VOLKMAR SIGUSCH
DAS SEX-ABC
NOTIZEN EINES SEXUALFORSCHERS
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Volkmar Sigusch, der Begründer und Doyen der deutschen Sexualmedizin, wird fast täglich um Rat gefragt: von deutschsprachigen und internationalen Medien, für die er einer der »deutungsmächtigsten« Zeitgenossen und begehrter Gesprächspartner ist, von Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt, von Patientinnen und Patienten, Studierenden und Doktoranden. In der Form eines Lexikons bündelt dieses unkonventionelle »Sex-ABC« Siguschs Antworten auf häufig gestellte, aber auch abgelegene Fragen zu Sexualität, Lust und Begierde. Dabei bietet es eine kurzweilige Bestandsaufnahme des Wissens über den Sex und überraschende Einblicke in die aktuelle Welt der Neosexualitäten. Ein Vademekum für anspruchsvolle Zeitgenossinnen und Zeitgenossen – wahlweise für Jackentasche oder Nachttisch.
Vita
Volkmar Sigusch, Arzt und Soziologe, ist einer der angesehensten Sexualwissenschaftler der Gegenwart. Als jüngster Medizinprofessor auf den ersten selbstständigen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen, entfaltete er – insbesondere als Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft der Universität Frankfurt am Main (1973 – 2006) – national und international eine außerordentliche Wirkung.
VORWORT
AB
ABATTAGE
ABOLITIONISMUS
ABORTFETISCHISMUS
ABTREIBUNGEN
ACUCULLUS
AFFEKTORGASMUS
AGALMATOPHILIE
AGAPE
AGENDER
AIDS
ALTERSSEXUALITÄT
AMAUROPHILIE
AMELOS
AMOR EREOS
AMOUR FOU
AMPALLANG
AMPELOS
AMPLIFICATIO VAGINAE
ANALEROTIK
ANORGASMIE
ANTEROS
ANTIKE VERHÄLTNISSE
ARS ANTEROTICA
ASEXUELLE
ATTENTÄTER
AUTOASPHYXIE
AUTONEPIOPHILIE
BASTINADE
BDSM
BEGEHRUNGSALTER
BELIEBTESTE DEUTSCHE
BESCHNEIDUNG
BEVÖLKERUNG
BISEXUELLE
BRUSTBÜGELN
CASANOVA COACHING
CHEF
CHRONOPHILIE
CISGENDER
CISSEXUELL
COITUS GERMANICUS SIMPLEX
COMING-OUT IM NETZ
COMPUTER-ARZT
COOLIDGE-EFFEKT
COUGARS
COUVADE
COUVADE-SYNDROM
CREATIVE SENTENCING
CYBERBULLYING
DELIKTE
DEMODEX
DENKER
DENUNZIATIONSGESELLSCHAFT
DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG
DIFFERENTIA GENERIS SPECIFICA UND DIFFERENTIA SEXUALIS SPECIFICA
DISKURSIVITÄT
DISPOSITIV
DOGGING
EHE GLEICHGESCHLECHTLICHER
EHESTUDIUM
ELP
EPHEBOPHILIE
ERFOLGSGEHEIMNIS
ERKENNTNIS
EROTIK IN SPLITTERSÄTZEN
ERSTER SCHWULER DER WELTGESCHICHTE
E-SEX
FAMILIE
FAPPIEREN
FELCHING
FEMALE BOUNCER
FETISCHE
FEUCHTGEBIETE
FISTING
FRAUENTRIEB
FREIHEIT UND INSTITUTION
FUNDAMENTALISTEN
GEBURTENRATE
GEDROSSELTER DRANG
GEGENSÄTZE
GEHEIMNIS
GENDER PAY GAP
»GENITAL«
GENITIV
GENITALVERSTÜMMELUNG
GEPLAPPER
GERECHTIGKEIT
GERONTOPHILIE
GESCHLECHTER UND GESCHLECHTERDIFFERENZEN IN SPLITTERSÄTZEN
GESCHLECHTER UND FRAUENHEILKUNDE
GEWALT GEGEN FRAUEN
GLÜCK
GRÄFENBERG-ZONE
HEBEPHILIE
HEGELS EHRE
HETEROSEXUELL
HODEN
HOMILOPHILE
HOMOSEXUALITÄT IN SPLITTERSÄTZEN
HOMOSEXUELLE UND TOM OF FINLAND
HOMOSEXUALITÄT UND UMPOLUNG
HYLOMATIE
INTERNETSEXUALITÄT
INTERSEKTIONALITÄT
INTERSEXUELLE
IRRITATIONEN
JESUS
JUGENDSEXUALITÄT
JUNGFRÄULICHKEIT
KAIROS UND KAIROPHOBIE
KANT UND DE SADE
KAREZZA
KATHOLIKEN
KEUSCHHEIT
KINDERSEXUALITÄT
KINSEY, ALFRED C.
