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Eva Reichl

Todesdorf

Thriller

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Zum Buch

Ein Dorf am Abgrund Oliver Heller liegt erschossen in seiner Scheune, neben ihm ein Jagdgewehr. Die Polizei geht von Selbstmord aus, doch seine Frau Diana glaubt nicht daran. Sie fängt an, in der Vergangenheit ihres Ehemannes nach Antworten zu suchen, und stößt dabei auf viele Ungereimtheiten und noch mehr Geheimnisse. Ihre Recherchen erschüttern auch das Fundament ihrer eigenen Familie, selbst ihrem Vater und Bruder vertraut sie nicht mehr. Durch den Tod ihres Mannes und Dianas Nachforschungen gerät das ganze Dorf in Aufregung. Schließlich wird sie selbst von den Dorfbewohnern und der Polizei verdächtigt, etwas mit Olivers Tod zu tun zu haben. Nur Johannes, der Sohn der Nachbarn und ihr Freund aus Kindheitstagen, steht noch zu ihr, als die Dörfler ausrücken, um das von ihnen gefällte Urteil zu vollstrecken.

Eva Reichl wurde in Kirchdorf an der Krems in Oberösterreich geboren und zog bereits als Kleinkind mit ihrer Familie ins Mühlviertel, wo sie bis heute lebt. Neben ihrer Arbeit als Controllerin schreibt sie überwiegend Kriminalromane und Kindergeschichten. Mit ihrer Mühlviertler-Krimiserie rund um Chefinspektor Oskar Stern verwandelt sie ihre Heimat, das wunderschöne Mühlviertel, in einen Tatort getreu dem Motto: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Böse liegt so nah. »Todesdorf« ist ihr erster Thriller.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © boing / Photocase

ISBN 978-3-8392-7220-6

Zitat

Wenn nichts mehr so ist, wie es war,
bekommt Neues eine Chance.

 

1. Kapitel

Ich starrte in das Dunkel des Schlundes. Dort liegst du nun, dachte ich und fühlte nichts. Meine Hände waren taub, meine Knie drohten einzuknicken, mein Herz war mit dir gestorben. Obwohl ich an deinem Grab stand, in das sie dich eben hinabgelassen hatten, existierte auch ich nicht mehr.

Der Lehm vermischte sich mit dem Himmelsnass. Es regnete schon seit Tagen – dem Anlass entsprechend, wie ich fand. Jemand hielt mir einen Schirm über den Kopf, dennoch erreichten meine Haut einzelne Regentropfen. Sie fühlten sich wie Geschosse der Wirklichkeit an. Ich wünschte, es wären tödliche Kugeln, die mich diesem unsäglichen Leid entrissen. Doch ich stand immer noch da.

Zwei Wochen war es nun her, seit du gestorben warst. Ich hatte dich nicht gleich beerdigen können, weil die Gerichtsmedizin deinen Leichnam nicht freigegeben hatte.

Die Musik begann zu spielen und ich schreckte hoch.

Mein Vater hielt es für ein Zittern und legte den Arm um mich, unbeholfen wie eh und je. Ich wollte diese Berührung nicht, fühlte mich dadurch wie ein Stück Treibholz, das durch den Rechen des Kraftwerkes gehindert wurde, seinen vorbestimmten Weg weiterzuschwimmen. Auf den Wellen zu schaukeln wie ein Boot aus Papier, das ein Kind gebastelt und losgeschickt hatte, um die Welt zu erkunden, das aber bereits nach wenigen Metern sank. Ich wagte nicht, mich vom Arm meines Vaters zu befreien und einen Schritt zur Seite zu treten, denn dort stand meine Mutter. In Schwarz gekleidet und leise schluchzend. Sie schien nicht gefühllos zu sein wie ich. Ihr Herz funktionierte noch. Sie weinte um dich, wie ich es in den letzten beiden Wochen getan hatte. Jetzt hatte ich keine Tränen mehr.

Unzählige Augenpaare waren auf uns gerichtet. Auf mich. Dich in dem hölzernen Sarg. Deine Mutter. Meine Familie. Ich versuchte, die Menschen zu zählen, die gekommen waren, weil sie sehen wollten, wie du in die Erde hinabgelassen wurdest, um dort zu verrotten. Es gelang mir nicht, es waren zu viele. Du musstest sehr beliebt gewesen sein, schoss es mir durch den Kopf.

Oder waren diese Menschen hier, um sich an meinem Leid zu ergötzen? Um nicht zu verpassen, wie sie zusammenbrach, die arme Diana, die nicht an den Selbstmord ihres Ehemannes glauben wollte?

Du hättest dich erschossen, hatten sie mir gesagt. Und behaupteten es immer noch. Ich konnte das tatsächlich nicht akzeptieren.

Wir waren glücklich gewesen. Vier Jahren lang. Da hätte ich doch bemerken müssen, wenn du kurz vor dem Abgrund gestanden wärst. Wenn du deinem Leben ein Ende hättest setzen wollen.

Aber da war nichts gewesen, kein Anzeichen.

Nichts.

