Zum Buch
Die Weiße Rose ist eine der bekanntesten Widerstandsgruppen in der deutschen Geschichte, vor allem Sophie Scholl und Hans Scholl werden immer wieder als leuchtende Vorbilder genannt. Doch warum hatten gerade diese Geschwister und ihre Mitstreiter den Mut, sich gegen das nationalsozialistische Unrechtssystem aufzulehnen? Miriam Gebhardt sucht in den Biographien der Aktivisten die individuellen Voraussetzungen des Widerstands und fragt, welche Ressourcen aus Kindheit, Familie, Umfeld und Erfahrung sie gegen den übermächtigen Gruppendruck der »Volksgemeinschaft« immunisierten. Ihr Buch erzählt eine neue Geschichte der Weißen Rose und zeigt, warum die Botschaft der Widerstandsgruppe heute, 75 Jahre nach ihren ersten Aktionen, immer noch wichtig ist.
Zur Autorin
Miriam Gebhardt ist Journalistin und Historikerin und lehrt als außerplanmäßige Professorin Geschichte an der Universität Konstanz. Neben ihrer journalistischen Arbeit, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die Zeit und verschiedene Frauenzeitschriften, habilitierte sie sich mit einer Arbeit über Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert (2009). Sie ist Autorin mehrerer Bücher, darunter Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet (2011) sowie Alice im Niemandsland. Wie die deutsche Frauenbewegung die Frauen verlor (2012). Ihr Bestseller Als die Soldaten kamen (2015) über die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde breit besprochen und in mehrere Sprachen übersetzt. Miriam Gebhardt lebt in Ebenhausen bei München.
Einleitung
Teil I Wachstum
Fünf Freunde, ein Professor und die Suche nach dem Stein des Anstoßes
Die Scholls: Eine Familie probt den Aufstand
Alexander Schmorell:
mit Lebenskunst und Enthusiasmus
Christoph Probst: der Liebende
Willi Graf: die Stärke des Nurmi
Kurt Huber: ein Kontrapunkt
Eine Jugend voller Glück, Unglück und Verirrungen
Teil II Auseinandersetzung
Zerrissene Zeit
Anlässe und Motive
Aktion
Vom Unbehagen zum Widerstand
Gemeinsam in den Krieg
Die nächste Stufe
Der mächtige Gegner
Das Momentum
Teil III Bewährung
Verfolgung
Verhöre
Prozesse
Das Überleben der Familien
Und ihr Geist lebt trotzdem weiter
Epilog
Anmerkungen
Ausgewählte Quellenbestände und Literatur
Danksagung
Personenregister
»Jeder einzelne Mensch hat einen Anspruch auf einen brauchbaren und gerechten Staat.«
Flugblätter der Weißen Rose III 1
18. Februar 1943, siebzehn Uhr, Berlin, Großveranstaltung im Sportpalast. An der Stirnseite des Saals hängt neben Standarten und Hakenkreuzen ein riesiges Transparent: »Totaler Krieg – kürzester Krieg«. Kurz fühlt sich dieser Krieg nach dreieinhalb Jahren längst nicht mehr an. Erst recht nicht nach der Niederlage von Stalingrad, die in diesen Tagen offiziell eingestanden wurde. Doch die Menschen sind heute Abend nicht zum Grübeln gekommen, sie sind hier, um sich aufputschen zu lassen. Vierzehntausend Menschen warten gespannt. Es sind Verwundete von der Ostfront, Rot-Kreuz-Schwestern, Arbeiter aus den Berliner Panzerwerken, altgediente Parteikämpen. Joseph Goebbels tritt ans Mikrofon. Er packt das Rednerpult mit der einen Hand und reckt die andere mit spitzem Zeigefinger in die Luft. »Es ist also jetzt die Stunde gekommen«, schreit der Propagandaminister in den Saal, »die Glacéhandschuhe auszuziehen.« Da reißt es das Publikum vom Sitz. Das Brüllen kommt wie aus einem Mund.
Zur selben Zeit in München. Noch einmal setzt das blasse Mädchen an und rechtfertigt sich. Nein, sie habe die Blätter nicht absichtlich in den Lichthof der Universität geworfen, beteuert sie, sie sei nur versehentlich an einen Papierstapel gestoßen. Doch der Gestapomann lässt nicht locker: Woher die Flugblätter stammten, will er wissen. Das könne sie beim besten Willen nicht sagen, antwortet sie. Das Verhör dauert nun fast sechs Stunden. Sie ist müde und hungrig, aber sie muss konzentriert bleiben. Nebenan beantwortet ihr Bruder dieselben Fragen. Für die Geschwister kommt es darauf an, dass sie auch dieselben Antworten geben. Warum die beiden an diesem Morgen einen leeren Koffer mit an die Uni gebracht haben? Um nach der Vorlesung die Wäsche bei den Eltern in Ulm abzuholen, sagt er. Mit Flugblättern habe er sicher nichts zu tun.
Zurück in Berlin: Neun Mal fragt Goebbels seine Zuhörer: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Und jedes Mal schallt es tausendfach zurück: »Ja!« »Vertraut ihr dem Führer?« »Ja!« Und nun die letzte Frage: »Ist jeder und jede Einzelne bereit, die Last des Krieges zu schultern, unbesehen von Alter, Geschlecht und sozialem Stand?« Die Menge schreit begeistert. Jetzt ist sie reif für den letzten Stoß. Goebbels ruft: »Der Führer hat befohlen, wir werden ihm folgen. Und darum lautet von jetzt ab die Parole: Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!« Und er bricht los, der Sturm. In das akustische Inferno mischt sich das Deutschlandlied.
Im Münchner Gestapogefängnis ist es still geworden. Das Mädchen sitzt allein in einer Zelle, erschöpft. Aber es war kein Zusammenbruch, tröstet sich Sophie Scholl, keine Niederlage, sondern ein aufrechtes Bekennen. Ja, hat sie dem Mann, der sie verhörte, ins Gesicht gesagt, ihre Aktionen liefen auf die Beseitigung des nationalsozialistischen Staates hinaus. »Wenn die Frage an mich gerichtet wird, ob ich auch jetzt noch der Meinung sei, richtig gehandelt zu haben, so muss ich hierauf mit ja antworten.« Sophie hat der Gestapo ihre Antwort gegeben. Jetzt bleibt nur noch eine Frage: ob die Botschaft der Geschwister und ihrer Gefährten von der Weißen Rose in der Welt gehört wird.
Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse verblüfft: Die einen sitzen inmitten einer aufgeputschten Menge in Berlin und lassen sich von einem zwergenhaften Propagandaminister anstacheln, bis das Blut kocht, die anderen müssen in existentieller Einsamkeit Verhöre über sich ergehen lassen, über deren Ziel und Endpunkt sie sich keine Illusionen machen dürfen. Denn sie haben die hasserfüllten Parolen nicht mitgegrölt, sondern in Wort und Tat dagegengehalten.