KLEINSTFAMILIE
KLITORIS
KONDOME
KONSEQUENZ
KORRIGIERENDE VERGEWALTIGUNG
KRANKHEIT UND THERAPIE IN SPLITTERSÄTZEN
KRÄNKUNGEN DER EIGENLIEBE
KRITIK DER SEXUALMEDIZINISCHEN FACHSPRACHE
KRITISCHE THEORIE
KULTUR UND GESELLSCHAFT IN SPLITTERSÄTZEN
LEBEN
LIEBE ALS EINZIGARTIGE KOSTBARKEIT
LIEBE ALS MYSTIFIKATION
LIEBE ALS STRÖMUNGSART
LIEBE ALS HOHES UND ALS NIEDERES LIED
LIEBE IN SPLITTERSÄTZEN
LIEBESSTILE
LIGURINUS-SCHOCK
LIMERENZ
LINGAM
LIQUID GENDER
LOVE-SCAMMER
LUST ODER LIBIDO
LUSTLOSIGKEIT
MANGEL
MASTEKTOMIE
MASTERS UND JOHNSON
MASTERS-JOHNSON-THERAPIE
MEDIKAMENTE UND SEXUELLE STÖRUNGEN
MEDIZIN ALS HURE DER ÖKONOMIE
MENSCHHEIT
MIKA-OPERATION
MISSBRAUCH, MARKTFÄHIGER
MISSBRAUCH, SEXUELLER
MITMUTTER
MODENSCHAU
MORALAPOSTEL
NACHTFALTER
NATÜRLICH
NAKED BOYS READING
NEGATIVE DIALEKTIK
NEOSEXUELLE INVOLUTION
NEOSEXUELLE REVOLUTION
NEOTEROPHILIE
NEOZOOPHILE
NEPIOPHILIE
NOFAP-BEWEGUNG
NORMOPATHEN
OBJEKTIV
OBJEKTOPHILE
ONLY LUNCH
OPERATIVE GENITALVERSCHÖNERUNG
OPFER
ORGASTISCHE MANSCHETTE
OSPHRESIOLOGIE
PAARGEHEIMNISSE
PAARTHERAPIE
PÄDOPHILIE UND PÄDOSEXUALITÄT
PALÄOSEXUELLE
PARAPHILIE
PARTHENOGENESE
PARTHENOPHILIE
PEGGING
PENISEREKTION
PENISPLETHYSMOGRAFIE
PERVERSION
PERVERSES IN SPLITTERSÄTZEN
PILLE DANACH
PINK TAX
PIONIERE DER NEOSEXUELLEN REVOLUTION
POESIEN
POLITIK UND SEXUALITÄT
POLYAMORIE
PORNOGRAFIE
POSTSEXUALITÄT
POTIPHARS WEIB
PROGRESSIVER ZERFALL
PROSTITUTION
PRÜDERIE
PSYCHOANALYSE
PYGMALIONISMUS
PYGMALIONKOMPLEX
QUITTUNG
REGRETTING MOTHERHOOD
REINWASCHUNG IM ALTER
REPRODUKTIVE RELIGIOSITÄT
RÜCKSICHT
SAKROFRIKOSE
SALIROMANIE
SAPIOSEXUELL
SÄUGLINGSORGASMUS
SCHAM
SCHANDE
SCHLAFMITTEL
SCHULD
SCHWARZKINDER
SCHWUL UND HOMOSEXUELL ALS WORTE
SELBSTBEFRIEDIGUNG
SELBSTENTLARVUNG
SELFSEX
SELFSUCK
SENSATE FOCUS
SEX FLUSH
SEX SKIN
SEXKINOS
SEXMIETE
SEXTING
SEXUALBERATUNG
SEXUALITÄT
SEXUALITÄT UND GESELLSCHAFT IN SPLITTERSÄTZEN
SEXUALITÄT UND GESUNDHEIT
SEXUALMEDIZIN
SEXUALTHEORIE IN SPLITTERSÄTZEN
SEXUALWISSENSCHAFT
SEXUELLE DAUERBEZIEHUNG
SEXUELLE REVOLUTIONEN
»SHADES OF GREY«
SHARE GENDERNESS
SICHERHEIT
SILVER SEX
SIPHNISIEREN
SITOPHILIE
SKOPOPHILIE
SMOMBIE
SPOTTPROSA AUF DIE WISSENSCHAFTLICHEN GEGNER
STATUS ORGASTICUS
STRICHER
SUGARDADDY
TABU
TAGESNACHRICHTEN
TETRAGAMIE
THE VENUS BUTTERFLY
THELEIOPHILIE
TINDERN
TOTALES WISSEN
TOTALITÄT
TRANSGENDER/TRANSIDENTITÄT
TREUE DER NEOSEXUELLEN
TREUE DER PALÄOSEXUELLEN
TRISEXUELL
TROSTFRAUEN
ÜBERRASCHUNG?
UN-SICHERHEITSRAT
UNTERWACHUNG
VERRICHTUNGSBOXEN
VIAGRA®
VIAGRA® FÜR FRAUEN?
VIAGRA® UND DIE NEOSEXUELLE REVOLUTION
VORLIEBEN
VORURTEILE
WAFFENBRÜDER
WEIBLICHE BRUST
WEIBLICHE SEXUALITÄT
WELTKONGRESSE DER SEXOLOGIE
WORTE
WORTSCHÖPFUNG
YONI
ZIPPER SEX
ZISSEXUELLE
ZUNGE
LITERATUR
Beinahe jeden Tag werde ich um Rat gefragt. Einmal sind es die Medien, die mich ansprechen, weltweit von Brasilien bis zur Mongolei, dann wieder Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Neue Zürcher Zeitung oder BBC, WDR, Profil und Spiegel, andermal liebe Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt, Hilfe und Therapie Suchende mit eher sehr seltenen Begierden oder Störungen und natürlich Studierende und Promovierende, die auf das Sexuelle mit vielen Fragen gestoßen sind. Natürlich habe ich selbst auch sehr viel durch die Fragen und die Vorträge der Ratsuchenden gelernt – bis ich eines Tages auf die Idee kam, meine Antworten in der Form eines ABC zusammen zu fassen.
Durch die genannten Prozesse ergab sich eine Mischung aus bereits von mir niedergelegten Forschungsergebnissen einerseits und ganz aktuellen Überlegungen zu Ereignissen wie Love-Scammer, Cougars, Sapiosexuelle, Coolidge-Effekt oder NoFap-Bewegung andererseits, nach denen mich die Kollegen oder Medien gefragt haben. Wenn mir ein Wort, ein Ereignis oder ein Phänomen interessant oder sogar wichtig schien, ließ ich mich treiben, auch wenn ich dabei manchmal das engere Gebiet der Sexualforschung verließ. So kam es zu kurzen Bemerkungen oder Definitionen oder zu etwas längeren Ergüssen. Antworte ich, wenn es sehr komplex wird, in »Splittersätzen«, dann zeigt das, dass eigentlich noch viel mehr dazu zu sagen wäre …
Schwierig ist es, nach fünfzig Jahren Forschung, Lehre und Therapie für ein breites Publikum über das Sexuelle zu schreiben, ohne an Reflexion nachzulassen. Ich habe es versucht und hoffe sehr, Sie wird es anregen.
Nach vielen Jahren der Zusammenarbeit bin ich wieder Dr. Judith Wilke-Primavesi vom Campus Verlag ganz besonders dankbar für die vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Frankfurt am Main, im Sommer 2016
Volkmar Sigusch
Diese Abkürzung steht bei Experten für Adult-Baby oder Adultes Babysyndrom, sexualwissenschaftlich auch Autonepiophilie genannt. Worum es geht? Ein Erwachsener ist erregt und glücklich, wenn er von seinem Partner wie ein Baby oder Kleinkind behandelt wird, also gefüttert, gewaschen, gepudert, gewickelt usw. wird, umgeben von seinen Lieblingsspielzeugen. Dem, der sich in diese Lage begibt, geht es vor allem um Gefühle wie Geborgenheit. Bei seinem Partner stehen Gefühle im Vordergrund wie sie glückliche Kleinkindeltern haben. Nicht zu verwechseln sind diese Autonepiophilen mit den Windelfetischisten, die durch das Tragen von Windeln sexuell erregt werden (➔ Chronophilie; Nepiophilie).
