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Die in diesem Buch geschilderten Einsätze beruhen auf den realen Erfahrungen des Autors. Figuren und Vorgänge in diesem Werk sind jedoch fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig. Angaben zu Rettungseinsätzen, Medikamenten
und Vorgehensweisen entsprechen möglicherweise nicht mehr dem aktuellen Stand.

 

© Piper Verlag GmbH, München 2020

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

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WIDMUNG

 

Für alle, die sich im sozialen Bereich engagieren.
Für alle, die sich im ökologischen Bereich engagieren.
Für alle Kolleginnen und Kollegen.

PROLOG

Einhundertsieben Jahre. Neuer Rekord. So alt war noch keine meiner Patientinnen.

»Als junge Frau war ich Schauspielerin. Stellen Sie sich vor, ich habe noch in einem Stummfilm mitgespielt!«

»Tatsächlich?«, staune ich, nehme den leeren Infusionsbeutel vom Haken und hänge einen neuen an.

»War alles noch in Schwarz-Weiß damals. Ich hatte langes schwarzes Haar. Das sah gut aus auf der Leinwand! Dazu meine großen dunklen Augen …« Der Wagen bremst, ich halte mich an der Rückenlehne der Trage fest. Sie ist hochgestellt, damit Frau Jakobi es bequemer hat. Ihre Haare sind inzwischen schlohweiß, die Augen eingerahmt von etlichen Lachfältchen.

Die Frau blitzt mich schelmisch an und drückt meinen Unterarm: »Sie sind aber auch noch ganz schön knackig!«

Ich lache. »Sind Sie auf der Suche?« Ich muss laut sprechen, um den Motor zu übertönen.

»Ach, wo denken Sie hin, ich nicht mehr! Aber meine Tochter.«

»Ja?« Die Blutdruckmanschette pumpt sich auf. Auf dem Monitor beobachte ich die Messwerte.

»Ich stell sie Ihnen gleich mal vor. Sie wartet an der Klinik auf mich.«

Ihr Blutdruck ist in Ordnung.

Sie beobachtet mich.

»Und, mögen Sie Ihre Arbeit?«

»Ja, schon. Ich bin noch mitten in der Ausbildung. Aber es gefällt mir. Ich kann Menschen helfen, das ist toll. Und am Ende des Tages weiß ich, was ich getan hab. Ehrlich gesagt auch körperlich. Ist schon viel Geschleppe. Und die Schichten sind lang.«

»Na, das ist doch kein Problem für Sie! Sie sind doch noch jung!«, schäkert sie.

Frau Jakobi bekommt allmählich wieder eine rosige Gesichtsfarbe. Sie hatte den Notruf gewählt, weil ihr schwindelig geworden war. Vielleicht die Hitze draußen oder einfach nur Flüssigkeitsmangel. Weil wir aber nicht ausschließen konnten, dass sie einen Schlaganfall hatte, haben wir sie mitgenommen, zur Kontrolle.

Ein Rumpeln. Der Rettungswagen schwankt. Der lästige Bordstein an der Krankenhausauffahrt. Meine Kollegin Laura hat nicht rechtzeitig abgebremst.

»Verzeihen Sie die kleine Achterbahnfahrt«, sage ich.

»Alles gut, Schätzchen. Mich haut so schnell nichts um.« Sie grinst mich an.

»Das merke ich!« Ich grinse zurück. Der Wagen hält an, der Motor geht aus.

»Wir müssen uns jetzt leider schon verabschieden«, sage ich, öffne die Hintertüren und springe nach draußen. Schwüle schlägt mir entgegen.

»Na, warten Sie mal! Sie wollten doch noch meine Tochter kennenlernen!«

Ach ja. Bin gespannt. Wie die Mutter, so die Tochter, sagt man doch. Sicherlich eine schöne, witzige Frau.

Laura hilft mir, die Trage aus dem Wagen zu ziehen. »Ich hab gleich ein Blind Date«, sage ich, und sie rollt mit den Augen.

Die alte Dame reckt den Kopf. »Da ist sie ja!« Sie hebt ihren Arm samt Infusionsschlauch und winkt. »Hallöchen, Liebes! Hier bin ich!«

Ich drehe mich um und kann es nicht fassen. Auf uns schlurft eine alte Oma zu, über einen Rollator gebeugt, das silbergraue Haar zu einem festen Dutt gebunden. Fast so alt wie Frau Jakobi, nein, eigentlich sieht sie sogar älter aus. Was hatte ich denn anderes erwartet? Wenn die Mutter einhundertsieben ist, dann muss die Tochter so um die achtzig sein!

»Darf ich vorstellen?«, fragt unsere Patientin und kann sich das Lachen kaum verkneifen. »Elisabeth, meine Tochter. Und das ist Kim, mein Retter!«

 

Später sitze ich mit Marie auf unserem Balkon. Eine der seltenen lauen Sommernächte in Hamburg. Es ist schon spät, aber wir wollen beide nicht, dass der Abend endet. Vor uns zeichnen sich schwarz die Giebel und Schornsteine der Nachbarhäuser ab, über uns der Nachthimmel, der niemals ganz dunkel ist in dieser Stadt.

»Und dann kam raus: Mein Blind Date Elisabeth war siebenundachtzig!« Wir kichern. Marie boxt mir liebevoll in die Seite.

»Damit das klar ist. Du sollst nicht mit anderen Frauen flirten. Du hast mich!«

Ich halte mir theatralisch die Rippen und blicke sie an. Sie ist perfekt. Hübsch. Schlau. Lustig. Physiotherapeutin. Sie kümmert sich um andere, wie ich, hilft Menschen und liebt die Foo Fighters, wie ich. Und sie lacht viel. Laut lachen mit Marie, mehr brauche ich nicht.