Wie kommt es zu solch unterschiedlichen Entscheidungen? Was trennt einen, sagen wir, Oskar Gröning von einer Sophie Scholl? Eine gar nicht so kurze Wegstrecke sind ihre Leben parallel verlaufen. Gröning wird am 10. Juni 1921 in einer Kleinstadt in ein kleinbürgerliches Milieu geboren und protestantisch getauft. Er legt die mittlere Reife ab, tritt der Hitlerjugend bei, absolviert eine Banklehre. Dann geht er zur SS und wird der »Buchhalter von Auschwitz«. Sophie Scholl ist nur einen Monat und einen Tag älter. Sie wird ebenfalls in einer Kleinstadt in ein kleinbürgerliches Milieu hineingeboren, sie wird ebenfalls protestantisch getauft, kommt auf die höhere Schule, tritt einer nationalsozialistischen Jugendorganisation bei und beginnt eine Kindergärtnerinnenausbildung. Dann geht sie in den Widerstand.
Gröning, der Buchhalter des Todes, wird, wenn man so will, für sein Tun noch belohnt. Nach Kriegsende hat er weitere siebzig Jahre Leben in Freiheit und Wohlstand vor sich und wird, wie wir vermuten können, mit einem durchschnittlichen Maß an Glück und Unglück bedacht. Erst im Juli 2015, im Alter von dreiundneunzig Jahren, muss er für seine Beteiligung am Holocaust büßen. Wegen Beihilfe zum Mord in dreihunterttausend Fällen wird er vom Landgericht Lüneburg zu vier Jahren Haft verurteilt. Sophie Scholl hingegen, die aufrechte Studentin, muss für ihren Heldenmut sofort die Konsequenzen tragen. Im Februar 1943 wird sie beim Verteilen von Flugblättern in der Münchner Universität auf frischer Tat ertappt, vier Tage später in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und enthauptet. Sophie wurde einundzwanzig Jahre alt. Zwei Leben, begonnen unter ähnlichen Vorzeichen, mit denselben Handlungsspielräumen, aber ganz gegensätzlichen Entwicklungen. Warum wird der eine zum Mittäter, die andere zur Widerstandskämpferin?
Wir wissen heute so viel über die unheimliche Verwandlung »normaler« Deutscher in Mitläufer und Täter zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Diskussion, ob eher strukturelle oder eher ideologische Ursachen für die Menschheitsverbrechen verantwortlich waren, ob die Deutschen schon immer Juden hassten und wie viel jeder Einzelne zu Vernichtungskrieg und Schoah beigetragen hat, füllen ganze Bibliotheken. Wir haben zu einem gewissen Maß verstehen gelernt, warum sich die Gesellschaft nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler so schnell und widerstandslos an das neue Regime gewöhnen, sich in einem Klima moralischer Gleichgültigkeit und Menschenverachtung einrichten konnte und immer extremere Gewalt sowie staatlichen Terror zu tolerieren bereit war – oder sogar selbst daran mitwirkte. Sozialpsychologen, Gewaltforscher und Historiker haben ausgiebig über die Psychologie der Täter und Mitläufer geforscht und darüber nachgedacht, welche Lehren das Leben dieser Menschen den nachkommenden Generationen erteilt.
Doch was wissen wir von den anderen? Von den Menschen, die immun blieben gegen die Indoktrination, die den Gehorsam verweigerten und gegen das Unrecht kämpften? Wenn es um die Psychologie des Widerstands geht, wird die Forschungslage schnell dünn. Versuche wie das Milgram- und das Stanford-Prison-Experiment, mit denen die Bereitschaft zu blindem Gehorsam bis hin zur Gewaltausübung gegen Unschuldige getestet wurden, sind allseits bekannt und werden häufig zitiert. Sie hinterlassen ein ernüchterndes Bild vom menschlichen Verhalten in Gehorsamssituationen. Doch über die wenigen, die in diesen Experimenten nicht auf den Knopf drückten, die den Sinn der Versuchsanordnung hinterfragten oder gleich aufstanden und gingen, haben sich die Forscher wenig Gedanken gemacht.
Ähnlich steht es um die Erforschung der Gerechten im Nationalsozialismus. Himmlers, Goebbels’ und Hitlers Gehirnwindungen werden alle Jahre wieder in großen Biographien durchleuchtet, sodass die Befürchtung, dass wir bald mehr über Hitlers Hund wissen als über uns selbst, nicht ganz unbegründet scheint. Gemessen daran hat die Geschichtswissenschaft erstaunlich wenig Kraft in die Erforschung der persönlichen Voraussetzungen des Widerstands investiert. Die meisten Bücher über die Weiße Rose stammen von Amateurhistorikern, Journalistinnen oder Lehrern. Sie haben uns zwar viel Wissenswertes und Anschauliches über die Weiße-Rose-Aktivisten beschert, doch die Analyse der persönlichen Voraussetzungen des Widerstands blieben uns Publizistik wie auch wissenschaftliche Forschung schuldig.
Der Befund der unbefriedigenden Forschungslage zur Weißen Rose mag auf den ersten Blick überraschen, scheint doch die Geschichte der Münchner Widerstandsgruppe gut ausgeleuchtet: Im Sommer 1942 verfassen Hans Scholl und Alexander Schmorell innerhalb von nur zwei Wochen vier Flugblätter unter dem Decknamen »Die weiße Rose«. Darin prangern sie die allgemeine Entrechtung und Freiheitsberaubung im Führerstaat an und rufen das Volk auf, nicht länger zu der Ermordung von Juden und zu anderen nationalsozialistischen Verbrechen zu schweigen. Dass sie den Holocaust ausdrücklich als Anlass zum Widerstand nehmen, macht sie einzigartig unter den deutschen Widerstandsgruppen, die in aller Regel von anderen, selbstbezüglicheren Motiven geprägt waren.
Im Spätherbst verschärfen die Verschwörer die Gangart. Sie weihen andere in ihre Aktionen ein: Sophie Scholl, Willi Graf, Christoph Probst und Kurt Huber, einen Münchner Professor für Philosophie und Musikpsychologie. Mit ihm gemeinsam schreiben sie weitere Flugblätter und beschwören die Deutschen, sich rechtzeitig vor dem militärischen Untergang Deutschlands vom Nationalsozialismus zu distanzieren, um die Zukunft für ein freies Europa frei zu machen. Ermutigt durch die Niederlage von Stalingrad, werden ihre Aktionen zu Jahresbeginn 1943 immer tollkühner. Sie rekrutieren mehr Helfer in ganz Deutschland, knüpfen Kontakte mit anderen Widerstandsgruppen und bringen Parolen an Hauswänden an: »Freiheit!«, »Nieder mit Hitler«. Am 18. Februar 1943 folgt das letzte große Wagnis: Hans und Sophie Scholl streuen am helllichten Tag das sechste Flugblatt in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Dabei werden sie erwischt und von der Gestapo verhaftet. Roland Freisler, der berüchtigte Präsident des Volksgerichtshofes, reist eigens aus Berlin an, um ihnen den Prozess zu machen. Am 22. Februar 1943 endet kurz und kompromisslos die erste Verhandlung mit der Verurteilung der Geschwister Scholl und Christoph Probsts zum Tod durch das Schafott. Im Verlauf der nächsten Monate werden die anderen Mitwirkenden und zahlreiche Helfer der Weißen Rose zu Haftstrafen verurteilt oder ebenfalls hingerichtet.