Das Wort bedeutet im Französischen Schlachten oder Fällen und meint in der ➔ BDSM-Szene »ein Sklave wird zur Verfügung gestellt«. Andere Abkürzungen und Bezeichnungen in dieser Szene sind zum Beispiel: Abduction für Entführung; AC/DC für bisexuell; AF für Algier Französisch, das meint Anilingus und das meint Analverkehr mit der Zunge; AFF für Analen Faustfick; AHF für Achsenhöhlenfick; AO für alles ohne, das heißt ohne Kondom; AT für a tergo, das heißt von hinten, oder AV für Analverkehr.
In sexualwissenschaftlichen Zusammenhängen wird von Abolitionismus (engl. abolition Abschaffung) gesprochen, wenn eine soziale Bewegung gemeint ist, die als Teil einer Frauenbewegung verlangt, die staatliche Kontrolle der ➔ Prostitution abzuschaffen. Ein überzeugendes Argument war bisher zum Beispiel, dass Frauen kontrolliert werden, ob sie eine Geschlechtskrankheit haben, Männer aber nicht. Dass nach dem Rückzug des Staates ein freies Hetärenwesen entstehen könnte wie im antiken Griechenland, blieb ein Traum.
Ursprünglich bezeichnete das Wort die sozialen Bewegungen in Europa, Süd- und Nordamerika, die die Abschaffung der Sklaverei verlangten. Heute werden auch Aktivitäten von Veganern, Tierschützern oder Kriminologen, die das staatliche Strafrecht samt der Gefängnisse abschaffen möchten, als abolitionistisch bezeichnet.
Sexueller Drang von Männern, Frauen auf der Toilette beim Verrichten der Notdurft zu beobachten. Um diese Möglichkeit zu haben, verkleiden sie sich zum Beispiel als Handwerker, die etwas auf der Toilette reparieren müssen, und verschwinden dann bei passender Gelegenheit in einer Toilette, aus der heraus sie eine Frau beobachten können.
Seit 2004 sinkt die Zahl der Schwangerschaftsabtreibungen in Deutschland. Auch im Jahr 2015 sank die Zahl um 0,5 Prozent auf insgesamt rund 99200 Abbrüche laut Statistischem Bundesamt. Mit der Absaugmethode bzw. Vakuumaspiration wurden fast zwei Drittel der Schwangerschaften beendet. Das Mittel Mifegyne wurde in knapp einem Fünftel der Fälle angewandt. Regine Wlassitschau vom Pro Familia Bundesverband wies darauf hin, dass Hilfen zur Familienplanung aus der Sozialhilfe gestrichen worden seien, was arme Frauen in heikle Lagen versetze (dpa, 10.3.2016).
Als Acucullus (lat. a weg und cucullus Tüte, Kapuze) wird ein Penis bezeichnet, der beschnitten ist.
Wenn Paare dazu neigen, sich immer wieder zunächst heftig zu streiten, um dann in der Versöhnungsphase einen besonders erregenden und befriedigenden sexuellen Höhepunkt zu erreichen, wird von Affektorgasmus gesprochen.
Agalmatophile (gr. agalma Statue sowie philie Leidenschaft) werden durch unbelebte Darstellungen von Menschen sexuell erregt, also durch Statuen, Puppen oder Gemälde. Verwandte ältere Bezeichnungen für diese Vorliebe sind Statuophilie und Pygmalionismus (➔ Objektophile und Pygmalionkomplex).
Die Agape (gr. Liebesmahl) meint frühchristlich eine geistliche Liebe, konkret ein Liebesmahl in Verbindung mit dem Abendmahl. Arme, Schwache und Sünder wurden eingeladen, ja sogar Feinde. Agape entspricht der römischen Caritas, soll selbstlos sein, keineswegs sinnlich wie Eros und aus moderner Sicht natürlich unsexuell. Ob das möglich ist, steht heute auf einem anderen Blatt, wenn nur daran gedacht wird, wie sehr die Hilfsbereitschaft und das Dankeschön der Armseeligen das Selbstwertgefühl verbessern kann.
Von Agender spreche ich, wenn sich eine Person keinem der in der Kultur anerkannten Geschlechter zuzuordnen vermag, insbesondere nicht weiblich oder männlich, aber auch nicht transgender oder intergender.
Als die Erkrankung in den 1980er Jahren bei uns ausbrach, war sie in unserer Kultur beides: eine schwere Erkrankung und nichts als Blendwerk. »Sie war ein kultureller und politischer Volltreffer, in dem sich die einzelnen Gräuel mit dem Grauen des Ganzen lärmend vermählten. In dem Phänomen AIDS sind zusammengeschossen: die latente Untergangsstimmung mit bestens bedienten Geschäftsinteressen, das Sicherheitsdenken mit dem ökologischen, der Präventivschlag mit dem Mythos vom Blut, das heidnische Aug-um-Auge der Geißeln Gottes mit der Charité, der Hass auf das Abweichende mit dem Neid auf den Glamour der Perversion, die Angst vor dem sexuell Triebhaften mit dem Liberalisierungshorror, der Rassismus mit der Sozialhygiene, der Schrecken der Verseuchung mit der momentanen Ruhe des Tests, das Selbsthilfegruppengesamttreffen mit der Ohnmacht der Medizin, die eigenen homosexuellen Regungen mit der praktizierten Homosexualität, die Schuldangst der Libertinen und Randständigen mit der Rage der Verfolger: AIDS für alle, alle für AIDS. Die doppelte Wirklichkeit von AIDS ließ die sexuelle Metaphysik stürzen. Doch es war in dieser Kultur immer ein Wagnis auf Leben und Tod, sich fallen zu lassen, die Kontrolle zu verlieren, die Normen zu brechen« (Sigusch 2005, S. 173). Alle Sexualsubjekte ahnten auch vor dem Einbruch von AIDS die riskante Nähe von Sexus und Tod, nahmen sie aber als nicht ganz von dieser Welt. Dann ist sie unverstellt Realität geworden.