»Ich meine das ernst! Wenn du dir noch einmal von einer Siebenundachtzigjährigen den Kopf verdrehen lässt, mach ich dich fertig!« Sie holt aus und boxt mich noch einmal. O fuck, das hat gesessen. Der Schmerz lässt meinen Oberkörper reflexartig nach vorn schnellen. Ich nehme ihre Faust und küsse sie.

WARUM?

Ich am Steuer. Versuche, mich auf die Straße zu konzentrieren. Mein Herz pocht. Laut. Lauter als das Martinshorn. Jeder Schlag durchfährt meine Brust, meine Arme bis in die Fingerspitzen, die schweißig am Lenkrad kleben. Ich zwinge mich, ruhig zu atmen. Schwierig. Unmöglich.

Ich bin im Tunnel. Mein Sichtfeld ist verengt auf den Ausschnitt genau vor mir. Rechts und links ist es dunkel. Ich biege in eine dreispurige Straße ein, der Wagen legt sich in die Kurve. Keiner im Weg hier.

Ich bemühe mich, an nichts zu denken, zu fokussieren. Es ist hoffnungslos. Ich höre den Beat meines Herzens und ein einziges Wort, eine Frage, im Rhythmus des Beats. Ein kleiner H. P. Baxxter brüllt sie wieder und wieder in sein Mikro. Der Boxenturm steht mitten in meinem Kopf. Ich mag die Band Scooter nicht. Sie verkörpert alles, was den Menschen so hässlich macht. Stumpfe Plastikscheiße. Schnapskoma und Grölen. Und montags wieder schön einreihen in die lebenslange Arbeitsschlange bis zum Tod. Aber solange am Wochenende mal ordentlich die Sau rausgelassen wird, lässt sich das Dasein ertragen. Irgendwie. Muss ja.

Es gelingt mir ganz und gar nicht, an nichts zu denken. Der Song läuft in Dauerschleife. Der kleine H. P. Baxxter fängt wieder an zu schreien: WARUM? Immer dieses eine Wort, diese eine Frage. WARUM? WARUM? WARUM???

Ja, warum eigentlich? Das frage ich mich in solchen Momenten oft. Warum zur Hölle tu ich mir das an? Warum dränge ich gerade mit siebzig Sachen die Autos in der Innenstadt zur Seite, nur Zentimeter zwischen Crash und der Weiterfahrt? Warum rieche ich schon wieder meinen eigenen sauren Schweiß? Das ist doch nicht normal, was ich hier mache.

Ich sehe Menschen, die sich die Ohren zuhalten, die hoffen, dass ich schnell wieder aus ihrem Leben verschwinde. Ich nerve, ich irritiere. Ich reiße sie für einen kurzen Moment aus ihrem Alltag. Jederzeit kann alles vorbei sein. Ich erinnere sie daran, dass sie sterben werden. Sie alle. Und dann ist all das, was sie sich mühsam erarbeitet haben, auf einen Schlag bedeutungslos. Ich sehe nur Tote. Ich bin der kleine Junge aus The Sixth Sense. Aber über mich wird man nie einen Film drehen. Und wenn, dann würde niemals Bruce Willis mitspielen. Vielleicht Ralf Bauer, aber nicht fucking Bruce Willis.

Blick nach rechts zum Beifahrersitz. Da sitzt Dennis. Kann ich mich auf ihn verlassen? Schläfrig sitzt er da. Wieso ist Dennis so tiefenentspannt und ich nicht? Ihm ist einfach alles egal. Sogar er selbst, so wie er aussieht. Wird immer fetter und zynischer. Immer diese fiesen Sprüche. Das macht mich wütend. Aber es darf heute nicht eskalieren. Bitte nicht. Ich fühle mich nicht gut. Möchte nur ins Bett. Oder zu Hause den Kühlschrank öffnen und überlegen, was ich mir koche. In aller Ruhe.

WARUM? Warum sitze ich hier? Welche Wendung hat mein Leben genommen, dass ich mir das antun muss?

VU. Verkehrsunfall. So viel weiß ich. Steht auf der Einsatzdepesche. Über Funk hieß es: eine schwer verletzte Person. Die Laienreanimation sei bereits auf der Straße eingeleitet worden. Das war der Moment, der den Sound meines Herzschlags auf »MAX« gedreht hat. In diesem Moment dachte ich fest daran, an nichts zu denken. Eine Sekunde später bekam der kleine H. P. Baxxter seinen Einsatz.

 

Ich lenke den Rettungswagen durch die wartenden Autos.

»Siehst du was?«, fragt Dennis.

Ich recke den Hals. »Jepp. Wir haben es gleich geschafft. Da stehen Leute. Und da liegt einer. Und einer drückt.« Drei Autofahrer sind ausgestiegen, haben sich näher gewagt und gaffen. Mein Blick fällt auf den verformten Wagen, der zusammen mit dem Baum eine seltsame Einheit bildet. Eine hässliche Skulptur, Thema: »Verschmelzung von Natur und Technik«.

Ich halte den RTW an, schaue rüber zu dem Verletzten.

»Scheiße, der ist ja noch richtig jung«, murmele ich.

»Was stimmt nicht mit dir? Aussteigen!«, faucht Dennis. Ich zucke, schnappe unseren Rucksack, hole tief Luft. Jetzt müssen wir öffentlich arbeiten. Vor aller Augen. Alle, die hier rumstehen, sind unsere Zuschauer, beobachten jeden Handgriff. Aber das hier ist keine Show. Das ist der intimste Moment im Leben eines Menschen, der Moment, in dem der Schritt zwischen Leben und Tod gemacht wird. Der Übergang. Der Zustand zwischen Tag und Nacht. Das letzte Glühen, bevor die Sonne endgültig im Meer abtaucht und den Himmel ein letztes verzweifeltes Mal blutrot färbt. Dieser Moment gehört einem Menschen ganz allein. Zuschauer, Gaffer, die nichts, aber auch gar nichts mit ihm verbindet, sind vollkommen fehl am Platz. Das ist würdelos.