Ausstellungen, Straßennamen, Schulbenennungen, Stiftungen und Preise, Filme, Briefmarken und Comics erinnern uns seither an diese Geschichte. Es mangelt nicht an Detailstudien zu den genauen Abläufen der Flugblattaktionen, an Analysen der intellektuellen Heimat der Widerständler oder an biographischen Skizzen der ein oder anderen Figur im Umfeld der Weißen Rose. 2 Und doch, bei aller populären Inszenierung, bei aller Kärrnerarbeit der Doktoranden, gibt es bis heute keine bündige und zeitgemäße Darstellung der persönlichen Hintergründe und Voraussetzungen der Aktionen der Weißen Rose.
Dabei hatte die deutsche Gesellschaft in ihrem Fall im Gegensatz zu anderen Widerstandskreisen frühzeitig mit der Erinnerungsarbeit begonnen. Den Männern vom 20. Juli 1944 nahm man in den ersten Nachkriegsjahren noch den Bruch des Fahneneides übel, den religiös motivierten Aktivisten wie Bonhoeffer oder Niemöller die kirchliche Einmischung in staatliche Belange, den kommunistischen Aktivisten die ideologische Stoßrichtung ihres Widerstands. Die Taten der Weißen Rose erhielten hingegen rasch breite Zustimmung, was sich schon wenige Monate nach Kriegsende in politischen Reden und in der Einrichtung von Gedenkorten niederschlug.
Das war auch starken Advokaten der Weißen Rose zu verdanken. Zunächst übernahm Inge Scholl, die Schwester von Hans und Sophie, die Deutungshoheit über die Münchner Gruppe und stellte mit ihrem Weltbestseller »Die Weiße Rose« ihre Geschwister auf ein nicht immer ganz solides Podest. 3 Später veröffentlichten auch andere Familienangehörige ihre Interpretationen der Ereignisse. Die durchaus kontroversen Erinnerungsstrategien führten dazu, dass sich heute allein in München zwei Institutionen, die Weiße Rose Stiftung und das Weisse Rose Institut, ganz der Erforschung und Würdigung des studentischen Zirkels widmen können.
Nicht zuletzt dieser Konkurrenzsituation verdanken wir inzwischen umfängliche Familiennachlässe und eine ganze Reihe von Editionen, die einen unerschöpflichen Fundus für Dokumente und Selbstzeugnisse der Widerstandsgruppe bereitstellen: Briefe und Tagebücher lassen uns die Welt von damals aus Sicht der Aktivisten betrachten, Kalender erzählen von Tagesabläufen, Lektürelisten, was die Akteure gelesen, Studienbücher, was sie gelernt, Feldpost, was sie an der Front erlebt haben. Neue Quellen aus der Sicht der Gestapobeamten und der unbarmherzigen NS-Juristen, nach dem Mauerfall wieder aufgetaucht, beleuchten die Sicht des Gegners und lassen ahnen, wie qualvoll die Verhöre gewesen sein müssen. Gerade in den letzten Jahren haben die Diskussionen über die Hergänge und Motive des Widerstandszirkels dadurch neue Nahrung bekommen.
Was geforscht und dargestellt wird, hat immer mit gesellschaftspolitischen Interessenlagen zu tun. In den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende wurden die Widerständler der Weißen Rose zu archetypischen Helden und Märtyrern verklärt und damit zu Männern (und Frauen) ohne Eigenschaften. Indem sie die Suche nach den lebensgeschichtlichen Voraussetzungen vermieden hat, konnte die Nachkriegsgesellschaft der schmerzhaften Frage entgehen, warum nicht viel mehr Menschen den Mut aufgebracht haben, gegen die Naziideologie anzukämpfen. Zum Helden und Märtyrer ist nun einmal nicht jeder geboren, diese Überzeugung entlastete die unzähligen normalen Deutschen, die der Diktatur nichts entgegensetzen konnten oder wollten. Der Phase der Heiligsprechung schloss sich eine Phase der Entmystifizierung der Weißen Rose an. Neuere Arbeiten haben sich bemüht, aus den jungen Heroen fehlbare, ja sogar moralisch zwielichtige Personen zu machen. Vielleicht standen die Akteure unter Drogeneinfluss? Vielleicht finden sich bei ihnen sogar antijüdische und antidemokratische Tendenzen? Auch diese Herangehensweise verstellte jedoch den Blick auf die viel grundsätzlichere Frage der Widerstandsforschung, nämlich: Warum gerade diese Menschen? Wo lagen ihre Ressourcen? Wie tickt jemand, der sein junges, bequemes Leben aufgibt, um gegen das Unrecht zu kämpfen?
Die neueste Tendenz in der Weiße-Rose-Forschung ist, die Aktivisten als zutiefst gläubige Menschen zu interpretieren und sie den jeweiligen christlichen Kirchen zuzuschlagen. Auf Tausenden von Seiten wird nun versucht zu begründen, warum zum Beispiel Hans Scholl zwar Protestant war, aber eigentlich doch dem Neukatholizismus zugeordnet werden müsse. Nachdem sich die Kirchen erst lange Zeit schwer damit getan hatten, die Auflehnung gegen den NS-Staat gutzuheißen, sollen die Aktivisten nunmehr umso fester umarmt werden. Eine weitere aktuelle Entwicklung in der Rekonstruktion der Geschichte der Münchner Studierenden und ihres Professors ist die Erklärung ihrer Taten mit dem Schlüsselereignis ihres Einsatzes als Soldaten an der Front. Genauer gesagt als Sanitätssoldaten. Auch diese Interpretationen müssen wir weiter unten noch ausführlich diskutieren. Ein großes Manko beider Deutungsansätze wird allerdings schon auf den ersten Blick sichtbar: Millionen junger Männer waren im Krieg und haben dort schreckliche Dinge erlebt, Millionen junge Leute waren sehr gläubig – warum haben nur so wenige daraus die richtigen Konsequenzen gezogen? Waren die Kriegserfahrungen der Männer der Weißen Rose besonders einschneidend? War ihr kritisches Ringen mit Kirche und Glauben etwa exklusiv? Eher nicht, wie sich zeigen wird. Weder ihr persönlicher Glaube noch ihre Fronterfahrungen können erklären, warum gerade sie sich offen gegen das NS-Regime stellten.