Vor zehn Jahren (Sigusch 2006) habe ich in meiner damaligen Kolumne in der Frankfurter Rundschau geschrieben: »Was mir 25 Jahre nach dem Einbruch der Krankheit Aids durch den Kopf geht? In jüngster Zeit vor allem, dass in Westdeutschland die historisch erst kurz zuvor errungene kulturelle Liberalität im Umgang mit Minderheiten und Kranken einem enormen Ansturm widerstanden hat. Das ist mir bis heute eine Freude. Unsere noch gar nicht in einem Ernstfall erprobte Liberalität hat in den achtziger Jahren standgehalten, obgleich damals von politischer Seite gegen die besonders Riskierten rassistisch gehetzt und von großen Presseorganen angstmachende Dramatisierungen aufgetischt worden sind. Trotz dieser Aufpeitschung und einer allgemeinen Hysterisierung hat die damalige Bundesregierung mehr oder weniger vernünftig reagiert. Vom Bundesgesundheitsamt könnte ich das aber nicht sagen, und zwar aus folgendem, auch persönlichem Grund.
Im Herbst 1982 starben in Frankfurt am Main drei homosexuelle Männer im Alter von 33 bis 39 Jahren. Jetzt war nicht mehr zu übersehen, dass homosexuelle Männer besonders gefährdet sind. Deshalb stellten Martin Dannecker und ich beim damaligen Bundesgesundheitsamt den Antrag, ein Forschungsprojekt des Instituts für Sexualwissenschaft zu finanzieren, dessen Ziel es war, Zusammenhänge zwischen Lebensstil, Sexualpraktiken und Ausbruch der Erkrankung aufzufinden. Damals war noch nicht bekannt, dass es sich bei Aids um eine Infektionskrankheit handelt.
Nebenbei gesagt, aber alles andere als unwichtig, vielmehr kennzeichnend für unsere nach wie vor arrogante Männerkultur: Das HI-Virus, das Aids auslöst, hat eine Frau entdeckt. Sie heißt Françoise Barré-Sinoussi und arbeitete am Pariser Pasteur-Institut. Nachzulesen in der entscheidenden Fachpublikation in Science (220, 868, 1983): Barré-Sinoussi et al., Isolation of a T-lymphotropic retrovirus from a patient at risk for Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS). Doch viele »Experten« behaupten bis heute, der von Anfang an medial aufgeblasene US-Amerikaner Robert Gallo habe diese große Entdeckung gemacht. Als ich in den 1980er Jahren in einem Vortrag die Wahrheit erwähnte, waren alle Zuhörerinnen entsetzt. Ich musste den Namen der Entdeckerin an die Tafel schreiben, worüber die FR am nächsten Tag berichtete.
Doch zurück zu unserem Forschungsantrag. Die Antwort des Bundesgesundheitsamtes lautete: kein Bedarf. Offenbar sahen die »Experten« keinen Zusammenhang zwischen Sexualpraktiken und dem Ausbruch der Erkrankung. Einige kluge Leute im Gesundheitsministerium haben später diesen gravierenden Fehlschluss korrigiert und uns ein Forschungsprojekt finanziert. Die Ergebnisse sind nachzulesen in Danneckers Buch Homosexuelle Männer und AIDS von 1990.
Konservative bis rechte Politiker waren inzwischen in Westdeutschland dabei, ein neues Kapitel der Homosexuellenverfolgung aufzuschlagen. Während sie den riskierten Hämophilen, den sogenannten Blutern, ihr ungeteiltes Mitleid schenkten, richteten sie ihre Ängste und ihren Hass gegen die Schwulen und die Fixer. Die seien nicht Opfer einer schrecklichen Infektionskrankheit, sondern selber schuld, ja durch ihre Lebensweise seien sie sogar die Produzenten dieser Krankheit – eine Wahnidee, die nur noch ein Gottesurteil auffangen konnte. Gott muss also das HI-Virus vor vielen Generationen in die Erbsubstanz afrikanischer Dorfbewohner eingeschrieben haben, um es an jenem Tag auf US-amerikanische Flugbegleiter zu übertragen, an dem sie die Geduld des HERRN in Sachen Fleischeslust endgültig erschöpft hatten.
Indem Politiker damals, mit Gott oder ohne, gefangenen Drogenabhängigen Einmalspritzen verweigerten und junge Homosexuelle davon abhielten, sich beraten zu lassen und nach einem riskanten Sexualkontakt gegenüber Amtspersonen als Homosexuelle zu bekennen, nahmen sie bewusst deren Tod in Kauf. Das gilt natürlich auch für den Vatikan, der bis heute um die zahllosen Aids-Toten in Afrika trauert, das entscheidende Präventionsmittel Kondom aber verdammt. Und es gilt nach wie vor für die Pharma-Industrie und die Regierungen der reichen westlichen Länder, die für die Armen der Welt beschämend wenig tun. Bei uns besteht heute die paradoxe Gefahr, dass die Krankheit Aids übermäßig normalisiert wird. Gleichzeitig wird in den armen Ländern nach wie vor massenhaft an Aids gestorben, obwohl wir das verhindern könnten.