Ich bin mir sicher, dass der Mann da vor mir auf dem Boden den Schritt zwischen Leben und Tod noch nicht machen will. Es ist zu früh für ihn. Ich schätze ihn auf Ende zwanzig, jünger als ich. Viel Bart, etwas dicklich, Metallica-Shirt. Dieser Mann will sich auch nächstes Jahr noch in Wacken im Moshpit blaue Flecken holen. Und dafür sind wir da. Dennis und ich. Wir müssen diesen Menschen jetzt zurückholen, den Übergang verhindern.

Der Ersthelfer drückt den Brustkorb in der richtigen Frequenz und Tiefe. Erleichtert lächelt er uns an.

»Sie machen das gar nicht so schlecht«, sagt Dennis. »Noch einen Augenblick, wir übernehmen gleich.«

Was hat der Metalhead nur für ein Glück. Ohne den beherzten Helfer wäre ihm ein Hirnschaden garantiert. Würde er zu einem Deckengucker im Pflegeheim. Wäre das eine würdevolle Alternative zum Tod?

Warum hören diese nervigen Gedanken nicht auf?

Ich muss jetzt funktionieren! Drücken und pusten. Dafür bin ich da. Retten und reanimieren. Warum verliere ich mich in Gedanken? Warum zögere ich? Das ist doch nicht meine erste Rea. Ich sehe, wie Dennis sich zu dem Verletzten kniet, dessen T-Shirt aufschneidet, die Patches des C3 klebt. Das EKG zeigt: PEA, pulslose elektrische Aktivität. Der Herzmuskel arbeitet nicht mehr. Kreislaufstillstand. Der Metalhead hat den Übergang eigentlich schon hinter sich.

Ich kämpfe mit meinen Gummihandschuhen, sie wollen nicht über die Schweißhände rüber, verdammt, wie ein Praktikant. Dennis löst den Ersthelfer beim Drücken ab und raunzt: »Kim, die Beatmung!« Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Ich weiß nicht, ob wir den Sauerstoff überhaupt aus dem Wagen mitgenommen haben. Ich sehe die Flasche nirgends. Fuck. Fuckfuckfuck! Ich renne hektisch zurück zum RTW. Aber da ist keine Sauerstoffflasche. Ich könnte schreien vor Wut. Warum funktioniert hier nichts? Haben wir sie etwa an der Wache vergessen? Was für ein Anfängerfehler. Die Kollegen dürfen das nie erfahren. Ich renne zu Dennis zurück, der drückt dem Metalhead konzentriert und rhythmisch auf den Brustkorb. Und da sehe ich sie: die Sauerstoffflasche, rechts neben dem Kopf des Patienten. Stand sie die ganze Zeit dort? Was hat Dennis gedacht, als ich noch mal zum Wagen gerannt bin? Hat er das überhaupt mitbekommen? Ich krame im Rucksack und suche die Beatmungsmaske. Ich nehme das größte Modell, stülpe sie dem Mann über Nase und Mund. Aber das Beatmen funktioniert nicht richtig. Wegen des Barts zischt die Luft an der Seite heraus. Sekunden vergehen. Ich bin wie gelähmt.

»Kleinere Maske, C-Griff. Warum nicht gleich den Larynxtubus?«, ruft Dennis. Natürlich. Ich wühle wieder, finde den Tubus. Ich öffne den Mund und schiebe den Tubus tief in den Rachen.

Warum habe ich nicht selbst reagiert? Warum musste ich mir das jetzt von Dennis sagen lassen? Er ist doch nur Rettungsassistent. Ich bin Notfallsanitäter. Meine Ausbildung war länger, mein Wissen ist auf dem neuesten Stand. Es ist einfach nur peinlich.

Ein neuer Zyklus. Rhythmusanalyse. Kein Schock per Defibrillator.

»Kim, drückst du jetzt?« Dennis greift nach dem Rucksack. »Ich lege den Zugang, dann spritzen wir Adrenalin.«

Das ist gut. Da muss ich nicht mitdenken. Nur drücken. Das hat etwas Meditatives. Ich vergesse, dass ich hier auf einem Lebewesen herumdrücke. Ich vergesse die Blicke der Schaulustigen. Ich vergesse mich. Ich werde eins mit der Bewegung. Der Shouter in meinem Kopf macht Mittagspause. Ich drücke und drücke. Dennis hat die Beatmung übernommen. Und ich drücke.

 

Die Notärztin ist da. Ihr Kollege hockt sich neben mich.

»Komm, ich lös dich mal aus«, sagt er.

Ich will nicht. Ich sollte aber, sonst werde ich zu langsam. Scheiß drauf. Ich mache das gut. Ich bin noch nicht müde. Doch der Kollege drängt mich sanft, aber unmissverständlich zur Seite.

Vier Minuten später darf ich wieder ran. Im fahrenden Rettungswagen stehe ich neben der Trage und drücke. Ich drücke auch noch, als wir am Krankenhaus ankommen. Sobald der Wagen anhält, steige ich auf die Trage, knie mich über den Metalhead. Meine Unterschenkel sind rechts und links an seine Hüfte gepresst, sie passen gerade noch so daneben. Dennis zieht die Trage aus dem RTW, obendrauf der intubierte Patient und ich. So schiebt er uns in die Notaufnahme. Schwestern, Pfleger und Ärzte warten schon, umringen und folgen uns. Wir werden quer durch den Empfangsbereich gerollt, und ich muss aufpassen, dass ich mir nicht den Kopf an der Decke stoße.

»Patient Jonas Liebold, männlich, achtundzwanzig Jahre, Verkehrsunfall, Herz-Kreislauf-Stillstand, Laienreanimation vor Ort …« Ich höre kaum, was die Notärztin runterrattert. Ich drücke. Wie befreiend. Ich bin hier, ich bin jetzt. Für diesen Moment, genau für diesen Moment bin ich Notfallsanitäter geworden. Ich kann etwas verändern, ich mache den Unterschied.