Eine weitere problematische Entwicklung des Weiße-Rose-Gedächtnisses der letzten Jahre ist die zunehmende Ungleichbehandlung der Aktivisten. Die Geschwister Scholl sind zum Synonym der »Weißen Rose« geworden, was beispielsweise am Wortgebrauch bei Meinungsumfragen oder bei der überproportional häufigen Benennung von Schulen nach den Ulmern abzulesen ist. Die Erinnerung an den Freundeskreis wird heute von den Namen Hans und Sophie Scholl derart beherrscht, am meisten wohl von Sophie Scholl, dass die anderen Protagonisten im kollektiven Vergessen unterzugehen drohen. Sophie Scholls Schicksal ist längst von den anrührend und kongenial mit Lena Stolze und später mit Julia Jentsch besetzten Filmen (»Die Weiße Rose«, 1982, und »Sophie Scholl – Die letzten Tage«, 2005) überlagert, und es strahlt einen besonderen Glanz aus durch das Faszinosum der jungen Frau in der Männerwelt des Widerstands. Doch so beeindruckend die Studentin war, so emanzipiert, klug, sensibel, eigenständig, so wenig entspricht ihr historischer Beitrag dem ihrer Wiedergängerinnen in Film und Literatur. Sophie Scholl wurde erst nachträglich zur Ikone des Münchner Studentenwiderstands gemacht; für die Aktionen der Widerstandsgruppe waren andere Mitstreiter genauso wichtig oder sogar wichtiger als sie.
Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf und Kurt Huber – für die Nachfahren dieser Aktivisten der Weißen Rose knüpft sich an den Scholl-Kult eine bittere Erfahrung: In Gedenkreden, auf Standbildern und Plaketten wurden und werden ihre Angehörigen immer wieder übergangen. Ein Beispiel: An der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, dem Hauptort des Geschehens, gibt es einen Geschwister-Scholl-Platz und ein Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft. Die anderen, auch sie an der Münchner Universität eingeschrieben, werden nicht im gleichen Stil gewürdigt. Nur Kurt Huber bekommt gegenüber dem Geschwister-Scholl-Platz einen nach ihm benannten Platz. Noch ein Beispiel: In der bei Regensburg gelegenen Ruhmeshalle Walhalla stehen aktuell 129 Büsten deutschsprachiger Berühmtheiten. Eine – nur eine – davon ehrt die Weiße Rose: Es ist die der Sophie Scholl. Diese Ungerechtigkeit ist vor allem für die Nachfahren der anderen Aktivisten eine unverheilte Wunde. Deshalb ist es bis heute kaum möglich, die Familien der Widerständler zusammen an einen Tisch zu bringen. Zumal in der internen Erinnerung an die Widerstandsgruppe der letzte Akt im Lichthof der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität ein Streitpunkt geblieben ist: War es purer Leichtsinn, am helllichten Tag Flugblätter in die Aula fallen zu lassen? Haben Hans und Sophie Scholl damit nicht nur leichtfertig ihr eigenes, sondern auch das Leben anderer riskiert? Hätte Christoph Probst, der gerade zum dritten Mal Vater geworden war, überlebt, wenn Hans Scholl nicht einen Beweis für seine Mittäterschaft bei sich getragen hätte? Hätten die Geschwister nicht wenigstens ihre Mitstreiter warnen müssen, bevor sie mit den Flugblättern zur Universität zogen?
Für die Angehörigen sind das keine akademischen Fragen, es sind Fragen persönlicher Schuld, Trauer, Reue. Wenn wir in der Geschichte der Weißen Rose heute neu ansetzen, müssen wir daher versuchen, auch den anderen Beteiligten so gut es geht gerecht zu werden. Neben den sechs Mitgliedern der Weißen Rose, auf die wir uns in diesem Buch konzentrieren wollen – Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf und Kurt Huber –, gab es noch mehr wichtige Mitstreiter, Hans Leipelt zum Beispiel oder Traute Lafrenz, doch diese stießen erst später dazu und leisteten »nur« noch materielle und logistische Hilfestellung. Dass die Geschichte dieser weniger bekannten Mitglieder hier nur am Rande erzählt werden wird, soll ihren Beitrag zum Widerstand jedoch nicht schmälern, haben doch auch sie ihr Leben riskiert und oftmals verloren.
Im Zentrum dieses Buches steht jedoch die Frage nach der Widerstandskraft. Menschen werden nicht als Revoluzzer geboren, sie werden dazu – durch die Sozialisation im Elternhaus, durch Adoleszenzkrisen, durch Erfahrungen. Sie bringen Ressourcen mit wie einen liebevollen Rückhalt in der Familie, die Fähigkeit, Konflikte auf produktive Weise auszutragen, die Empathiefähigkeit, sich über das eigene Leben zu stellen, den kritischen Verstand und natürlich Mut. Diesen Quellen ihres Handelns wollen wir hier nachgehen.
Hans und Sophie Scholl kamen aus einer politisch liberalen Familie, die sie bedingungslos unterstützte. Christoph Probst wuchs in einem freireligiösen Bohème-Umfeld auf, verlor früh den geliebten Vater und hatte, als er sich dem Widerstand anschloss, selbst schon drei kleine Kinder. Alexander Schmorells innere Konflikte bezogen sich auf die eigene Herkunft aus einem russisch-deutschen Elternhaus. Willi Graf war vom Reformkatholizismus geprägt und richtete seine erste Kritik an den angepassten Vater. Kurt Huber faszinierte die Idee einer ursprünglichen deutschen Volkskultur, verehrte die Wehrmacht und entschied sich doch dafür, die jungen Leute in ihrem Widerstand zu unterstützen. Schon dieser kurze Überblick macht klar: Wenn wir danach fragen, welche Voraussetzungen die Mitglieder der Weißen Rose mitbrachten, um zusammen gegen den NS-Staat zu kämpfen, werden wir so schnell keine gemeinsame Formel finden.
Die fünf Freunde und der Professor hatten ganz unterschiedliches biographisches Gepäck und unterschiedliche Orientierungspunkte, um mit einer für sie unhaltbaren politischen Situation umzugehen. Die »DNA« des Widerstands lag weder in ihrem sozialen Status noch in ihrem christlichen Hintergrund verborgen, auch wenn beide Faktoren wichtig waren. Wir werden auch keine gemeinsamen Erziehungsgeschichten und Persönlichkeitsausprägungen identifizieren können, die das Rezept für moralische Unbestechlichkeit wären. Stattdessen müssen wir versuchen, die Mitglieder der Weißen Rose in ihrer Individualität angemessen zu würdigen. Erst dann werden wir ganz ähnliche Sozialisationserfahrungen entdecken, ganz ähnlich verlaufende Lernkurven bestimmen können, die für unsere Protagonisten prägend waren.