Deine Lebensfreude war erst mit deinem letzten Atemzug aus dir gewichen. Nicht freiwillig, das war mir klar. Irgendjemand hatte sie dir brutal aus dem Leib gerissen, nur das ergab für mich überhaupt einen Sinn. Alles andere ließe mich wahnsinnig werden …

Die Musik endete, und der Pfarrer sprach ein paar tröstliche Worte. Von einem Wiedersehen und einem Leben im Himmel war die Rede. Dass du dort auf uns warten würdest, bis unser Tag käme. Dass Gott auf uns achtgebe und uns beistehe in dieser schweren Zeit. Dass wir nicht allein seien.

Ich war allein.

Seit dem Tag, an dem du mich verlassen hattest, war ich nur mehr ein Schatten meiner selbst, vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln, die mir der Arzt verschrieben hatte, nachdem ich dich gefunden hatte und neben dir zusammengebrochen war.

Ich hatte den Knall gehört. Laut war er gewesen, alarmierend, obwohl es hin und wieder vorkam, dass ein Schuss die Stille des Dorfes zerriss, weil ein Jäger im nahegelegenen Wald auf Wild feuerte.

Dieses Mal war es anders gewesen.

Die Dunkelheit der Nacht hatte den Schuss lauter wirken lassen, er hatte die ländliche Idylle regelrecht zerfetzt.

Ich war nach draußen gelaufen, hatte mich umgesehen und versucht, die Ursache für mein Herzrasen zu erspähen. Ich war zur Scheune geeilt, obwohl ich nicht gewusst hatte, weshalb, wahrscheinlich war ich meinem Instinkt gefolgt. Dort hattest du auf dem Rücken gelegen, die Augen auf die Holzbretter über dir gerichtet. Bestimmt hättest du gerne die Sterne betrachtet, wärst mit ihnen in die Weite des Weltalls geflogen, doch die hölzerne Decke der Scheune hatte deinen Blick nicht bis zum Firmament schweifen lassen. Aus deinem Hals und deinem Kinn war Blut geflossen, war gesprudelt wie Wasser aus einer frisch geschlagenen Quelle. Als ich meine Hand daraufgedrückt hatte, war es zwischen meinen Fingern pulsierend hindurchgequollen. Einmal, zweimal, immer wieder im Takt deines Lebensrhythmus. Ich hatte nicht mitgezählt, hatte verzweifelt versucht, deinen letzten Blick einzufangen.

Dein Herz hatte aufgehört zu schlagen und ich angefangen zu schreien. Erst waren es Hilferufe gewesen, dann hysterische Laute. Ich hatte gewusst, dass ich einen Arzt holen musste, da ich nicht in der Lage gewesen war, dir zu helfen. Also war ich aufgesprungen und ins Haus gelaufen. Dort hatte ich nach meinem Handy gesucht. Hatte um Hilfe gerufen. Hatte mein Handy auf der Kommode entdeckt und es mitgenommen. War damit hinausgerannt in die Scheune und hatte es mir im Laufen ans Ohr gehalten, während die Verbindung zum Notruf hergestellt worden war. Beinahe wäre ich gestolpert. Hatte deinen Tod in den Lautsprecher geschrien, die Scheune erreicht und meinen Vater gesehen, wie er dich angestarrt hatte.

Neben dir war ich auf die Knie gesunken, das Smartphone war auf den Betonboden der Scheune geknallt. Dein Blut hatte, während ich weg gewesen war, unter deinem Körper eine Lache gebildet. Dieser Anblick hatte mir das Entsetzen in jede Faser meines Körpers getrieben. In meinem Gehirn hatten Befürchtungen und Hoffnung einen Kampf ausgefochten, der längst verloren gewesen war.

Ich hatte geschrien. Mein Gott, noch nie in meinem Leben hatte ich so geschrien und mich dabei gefühlt, als hätte mich der Schuss mitten ins Herz getroffen und es in Stücke gerissen. Ich hatte deinen Tod körperlich gespürt und war selbst am Leben geblieben, um jede einzelne Sekunde dieses Schmerzes zu durchleben.

Ich stand neben deinem Grab und schüttelte Hände, deren Besitzer irgendwelche Worte murmelten, die ich nicht verstand, obwohl ich sie hörte. Hätte ich sie bewusst wahrgenommen, wären sie ein weiterer untrüglicher Beweis dafür gewesen, dass du tot warst. Also weigerte ich mich, sie an mich heranzulassen. Ihre Reise endete in meinem Innenohr.

Der Friedhof leerte sich.

Ich rührte mich immer noch nicht. Wenn ich mich jetzt abwandte, verlöre ich den Kontakt zu dir, entfernte mich von dir, das wollte ich nicht. Also blieb ich.

In meinem Kopf lief wieder dieses Lied der Rockgruppe Kiss. »I was made for lovin’ you …«, dröhnte es durch meine Gehirnwindungen, seit ich dich in der Scheune gefunden hatte, als wolltest du mir damit etwas sagen. Als wäre das deine Art, nicht loszulassen.