»Kim, aufhören. Es ist gut. AUFHÖREN!«, befiehlt der Klinikarzt im Gang kurz vor dem Schockraum. »Wir schließen jetzt den LUCAS an. Der Patient kommt sofort in den OP

Ich lasse ab. Für mich übernimmt die Maschine. Fühle ich mich heldenhaft? Nein. Fühle ich mich gebraucht? Ja.

Stille.

 

Gegen dreiundzwanzig Uhr komme ich nach Hause. Marie schläft bereits. Ich setze mich an den Küchentisch und sacke völlig ausgebrannt zusammen. Schon wieder Überstunden. Und nach meiner Schicht wollte ich noch unbedingt bei der Klinik vorbeifahren. Wollte wissen, was aus meinem Metalhead geworden ist.

»Der Typ hatte tatsächlich einen dauerhaften ROSC, ist also erst mal wieder da. Ist nicht klar, ob er es schafft. Ursache war wohl ein Infarkt. Er war im Katheterlabor und an der ECMO-Anlage, jetzt liegt er auf der Intensiv«, hat mir Schwester Kerstin gesagt.

Kerstin. Sie ist bei vielen für ihre schlechte Laune gefürchtet, aber ich mag sie. Wenigstens eine ehrliche Haut. Mich wundert ihre miese Stimmung überhaupt nicht. Als ich bei ihr vorbeischaue, liegen die Leute in Zweierreihen auf dem Flur, die Zimmer sind heillos überfüllt. Ich bin froh, dass ich nach jeder Patientenübergabe wieder in meinen leeren RTW flüchten kann. Weg von den Menschen, die die Notaufnahme mit einem medizinischen Discounter verwechseln. Mal schnell zwischendurch zum Facharzt. Ganz ohne Termin. Pech für sie, dass Schwester Kerstin dazwischengeschaltet ist.

»Hallo? Hallo!«, ruft einer vom Gang. Kerstin lehnt sich aus dem Schwesternzimmer.

»Ich warte hier schon seit acht Stunden!«, klagt der Mann. »Mein Rücken bringt mich um!«

»Ich sagte Ihnen doch, wir kümmern uns drum. Alles zu seiner Zeit!«, schnauzt Kerstin, dreht sich zu mir zurück und verschränkt die Arme.

Der Metalhead war das genaue Gegenteil. Bei ihm zählte jede Sekunde. Er bekam sofort die volle Aufmerksamkeit. Pfleger, Schwestern und Ärzte kümmern sich jetzt rund um die Uhr um ihn. Für genau solche Fälle gibt es den Rettungsdienst, die Notaufnahme und den Bereitschaftsdienst des Operationsteams, der den OP-Saal zu jeder Tageszeit hochfahren kann.

 

Ich gehe den gesamten Fall noch einmal durch. Der junge Mann hatte einen Herzinfarkt und ist deshalb gegen den Baum gefahren. Wir haben die Wiederbelebung bis zum Krankenhaus durchgeführt, aber letzten Endes hat das Herzkatheterlabor dafür gesorgt, dass sein Herz wieder mit Sauerstoff versorgt werden konnte. Eine verstopfte Herzkranzarterie als Ursache. Mit Ende zwanzig.

Der Fall lässt mich nicht los. Der Patient tut mir leid. Gerettet ist er noch lange nicht. Viele sterben wenige Tage nach einer erfolgreichen Reanimation. Wacken liegt in weiter Ferne.

Und dann diese Anfahrt heute, die Probleme mit der Sauerstoffflasche, die Schwierigkeiten beim Beatmen. Ich bin unzufrieden. Wieso war ich so unaufmerksam? Warum diese handwerklichen Fehler? Dennis hat zwar in der Nachbesprechung nichts dazu gesagt, aber er muss es mitbekommen haben. Da konnte die Notärztin das gesamte Team am Ende noch so sehr für die Reanimation loben, das zählt nicht. Schließlich war sie in der Chaosphase nicht dabei. Aber ist es wichtig, dass ich in Gedanken war? Der Metalhead wurde doch ins Leben zurückkatapultiert, und nur das zählt. Außerdem haben wir tatsächlich keinen groben Fehler gemacht. Es waren nur Kleinigkeiten.

»Was stimmt nicht mit dir?« Dennis hat die Frage des Tages gestellt. Er selbst hat funktioniert wie ein Uhrwerk. Aus dem Zen- in den Vollspeed-Modus. Aber, ehrlich gesagt, der hat auch nie was anderes gemacht in seinem Leben. Nur Rettungsdienst.

Einer der wenigen, die das durchgehalten haben. Fünfundzwanzig Jahre diese Arbeitsbedingungen, die Bezahlung, die Nachtschichten. Das hat Folgen. Gesundheitlich und bei manchen auch charakterlich. Einige der Alten werden komisch. Man sollte Dennis eine Sitcom oder Realityshow geben. Der beschwert sich lautstark, wenn die Geräte im Auto nicht den neuesten medizinischen Standards entsprechen. Seinen eigenen Körper behandelt er allerdings wie Abfall. Schokoriegel. Käsebrötchen. Currywurst. Was ein Körper am Tag halt so braucht. Für Dennis ist klar, Grünzeug und Vitamine sind etwas für verweichlichte Indie-Rock-Fans.

Ich verstehe das nicht. »Wer rettet, fettet« ist auch bei Dennis ein beliebter Spruch, und zwar während er gerade Industrieprodukte in sich reinstopft. Du bist der Nächste, den ich mit meinem RTW einsammele, denke ich mir. Er sorgt dafür, dass mein Arbeitsplatz auch in Zukunft sicher ist. Schön. Warum bin ich nicht dankbar dafür?