Dabei wollen wir uns vor allem auf ein Grundmotiv in ihren Biographien konzentrieren: auf ihre Fähigkeit zur inneren Autonomie. Denn innere Autonomie, das von eigenen Werten geleitete Denken und Handeln, war die eigentliche Grundlage ihrer mutigen Taten. Sie ist der gemeinsame Nenner des Widerstands und zugleich Anknüpfungspunkt der Geschichte der Weißen Rose für uns heute. Denn Widerstandsforschung muss sich auch mit dem Gegenwartshorizont auseinandersetzen.
Fragen nach den Voraussetzungen und Folgen widerständigen Verhaltens stellen sich heute in einer grundsätzlich anderen historischen Situation als zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Verhältnisse von damals sind auf die Gegenwart nicht übertragbar, selbst wenn es gute Gründe gibt, sich antidemokratischer Gefährdungen ständig bewusst zu sein. Falls es in Deutschland jemals wieder zu einem Unrechtsregime kommen sollte, wird es in jedem Fall anders aussehen als im Nationalsozialismus, und es wird im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung auch andere Widerstandsformen brauchen. Was sich jedoch niemals ändern wird, ist der Bedarf an Menschen, die sich trauen, widerständig zu denken und zu handeln; die autonom bleiben, das heißt, die ihre innere Distanz und ihren moralischen Kompass auch unter großem sozialen Druck nicht verlieren.
Wenn aktuelle soziologische und sozialpsychologische Diagnosen zutreffen, sind Konformismus und soziale Kaltherzigkeit in unserer Zeit des fortgeschrittenen Konsumkapitalismus nicht weniger weitverbreitet als zur Zeit der NS-Diktatur. Die historisch in langen Jahrhunderten erworbene Fähigkeit des modernen Menschen, von individuellen Entscheidungsspielräumen Gebrauch zu machen, steht heute oft genug im Widerspruch zum allgegenwärtigen Bedürfnis, auf »dem Markt« gut auszusehen und es den Freunden auf Facebook recht zu machen. »Autonomie ist gefährdet«, schreiben etwa der Sozialpsychologe Harald Welzer und der Philosoph Michael Pauen. Sie sehen in sozialen Netzwerken und in »Überwachungsritualen, Big Data, Transparenzidealen, Shit Storms und Skandalisierungen« eine Gefährdung der inneren Freiheit, des selbstbestimmten Lebens in einer freien Gesellschaft. 4 Wohlstand und Konsum fördern nicht nur bei der Generation der Millennials eine Haltung, die sich weniger für Politik als für Lebensstilfragen interessiert. Im Internet können wir tagtäglich erleben, wie flüchtig die Wahrheit ist: Gerüchte und Verschwörungstheorien gerinnen im Minutentakt zu unhinterfragten Gewissheiten. Fakten und alternative Deutungen dringen nicht mehr durch. Sobald sich eine Meinung gebildet hat, scheint die Bereitschaft zum eigenständigen Denken wie ausgelöscht. Der Boden für antidemokratisches, fremdenfeindliches und chauvinistisches Denken ist fruchtbar.
Auch die Mitglieder der Weißen Rose kannten die Versuchung des kurzfristigen kleinen Glücks. Sie waren vergleichsweise gut gestellt, gesund, pflegten einen für damalige Verhältnisse privilegierten Lebensstil. Trotz Arbeits- und Kriegsdienst blieb ihnen Zeit und Geld für Konzertsaal, literarische Zirkel und Skiausflüge. Hans und Sophie Scholl, Willi Graf, Alexander Schmorell und Christoph Probst durften studieren, die jungen Männer waren Sanitätsoffiziere, wodurch ihnen die allergrausamsten Seiten des Krieges erspart blieben. Trotzdem trafen sie eine persönliche Entscheidung, die für sie das ultimative Ende des schönen Lebens bedeutete.
In dieser Hinsicht ragt die Weiße Rose aus dem Gesamtbild des deutschen Widerstands heraus. Ihre Mitglieder mussten nicht um das eigene Leben kämpfen, auch nicht um ihre Standesehre. Sie hatten keine Gruppeninteressen zu verteidigen wie die Zeugen Jehovas, die im Nationalsozialismus gegängelt wurden. Ihnen ging es nicht, wie den Offizieren um Stauffenberg, in erster Linie um die bevorstehende militärische Blamage. Sie wollten auch nicht, wie der kommunistische Widerstand, den Kapitalismus treffen, indem sie den Faschismus bekämpften. Die Aktivisten aus München hatten keine starken Parteien, Sozialbewegungen oder Verbündete im Ausland hinter sich. Als unauffälliger Teil der deutschen Jugend, als Mitglieder der »arischen Volksgemeinschaft«, begründeten sie ihren Widerstand mit nichts weiter als mit ihrer persönlichen Einsicht in das Unrecht der nationalsozialistischen Diktatur. Sie haben als Privatmenschen gehandelt. Ihr einziges Kapital war ihre innere Autonomie. Wie der Historiker Andreas Wirsching gesagt hat: »Es handelt sich um die Größe jener inneren Freiheit zum Handeln, die der Selbstüberwindung entspringt.« 5
Diese Darstellung stellt die lebensgeschichtlichen Motive der Weißen Rose in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Warum waren es ausgerechnet diese Menschen, die auf die Frage, was schwerer wiegt, das eigene gute Leben oder die moralische Schuld des Wegschauens, die einzig richtige Antwort wählten?
Hans Scholl
© Ullstein
Sophie Scholl
© Manuel Aicher
Alexander Schmorell
© bpk
Christoph Probst
© bpk
Willi Graf
© Ullstein
Kurt Huber
© bpk (Bayerische Staatsbibliothek)
»Jetzt sind ihre Augen geöffnet und sie legen ihr junges Haupt auf den Block für ihre Erkenntnis und Deutschlands Ehre, legen ihn dorthin, nachdem sie vor Gericht dem Nazi-Präsidenten ins Gesicht gesagt: ›Bald werden Sie hier stehen, wo ich jetzt stehe.‹« 1
Es ist ein starkes Bild, das Thomas Mann kurz nach dem ersten Weiße-Rose-Prozess im Frühjahr 1943 im britischen Rundfunk BBC den Menschen in aller Welt vor Augen gestellt hat. Wir sehen die jungen Leute, wie sie den erbarmungslosen Richter konfrontieren, wir sehen das Geschwisterpaar, das traut wie Hänsel und Gretel auf das Schafott zugeht. Viele Darstellungen und Gedenktage nehmen seither den 22. Februar 1943, also den Tag der Ermordung der Geschwister Scholl und Christoph Probsts, zum Anlass der Erinnerung an die Weiße Rose. Doch ist es das richtige Bild, um diese Geschichte zu beginnen? Welche Auswirkung hat es, wenn wir mit dem Tod der drei jungen Leute beginnen, was sind die Kosten der dramatischen Erzählweise vom Ende her? Rücken wir damit nicht ungewollt die Geschwister Scholl wieder einmal in den Vordergrund (Christoph Probst spielt meist eine Statistenrolle) und übergehen die anderen Mitstreiter, die erst im zweiten Weiße-Rose-Prozess verurteilt wurden? Die Geschichte vom Ende her zu erzählen heißt, der Logik des Scharfrichters zu folgen – als wäre die Hinrichtung das eigentliche Motiv zur Erinnerung. Doch es sind die Taten der Widerstandsgruppe, die im Vordergrund stehen sollten.