»Diana, kommst du?«

Die Stimme meiner Mutter durchdrang meine innere Kapsel, in die ich mich zurückgezogen hatte, und das Lied verstummte. Ohne zu antworten, folgte ich ihr in das Gasthaus, wo der Leichenschmaus stattfand. Menschen, die aßen und sich mit gedämpften Stimmen unterhielten. Menschen, die geschockt waren, dass du freiwillig aus dem Leben geschieden warst. Menschen, die Mitleid mit mir hatten und nicht wussten, wie sie mit mir umgehen sollten. Was sie zu mir sagen sollten, weil jedes Wort, das sie aussprachen, an mir abprallte und ich bloß nickte, um Dankbarkeit dafür auszudrücken, dass sie gekommen waren.

Ich stocherte in dem Rindfleisch und schob den Semmelkren von einem Tellerrand zum anderen. Dabei hinterließen die Speisen auf dem weißen Porzellan ein vergängliches Kunstwerk meiner Trauer.

Mein Bruder saß neben mir, er hatte während deiner Beerdigung kein einziges Wort gesprochen. Alexander war zwei Jahre jünger als ich, seine Augen starrten auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand, als stünden dort die Antworten auf all seine Fragen.

Ihr hattet euch nicht besonders gemocht, da war diese Rivalität zwischen euch gewesen, von der ich bis heute nicht wusste, wie sie entstanden war. Weshalb sie überhaupt existiert hatte. Aber ich hatte sie gespürt – lauernd, oftmals feindselig, manches Mal nur still und mit Blicken ausgedrückt. Wenn ich nach dem Grund gefragt hatte, war Schweigen die Antwort gewesen. So wie jetzt. In diesem Gasthaus.

Alexander stierte weiterhin stumm auf die Wand.

Da ich die Erstgeborene war, stand mir der Bauernhof als Erbe zu. Obwohl ich eine Frau war. Die Zeiten, in denen der Familienbesitz nur an männliche Nachfolger übergeben worden war, waren zum Glück vorbei. Zugegeben, ich hatte mich ordentlich abrackern müssen, bis Vater damit einverstanden gewesen war, mir den Hof zu vermachen. Hatte doppelt so hart gearbeitet wie Alexander. Doppelt so lange und vielleicht mit doppelt so viel Liebe zu Land und Tieren. Möglicherweise war mein Erfolg zum Teil dem geschuldet, dass Alexander kein Interesse an der Landwirtschaft gezeigt hatte. Viel lieber hatte er für uns gekocht, während wir bei brütender Hitze die Ernte eingeholt hatten. Hatte im Haus die Wände gestrichen, während Vater und ich im verschneiten Wald Bäume gefällt hatten. Konnte sein, dass Mutter ebenso dazu beigetragen hatte, Vaters Meinung zu ändern, denn sie selbst hatte einst den Hof von ihren Eltern übernommen. Allerdings nur, weil ihr Bruder früh an Leukämie gestorben war. Hätte er noch gelebt, sähe heute alles anders aus. Traditionen ließen sich nicht einfach mit einem Fingerschnippen ausrotten, das bedurfte Jahre. Generationen. Oder Kriege.

Die Hofübergabe sollte stattfinden, wenn Vater in den Ruhestand ging – wann immer das sein mochte. So lange war er der Chef im Haus und sagte, was getan wurde. Mit einer Strenge, die ich seit meiner Kindheit sowohl körperlich als auch seelisch gespürt hatte. Für dich aber war sie neu gewesen. Du wärst beinahe daran zerbrochen. Nur die Aussicht, dass das einmal ein Ende haben würde, hatte dich weiter an deinem Traum festhalten lassen.

Ich wusste nicht, warum mir das gerade jetzt einfiel, wo Alexander schweigend neben mir saß und noch kein einziges Wort des Bedauerns über deinen Tod geäußert hatte.

Du hattest einen modernen Bauernhof gewollt mit genügend Platz für die Tiere, die Kälber, Jungstiere und Milchkühe. Artgerechte Tierhaltung über das Gesetz hinaus war plötzlich nicht mehr nur eine Überschrift in einer Landwirtschaftszeitung gewesen, sondern hätte Einzug in die Gemäuer unseres 300 Jahre alten Bauernhofes gehalten. Das sei Verschwendung von Grund und Ressourcen, beides wertvoll und ohnehin viel zu wenig vorhanden, hatte Vater geschimpft. Alexander war seiner Meinung gewesen, obwohl zu jenem Zeitpunkt bereits festgestanden hatte, dass seine Stimme nicht zählte, da ich die Hoferbin war. Aber er hatte sich gefreut, dass Vater gegen deine Pläne gewesen war und den Neubau des Laufstalls auf irgendwann verschoben hatte. Dein Traum von tiergerechter Haltung von Rindern sowie Fleisch in Bioqualität und mit Gütesiegel war in die Zukunft verschoben worden. In unsere Zukunft.

Und dann solltest du dich umgebracht haben?

Dich selbst getötet haben mit dem Kopf voller Ideen?

Ich glaubte nicht daran.