In Deutschland hat mich in den achtziger Jahren eine öffentliche Äußerung des bayerischen Kultusministers Hans Zehetmair besonders empört. Er sagte, gegen Homosexuelle gerichtet: »Diese Randgruppe muß ausgedünnt werden, weil sie naturwidrig ist« (SZ, 7.4.1987). Nach öffentlichen Protesten versuchte er, seine Äußerung zu ›differenzieren‹. Diese ›Differenzierung‹ ist ein Dokument der sprachlichen Verdrehung, der intellektuellen Verknödelung und der moralischen Verkommenheit. Zehetmaier, der heute wegen seines feinen Sprachgefühls für die Rechtschreibreform zuständig ist, erläuterte schriftlich: »daß man für Homosexualität Verständnis aufzubringen hat, auch wenn man sie, wie ich persönlich, als naturwidrig und ein im Grunde krankhaftes Verhalten ansieht. Meine Aufgabe kann und darf es nicht sein, um Verständnis für Homosexualität und damit für Randgruppen unserer Gesellschaft zu werben. Sondern sie muß vielmehr in erster Linie darin bestehen, dafür Sorge zu tragen, daß möglichst wenig junge Leute in diesen durch Aids besonders gefährdeten Randbereich hineingeraten. Wir müssen den Schutz der Vielen in der Bevölkerung als zentrales Ziel im Auge sehen und uns nicht nur darum bewegen, wer am Rand noch besser verstanden werden kann. Dieser Rand muß durch Aufklärung dünner gemacht bzw. ausgedünnt werden, denn er stellt für die Jugend keine Zukunftsperspektive dar. Nur zur Ergänzung darf ich Sie auf die Erklärung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Höffner, […] hinweisen. Darin heißt es, daß homosexuelle Verbindungen nicht mit der Lebensform Ehe und Familie gleichzustellen seien. Sie verstießen nicht nur gegen das Grundgesetz, sondern leisteten damit auch der Verbreitung der Immunschwäche-Krankheit Aids Vorschub.« (SZ, 4.4.1987)
Folglich beschloss die bayerische Staatsregierung drakonische Maßnahmen und beschimpfte die Bundesregierung wegen ihrer ›verfehlten‹ Politik. Ihr Sprachrohr war längere Zeit ein gewisser Peter Gauweiler, der seine Hasstiraden 1989 unter dem Titel »Was tun gegen Aids?« als Buch zusammenfasste. Als Oswald Kolle dieses Buch rezensierte (taz, 15.4.1989), hatte er eine deutsche Erinnerung. Er schrieb, Gauweilers Buch müsste nicht »Was tun gegen Aids?« heißen, sondern »Mein Kampf gegen Aids«. Dazu passen unsägliche Äußerungen eines gewissen Carl-Dieter Spranger, damals Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesinnenminister, später sieben Jahre lang Bundesminister. »Frieden und Freiheit« seien auch im Inneren wichtig, aber da in erster Linie für die Normalen, nicht für »perverse Minderheiten, Terroristen, Verbrecher und Randgruppen« (Erdinger Neueste Nachrichten, 20.1.1983). Solche Sätze machen aus dem, der sie sagt, noch keinen Nazi. Hellhörig aber muss man werden. Denn das Kontinuum der Barbarei endete nicht in Auschwitz.
Umso erfreulicher, dass die Verfolger ihre Politik der verbrannten Erde nicht realisieren konnten. Sie wollten Riskierte und Infizierte ein Leben lang überwachen, einsperren, »absondern«. Sie wollten Zwangstests und Zwangstätowierungen. Sie trieben aidskranke Menschen aus dem Land, gingen über Leichen. Gegen diese Menschenverachtung sind damals vor allem die liberale Presse, die Aids-Hilfen und die Sexualforscher angetreten. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung war die erste wissenschaftliche Vereinigung, die deutlich widersprochen hat. Und die FR (7.12.1984) war die erste, die unsere Erklärung vom November 1984 »Über den allgemeinen Umgang mit AIDS« gedruckt hat. Das verbindet (vgl. auch Dannecker 1991, 2007, Sigusch und Gremliza 1986, Sigusch 1987, 1989a und b).
Zurzeit sollen weltweit 37 Millionen Männer und Frauen mit HIV infiziert sein, 65 Prozent davon seien homosexuell. Jedes Jahr sollen sich 2 Millionen neu infizieren. In Deutschland leben nach offiziösen Angaben etwa 83.400 Männer und Frauen mit HIV und AIDS. Geschätzt wird, dass 13.000 bis 14.000 nicht wüssten, dass sie infiziert sind. Für Frankfurt am Main teilte der Stadtrat Christian Setzepfand (FR, 20.11.2015, S. F5) kurz vor dem Welt-Aids-Tag, dem 1. Dezember, mit, dass in den vergangenen zwölf Monaten 60 bis 70 Einwohner an AIDS gestorben sind, darunter viele Drogenabhängige, sicher auch wegen ihres geschwächten Körpers. Die medizinische Versorgung sei aber sehr gut. Zurzeit würden etwa 6.000 Patienten betreut. Im Bundesland Hessen hätten sich im vergangenen Jahr 280 Menschen neu infiziert. In Deutschland insgesamt sollen sich 2014 etwa 3.200 Männer und Frauen neu infiziert haben, und etwa 480 sollen an AIDS gestorben sein.
Einen legalen Selbsttest auf HIV, den manfrau zu Hause durchführen kann, gibt es in den USA und jetzt auch in Frankreich und Großbritannien, nicht aber bei uns. Wer sich einen Heimtest im Internet bestellt, sollte wissen, dass der Test erst sechs bis acht Wochen nach einem ungeschützten Sexualverkehr anspricht.
Dass der Einfall des AIDS-Virus nicht zu der kulturellen und massenhaft individuellen Katastrophe geführt hat, die in den ersten Jahren zu befürchten war, verdanken wir in erster Linie nicht der Politik, sondern den Betroffenen selbst, insbesondere den Schwulen und ihren Helfern, die die AIDS-Hilfen und deren Dachverband Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) landesweit aufgebaut haben und seit Jahr und Tag den Kranken und Besorgten zur Seite stehen – ohne finanzielle, juristische oder moralinsaure Hintergedanken. Wer also wissen möchte, wann mit der HIV-Therapie begonnen werden sollte, wie wirksam die bisher in den USA mögliche Behandlung mit einem Medikament namens Truvada™ ist, dass ähnlich wirksam wie Kondome eine Ansteckung mit HIV verhindern soll, was die gerade gegründete Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS e. V.) beabsichtigt, sollte sich an die AIDS-Hilfen wenden, inzwischen auch online unter aidshilfe-beratung.de sowie auf Facebook und über Twitter, wenn es um die DAH geht. Ansonsten bleibt nur der Wunsch, dass endlich begriffen wird, wie wichtig und positiv wirksam es ist, Drogenabhängigen und Prostituierten nicht mit Zwang und Verfolgung zu begegnen, sondern mit Respekt, Angeboten und Hilfe.