Die letzten Stunden der Weißen Rose am Anfang eines Buches zu beschwören hat einen hohen Preis, denn dadurch erhalten die Schicksale der Menschen, um die es hier gehen soll, eine Zwangsläufigkeit – als wären sie schon als Widerstandskämpfer geboren worden, als hätten sie auf ihrem Lebensweg keine Optionen gehabt und keine Entscheidungen getroffen. Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf, Hans und Sophie Scholl, Kurt Huber, um nur die wichtigsten Mitwirkenden zu nennen, wurden nicht als Märtyrer des deutschen Widerstands geboren. Sie mussten erst ein Leben haben, bevor sie es in die Waagschale werfen konnten.
Ihr Engagement im Widerstand dauerte nicht lang. Sie begannen sich im Mai 1942 zu sammeln und wurden bereits ein Dreivierteljahr später verhaftet. Es war eine intensive und für die deutsche Geschichte folgenreiche Zeit, als sich die Leben dieser Menschen kreuzten, als aus einem mehr oder weniger losen Freundeskreis ein weltberühmter Zirkel von Widerständlern wurde. In diesem Frühjahr hat Hans Scholl im Medizinstudium gerade wenig zu tun. Seine Studentenkompanie wird zwar mit morgendlichen Appellen drangsaliert, zu denen alle in die Kaserne kommen müssen, auch wenn sie in Privatunterkünften geschlafen haben, aber immerhin wird sie aktuell nicht an die Front gerufen. Scholl hat Zeit nachzudenken, zu viel Zeit. Darum ist er froh, dass seine Schwester Sophie endlich nach München kommt, nachdem sie die Ausbildung zur Kindergärtnerin, der Reichsarbeitsdienst und der Kriegshilfsdienst quälend lange vom Studium abgehalten haben. Hans sorgt energisch dafür, dass sie nun nicht auch noch als helfendes Familienmitglied im Ulmer Elternhaus verkümmert so wie ihre ältere Schwester Inge, die in der Steuerkanzlei des Vaters und im Haushalt der Mutter mitarbeiten muss. Hans braucht Sophie in diesem Moment mehr.
Genauso wie Alexander Schmorell, seinen engen Freund. »Ich habe gesehen, wie angewiesen Hans in gewisser Beziehung auf Alex war, den er am liebsten Tag und Nacht nicht mehr losgelassen hätte«, wird sich eine Zeitzeugin später an diese besondere Bindung der beiden Medizinstudenten erinnern. 2 Wenn sie nicht zusammen lernen, musizieren oder lesen, gehen sie in die Berge. Auf den Wanderungen diskutieren sie Professor Kurt Hubers Vorlesungen, die gerade erst wieder angelaufen sind. Was Leibniz dachte über die Erbsünde und das Böse auf der Welt, das interessiert sie. Auch die Begegnungen im Hause des katholischen Schriftstellers Carl Muth liefern ihnen Gesprächsstoff. In der Sollner Villa empfangen sie intellektuelle Anstöße, und sie treffen auf andere Menschen, denen das nationalsozialistische System schwer auf der Brust liegt: Akademiker mit Publikationsverbot, Wissenschaftler in der Karrieresackgasse, Katholiken zumeist, die an der materialistischen Weltsicht der Nazis verzweifeln, und junge Menschen wie sie selbst, die sich von Staat und Militär ums eigene Leben gebracht sehen. Wann war ihre Zeit zuletzt planbar gewesen? Gibt es überhaupt noch so etwas wie die Freiheit der Lebensführung?
Einer ihrer neuen gemeinsamen Kumpane ist ein langjähriger Freund Schmorells, Christoph Probst aus Murnau, auch er Medizinstudent. Er ist empört über die Judenverfolgung, das Massensterben im Osten, die Ermordung kranker Menschen. Und noch ein neuer Gleichgesinnter ist aufgetaucht: Willi Graf, der ebenfalls an seinen Zweifeln zu ersticken droht. Wie Hans Scholl ist er schon als Teenager mit dem NS-Staat aneinandergeraten. Jetzt treibt ihn die Frage um: Darf ich mich vergnügen, wenn ringsum die Welt verrücktspielt?
Die fünf Freunde vertiefen sich in Bücher und Diskussionen. Wenn sie genug vom Grübeln haben, genießen sie das pralle Leben. Irgendwie gelingt ihnen das Kunststück, sich bei aller ernsthaften Sorge nicht um ihr jugendliches Recht auf Vergnügungen betrügen zu lassen. Sie gehen ins Konzert, wandern, musizieren, trinken Wein, verlieben sich. Ihre Tage sind randvoll. Sophie, die gleichsam mit beiden Beinen ins kulturelle und intellektuelle Leben Münchens springt, das ihr der Bruder erschließt, schreibt schon nach wenigen Tagen ihrer Freundin Lisa Remppis: »Hier habe ich jeden Tag etwas Neues zu verdauen. Gestern trank ich mit Herrn Prof. Muth und Sigismund von Radecki zusammen Tee, und am Abend waren Hans und ich noch bei einem Bekannten, den wir bloß den ›Philosophen‹ nennen. Da wurde nun ein dreistündiges, pausenloses und anstrengendes Gespräch geführt. Eigentlich habe ich eher das Bedürfnis, für mich zu sein, denn es drängt mich danach, durch ein äußeres Tun das in mir zu verwirklichen, was bisher nur als Gedanken, als richtig Erkanntes in mir ist. Aber ich bin doch froh, wenn ich aufnehmen kann. Wenn ich auch noch auf schwankendem Boden stehe.« 3
In dieser Zeit erweiterte sich der Kern der Weißen Rose wie die konzentrischen Kreise, die sich in einem See bilden, nachdem ein Stein die Wasseroberfläche durchbrochen hat. Der erste Impuls ging von Hans Scholl und Alexander Schmorell aus, für den wiederum die Unterstützung seines Freundes Christoph Probst sehr wichtig war. Der Kreis teilte und breitete sich netzartig aus, bis schließlich an die hundert Personen eingeweiht und mehr oder weniger bewusst und aktiv mit eingebunden waren. Hans Scholl lernte im Winter 1940/1941 Josef Söhngen in dessen Münchner Buchhandlung kennen. Sie tauschten sich über religionsphilosophische Fragen aus. Söhngen würde ihnen seinen Keller als Versteck anbieten und Kontakt mit italienischen Antifaschisten herstellen. Im Frühsommer 1942 lernte Hans Scholl außerdem Manfred Eickemeyer kennen, der ihm von den Gräueltaten der Wehrmacht im Osten berichtete und sein Atelier für konspirative Treffen zur Verfügung stellen würde. Alexander Schmorell führte Traute Lafrenz mit Hans Scholl zusammen. Traute Lafrenz sollte das Bindeglied zur Hamburger Dependance der Weißen Rose werden. Auch Lilo Fürst war eine Freundin Alexander Schmorells, sie malten zusammen. Lilo Fürst würde die Verbindung zu dem Dresdner Widerständler Falk Harnack herstellen. Ein Kontakt führte zum nächsten, bis die ursprünglichen Akteure das Gefühl bekommen mussten, es gäbe überall nur Widerständler wie sie. Ein gefährlicher Trugschluss.