Da ist noch etwas anderes. Der Job hat Dennis abgestumpft. Er scheint nichts mehr zu fühlen. Hat immer einen ironischen, zynischen Spruch auf den Lippen. Meistens lache ich mit, aber innerlich fühle ich mich schmutzig. Oder ich werde wütend und muss mir auf die Zunge beißen. Denn es braucht vor allem eines im Rettungsdienst: Empathie. Im Umgang mit Patienten und Kollegen. Sonst kann eine fragile Notfallsituation jederzeit eskalieren. Heute war Dennis Vollprofi. Und ich nicht.

Ich lasse den Kopf hängen, mein Rücken ein Buckel. Bin so müde. Nichts geht mehr. Ich kenne das, das ist jobbedingt. Es wird aber seit einigen Monaten immer schlimmer. Ich stopfe mir den letzten Bissen meines Nutella-Toasts in den Mund.

Im Schlafzimmer versuche ich, so leise und vorsichtig wie möglich neben Marie unter die Bettdecke zu schlüpfen. Sie stöhnt kurz auf und dreht sich weg. Ich umarme sie, spüre meinen Atem gegen ihren Nacken. Es dauert, bis der Schlaf kommt. Aber er kommt, und ich falle in die Dunkelheit.

AUFWACHEN

Ich stapfe durch den Garten. Hinter mir höre ich Dennis schnaufen. Plötzlich legt er seinen Arm um meine Schultern, stützt sich auf mich. Ich wanke unter seinem Gewicht, ziehe ihn mit über die Terrasse des heruntergekommenen Hauses, drücke ihn durch die Hintertür. Er steckt fest, ich stemme mich gegen diesen Riesen, muss drücken, quetschen, dann löst er sich, und wir stolpern nach drinnen.

Es stinkt fürchterlich. Eine Fifty-fifty-Mische aus Kotze und Kot. Mein Magen zieht sich zusammen. Speichel sammelt sich. Ist das ekelhaft. Gleich flute ich das gesamte Wohnzimmer mit meiner Kotze.

Eine Frau sitzt mit einer halb leeren Wodkaflasche auf dem Sofa und singt. Ich kenne das Lied, aber ich erkenne es nicht. Sie verschluckt einzelne Silben. Sie wirkt ungepflegt. Hat eine Frisur wie der Clown Pennywise aus ES. Sie ist völlig betrunken.

Lose bunte Pillen auf dem Beistelltisch. Ich bin mir nicht sicher, aber liegt da nicht auch eine Spritze? Die Frau hat verwaschene Tattoos auf ihren Oberarmen. Ist das die Patientin?

Der Nachbar ruft: »Nach oben, nach oben!«

»Was soll denn da noch sein?«, frage ich.

»Nach oben«, wiederholt er nur.

Der Boden ist dreckig, vollgeschmiert mit Kot. Mich umschwirren Schwärme winziger Fliegen. Ich wedele vergeblich mit den Armen, sie setzen sich auf meinen feuchten Nacken und krabbeln in der Spur der Schweißtropfen meinen Rücken hinab.

Ich muss gehen, ich kann hier niemandem helfen. Aber ich komme nicht vom Fleck. Stehe mitten in der Scheiße. Klebe fest.

Die Frau singt laut. Ich halte mir die Ohren zu, aber es hilft nichts. Die Töne werden höher, schriller. Ich drücke fester auf die Ohren. Keine Wirkung. Die Ohren schmerzen. Die Frequenz ist kaum noch auszuhalten.

Ich schreie. Ich schreie dagegen an. Frequenz gegen Frequenz. Es quillt warm zwischen meinen Fingern hindurch, am Handgelenk und Hals entlang. Blut. Mein Blut.

 

»Es ist wieder da. Jetzt bin ich sogar deswegen aufgewacht«, flüstere ich. Marie hat sich eh schon unruhig hin und her bewegt. Draußen ist es hell.

»Der Tinnitus? War der denn je weg?«, fragt Marie schläfrig, ohne die Augen zu öffnen. Stimmt eigentlich. Hat das Piepen jemals gestoppt? Keine Ahnung. Gestern, beim Einsatz, habe ich den Ton nicht gehört. Oder habe ich ihn einfach überhört? Wirklich ruhig war es da ja nicht. Ist es nie bei Einsätzen.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann das angefangen hat. Mal ist der Ton lauter, mal leiser. Nachts, kurz vor dem Einschlafen, nervt er besonders. Es sei denn, ich bin komplett müde. Und dieser Zustand kommt immer öfter vor. So einen Tinnitus hatte ich ja schon immer mal, nach Partynächten und Festivalbesuchen. Nicht drum kümmern, geht wieder weg. Dieses Mal aber nicht. Das Piepen bleibt. So laut, dass ich jetzt sogar davon aufwache.

Marie blickt mich an. »Jetzt geh doch mal zum Arzt. Kannst du doch heute machen.«

»An meinem freien Tag? Da setz ich mich doch nicht ins Wartezimmer. Ich krieg so spontan eh keinen Termin. Und ich geh auf keinen Fall in die Notaufnahme.« Ich denke an Schwester Kerstin, wie sehr sie sich über meinen »Notfall« freuen würde und mich bis zum Abend auf dem Gang schmoren lassen würde. Wäre zwar ein guter Gag, allerdings wäre ich der Leidtragende. Darauf habe ich jetzt keinen Bock. Aber ich will auch nicht, dass dieser Ton mich mein Leben lang schikaniert. Wie bei diesem Schauspieler. Ich hab mal ein Interview gelesen. Darin hat er über seinen Tinnitus erzählt und dass er in Hotels immer das Zimmer zur Straße nehmen müsse. Nur mit geöffnetem Fenster zur Straße sei es ihm überhaupt möglich, mit dem Tinnitus einzuschlafen. Arme Sau, habe ich mir damals gedacht und mich gefreut, dass ich so was nicht hab. Fuck.