Seit der ➔ neosexuellen Revolution der letzten Jahrzehnte beginnt die Alterssexualität, heute charmant auch Silver Sex genannt, nicht mehr mit 50 oder 60 Jahren, sondern ein oder zwei Jahrzehnte später. Heute gilt sogar die Großelterngeneration nicht mehr als asexuell und wird auch nicht mehr durchgängig ihrer Erotik beraubt. Senioren und Sexualität, das passt heute zusammen. Zur Zeit der ➔ Sexuellen Revolution um 1968 war für die Heranwachsenden die Sexualität ihrer Eltern noch ein Tabu. Heute dagegen wird so getan, als könnten und sollten alle Omas und Opas ein üppiges Sexualleben haben, als ginge das Altwerden nicht mit Einschränkungen, Krankheiten und Verlusten einher. Doch die Scheide ist nicht mehr so geschmeidig, und der Penis ist nicht mehr so scharf wie eine Rasierklinge, sondern eher stumpf wie ein altes Küchenmesser. In einer Talkshow aber berichtete eine 79-Jährige, sie habe gerade ihr sexuelles Begehren entdeckt und ihren ersten Orgasmus erlebt. Tatsächlich ist die Scheide älterer Frauen oft trocken, doch ein Orgasmus kann sehr viel leichter erreicht werden.
Es gibt im Alter keine Sexualpause wie es bei der Frau eine Menopause gibt. Mit anderen Worten: Körperlich werden bei Mann wie Frau weder das sexuelle Verlangen noch die sexuellen Reaktionen durch den Alterungsprozess beendet. Außerdem kann eine sexuelle Betätigung ohne Stress für Körper und Seele ein Gewinn sein (➔ Gesundheitsgewinn). Abträglich für das Liebes- und Sexualleben der Alten sind die kulturellen Ungerechtigkeiten. Männer seien bei uns als Knaben und als graumelierte Herren schön, Frauen dagegen nur, wenn sie jung sind. Ungerecht ist auch die kulturelle Norm, nach der Frauen in Beziehungen jünger sind als Männer. Doch die ➔ Cougars genannten Frauen nehmen zurzeit zu, Frauen, die sich einen mindestens zehn Jahre jüngeren Partner suchen.
Empirisch gibt es nicht die Alterssexualität. Gesagt werden kann angesichts des Forschungsstandes nur, dass es bei Männern wie Frauen einen erheblichen Prozentsatz gibt, der sich mit 70 Jahren oder älter sexuell betätigt. Alles ist möglich und findet statt: Abnahme, Gleichbleiben und Zunahme der Häufigkeit sexueller Aktivitäten, Zunahme und Abnahme der sexuellen Zufriedenheit, Aufnahme neuer Praktiken oder Vorlieben wie Homosexualität, Aufgeben jeder sexuellen Betätigung usw. Empirisch belegt ist, dass die Beziehungsdauer die Koitusfrequenz stärker beeinflusst als das Alter. In allen Altersgruppen sinkt die Koitusfrequenz mit der Dauer der Beziehung. So sind alte Partner in neuen Beziehungen nicht selten sexuell aktiver als junge Partner in alten Beziehungen. Da Frauen gegenwärtig um etwa sieben Jahre älter werden als Männer, gibt es im hohen Alter einen Männermangel. Bei denen, die 70 bis 79 Jahre alt sind, kommen drei Frauen auf zwei Männer, bei denen, die 80 bis 89 Jahre alt sind, drei Frauen auf eineinhalb Männer.
Davon wird gesprochen, wenn der Partner beim Sexualverkehr blind sein muss oder wenigstens die Augen verbunden hat.
So nennen sich die Männer und Frauen, hetero- oder homosexuell, die erregt werden durch das Fehlen (gr. a) eines Gliedes (gr. melos), also durch Stümpfe bzw. amputierte Partner. Die, die das insinuieren, werden in der Szene Pretender genannt, die, die gerne amputiert wären, heißen Wannabe. Die heutige Medizin spricht in diesen Zusammenhängen etwas kompliziert von BIID, das meint Body Integrity Identity Disorder, das heißt übersetzt Körperintegritätsidentitätsstörung.
Im 14. Jahrhundert ordnete Bernhard von Gordon amor (h)ereos in seinem Werk »Lilium medicinae« den »melancholicae passiones« zu und sah damit in der Verliebtheit eine seelische Krankheit, die er den »Hirnkrankheiten« zuordnete. Zur Behandlung wurde eine Ekelkur empfohlen, bei der zum Beispiel ein altes, hässliches Weib dem Leidenden ein Hemd der Geliebten voller Menstrualblut unter die Nase halten sollte mit den Worten »talis est amica tua«, das heißt: So ist deine Geliebte.
Amour fou (frz. amour Liebe, fou närrisch, verrückt) meint eine unnormale, verrückte, sehr leidenschaftliche, rasende, verhängnisvolle Liebe, zum Beispiel zwischen einem Nazi und einer Jüdin, zwischen einem Gefangenen und seinem Aufseher, zwischen einer Chefärztin und einem Obdachlosen. Viele Romane und Filme kreisen um eine Amour fou.
Das indonesische Wort Ampallang (oder auch nur Pallang) bezeichnet Stäbchen, die pubertierenden Jungen auf Borneo und Celebes traditionell durch die Eichel des Penis gestochen werden, horizontral oder senkrecht, an beiden Seiten mit einer Kugel versehen, die Frauen beim Geschlechtsverkehr reizen sollen. Die senkrechte Durchstoßung wird seit einiger Zeit Apadravya genannt und die Kombination von Ampallang und Apadravya neuerdings Magic Cross. Generell nennen wir heute in unserer neosexuellen Kultur all diese Körperdrapierungen Piercings und sind beim Blick ins Internet erstaunt, was dort alles als Verschönerung des Penis gezeigt wird. Allerdings wurde das Ampallang auch schon im altindischen Kamasutra erwähnt.
➔ SILEN
Bei sogenannten Naturvölkern, zum Beispiel Palau und Bantu, wird die Scheide (lat. vagina) der jungen Frauen mit Gewalt amplifiziert, das heißt erweitert, insbesondere der Eingang. Wahrscheinlich hängt das in Australien mit einer Operationssitte zusammen, der junge Männer dieser Völker ausgesetzt sind. Deren Penis wird nämlich dadurch breiter und flacher (➔ Mika-Operation).
Der After (lateinisch anus) und die Dammregion sind wie die Mundregion als Übergangszone zwischen Innen und Außen besonders reichhaltig mit sehr sensiblen Nerven ausgestattet. Es verwundert also nicht, dass sie erotisiert und sexualisiert werden. Die Analerotik hat nach psychoanalytischer Sicht ihre Wurzeln in der analen Phase der kindlichen Entwicklung. Folglich kreise sie um Gerüche und Schmutz oder als seelisches Gegenstück um Reinlichkeit. Während früher analerotische Praktiken der Erwachsenen, insbesondere der Analkuss (auch Anilingus, Homagialkuss oder Teufelskuss genannt) und der anale Geschlechtsverkehr, zu den sogenannten sexuellen ➔ Perversionen zählten, gehören sie heute in den westlichen Ländern zum normalen Sexualleben. Insbesondere heterosexuelle Männer sind nach Erfahrungen von Experten oft sehr erstaunt und berührt, wenn sie eher zufällig erstmalig erleben, wie angenehm und erregend die Stimulation der Analregion sein kann.