Die Verwandten begannen, sich der Reihe nach zu verabschieden. Ich nickte wieder, weil es das Einzige war, das ich im Augenblick zustande brachte. Ich sehnte mich nach dem Moment, in dem ich aufstehen und die Gaststube verlassen konnte. Wollte nicht mehr auf deiner Beerdigung sein. Wollte zu Hause in meinem Bett liegen und darauf warten, dass ich starb, so wie du gestorben warst. Nur dass mich zum Zeitpunkt meines Todes niemand im Arm halten würde.

Ich hatte neben dir auf dem Betonboden gekniet und dich festgehalten in der Hoffnung, dass dein Herz wieder zu schlagen begänne. Hatte mir gewünscht, dass ich mich geirrt hatte und du jeden Moment deine Augen auf mich richten würdest mit der Liebe darin, die ich bis zu diesem Zeitpunkt immer in ihnen gesehen hatte. Ich hatte dich wie ein Kind im Rhythmus eines Schlafliedes gewiegt, das nur in meinem Kopf erklungen war, bis jemand versucht hatte, mich von dir wegzuzerren.

Daraufhin war die Melodie verstummt.

Doch ich war schon immer kräftig gewesen – das brachte die Arbeit auf einem Bauernhof mit sich – und hatte mich gewehrt. Gleichzeitig hatte ich durch das geöffnete Scheunentor ein blau zuckendes Licht in der Ferne bemerkt, welches die umliegenden Gebäude, Bäume und Sträucher in eine gespenstische Kulisse verwandelt hatte. Du warst der Hauptdarsteller dieser Tragödie gewesen, ich hatte die Nebenrolle übernommen. Sie alle waren gekommen, um das Schauspiel zu verfolgen, um uns zu begaffen. Der Applaus war jedoch ausgeblieben.

Plötzlich hatte ein Gewehr einen Meter neben dir auf dem kalten Betonboden gelegen. Mir war die Waffe zuvor nicht aufgefallen.

Warum war sie auf einmal da gewesen?

Wer hatte sie dort hingelegt?

Während diese Fragen mein Gehirn geflutet hatten, hatten mich tausende Hände gepackt und von dir weggezerrt. Dem hatte ich nichts mehr entgegenzusetzen gehabt, es waren zu viele gewesen. Der Notarzt hatte deine Vitalfunktionen kontrolliert, mit der Herzmassage begonnen und mir die Frage entgegengebrüllt, wie lange du schon keinen Puls mehr hattest. Ich hatte lediglich den Kopf geschüttelt, weil ich darauf keine Antwort gewusst hatte.

War seither eine Stunde vergangen?

Oder drei? Vier?

Eine Woche?

Ein ganzes Leben?

Ich hatte das Gefühl für Zeit verloren, wusste nicht einmal mehr, welchen Tag wir hatten, wie alt ich war …

»Sie hat einen Schock!«, hatte der Notarzt geschrien. Die fremden Hände waren plötzlich überall auf meinem Körper gewesen, hatten mich dazu gebracht, mich hinzulegen und liegen zu bleiben, wobei ich immer wieder zu dir hinübergespäht hatte, um bereit zu sein, wenn du dich aufsetzen würdest. Ich hatte für dich da sein wollen. Hatte dir helfen wollen, ein frisches Hemd anzuziehen, denn jenes, das du angehabt hattest, war blutdurchtränkt gewesen. Mutter wäre in Sorge verfallen, was die Leute sagen würden, wenn du damit herumgelaufen wärst.

Die Hände hatten mich emporgehoben und meinen Körper auf eine Trage gehievt. Mein Geist war bei dir geblieben. Ich hatte mir den Kopf verrenkt, um dich nicht aus den Augen zu verlieren, doch Sanitäter und Polizisten hatten immer wieder das unsichtbare Band zwischen uns durchtrennt, indem sie zwischen uns hindurchgelaufen waren und mir die Sicht auf dich genommen hatten.

Gestohlen hatten sie sie mir! Brutal und unwissend.

Ich hatte mich von dir entfernt und du von mir.

Ich hatte gespürt, wie du aus meinem Leben verschwunden warst, ebenso, wie mein Arm plötzlich kälter geworden war. Eine Nadel hatte darin gesteckt und eine klare Flüssigkeit war hineingeflossen, die mich der Wirklichkeit entrissen und in Watte gepackt hatte.

Mein Geist hatte von dir abgelassen und war zu mir zurückgekehrt.

Als ich klein gewesen war und mir die Knie blutig geschlagen hatte, weil ich im Hof beim Hinterherjagen eines Kätzchen über das unebene Pflaster gestolpert war, war Mutter herbeigeeilt und hatte mich in die Arme genommen. Da war sie diese Watte gewesen. Durch ihre Anwesenheit war mir die Welt ein bisschen weniger gefährlich erschienen, war weicher gewesen. Behaglicher und liebevoller. Das Kätzchen hatte sie mir auf den Schoß gesetzt und meine Wunde versorgt, hatte sie hinter einem Pflaster versteckt und mir anschließend ein Stück Schokolade in den Mund gesteckt. Die Welt war für mich wieder in Ordnung gewesen mit dem Kätzchen im Arm und der Schokolade im Mund.

