stand.

»Ja, sind wir«, keuchte sie atemlos. Während sie ihm seine Tasche in die Hände drückte, flogen Erinnerungsfetzen an ihrem geistigen Auge vorbei. Eigentlich sah alles so aus, wie sie es in ihrem Gedächtnis konserviert hatte. Nur sie … Sie hatte sich verändert.

Die wenigen Polizisten in der Wache schenkten ihr kaum Beachtung. Anscheinend war eine Menge los. Obwohl Kollegen vom Festland über die Sommermonate aushalfen, gab es trotzdem alle Hände voll zu tun. Vier Menschen warteten vor ihr, an erster Stelle ein groß gewachsener Mann im schicken Wintermantel, der sichtlich ungehalten über den nicht besetzten Empfang seine Meinung kundtat.

»Vielen Dank noch mal, Lene.« Michi hatte offenbar zu Atem gefunden. »Und vergelt’s Gott.«

»Dafür nicht.« Lene drehte sich zu ihm um. »Michi, hast du eigentlich ein Hotelzimmer?«

»Hab das letzte auf der Insel bekommen. A kloane Abstellkammer im Reethüüs in Kampen. Weißt, ’s is alles voll mit Archäologen und Reportern. Da is jedes Mausloch dicht.«

»Du Glücklicher«, hauchte sie gedankenverloren, nahm ihre klitschnasse Polizeijacke entgegen und hob zum Abschied die Hand.

Ihr graute es bei dem Gedanken daran, dass sie keine Menschenseele mehr auf der Insel kannte außer einem tollpatschigen Reporter aus München und ihrem Vater, mit dem sie zuletzt vor ein paar Monaten oberflächliche Floskeln am Telefon ausgetauscht hatte. Keine guten Aussichten für ein entspanntes Nachtlager und ein heißes Bad mit einem großen dampfenden Grog.

Vielleicht war eine der Gewahrsamszellen frei? Mit einer Handvoll Decken könnte sie sich bestimmt ein annehmbares Bett zaubern, und wenn man den Uringeruch ausblendete …

Gott, wie verzweifelt war sie?

»Entschuldigen Sie …« Lene drängte sich neben den Mann mit dem feinen Mantel, ignorierte die abfälligen Bemerkungen und lehnte sich auf das Holz des Tresens. Dabei quietschte der Linoleumboden unter ihren nassen Stiefeln. »… könnte ich mit dem Dienststellenleiter sprechen?«

»Wo haben Sie denn Ihre Kinderstube gelassen?« Der große Mann blickte empört auf sie herab. »Es handelt sich hier um einen Notfall. Ihnen ist nicht mehr zu helfen.« Trotz des wütenden Ausdrucks in seinem Gesicht lag keine Aggression in den wasserblauen Augen, eher Sorge, etwas Wichtiges verlieren zu können.

»Ich bin mir sicher, dass ich Ihnen helfen kann, wenn Sie mich vorlassen.« Schnell zückte sie ihren Ausweis. »Lene Cornelsen. Morgen soll ich meinen Dienst beginnen.«

Plötzlich wandelte sich der Ausdruck des Mannes. Innerhalb von Herzschlägen wurde er aschfahl, als hätte er einen Geist gesehen.

»Lene Cornelsen?« Er sah ihr tief in die Augen, sodass sie das Gefühl hatte, er könnte ihr in die Seele blicken. »Lenchen!«

Er strich die brünetten Haare aus dem Gesicht. Irgendetwas kam ihr in diesem Moment seltsam vertraut vor, eine Erinnerung, der es einfach nicht gelang, die Grenze zum Hier und Jetzt zu überwinden. Langsam, ganz langsam fiel der Groschen und schlug mit ohrenbetäubendem Lärm auf.

»Leif?« Sie kniff die Augen zusammen. »Leif van Ohlsen?«

Das konnte nicht sein. Stand sie vor ihrer alten Jugendliebe? In die sie sich seit der dritten Klasse verguckt hatte? Dem Typ, in den sie das letzte halbe Jahr auf dem Gymnasium so heftig verschossen gewesen war, dass ihre Mutter sich genötigt gefühlt hatte, die beiden zum Gespräch über Verhütung zu zitieren? Dem Jungen, mit dem sie vom Abiball verschwunden war, um genau das zu tun, wovor ihre Eltern Angst gehabt hatten?

Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, und auch seine Augen strahlten, als hätte er den Grund seiner Anwesenheit für einen Moment vergessen.

»Leif, das ist ja Wahnsinn.« Eine recht peinliche Mischung aus Händeschütteln, Umarmung und Küsschen auf die Wange folgte. »Wie lange ist es her?«

»Nun ja, du konntest nach dem Abi gar nicht schnell genug die Insel verlassen, also …« Er hob die Augenbrauen und grinste dabei. »… gerade einmal läppische 13 Jahre. Du hast nicht einmal richtig Schluss gemacht, nur ’ne kurze SMS geschrieben, dass du weg musst.« Er zog hörbar Luft ein. »Insofern sind wir streng genommen noch zusammen.«

Diese kleine, aber wohlplatzierte Spitze war ihr nicht entgangen. Das hatte sie mehr als verdient. Nach diesem riesigen Streit mit ihren Eltern hatte sie einfach nur weggewollt, hatte ein paar Sachen gepackt und den nächsten Zug in Richtung Festland genommen. Dass sie damit ihre Familie und ihre Freunde vor den Kopf stieß, hatte die jüngere Lene, die Abenteuer erleben und etwas von der Welt sehen wollte, nicht gekümmert. Wenn sie ehrlich mit sich war, war sie damals eine ziemlich egoistische Kuh gewesen.

»Ja, nicht mein heldenhaftester Augenblick.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah für einen Herzschlag betreten auf den matschig-nassen Boden. »Dass wir noch zusammen sind, würde meinem Mann gar nicht gefallen.«

»Du bist verheiratet?« Klang da eine Spur Enttäuschung mit? »Seit wann?«

»Ich meine, meinem Ex-Mann.« Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. »Das Scheidungsjahr läuft gerade. Und du? Wie ist es dir ergangen?«

Leif legte einen Finger an die Wange und nahm sich Zeit zum Nachdenken. Das hatte sie immer an ihm gemocht. Er plapperte nicht einfach drauflos, jeder Satz war überlegt und er sprach die Worte fein und akzentuiert aus. Sie hatte sich damals vorgestellt, dass Grafen oder Könige so klingen würden. Kein Wunder, die Familie van Ohlsen hatte in der Historie unzählige Male den Bürgermeister von Sylt gestellt. Politiker, Händler und Künstler waren in ihrer Dynastie vertreten, während ihre Ahnen allesamt mit Fischerei ihren Lebensunterhalt verdient hatten.

»Ganz gut«, entgegnete er schließlich und blickte über den nach wie vor unbesetzten Empfangstresen. Seine Stimme wurde provokativ laut. »Zumindest, wenn man meine Vermisstenanzeige endlich ernst nehmen würde.«

Seine Züge wurden sorgenvoll und auch Lene bemerkte, wie ihr Lächeln gefror und schließlich ganz aus ihrem Gesicht wich. »Oh Gott, das tut mir leid. Wen vermisst du?«

»Ihr Name ist Wibke Röhrnes. Du dürftest sie nicht kennen, sie ist vor ein paar Jahren auf die Insel gezogen, um mich in meiner Position als Kurator des Sylter Museums zu unterstützen.«

»Okay«, sagte Lene lang gezogen. Obwohl sie es nicht wollte, fiel es ihr beinahe schwer, die Frage zu stellen. »Ihr beide seid ein Paar und sie kommt nicht mehr nach Hause?«

»Oh nein«, antwortete Leif sofort und musste offenbar ein Kichern unterdrücken. »Sie ist eine ältere Dame mit weitreichenden Fachkenntnissen. Nur leider erscheint sie seit Tagen nicht mehr bei der Arbeit und das ist sehr untypisch für sie. Außerdem bewohnt sie ein kleines Apartment, einen Steinwurf vom Deich entfernt, über den sie für ihr Leben gern schlendert.« Er hatte die Stimme gesenkt und nach einem Nicken in Richtung des Fensters war klar, was er andeuten wollte. Draußen tobte der Sturm, als würde er die Häuser niederreißen wollen. »Sie ist zwar sehr agil, aber man weiß ja nie.«