Freud (1905, S. 51) hatte dazu schon vor mehr als einhundert Jahren geschrieben: »Die sexuelle Rolle der Afterschleimhaut ist keineswegs auf den Verkehr zwischen Männern beschränkt, ihre Bevorzugung hat nichts für das invertierte Fühlen Charakteristisches.« Außerdem sei die »Begründung, welche hysterische Mädchen für ihren Ekel vor dem männlichen Genitale abgeben: es diene der Harnentleerung«, »nicht viel stichhaltiger« als die Begründung des Ekels vor dem After, der »mit dem Ekelhaften an sich – den Exkrementen – in Berührung« komme.
Gelingt es bei einer gezielten sexueller Betätigung nicht, einen Orgasmus als Höhepunkt der Lustempfindung zu erreichen, wird von Anorgasmie gesprochen. In der Regel liegt keine körperliche, sondern eine psychosoziale Störung vor wie zum Beispiel Ängste vor dem Sich-Fallen-Lassen oder vor unbewussten sexuellen Wünschen, die als abnorm oder pervers gelten. Eine Anorgasmie kann aber auch körperlich durch Arzneimittel, Drogen oder Erkrankungen hervorgerufen werden. Frauen klagen oft gleichzeitig über Appetenz- und Erregungsstörungen, bei Männern kann es zu einer Ejakulation ohne Orgasmus kommen (➔ Sexuelle Störungen).
In unserer Kultur heißt der Schatten des Eros Anteros. Den alten Griechen war er nicht nur der Bruder des Eros und der Gott der Gegenliebe, sondern auch der rächende Genius verschmähter Liebe. Der schöne Knabe Meles zwang Timagoras, den Fremdling, zum Beweis seiner Liebe von der Akropolis zu springen. Nachdem es Timagoras getan hatte, sprang Meles aus Reue hinterher. So töteten sich beide. Seither, so könnten wir sagen, herrschen Eros und Anteros über Bruchstücke.
Heute begegnen uns die Bruchstücke vor allem als öffentliche Diskursfiguren: das sexuell missbrauchte Kind; der sexistische Mann; die zu viel oder zu wenig, also immer falsch liebende Mutter; der Sextourist; der elektronisch zerstreute Perverse; der Single; das kirchlich gesegnete gleichgeschlechtliche Paar, vor allem aber das sozial asymmetrische, kulturell dissoziierte, emotional misstrauische, philosophisch aporetische heterosexuelle Paar. Wahrlich ein posthegelianischer Aufklärungstrupp modernisierter Repräsentanten des Anteros, der als ein ebenso gequältes wie quälendes Diskurspersonal zurzeit die Bühne als Chiffren einer anterotischen Zeit bevölkert (➔ Ars anterotica).
Ich stoße auf die Namen Silen und Ampelos und werde in die griechische Mythologie hineingerissen. Beide sind Satyrn, das meint Dämonen um Dionysos. Silen (auch Silenos), der Erzieher und ständige Begleiter von Dionysos, wird als dick und trunken beschrieben und dargestellt. Ampelos, der Geliebte des Dionysos, sei von einem Stier getötet und von Dionysos in eine Weinrebe verwandelt worden. Dionysos gilt als Gott der Trauben und des Weines, aber auch der Fruchtbarkeit, der Freude, der Ekstase und des Wahnsinns, in dieser Hinsicht Bacchus, der Rufer, genannt. Mit Hebe und Herakles gehört er zu den jüngsten Göttern der griechischen Mythologie. Die olympischen Götter sind Zeus, Hera, Aphrodite, Poseidon, Demeter, Apollon, Ares, Hephaistos, Hermes, Artemis, Athene und Hestia.
Und sonst? Wie geht es zu in der griechischen Antike, verglichen mit den heutigen Verhältnissen? Der gelehrte Hans Magnus Enzensberger (2012: 117) kam beim Blick auf meine Neosexualitäten (➔ Neosexuelle Revolution) zu folgendem Schluss: »Das alles ist kein Grund zur Aufregung. Zum Kulturpessimismus besteht ebenso wenig Anlass wie zur Überheblichkeit, was unsere Fortschritte angeht. Bescheidenheit lehrt ein kurzer Rückblick auf die reichhaltigen Überlieferungen aus früheren Epochen. Denn verglichen mit dem, was wir aus alten Quellen erfahren, nehmen sich die Neosexualitäten der Gegenwart eher farblos, ja geradezu bieder aus.« Und dann schaut Enzensberger auf das hemmungslose »Treiben der griechischen Antike«: »Dort wird die schöne Helena aus einem Ei geboren, weil Zeus ihre Mutter Leda in Gestalt eines Schwans schwängerte. Athena, die Göttin der Weisheit, entspringt in voller Rüstung dem Haupt ihres Vaters, nachdem Hephaistos ihm das Haupt mit einer Axt gespalten hat. Über die Danaë macht der Göttervater sich in Gestalt eines Goldregens her. Der Sohn des Hermes und der Aphrodite vereinigt sich mit der Nymphe Salamakis, dergestalt, dass ihre Körper verschmelzen, so dass ein Wesen mit weiblichen und männlichen Genitalien entsteht. Auch in anderen Fällen wissen die Akteure selbst nicht, ob sie Mann oder Weib sind. Pasiphaë, die Frau des Königs von Kreta, lässt sich von einem Stier besteigen und gebiert eine Chimäre, den Minotauros. Und das ist bei weitem noch nicht alles. Die Vergnügungen, Vorlieben, Kastrationen und Vergewaltigungen der Ägypter, der Inder, der Isländer und anderer Völkerschaften wollen wir uns schon aus Platzgründen ersparen. Doch werden unsere Sexologen hoffentlich zugeben, dass sie gegen die Dichter des Mahabharata und der Metamorphosen die reinsten Waisenknaben sind.«