»Okay. Ich such mir wenigstens mal einen HNO-Arzt raus«, sage ich und beende den Flugmodus meines Smartphones. Eine Sprachnachricht. Von Benny.

»Hey Kim, Teampartner, äh … lass mal treffen. Gibt Neuigkeiten. Also, isch küss dein Auge.«

Isch küss dein Auge. Bennys Satz klingt nach, leicht verstellte Stimme, Prollstraßenslang. Das mag ich an Benny: Er hält sich kurz. Reduziert Sprachnachrichten aufs Wesentliche. Im Gegensatz zu vielen anderen.

Überhaupt Benny. Den habe ich viel zu lange nicht gesehen.

Wir haben uns gleich am ersten Tag in der Berufsschule kennengelernt. Vor gut vier Jahren. Und wenn ich jemanden interessant finde, dann ist meine erste Frage immer diese eine – ich wollte wissen, was für einen Musikgeschmack Benny hat. Was für Bands er hört.

»Guns n’ Roses und Ozzy Osbourne. Zu den Konzerten geh ich jetzt auch bald«, hat Benny geantwortet. Wie absurd! Zwei alternde Acts, die ihren Zenit längst überschritten haben, aber trotzdem einen Anfangzwanzigjährigen dazu bringen, für siebzig Euro ein Konzertticket zu kaufen. Ich habe beide Bands früher auch gehört. Wobei, früher? Wann war das eigentlich genau? Ich bin zehn Jahre älter als Benny, aber mit Anfang zwanzig war ich schon längst mit Guns n’ Roses und Ozzy durch.

Im Lauf der Ausbildung habe ich ihn dazu gebracht, deutschen Rap zu hören. Politischen Rap. Antilopen Gang. Sookee. Neonschwarz. Benny hat sich darauf eingelassen. Er ist sogar noch weiter gegangen. Hat sich selbst was rausgesucht, prolligen deutschen Hip-Hop, ohne tiefe Botschaften. Gzuz. Apache 207. Nur zum Scherz sogar Money Boy. Und irgendwann konnte ich nicht mehr sagen, ob er das jetzt wirklich noch ironisch meint oder ob er einfach Fan geworden ist. Das Hip-Hop-Projekt mit Benny war außer Kontrolle geraten. Dieses Rapperimitieren, ist das nicht schon seit gefühlt Jahrzehnten überholt? Seit jeher eher peinlich? Nicht für Benny. »Was geht, Bro!?« war noch harmlos. »Bitte, gib mir die Shisha. Shishasheesh!« war schon schwieriger zu handhaben. Ich hab immer gehofft, dass keiner mithört. Aber morgens waren immer schon genügend andere Auszubildende im Raum.

Einmal kam ich in die Klasse, da hat Benny sich vor mir aufgebaut, eine pseudolässige Rap-Körperhaltung eingenommen und mit ernster Miene und seinem Straßenslang gesagt: »Abrakadabra, dreimal schwarzer Kater!«

Ich hab mich nicht mehr eingekriegt vor Lachen. Ich hab sogar noch gelacht, als Benny den Gag nach der vierten Stunde zum bestimmt zwanzigsten Mal wiederholt hat. Es kommt mir so vor, als hätte ich damals eine ganze Woche lang durchgelacht.

 

Die Flüssigkeit verschwindet in meiner Vene. Tropfen für Tropfen. Cortison. Hoch dosiert. Die einzige Chance, einen Tinnitus medikamentös zu bekämpfen.

Ich darf mich nicht auf das Piepen konzentrieren, sonst wird es lauter. Ich kann mir gut vorstellen, wie manche Menschen wegen dieses Dauerlärms durchdrehen und versuchen, diesen Ton irgendwie zum Schweigen zu bringen. Fenster auf, Autolärm rein. Wie sie sich als letzten Ausweg einen spitzen Bleistift ins Trommelfell rammen.

Die Hals-Nasen-Ohren-Praxis hatte einen Termin frei, ein anderer Patient hatte abgesagt. »Sie können sofort vorbeikommen.« Jetzt habe ich es Schwarz auf Weiß. Beziehungsweise Blau auf Hellrosa. Das Ergebnis des Hörtests. Eine Kurve, ausgedruckt, auf meinen Knien.

»Sehen Sie«, hat der Arzt erläutert, »bei der zweithöchsten Frequenz fällt die Zacke steil nach unten. Bei beiden Ohren. Hier sorgt Ihr Tinnitus dafür, dass Sie den eingespielten Ton verzögert wahrnehmen. Die Frequenz ist besetzt. Durch den Tinnitus. Stellen Sie sich das vor wie mit Ihren lieben Mitmenschen im letzten Urlaub. Der Tinnitus hat sich die Liege am Pool bereits morgens mit einem Handtuch reserviert. Befestigt mit einer Klammer. Kennen Sie die, diese überdimensionierten Wäscheklammern? Damit bloß keiner wagt, das Handtuch beiseitezuschieben.«

Mein Tinnitus hat reserviert, mit Klammer. Ist gekommen, um zu bleiben. Jeden Tag muss ich nun eine einstündige Infusion bekommen. Eine ganze Woche lang.

»Jetzt gucken Sie nicht so unglücklich!«, fuhr der Arzt fort. »Keiner will Cortison. Und, ja, hoch dosiert kann es Stimmungsschwankungen hervorrufen. Vielleicht auch Bluthochdruck. Und: ein Mondgesicht. Kein Scherz. Manche schwemmen auf. Besonders im Gesicht. Aber das soll Sie jetzt nicht beunruhigen. Sie sind ja noch jung. Und es ist Ihre einzige Chance. Gut, dass Sie das jetzt in Angriff genommen haben.«

Was für ein Glück, dass das mit dem Termin so schnell geklappt hat. Wahrscheinlich bin ich der einzige Kassenpatient auf dem Planeten, dem es je gelungen ist, einen Facharzttermin noch am selben Tag zu bekommen.