Irgendetwas sagte mir, dass Schokolade dieses Mal nicht ausreichen würde, ganz egal, wie viel ich davon äße.

2. Kapitel

Der letzte Gast der Trauerfeier war gegangen, wir machten uns auf den Weg nach Hause. Der Gastwirt Michael Struglehner sagte, dass er uns die Rechnung für den Leichenschmaus zusenden wolle, und zum Abschied drückte er uns noch einmal sein tiefstes Mitgefühl aus.

Unser Hof im Mühlviertler Steinbloß-Stil lag auf einem sanften Hügel ein wenig außerhalb des Dorfes, mehrere Feldlängen entfernt von unseren nächsten Nachbarn, den Heuböcks. Die beiden Bauernhöfe waren eingebettet in die Schönheit des Mühlviertels: bewaldete Hügel, Wiesen, kleinformatige Felder, auf denen der Raps goldgelb im Rhythmus des Windes sanft hin- und herschwang.

Die Obstbäume neben unserer Zufahrt waren mit Millionen von weißen bis rosa Blüten übersät und zauberten helle Farbtupfen in das saftige Grün der sie umgebenden Wiesen. Tausende Bienen tummelten sich darauf. Das Surren ihrer Flügel war ein beruhigendes Geräusch. Solange es da war, würden wir im Herbst frisches Obst ernten. Doch seit Jahren wurde es von Frühling zu Frühling leiser.

Aus dem Fenster des Suzuki Vitara sah ich in Mutters Garten eine unglaubliche Farbenpracht. Die unterschiedlichsten Blumen streckten nun, da der Winter vorüber war, ihre Köpfe aus der Erde. Ihr Anblick war einerseits tröstlich, andererseits wünschte ich mir, ich könnte wie sie schon bald verwelken, um Neuem Platz zu machen.

Der Wagen hielt an, wir stiegen aus.

»Diana, Liebes, ich mach uns Tee«, sagte Mutter zu mir, als ich in der Bauernstube meiner Eltern stand und nicht wusste, was ich tun sollte. Wenn nichts mehr einen Sinn ergibt, ist der Verstand gelähmt und weigert sich, nach vorn zu schauen. So ging es mir in diesem Augenblick.

»Danke, Mama.« Meine Antwort war mehr ein Flüstern, und ich war mir sicher, Mutter hatte mich nicht gehört. Aber wie es ihre Art war, bereitete sie dennoch Tee zu, nur um etwas zu tun. Vielleicht, um sich abzulenken. Um mich abzulenken. Sie vertrat die Meinung, dass – wenn bloß genügend Zeit verstrich – alles wieder so sein würde wie früher. Der Satz »Die Zeit heilt alle Wunden« war ihr Leitspruch, ihr Mantra, das ihr half, einen Tiefschlag zu überstehen.

Und noch einen.

Und den nächsten.

Ich war nicht so leidensfähig wie sie. Im Gegensatz zu ihr hatte ich meinen Mann geliebt. Sie sprach nie darüber, trotzdem wusste ich, dass sie mit Vater nicht glücklich war. Oliver und ich hingegen waren es gewesen.

Ich setzte mich an den Tisch und wartete, bis sie die Tasse Tee vor mir abstellte. Gedankenverloren hob ich das Tee-Ei mit den Kräutern aus dem heißen Wasser und versenkte es wieder. Das tat ich mehrmals, ohne es selbst zu bemerken. Mutter sah mir dabei zu.

»Morgen fahre ich nach Freistadt einkaufen. Begleitest du mich?« Sie fragte mich das, als wären wir nicht gerade von deiner Beerdigung zurückgekehrt. Als wärst du immer noch da und kämst gleich zur Tür herein.

»Nein, Mama«, antwortete ich und ließ das Tee-Ei erneut in das mittlerweile leicht gefärbte Wasser gleiten. »Ich bleibe hier.«

»Es würde dir helfen …«

»Helfen würde mir, wenn ich endlich wüsste, warum Oliver tot ist«, schleuderte ich ihr diese Worte ins Gesicht wie ein Lama seine Spucke, was mir sofort leidtat. Ihre Absicht, mich auf andere Gedanken zu bringen, war durchaus gut, dennoch hatte ich mich zu dieser unwürdigen Erwiderung hinreißen lassen. Dafür hasste ich mich.

Sie sagte nichts, starrte auf das Holz des Tisches. Ihr Blick sprang über die Linien der Jahresringe.

»Es tut mir leid, Mama.«

Sie legte ihre Hände auf meine. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass sie alles täte, um mir meinen Schmerz zu nehmen.

»Was wirst du tun?«, fragte sie.

»Ich werde herausfinden, wer Oliver umgebracht hat. Und weshalb«, erwiderte ich und ballte die Hände zu Fäusten. Mutter nahm ihre weg, als ginge von mir plötzlich Gefahr aus. Eine Gefahr, in etwas hineingezogen zu werden, das zu einem bösen Ende führte.