Welcher kursierende Spruch trifft den Modus unserer Gesellschaft wie die Faust aufs Auge? Ich denke: Gier ist geil. Begründung: Bei uns geht es seit zwei Jahrhunderten, anders als in anderen Kulturen, vorrangig um das materielle und manifeste und nicht um das immaterielle und spirituelle Befriedigen von Gier und anfänglich auch Neugier. Leibhafte Bedürfnisse werden nicht wie in der europäischen Antike und im alten China maßvoll reflektiert begrenzt oder gar wie im alten Indien kunstvoll beseitigt. Sie werden bei uns vielmehr maß- und kunstlos befriedigt, und zwar im Allgemeinen auf einem niedrigen Ritualitäts- und Reflexivitätsniveau. Solcherart abgespeist, bleiben Gier und Neugier präsent, können umstandslos jederzeit neu entfacht werden. Darauf aber kommt es in der experimentell-ökonomischen Profitgesellschaft entscheidend an, in der wir leben. Dieser Mechanismus des ebenso selbstsüchtigen wie kurzfristigen Befriedigens scheint das Geheimnis der Dauerhaftigkeit dieser Gesellschaftsformation zu umschließen. Ununterbrochen wird die scheinbar abgeschlossene Sexualform fragmentiert, um ihr neue Begierden und Bedeutungen zuschreiben, neue Bedürfnisse und Wissbarkeiten einpflanzen, neue Praktiken und Dienstleistungen abmarkten zu können. Eine Ars erotica haben wir jedenfalls nicht entfaltet. Möglicherweise sind die Neogeschlechter, Neosexualitäten und Neoallianzen ein letzter verzweifelter Aufschrei im bunten Gewand (siehe ➔ Neosexuelle Revolution). Die Agenderisten und die Asexuellen organisieren sich bereits, leben ohne Geschlechtsidentität und ohne Sexualpraxis. Als ihre emotionalen Nachfolger bieten sich immer dranghafter Gewalttäter wie die Hooligans an, die die alte libidinöse Exzitation durch den aggressiven Thrill ersetzen (➔ Anteros; Modenschau; Waffenbrüder).
Asexuelle im engeren Sinne sind Menschen, die weder sexuelles Verlangen spüren noch sich sexuell betätigen. Ich denke, die hat es immer gegeben, jedenfalls verhielten sich, nach allem, was wir wissen, zum Beispiel große Denker wie Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche so. Wissenschaftlich-empirisch nachgewiesen hat ihre Existenz aber erst der unvergessene US-amerikanische Sexualforscher ➔ Alfred C. Kinsey (1948, 1953). Das war vor mehr als einem halben Jahrhundert. Damals gab es noch keine selbstbewusst öffentlich auftretenden Asexuellen, die sich sogar organisieren. Die gibt es erst seit der dritten sexuellen Revolution der letzten Jahrzehnte, die ich die ➔ Neosexuelle Revolution genannt habe. Zuvor, auch zu Zeiten der zweiten sexuellen Revolution der 1960er Jahre, wurden Menschen, die sich für Sexualität weder interessierten noch sie praktizierten, einfach ignoriert, sofern sie nicht zu den Mönchen und Nonnen gehörten. Als eine eigenständige Kulturform neben Hetero-, Homo- und Bisexualität war Asexualität bis zur neosexuellen Revolution undenkbar.
Seit den 1990er Jahren sind Asexuelle in Europa im Internet aktiv. Im Jahr 2001 gründete David Jay in St. Louis das Internetforum AVEN (Asexuality Visibility and Education Network, das heißt Netzwerk für die Sichtbarkeit von und Aufklärung über Asexualität). Seit 2005 gibt es auch das deutschsprachige Unterforum www.asexuality.org. Wer noch mehr erfahren möchte über diese an das Ende unseres sexuellen Zeitalters erinnernde Entwicklung, schaue in mein Buch Sexualitäten (2015) hinein. Dort kann auch nachgelesen werden, wie die Asexuellen selbst über ihre Eigenart diskutieren und wie sie sich selbst differenzieren und definieren. Für mich jedenfalls erinnert diese diversifizierende Dissoziation in Sachen Geschlecht und Sexualität dankenswerterweise an die Aufgeblasenheit und Vergänglichkeit »unseres« sexuellen Zeitalters. Es ist in dieser allumfassenden Drastigkeit irgendwann gekommen, kann also auch wieder verschwinden.
Die Differenz zwischen dem christlich rechtsgerichteten Attentäter Anders Behring Breivik und einem unbekannten Börsenspekulanten beispielsweise auf Lebensmittel oder Waffen ist: dass der Attentäter 77 namentlich bekannte Menschen am 22. Juli 2011 unter weitgehend bekannten Umständen selbst tötete, während der Finanzspekulant durch sein Verhalten den anonymen Tod von Tausenden oder Millionen Menschen verursachte. Kommen beide Täter aus der christlichen Welt, haben sie vieles gemeinsam, was sie kollektiv kulturell mehr oder weniger bewusst verbindet und was sie in ihren Heiligen Schriften nachlesen könnten. Die Stichworte lauten: Allmacht, Auserwähltheit, Intoleranz, Einzigartigkeit, Gewalt, Strafe, Vergebung, Vernichtung. Oder, was meinen Sie? Wo steht wohl geschrieben: »Er, der HERR, dein Gott, wird diese Leute ausrotten vor dir, einzeln nacheinander«? Oder: »Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Fels zerschmettert!« Oder: »Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben«. Oder: »Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten!« Oder: »Es sollen auch ihre Kinder vor ihren Augen zerschmettert, ihre Häuser geplündert und ihre Weiber geschändet werden«. Oder: »So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch übrig«. Oder: »Wenn jemand einen widerspenstigen und ungehorsamen Sohn hat […], so sollen ihn Vater und Mutter ergreifen […]. So sollen ihn steinigen alle Leute seiner Stadt, dass er sterbe«. Na, und so weiter, und so fort. Wo das geschrieben steht? Antwort: in der Luther-Bibel (revidierte Fassung von 1984/2002, dort 5. Mose 7, 22; Psalm 137, 9; 3. Mose 20, 13; Psalm 139, 19; Jesaja 13, 16; 4. Mose 31, 17 f; 5. Mose 21, 18- 21. Und nun zeiget mit euren Fingern der auserwählten und einmaligen Gerechtigkeit auf die islamistischen Monotheisten, auf dass sie euch …