Die Ausdehnung des Kreises folgte persönlichen Freundschaftslinien. Die Beteiligten kannten sich von der Schule, vom Studium, vom Militär, über die Familie. Schnittmenge der heterogenen und losen Gruppe war ihr Faible für Kunst, Literatur, Musik, Philosophie – und die Ablehnung des Naziregimes. Die soziologische Einordnung der Weißen Rose als bürgerlich-studentisch ist zwar formal korrekt, führt jedoch in die Irre, wenn dahinter ein kollektives ideologisches und ständisches Interesse vermutet wird, wie das etwa für kommunistische oder militärische Widerstandskreise angenommen werden kann. Die Weiße Rose entsprang gerade keinem geschlossenen Weltbild und keinem gruppenspezifischen Überlebensinteresse, sondern dem lebensweltlichen Zufall. Das macht sie für unsere Gegenwart, in der Milieus und traditionelle Bindungen erodiert sind, so besonders spannend. Denn ihr Kitt war nicht das soziale Umfeld, sondern die verzweifelte Suche nach dem eigenen, dem privaten und moralisch richtigen Leben, ein Leben, das innere Autonomie zuließ.
Im Frühsommer 1942 muss Hans Scholl auch auf die Idee mit der weißen Rose gekommen sein. Der Name wurde jedoch keine Selbstbezeichnung einer Gruppe von Widerständlern – erst nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir uns angewöhnt, die Münchner Widerstandsgruppe »Weiße Rose« zu nennen. Die weiße Rose war vielmehr eine Art Losung, die auf den ersten vier Flugblättern benutzt wurde, eine Unterschrift, und die auch andere junge Leute in Deutschland aufgriffen, zum Beispiel eine Widerstandszelle in Hamburg, die in losem Kontakt mit den Münchner Studierenden stand und sich ihren Aktionen anschloss. Hans Scholl hat in den Gestapoverhören, so diese denn glaubwürdige Quellen sind, angegeben, er habe den Begriff willkürlich in Anlehnung an Clemens Brentanos »Romanzen vom Rosenkranz« gewählt. 4 Darin geht es um die katholische Bekehrung des romantischen Schriftstellers. In »Rosablankens Traum« schildert er, wie durch Adam und Evas Sünde die Schuld in die Welt kam: »Sei verflucht, du Geist der Lügen, Dich zertrat des Weibes Samen; O Maria, sei gegrüßet, Mutter Gottes, voller Gnaden!« Eine Anspielung auf Hitler als großer Geist der Lügen?
Doch es kursieren auch andere Thesen zur Namenswahl der Widerstandsgruppe. Der Name könnte auf den Roman »Die Weiße Rose« des deutschen Schriftstellers B. Traven verweisen, den Hans Scholl gekannt hat. Der Roman spielt in den Zwanzigerjahren auf der mexikanischen Hazienda »La rosa blanca«, auf der Besitzer und Arbeiter seit Generationen harmonisch zusammenleben, bis eines Tages Öl entdeckt und dem Idyll ein Ende gesetzt wird. Nimmt die Namensgebung vielleicht hier eine Anleihe? Wolfgang Huber, der Sohn des Weiße-Rose-Mitstreiters Kurt Huber, besteht jedenfalls darauf, dass die Weiße Rose als politische Anspielung vor dem Hintergrund des mexikanischen Freiheitskampfes verstanden werden müsse. 5 Wie auch immer, wichtig war Hans Scholl nach eigenen Worten vor allen Dingen, »dass in einer schlagkräftigen Propaganda gewisse feste Begriffe da sein müssen, die an und für sich nichts besagen, einen guten Klang haben, hinter denen aber ein Programm steht«. 6
Mit der Namensgebung der Weißen Rose ist es wie mit vielen anderen Details zum Widerstand dieser Gruppe: Wir können uns nie ganz sicher sein. Nicht nur haben die Akteure selbst ihre politischen Äußerungen zensiert oder gar vernichtet, als ihre Gefährdung immer größer wurde. Sie haben auch bewusst Fehlinformationen über ihre Entstehung und Rekrutierung gestreut, um die Verfolger möglichst lange zu täuschen. Die Wahl der Selbstbezeichnung könnte deshalb auch einen ganz simplen privaten Grund gehabt haben: Hans Scholl hatte zeitweilig eine sehr wichtige Beziehung zu Rose Nägele. Gerade in der Zeit, als er sich entschloss, in den Widerstand zu gehen, scheint sie seine Ansprechpartnerin gewesen zu sein. Wie dem auch sei, die weiße Rose wurde, ähnlich wie die rote Nelke für die Arbeiter, zum Signet einer inneren Haltung junger Menschen, die von ihrer Freiheitssehnsucht getrieben die Unfreiheit im NS-Regime bekämpften.