»Ach, Kind, du verrennst dich da.«

»Nein, das tue ich nicht! Als ich Oliver gefunden habe, hat neben ihm kein Gewehr gelegen. Ich weiß es, weil ich es gesehen habe. Mit meinen eigenen Augen.«

»Und wenn du dich irrst?«

»Ich irre mich nicht.«

»Du hast miterlebt, wie Oliver gestorben ist, da hattest du keinen Sinn für deine Umgebung oder dafür, was um euch herum passiert ist. Bestimmt hast du das Gewehr zuerst einfach nicht bemerkt.«

»Nein, Mama«, beharrte ich, »so war es nicht. Jemand hat es neben Oliver platziert. Damit es so wirkt, als hätte er sich selbst erschossen.«

»Dein Vater sagt …«

»Es ist mir egal, was Papa sagt!«, ließ ich sie nicht ausreden. »Ich weiß, was ich gesehen habe. Dieses verdammte Gewehr hat nicht neben Oliver gelegen, als ich ins Haus gelaufen bin, um Hilfe zu holen. Erst als ich zurückgekommen bin, war es plötzlich da.«

»Ich wünschte, ich wäre hier gewesen und hätte dir in dieser schweren Stunde beistehen können. Dann hätte ich vielleicht mitgekriegt, was passiert ist.« Mutter war an jenem Tag bei ihrer Freundin Theresa gewesen und hatte ihr beim Umzug geholfen. Als alle Umzugskartons in der neuen Wohnung gestanden hatten, war es bereits spät gewesen. Und als Mutter schließlich auf unserem Hof eingetroffen war, war sie von den Einsatzkräften über deinen Tod informiert worden. Demnach würde sie mir bei der Aufklärung deines Todes nicht weiterhelfen können.

»Ist okay, Mama. Es würde mir schon reichen, wenn du mir einfach nur glauben würdest«, warf ich ihr vor.

»Ich glaube dir ja, Diana, aber …«

»Kein Aber!« Meine Stimme war schrill. »Es ist, wie ich es sage!« Unaufhörlich hob und senkte ich das Tee-Ei in das Wasser. Hin und wieder spritzte ein Tropfen über den Rand und benetzte den Tisch. Ich war so aufgeregt, weil ich mir die Situation in der Scheune ins Gedächtnis zurückholte und alles noch einmal durchlebte, wenn auch wie aus weiter Ferne. Es schmerzte trotzdem wie verrückt. »Du wirst sehen, dass ich recht habe.«

»Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass dein Vater das Gewehr da hingelegt hat?«, fragte Mutter mit zitternder Stimme. Ich wusste nicht, ob sie Angst davor hatte, dass sich bewahrheiten könnte, was ich mir in meinem Kopf zusammenreimte.

»Er ist der Einzige, der außer mir dabei gewesen ist«, sagte ich, obwohl mir klar war, was das bedeutete. »Ich hab keine Ahnung, warum er das Gewehr neben Oliver hingelegt hat, Mama. Ich weiß nur, dass es vorher nicht dort gewesen ist.«

»Vielleicht ist alles bloß Zufall?« Mutter suchte einen ihrer Rettungsanker, mit dem sie die Situation leichter überstehen konnte. Da kam ihr der Zufall gerade recht. Er hatte eine ähnliche Wirkung wie »die Zeit, die alle Wunden heilte«. Man brauchte sich nicht mit den Dingen auseinanderzusetzen, sondern wartete darauf, bis sie sich von selbst erledigten. In Luft auflösten. Oder jemand anderer die Sache für einen in die Hand nahm.

»Kann sein«, antwortete ich, um es nicht noch schwerer für sie zu machen. Schließlich verdächtigte ich meinen Vater, ihren Ehemann, etwas mit dem Tod von Oliver zu tun oder ihn gar selbst umgebracht zu haben. Da waren so ein »Zufall« oder »die Zeit, die alle Wunden heilte« ein willkommenes Sicherheitsnetz, in das man sich fallen lassen konnte. Ich hingegen besaß keines dieser Netze. Wenn ich fiel, dann tief.

»Wenn du deinen Vater fragst, wird er wütend«, sagte Mutter.

Ich wusste nicht, ob er sie heute auch noch schlug, aber manchmal hatte ich diesen Eindruck. So wie jetzt, wenn sie mich mit ihren rehbraunen Augen ansah, in denen sich Tränen sammelten. Ihre braunen Locken trug sie stets zu einem Zopf im Nacken gebunden, was sie wirken ließ, als hätte sie sich für ein Fest zurechtgemacht. Für sie war diese Frisur jedoch zweckmäßig. Vereinzelt mischten sich ein paar graue Haare in ihre dunkle Pracht. Um sie zu färben, war sie nicht eitel genug.

»Hast du Angst vor ihm?«

»Vor wem?« Mutter senkte den Blick, um dem meinen auszuweichen. Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen weg.

»Vor Papa.«

Sie lachte gequält. »Nein.« Dann wandte sie ihr Gesicht wieder mir zu. »Zumindest meistens nicht.«

»Ich hab mit den Tabletten aufgehört, Mama«, wechselte ich das Thema und gab mich fröhlich. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass es besser war, Mutter nicht in das einzuweihen, was ich vorhatte. Es würde sie nur belasten.