»Und hier hilft dir keiner?«

»Oh doch!« Die hohe Stimme ließ sowohl Lene als auch Leif zusammenzucken. Einem Geist gleich stand plötzlich ein Polizist auf der anderen Seite der Theke und musterte sie aus prüfenden kleinen Augen. Der rotblonde Scheitel lag wie angeklebt auf der Kopfhaut und die hohen Wangenknochen wirkten unnatürlich spitz. »Leider sind wir ein wenig unterbesetzt, haben jedoch trotzdem alles in die Wege geleitet, um Frau Röhrnes zu finden.«

Mit den Bewegungen eines bleichen Roboters drehte er seinen Kopf abwechselnd zu Lene und Leif, um sich ihrer Aufmerksamkeit gewiss zu sein. »Des Weiteren halten sich aufgrund der aktuellen Umstände 32 Prozent mehr Menschen auf der Insel auf als zu einem vergleichbaren Zeitpunkt im letzten Jahr.«

»Sie haben also nach ihr gesucht?«, wollte Leif mit fester Stimme wissen, ohne sich im Geringsten von ihm einschüchtern zu lassen. »Gründlich?«

»Mehr als gründlich. Wir waren bei ihr zu Hause, im Altfriesischen Haus, im Sylter Museum in Keitum, in allen Cafés und Hotels. Frau Wibke Röhrnes befindet sich definitiv nicht auf dieser Insel. Punkt.« Seine Aussage ließ keinen Interpretationsspielraum zu. »Herr van Ohlsen, Ihre Mitarbeiterin wird sich wohl unerlaubt aufs Festland entfernt haben. Ich empfehle eine sofortige Kündigung.«

Lene verzog das Gesicht und murmelte: »Wow, das Taktgefühl einer Dampframme.«

»Wie bitte?« Der helle Tonfall des Polizisten durchschnitt mühelos das Stimmengewirr.

Aus einem Impuls heraus wollte Lene schnippisch antworten, ihn mit einem kaltherzigen Androiden vergleichen oder fragen, ob dieses diktatorische Abbild von Amazons Alexa nicht einfach die Klappe halten konnte. Dann fiel ihr ein, dass dieser Typ mit den drei silbernen Sternen auf den Schulterklappen aller Wahrscheinlichkeit nach ihr neuer Vorgesetzter war und sie es sich nicht am ersten Tag – einen Tag vor ihrem ersten Tag – mit ihm verscherzen sollte.

»Haben Sie es bei Verwandten versucht?«, wollte Lene stattdessen wissen, und ihr gelang es sogar, sich ein hauchdünnes Lächeln abzuringen.

»Natürlich haben wir …« Sein Satz brach abrupt ab, eine Sekunde war nur das Tosen des Regens gegen den Backstein zu hören. »Warten Sie, ich kenne Sie irgendwoher. Diese abwertende Art, Selbstüberschätzung, die an Arroganz grenzt, und dieser fast beleidigende Hochmut.« Ohne sie aus den Augen zu lassen, schritt er zum Schreibtisch, nahm eine Akte und schlug sie auf. Das süffisante Grinsen auf seinem Gesicht sprach Bände. »Aufgrund des fehlenden Rings an ihrer Hand und der Bitte nach Versetzung zurück nach Sylt nehme ich an, dass ich es mit Oberkommissarin Cornelsen zu tun habe. Gehe ich recht in der Annahme?« Er klappte die Akte zu und verschränkte triumphierend die Hände hinter dem Rücken. »Wenn Sie beide zusammen hier auftauchen, gibt es Probleme. Das war schon vor etlichen Jahren so. Ist Ihnen bewusst, dass Ihre Kleinkrafträder immer noch in der Asservatenkammer auf Sie warten? Ich muss nicht betonen, auf welchen horrenden Betrag sich die Gebühr mittlerweile summiert …«

Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinem Monolog.

Erneut schienen Lenes Erinnerungen aus dem Schatten des Unterbewusstseins kriechen zu wollen. Sie kannte diesen bornierten Idioten.

Als er das Gespräch entgegennahm, fühlte sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Das konnte nicht sein. Er war immer noch hier? Genau an diesem Tresen hatte sie gestanden und war von ihm, Helge Mathissen, zusammengefaltet worden, bis ihre Eltern sie endlich abgeholt hatten.