Das Hauptproblem der Erforschung der Weißen Rose sind jedoch nicht Details der Namensgebung und auch nicht die Frage, wer genau wann in welchem Ausmaß an den Aktivitäten beteiligt war. Das Hauptproblem ist und bleibt vielmehr die schon eingangs aufgeworfene Frage, wie jemand (plötzlich?) zum Widerstandskämpfer wurde. Um diesen Punkt muss letztlich jede Beschäftigung mit den großen mutigen Ausnahmeerscheinungen im Nationalsozialismus kreisen. Bei manchen Akteuren fällt die Antwort leichter: Sie wollten ihre militärische Ehre verteidigen, sie gehörten einem politisch immunen Milieu an, oder sie hatten als Männer der Kirche eine starke Glaubensmacht im Rücken und gewissermaßen den Befehl »von oben«, für Menschlichkeit auf Erden zu sorgen. Weil all diese Kriterien auf unsere Aktivisten jedoch nicht zutreffen, ist es in der Weiße-Rose-Forschung üblich geworden, nach Schlüsselereignissen in den Biographien der Beteiligten zu suchen. Was könnte das für ein Ereignis gewesen sein, das den jungen Leuten die Augen öffnete und sie, allen voran den engagierten Hitlerjugendführer Hans Scholl, zu der äußerst riskanten Entscheidung für den Widerstand veranlasste? Inge Scholl, die älteste Schwester von Hans und Sophie, hat die Erinnerung an die Weiße Rose am nachhaltigsten geprägt, auch sie bemüht das Erzählmuster der Erweckungsgeschichte. Eine Fahrt zum Nürnberger Parteitag, bei der Hans Scholl als Hitlerjunge seine Altersgenossen als unförmige Masse, als Kollektiv im Gleichschritt, ohne jede Individualität und Eigenständigkeit erleben musste, habe ihm die Augen geöffnet, so Inge Scholl. Auf einmal sei ihm klar geworden: Nicht geistiges Wachstum und Verantwortung seien das Jugendideal der Nationalsozialisten, sondern Gehorsam und »Uniformierung bis ins persönliche Leben hinein«. 7 Aus dieser plötzlichen Erkenntnis sei bei ihm und bei seinen Geschwistern die bessere Einsicht gereift. »Wie da der Zweifel, der bisher nur ein Funke war, erst zu tiefer Trauer wurde und dann zu einer Flamme der Empörung«, das ist der Erklärungsversuch der bekanntesten Darstellung der Weißen Rose. 8
Es war also die Geschichte einer geistigen Umkehr – ein Topos, der übrigens auch gut in Inge Scholls eigenes Leben passte, denn schließlich war sie selbst als Jugendliche eine große Hitler-Verehrerin gewesen und hatte dann tatsächlich eine Wende vollzogen: Inge Scholl zog es, während ihre Geschwister in den Widerstand gingen, mehr und mehr zum Katholizismus hin, bis sie schließlich am 22. Februar 1945 zum katholischen Glauben konvertierte – ausgerechnet am Todestag von Hans und Sophie. Sie wollte damit »an ihre Heimkehr die meine knüpfen«. 9 Also stellte sie, so können wir vermuten, ihren Heilsweg in die Nachfolge ihrer Geschwister und überhöhte den Tod ihrer Geschwister zum Martyrium. Allerdings müssen wir bei dieser Interpretation im Auge behalten, dass Inge Scholl in den moralischen Entwicklungsprozess ihrer Geschwister hin zum Kampf gegen Hitler in keiner Weise einbezogen gewesen war. Doch davon einmal abgesehen, ist die Erweckungsgeschichte, die zum Widerstand geführt haben soll, überhaupt plausibel?
Die Idee, die Geschichte der jungen Widerstandsgruppe mit einem Schlüsselereignis beginnen zu lassen, hat die Forschung seit Inge Scholls Darstellung immer wieder beschäftigt. Eine entsprechende Deutung will den Wandel der jungen Leute mit der kurzen Haft Hans Scholls im Jahr 1937 erklären. Hans habe in der Gefängniszelle notgedrungen Gelegenheit bekommen, über seine Haltung zum Nationalsozialismus nachzudenken. Doch warum dauerte es nach seiner Haft noch weitere fünf Jahre, bis er im Widerstand aktiv wurde?
Eine weitere geläufige Sichtweise ist, dass Hans Scholl und seinen Freunden als Soldaten die Augen geöffnet wurden, als sie im Osten die Verbrechen der Deutschen miterleben mussten. Wieder andere sagen, erst die intensive Beschäftigung mit dem Christentum beziehungsweise der katholischen Lehre habe aus indifferenten Protestanten mutige christliche Widerstandskämpfer gemacht. Doch auch diese Herleitungen können nicht ganz überzeugen. Sie erscheinen willkürlich und vermögen mehr über die Präferenzen der Beobachter als über die Beweggründe der Aktivisten zu erzählen.
Der entscheidende Moment, in dem aus ganz normalen Menschen ganz außerordentliche Widerstandskämpfer wurden, ist schwierig zu fassen. Das für Heiligenviten so typische Narrativ – die plötzliche Bekehrung durch ein »Damaskuserlebnis« – hat zwar großen erzählerischen Charme, aber wenig Überzeugungskraft. Modernen Menschen gehen nun einmal nicht plötzlich die Augen auf. Bloße Erkenntnis oder gar Erleuchtung wird wohl niemanden so weitreichende Entscheidungen treffen lassen.
In den Kognitionswissenschaften, der Psychologie und der Soziologie gibt es daher auch kein Modell, das moralische Entscheidungen wie die, in den Widerstand zu gehen, mit Schlüsselerlebnissen begründet. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass gravierende Erfahrungen, Begegnungen oder Ereignisse nur dann ihre Wirkung entfalten können, wenn sie auf vorhandene Werte, Haltungen und Persönlichkeitsmerkmale treffen; Psychologen würden sagen, auf eine Lerngeschichte oder eine Moralentwicklung. Eine Erfahrung allein stiftet noch keine Bedeutung, denn jeder Mensch zieht aus ihr andere Lehren.
Politische Haltungen und moralische Entscheidungen fußen vielmehr auf Grundüberzeugungen, die bereits früher im Leben angelegt wurden. Anders gesagt, sie sind Ergebnis einer kumulativen kognitiven Entwicklung, die nicht ohne Sozialisationsprozesse denkbar ist. 10 Ob das ein universelles Prinzip ist, sei dahingestellt, doch wir können davon ausgehen, dass die Moralvorstellungen, die bei den Kämpfern der Weißen Rose wirksam wurden, weder eigennützig noch instrumentell entstanden noch aus Gehorsam geboren wurden und dass sie auch keine Ergebnisse rein rationaler Entscheidungen waren. Vielmehr sind sie durch Sozialisation und wiederkehrende Erfahrungen im Leben erworben worden.
Die erste und wichtigste Sozialisation geschieht in der Kindheit und findet seit dem bürgerlichen Zeitalter vor allem im Rahmen der Familie statt. Das familiäre Klima, die Erziehungsstile und Vorbilder der Eltern bilden Strukturen, auf die später politische Rahmenbedingungen, Ereignisse, auch besonders prägnante Erfahrungen und Begegnungen stoßen. Mit anderen Worten, die Sozialisationsinstanz Familie legt den Grundstein, zu dem später andere Sozialisatoren wie Schule, Freundeskreis, Vereine, Kirche, Partei und so weiter kommen. Das ist nicht nur in unserer heutigen Gesellschaftsform so, das traf sogar in noch höherem Maße in sogenannten Erziehungsdiktaturen wie dem nationalsozialistischen Deutschland und in der DDR zu. Damals, als der Staat versuchte, frühzeitig Kontrolle über die Sozialisation der Kinder zu erlangen, war der Einfluss der elterlichen Werte – übrigens auch als Negativfolie – besonders groß. 11 Deshalb waren diese Systeme auch so darauf erpicht, Kinder frühzeitig aus der Einflusssphäre ihrer Familie loszueisen und sie stattdessen staatlich zu indoktrinieren.