»Wieso? Doktor Frankmair hat doch gesagt, dass du sie auf gar keinen Fall absetzen darfst, bevor er es dir erlaubt.« Mutter schien froh darüber zu sein, dass unser Gespräch eine Wende nahm, damit sie nicht weiter über ihren Ehemann – und das, was er ihr antat – reden musste.

»Ich bin so weit, Mama. Es ist Zeit, dass ich mich der Wirklichkeit stelle. Oliver ist tot, und die Tabletten packen mich in Watte. Ich kann so nicht um ihn trauern. Die Erinnerung an ihn beginnt schon zu verblassen, ohne dass ich etwas davon spüre. Aber ich will es spüren! Den ganzen verdammten Schmerz will ich fühlen!« Ich verschwieg, dass meine Sinne durch die Antidepressiva stumpf geworden waren und ich durchs Leben gewankt war wie ein halbfunktionsfähiger Roboter. Wie ein Zombie aus »The Walking Dead«. Um den wahren Grund von Olivers Tod herauszufinden, musste ich meine Sinne schärfen und durfte sie nicht betäuben. Ich wollte einsatzfähig sein und nicht dahinvegetieren. Wenn ich schon nicht mit dir gestorben war, wollte ich wenigstens wieder richtig leben. Daran hinderten mich die Tabletten, deshalb nahm ich sie nicht mehr.

»Du bist so stark, Diana.« Mutter griff erneut nach meinen Händen und drückte sie. »Manches Mal denke ich, du bist gar nicht meine Tochter. Wenn ich dich nicht selbst zur Welt gebracht hätte, würde ich daran zweifeln. Du bist so anders als ich, anders als dein Vater.« In ihren Augen lagen Dankbarkeit und Stolz. Stolz, dass sich ihre Tochter dazu entschlossen hatte, ihren Weg zu gehen. Vielleicht sah sie in mir jene Person, die sie gerne gewesen wäre. »Trink deinen Tee, sonst wird er kalt.«

Wie ein artiges Kind tat ich, was sie von mir erwartete, um ihr keinen zusätzlichen Kummer zu bereiten. Wenngleich ich wusste, dass dieser im Vergleich zu allem anderen, das sie schultern musste, eine Banalität darstellte. Ich führte die Tasse zum Mund und benetzte meine Lippen mit dem Tee aus Mühlviertler Bergkräutern, die Mutter eigenhändig auf den umliegenden Wiesen gepflückt und in der Sonne getrocknet hatte. An anderen Tagen liebte ich dieses Getränk, doch heute empfand ich den Geschmack als blass und enttäuschend. Wie Mutters Art, sich unangenehmen Dingen nicht zu stellen.

»Ich lege mich eine Weile hin, ich bin völlig fertig«, sagte ich, stand auf und verließ die Bauernstube meiner Eltern. Meine Schuhe klackerten auf dem gefliesten Steinboden des Vorhauses, als schickten sie Botschaften in die Welt hinaus. Nachrichten, die niemand empfing. Ich stieg die Treppe ins Obergeschoss hinauf, wo du und ich unsere Wohnung hatten. Früher waren dort winzige Schlafkammern gewesen ohne Heizung und mit losen Brettern als Fußböden. Im Winter hatten sich meine Vorfahren mit strohgefüllten Tuchenten zugedeckt und trotzdem gefroren. Ich kannte Erzählungen, die von Eis an der Decke und weißen Atemwolken handelten. Meine Eltern hatten vor Jahren das Stockwerk innen ausgehöhlt und nur die Außenmauern stehen lassen, um den Mühlviertler Steinbloß-Stil zu erhalten. Dann hatten sie neue Räume geschaffen, die heute teils mit modernen, teils mit alten Möbeln ausgestattet waren. Eine geglückte Kombination aus unterschiedlichen Epochen. Dieselben Erwartungen hatte man ebenso an das Zusammenleben der Generationen gestellt: Jung und Alt sollten hier in Frieden leben. Bis ein einziger Knall in der Nacht alles zunichtegemacht hatte.

Nach unserer Hochzeit hatten Oliver und ich das obere Stockwerk bezogen, hatten unser Nest gebaut, uns ein Zuhause geschaffen. Doch dieser Friede, diese Harmonie, wie sie der urige Mühlviertler Bauernhof suggerierte, war zwischen meinen Eltern und uns nie eingekehrt. Es hatte gebrodelt, wenngleich der Vulkan zu keiner Zeit ausgebrochen war …

Oder lag dein Tod darin begründet?

Ich öffnete die Tür zu unserer Wohnung. Obwohl du nicht mehr da warst, nannte ich sie weiterhin »unsere«. Kraftlos ließ ich mich auf die Couch fallen, alles wirkte vertraut und war doch so fremd. Weil ich allein war. Während die durch das Begräbnis verursachte Anspannung langsam von mir abfiel, überlegte ich, wohin Vater und Alexander gegangen sein mochten, nachdem wir nach Hause gekommen waren. In der Bauernstube hatten nur Mutter und ich am Tisch gesessen. Gleichzeitig fragte ich mich, warum ich ihren Aufenthaltsort überhaupt wissen wollte.