Und das alles nur wegen zwei zu schneller Mopeds.

Nachdem er aufgelegt hatte, platzte es aus ihr heraus. »Hören Sie, Herr Hauptkommissar.« Wieso war ihre Stimme so brüchig? Himmel, sie war eine gestandene Frau und dieser Roboter sollte eigentlich keine Angst mehr in ihr auslösen. »Ich finde, wir hatten einen schlechten Start. Wenn Sie …«

»Sind Sie bereit für Ihren ersten Einsatz?«, unterbrach er vollmundig und so laut, dass es jedem an die Ohren drang. »Reporter im Morsum-Kliff haben angeblich etwas im Meer gesichtet. Wahrscheinlich ein Stück Holz oder Treibgut, aber es schwimmt in der Nähe dieses Schiffes.« Er spuckte die Worte aus, als wären sie Gift. Offenbar war ihm jede Unterbrechung der alltäglichen Ordnung ein Gräuel. »Da ich niemanden meiner Leute entbehren kann, klären Sie die Sachlage und halten die Reporter von Schiff und Treibgut fern.«

»Ich bin noch nicht im Dienst.« Verwundert sah Lene an sich herab. Ihre Kleidung tropfte, sie war nass bis auf die Unterwäsche und langsam meldete sich auch ihr Magen.

Mathissen ignorierte ihren Einwand und wuchtete eine gereinigte, in Folie geschützte Polizeiuniform auf die Empfangstheke. »Des Weiteren würden wir es begrüßen, wenn Sie Ihren Dienst in Uniform antreten würden.« Er zupfte ein paar Flusen vom Zellophan. »Mir ist durchaus bewusst, dass Sie als Kriminalkommissarin eigentlich Privatkleidung tragen, aber in dieser außergewöhnlichen Situation sollten wir das Sicherheitsgefühl der Menschen mit Präsenz und Sichtbarkeit stärken.«

»Ich … bin nicht … im Dienst«, wiederholte sie lang gezogen.

»Das ist sehr schade.« Obwohl er kein Blatt in den Händen hielt, ließ er laut die Mine eines Kugelschreibers herausfahren. »Ihre nicht vorhandene Einsatzbereitschaft werde ich selbstverständlich niederschreiben müssen. Mit ein wenig Glück nehmen die Kollegen in Düsseldorf Sie ja zurück.«

Die Zeit zwischen den Sekunden dehnte sich schmerzhaft aus. Dieser Cyborg, der es irgendwie in die Uniform eines deutschen Polizisten geschafft hatte, vereinte tatsächlich eine ganze Menge diabolischer Eigenschaften in sich. Noch einige Atemzüge brauchte Lene, bis seine Worte die volle Wirkung entfaltet hatten. Schließlich zog sie Mutters Friesennerz aus, die Polizeijacke über und ergriff die Uniform. »Natürlich. Ich kümmere mich drum.«

Sie war schon auf halbem Weg aus der Wache, da rief er ihr nach: »Und, Frau Oberkommissarin, leider sind alle Dienstwagen im Einsatz. Aber das Morsum-Kliff ist ja nicht weit von hier. Der Weg dürfte Ihnen bekannt sein. Immerhin sind Sie damals ja mit ihren frisierten Ungetümen die Straßen rauf und …«

Die zugeworfene Tür schnitt seinen Satz ab. Lene schloss die Augen, ließ sich jedoch nicht anmerken, dass sie ihren Vorgesetzten am liebsten in seinen Allerwertesten getreten hätte. »Kein Problem, Chef«, flötete sie, verließ das Gebäude und wurde von markerschütternden Donnerschlägen begrüßt. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, sich unterzustellen, blies eine nasse Strähne aus ihrem Gesicht und biss sich auf die Lippen.

»Willkommen zu Hause.«

»Lenchen, warte!«

Auf ihren Ritter in strahlender Rüstung war Verlass. Nun ja, vielleicht war er kein Ritter, aber zumindest ein Kurator im sündhaft teuren Mantel, und selbst das war mehr, als sie von so einem Abend erwarten konnte. Früher hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, ihre Schultasche zu tragen. Ein wahrer Gentleman eben.