»Aber soll ich Ihnen mal was sagen?«, hat der Arzt nachgesetzt und keine Antwort abgewartet. »Eigentlich kommen Sie zu spät. Am besten fängt man mit der Therapie ganz früh an. Warum kommen Sie erst jetzt, Monate später?«

Ich hätte mit meinen Arbeitszeiten argumentieren können. Dass Zwölf-Stunden-Schichten einfach einiges unmöglich machen. Dass ich in letzter Zeit so müde bin und mich kaum noch freiwillig aus dem Haus schleppe. Aber ich hab einfach nichts gesagt. Zu anstrengend.

»Na ja, wir versuchen unser Glück«, hat der Arzt gemeint und mir auf die Schulter geklopft. Dann hat er mich zurück zur Anmeldung geschickt, ich habe meine EC-Karte über den Tresen gereicht und meine PIN ins Gerät getippt. Tschüss zweihundertfünfzig Euro. Erst dann hat die Arzthelferin meine Vene punktiert. Und jetzt lieg ich hier.

Wie soll ich das jetzt eigentlich schaffen, eine Woche lang jeden Tag für eine Stunde diese Prozedur über mich ergehen zu lassen? In der Arztpraxis. Ich kann mich deswegen doch nicht krankschreiben lassen. Nicht nach dem heftigen Einsatz gestern. Das würde viel zu viele Fragen aufwerfen. Das würde ja so aussehen, als hätte ich den nicht verkraftet. Abrakadabra, dreimal schwarzer Kater. Benny. Scheiße, Benny. Den habe ich ganz vergessen anzurufen.

DARUM

Benny geht nicht ran. Ich schreibe ihm eine Nachricht. Bin jetzt erreichbar. Ruf einfach an. Und lass meine Augen in Ruhe.

Keine Häkchen. Ungewöhnlich, normalerweise antwortet er direkt. Woher er die Zeit dafür hat, erklärt sich, wenn man Bennys Arbeitgeber kennt. Benny fährt auch im Rettungsdienst. Aber für die Feuerwehr. Die eine Hälfte der Arbeitszeit ist er für den Rettungsdienst zuständig, die andere für den Brandschutz. Und da seit der Erfindung der Rauchmelder selbst in Großstädten relativ selten ein Großbrand ausbricht, hat Benny mehr Zeit, mit seinem Smartphone zu spielen.

Ich bin trotzdem alles andere als neidisch. Ich will keine Brände löschen. Feuerwehrmann sein ist für mich keine Option.

 

Zum Abendbrot schnippele ich mir einen Salat. Blätter, Tomaten, Mozzarella, Dosenmais. Die Gurke ist schrumpelig, sie landet im Müll. Marie hätte die vielleicht noch gegessen, aber sie ist nicht da. Mit einer Freundin verabredet.

Ich summe gegen den Tinnitus an. »Hatten Sie in der letzten Zeit vielleicht viel Stress?«, hat der Arzt gefragt.

Ich hab mit den Schultern gezuckt. »Nicht mehr als sonst.«

Am Rand der Schüssel klopfe ich den Schneebesen ab, dann gieße ich die Soße über den Salat und streue noch ein paar Kürbiskerne drüber.

Nicht mehr als sonst. Stimmt ja gar nicht. Bin viel gestresster als sonst. Nichts hat sich verändert, und doch fühlt sich alles anders an, beängstigend, bedrohlich. Auf einmal ist da diese Panik, wie beim Metalhead. Fuck, warum habe ich mir nur diesen Job ausgesucht? Wieso bin ich so blöd und tue mir das an?

Der Salat steht vor mir, aber ich mag nichts davon essen. Ich weiß es doch genau. Ich weiß, warum ich mir das antue. Ich habe mich bewusst dafür entschieden. Auch wenn das alles andere als nahelag und schwer zu erklären ist. Wenn Kollegen fragen, erzähle ich meist irgendeinen Bullshit.

Meine Lieblingsantwort ist: »Ich hab mich schon immer für Medizin interessiert und hab das nach dem Abi eigentlich studieren wollen – wenn mein anderer Job nicht dazwischengekommen wäre.« Was für ein herrlicher Quatsch.

Ich wusste damals überhaupt nicht, was ich machen sollte. Und auf keinen Fall wollte ich Medizin studieren. Ich hatte panische Angst vor medizinischen Eingriffen. Allein wenn mir Blut abgenommen wurde, musste ich mich fürchterlich konzentrieren, damit mir nicht schwarz vor Augen wurde. Ich hasse das Gefühl, wenn ich merke, wie mir das Blut langsam aus der Vene gesaugt wird. Ich bilde mir ein, ein lautes schmatzendes Saugen zu hören. So widerlich.

Ich bin nach wie vor froh, dass ich bisher noch nie eine größere OP über mich ergehen lassen musste. Die Mandeln wurden mir entfernt, da war ich sieben. Das reicht mir an OP-Erfahrung völlig aus. Ich hab mich damals wie E. T. gefühlt. Kurz davor, von Regierungsschergen bei lebendigem Leibe aufgeschnitten und seziert zu werden. Nach und nach entfernen sie die einzelnen Organe, und E. T. muss dabei zusehen. Das ist mein persönliches alternatives Ende von E. T. Und so ausgeliefert habe ich mich damals auf dem Operationstisch gefühlt. Vermummte Gestalten drückten mir eine Maske aufs Gesicht und befahlen mir, rückwärts zu zählen: zehn … neun … acht … sieben … und dann fielen mir die Augen zu. Und als ich erwachte, hatte ich höllische Schmerzen im Rachen. Ich konnte nicht mehr schlucken, ohne das Gesicht zu verziehen, ich fühlte mich misshandelt. Ich wollte nur noch raus aus dem Krankenhaus.