Müsste mir der nicht egal sein?

Da wir kein gutes Verhältnis hatten, hatte es mich sonst ja auch nie interessiert, wo sie waren.

Warum also jetzt?

Unruhe erfasste mich. Wie in Wellen schwappte sie durch meinen Körper.

Ich stand auf, nahm die Packung mit den Antidepressiva von der Kommode und warf sie in den Mistkübel. Von oben sah ich auf die Tabletten hinab, die mir durch die schwerste Zeit hindurchgeholfen hatten, mich aber auch daran gehindert hatten, ein neues Leben zu beginnen. Deinen Mörder zu finden. Ich wollte der Versuchung nicht erneut erliegen, eine dieser Pillen zu schlucken, wandte mich ab und ging zum Fenster.

Das Fernglas, das ich dir zum Geburtstag geschenkt hatte, stand auf der Blumenbank. Du hattest es unbedingt haben wollen, damit du auf meinen Vater Eindruck machen konntest. Du hattest vorgehabt, die Jagdprüfung abzulegen, um, wie es auf dem Land üblich war, Landwirt und Jäger zu sein. Dafür brauchtest du dieses Fernglas. Um Tiere zu beobachten.

Oder hattest du noch etwas anderes damit gesehen?

Ich führte das Fernglas vor meine Augen, drehte am Fokussierrad, bis das Bild scharf war. Das Haus unserer Nachbarn lag schräg gegenüber. Sie waren auf deiner Beerdigung gewesen, ich hatte ihre mitleidigen Blicke aufgefangen und ihre von der Arbeit rauen Hände geschüttelt. Johannes, ihr Sohn, hatte ebenfalls teilgenommen. Er verbrachte seinen heurigen Urlaub bei seinen Eltern. Seit ein paar Jahren lebte er in München und kam nur selten ins Mühlviertel zurück. Die Arbeit ließe es nicht zu, meinte er. Ich glaubte aber, dass es andere Gründe gab, weshalb er kaum mehr hier auftauchte. Seit er wieder da war, hatte ich schon mehrmals mit ihm gesprochen, noch bevor du gestorben warst. Und vor Jahren, als du und ich uns kennengelernt hatten, hatte ich ihn dir vorgestellt. Heute bei der Beileidsbekundung waren seine Hände weich gewesen. Warm und beinahe zärtlich.

Der neue Mercedes-Benz GLE 400 stand in der Einfahrt, was ich seltsam fand. Ansonsten fuhr ihn unser Nachbar Horst Heuböck sofort in die Scheune, damit nichts und niemand den Lack zerkratzen konnte. Ich wusste, dass dies seine größte Angst war. Jeder im Dorf wusste das.

Mit dem Wagen gab er im Wirtshaus gehörig an, und Sätze wie »wie toll das Fahrgestell bei diesem Modell doch sei« und »dass 330 PS unter der Motorhaube steckten« nervten die Wirtshausbrüder seit der Anschaffung dieses Gefährts vor etwa fünf Monaten. Vor allem mein Vater ärgerte sich über die Prahlerei. Er selbst fuhr einen Suzuki Vitara – einen Geländewagen für alle Landwirte, die sich nicht viel leisten könnten, pflegte Horst Heuböck regelmäßig vor versammelter Runde am Stammtisch zu behaupten. Mein Vater und er waren seit jeher Konkurrenten und trugen einen Wettkampf aus in Dingen wie wessen Korn schneller reif wurde und bei wem der Ertrag höher ausfiel. Wessen Mais kräftiger wuchs und zu wem die Erntearbeiter mit ihren Mähdreschern als Erstes kamen.

Du hattest mir auch davon erzählt, nachdem du mit Vater und Alexander nach der sonntäglichen Messe ins Wirtshaus gegangen warst. Vaters Gesicht hatte sich nach so einem Seitenhieb von Horst Heuböck in eine steinerne Fratze verwandelt. Er hatte ihn anvisiert mit Augen voller Hass, sodass du befürchtet hattest, er könnte die Beherrschung verlieren.

Vater war jähzornig und gehörte zu jener Generation, die an eine »gesunde Watschn« glaubte. Prügel würden so manches zurechtrücken, war seine Meinung. Als ich klein gewesen war, hatte er mich regelmäßig geschlagen. Ins Gesicht. Er hatte reichlich von dieser »gesunden Watschn« Gebrauch gemacht. Erst sehr viel später hatte ich erfahren, dass nicht alle Väter ihre Kinder verdroschen. Freundinnen hatten mir genauso davon erzählt wie du. Du hattest zu deinem Vater ein gutes Verhältnis gehabt, leider war er viel zu früh gestorben. Ein Autounfall hatte ihn dir genommen. Vielleicht war sein früher Tod ein Grund dafür gewesen, warum du so krampfhaft versucht hattest, meinem Vater zu gefallen.