Allein seine Aversion gegen Regen schien sich seither verstärkt zu haben. Als wären die Tropfen nicht aus Wasser, sondern Napalm, runzelte Leif missmutig die Stirn und schlug den Kragen des feinen Stoffs um. »Bist du nicht mit dem Auto hier?«

»Ähm, weißt du …«

»Sag bloß, du hast immer noch keinen Führerschein?« Lachte er etwa gerade?

Niemand hatte damals verstehen können, warum sie sich dieses Stück Freiheit nicht hatte gönnen wollen. Dabei fuhr sie bis heute einfach lieber Fahrrad als einen PS-Boliden. »Doch, schon, aber seit der Prüfung bin ich nicht mehr viel gefahren.« Beinahe peinlich berührt zuckte sie mit den Schultern. »Im Dienst klemmte sich meist ein Kollege hinters Steuer und das Straßenbahnnetz in Düsseldorf ist gut ausgebaut. Außerdem fahre ich gerne Fahrrad.«

»Ja, das sieht man.« Anerkennend sah er an ihr herab.

Was für ein nettes Kompliment. Wäre sie nicht durchnässt, übermüdet, ein wenig wütend und gehörig unterzuckert gewesen, hätte sie sich zu einem Lächeln hinreißen lassen. Verdammt, sie brauchte ein Bad oder einen Drink. Am besten beides.

»Schön, dass du immer noch dieselbe bist.« Er holte einen Schlüssel aus der Jackentasche und ließ ein schickes Audi-SUV aufblinken. »Komm, ich fahre dich. Ein wenig Gesellschaft tut mir vielleicht ganz gut, um auf andere Gedanken zu kommen.« Leif hielt kurz inne. Das Verschwinden seiner Mitarbeiterin musste ihn sehr mitgenommen haben. »Es ist schön, dass du da bist, Lene.«

Jetzt musste sie doch lächeln. Eigentlich war das hier ein offizieller Einsatz und er Zivilist. Aber bestimmt hatte das Auto eine Sitzheizung und, bei Gott, sie sehnte sich nach etwas Wärme an ihrem Körper. »Gut, aber nur kurz hin und dann fährst du nach Hause.«

»Keine Chance«, antwortete Leif und hielt ihr sogar die Tür auf. »Wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass wir Wibke Röhrnes finden, bin ich dabei. Sie ist die beste Mitarbeiterin, die ich jemals hatte. Außerdem ist ihr Sandkuchen unschlagbar.«

Schwungvoll nahm er auf dem Fahrersitz Platz und stellte sofort die Heizung auf die höchste Stufe. Eine Wohltat, die Luft streichelte ihre nasse Haut. Am liebsten wäre Lene ihm sofort um den Hals gefallen.

»Außerdem ist es schön, mit dir etwas Zeit zu verbringen.« Leif drückte ihr einen Schokoriegel und eine Flasche Wasser in die Hände. »Manche Dinge ändern sich halt nie.«

Er wusste einfach, wie man mit Frauen umging.

Während das Auto geschmeidig um die Kurve bog und die Scheibenwischer auf höchster Stufe versuchten, gegen die dicken Regentropfen zu bestehen, blickte sie gedankenverloren aus dem Fenster. Irgendetwas war anders seit ihrer letzten Nacht auf der Insel. Oftmals hatte sie das Meer zornig erlebt, gesehen, wie es seine Wellen brausend gegen die Deiche warf, um Sylt Land abzutrotzen. Ein ständig währender Krieg gegen die Gezeiten, bei dem manchmal das Wasser und manchmal der Mensch die Oberhand behielt. Doch in diesen Stunden schien sich alles gegen die Insel verschworen zu haben, als wäre sie ein Fremdkörper auf der Landkarte und gehöre von dieser getilgt. Der nächste Donnerhall krachte ohrenbetäubend. Ein weiterer Blitz folgte keinen Wimpernschlag danach und Lene drückte sich tiefer in das warme Leder des Beifahrersitzes.

»Ja«, flüsterte sie zu sich selbst. »Und manche Dinge schon.«

Das Wetter schien völlig durchzudrehen. Was war nur mit ihrer Insel los?