Ein Jahr später hatten wir Schulfest, wir tobten im Klassenzimmer, und ich wollte allen zeigen, wie groß ich bin. Dass ich schon die Decke berühren kann. Auf Zehenspitzen, die Arme gereckt, unter mir ein Stuhl, der auf einem Tisch stand. Hab die Decke nicht erreicht – und dann das Gleichgewicht verloren. Unterarmbruch.

In der Notaufnahme waren zwar alle nett zu mir, aber ich hatte ein Problem, das mich wahnsinnig machte: Es dauerte alles viel zu lang. Seit Wochen hatte ich mich auf den Abend gefreut. Im Fernsehen lief Dumbo, und meine Eltern hatten mir nach langem Quengeln erlaubt, den Film zu gucken. Obwohl er erst um 20.15 Uhr anfing und obwohl es unter der Woche war.

Und da saß ich, in der Notaufnahme, und es war 20.35 Uhr, und alle Erwachsenen hatten die Ruhe weg. Sogar meine Eltern auf der Heimfahrt, obwohl sie doch um die Brisanz der Lage wussten. Als wir zu Hause waren, konnte ich noch die letzten fünfzehn Minuten sehen. Was für eine Enttäuschung. Ich fand das schlimmer als den Bruch.

Ich erinnere mich auch noch, wie meine Großtante im Sterben lag. Da war ich elf Jahre alt. Meine Eltern mussten mich regelrecht zu ihr schleifen. Ich wollte die Tante zwar sehen, aber ich wollte nicht ins Krankenhaus.

Dann stand ich an ihrem Bett und sah ihr aufgequollenes Gesicht. In ihrem Hals steckte ein Schlauch, und die Geräte piepten, als gäbe es gleich eine Sprengstoffdetonation.

Nein, Krankenhäuser waren alles andere als positiv besetzt für mich. Ich hätte niemals Medizin studiert, damals, nach dem Abi. Ich habe einen bequemeren Weg gewählt.

Da gab es diesen Kumpel, der war ein paar Jahre älter und arbeitete in einer Werbeagentur. Ein kleines Start-up, das schnell wuchs und dringend Manpower benötigte. Dort jobbte ich nachmittags, schon in der Schulzeit. Einen Besseren hätten sie nicht finden können. Wenn ich will, kann ich Leute ganz gut überzeugen und sie für etwas begeistern, das sie eigentlich gar nicht interessiert. Ich lernte, pointierte Texte zu schreiben, Websites zu bauen, und ich war gut. Die Seiten wurden geklickt.

Das lief parallel zur Oberstufe. Meine Eltern haben immer aufs Geld geachtet, wollten nie viel von dem ausgeben, was sie sich hart erarbeitet hatten. Und auf einmal konnte ich mir Dinge leisten, die meine Klassenkameraden nicht hatten. Eine Videokamera, einen größeren Fernseher, eine Spielekonsole, das erste eigene Auto, selbst gekauft. Und natürlich: Reisen. Mit dem Skateboard im Gepäck nach New York. Das war immer mein Traum. Nach dem Abi hab ich ihn mir erfüllt.

Dann bekam ich das Angebot, bei einem großen Hamburger Unternehmen einzusteigen. Quer einzusteigen. Bei einer angesagten Klamottenmarke als Junior Assistant Product Content Manager. Oder so ähnlich. Die Titel wechselten jährlich. Der Job war aufregend, die Bezahlung unverschämt, und ich habe oft in mich hineingegrinst, dass ich mich ohne Ausbildung und Studium so weit hochgearbeitet hatte.

Nach ein paar Jahren allerdings kamen erste Zweifel: Was mache ich hier eigentlich? Ist es das, wofür es sich zu leben lohnt? Immer nur Werbung? Braucht das irgendjemand? Mach ich das jetzt noch dreißig Jahre bis zur Rente, und dann sterbe ich? Und ist es mir eigentlich völlig egal, wo, von wem und unter welchen Bedingungen diese Klamotten hergestellt werden?

Mit den Jahren wurden die Fragen quälender. Ich konnte sie nicht länger ignorieren. Ich brauchte einen radikalen Schnitt. Ich wollte einen Beruf, der das genaue Gegenteil von dem war, was ich bisher gemacht hatte. Ich wollte mutig sein. Verwegen. Ich wollte, dass meine Kollegen mich für völlig bescheuert erklären. Ich wollte einen Job, der keine oberflächliche Scheiße propagiert. Ich wollte Inhalt. Inneren Halt. Erfüllung. Wert. Nichts, aber auch gar nichts gesellschaftlich Wichtiges hatte ich bis dahin geschaffen. Was wäre passiert, wenn mich ein Verrückter auf offener Straße erschossen hätte? Mein Leben wäre wertlos gewesen. Eine leere Hülle, die in sich zusammenfällt.

Das war der Zustand vor meiner Ausbildung zum Notfallsanitäter. Bevor ich alles zurück auf null gesetzt hab. Diesmal wollte ich nicht den bequemen Weg, ich wollte den steinigen. Ein langes Medizinstudium kam mit Anfang dreißig nicht mehr infrage. Aber eine Ausbildung. Also habe ich quasi auf dem Absatz kehrtgemacht und bin in die andere Richtung gelaufen. Meiner großen Angst entgegen. Als Auszubildender musste ich in den drei Jahren allein siebenhundertzwanzig Stunden im Krankenhaus arbeiten. Besonders viele davon im OP. Guten Tag, Angst. Hier bin ich.

Aber meine Furcht ging über Krankenhäuser hinaus. Sie war wie eine dieser russischen Matroschkapuppen. Wenn ich eine Holzfigur öffnete, dann fand ich darin eine kleinere Figur. Einen Mann mit schwarzem Kapuzenmantel und Sense. Des Pudels Kern. Den Tod persönlich. Ich hatte eine Scheißangst vor dem Tod.

Das war nicht immer so. Als Kind hatte ich ein Lieblingsbuch. Die Brüder Löwenherz