Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Manifesto. On Never Giving Up« im Verlag Hamish Hamilton, London

© 2021 by Bernardine Evaristo

Für die deutsche Ausgabe

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München
unter Verwendung der Daten des Originalverlags

Foto Bernardine Evaristo: © Suki Dhanda

Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-50015-8

E-Book ISBN 978-3-608-11861-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bernardine
Evaristo

Manifesto

Warum ich niemals aufgebe

Aus dem Englischen
von Tanja Handels

Tropen Sachbuch

Für Simon Prosser, meinen Lektor und Verleger seit 1999, der nie weniger als das Allerbeste von mir akzeptiert und immer zu mir gehalten hat, auch, wenn es sich finanziell überhaupt nicht lohnte, der nie von mir verlangt hat, zurückzuschalten oder in meinem Schreiben konventioneller zu werden, und meinen riskanten Büchern immer eine Heimat geboten hat. Mein Booker Prize gebührt auch ihm. Großen Dank.

»Ich hab mir nie etwas für den Rückweg aufgespart.«

aus dem Film Gattaca von Andrew Niccol

Einleitung

Als ich 2019 für meinen Roman Mädchen, Frau etc. den Booker Prize erhielt, war ich plötzlich »über Nacht berühmt« – nach vierzig Jahren künstlerischer Arbeit. Meine Karriere war auch bis dahin nicht ohne Erfolge und Anerkennung verlaufen, aber allgemein bekannt war ich nicht. Der Roman erreichte den ersten Platz der Bestsellerlisten, wurde in viele weitere Sprachen übersetzt und erhielt genau die Aufmerksamkeit, die ich mir schon so lange für meine Arbeit wünschte. In zahllosen Interviews durfte ich die Frage beantworten, wie mein Weg hin zu diesem Höhepunkt nach all dieser Zeit verlaufen war. Ich sagte, ich hätte mich unaufhaltsam gefühlt, denn genau das, wurde mir jetzt klar, bin ich immer gewesen, seit ich mit achtzehn bei meinen Eltern ausgezogen bin, um meinen eigenen Weg in der Welt zu machen.

Ich kam zu dem Schluss, dass sich meine Kreativität bis in meine Kindheit und Jugend, meinen kulturellen Hintergrund und die Einflüsse zurückverfolgen lässt, die meinem Leben seine Form gegeben haben. Fast alle Menschen, die im Kunstbereich arbeiten, können Vorbilder nennen – Schreibende, Kunstschaffende, Kreative –, die sie inspiriert haben, aber welche anderen Elemente bilden das Fundament unserer Kreativität und bestimmen den Verlauf unserer Karriere? Für mich ist dieses Buch meine Antwort auf genau diese Frage. Es gibt Einblicke in meine Herkunft und meine Kindheit, meine Lebensumstände und meine Beziehungen, die Ursprünge und das Wesen meiner Kreativität, meine Strategien zur Persönlichkeitsentwicklung und meinen Aktivismus.

Denen, die erst auf mein Schreiben gestoßen sind, nachdem ich diesen herausgehobenen Punkt erreicht hatte, verrät das Buch, was nötig war, um immer weiterzumachen und weiterzuwachsen; und denen, die selbst schon lange kämpfen und ihre eigene Geschichte vielleicht in meiner wiedererkennen, kann es hoffentlich als Inspiration dienen, während sie weiter ihren persönlichen Weg hin zur Verwirklichung ihrer Vorhaben verfolgen.

Hier ist es also – Manifesto: Warum ich niemals aufgebe: ein Memoir und eine Meditation über mein Leben.

Eins


Herkunft, Kindheit, Familie,
Ursprünge

one (Englisch)
ān (Altenglisch)
ẹni (Yoruba)
a haon (Gälisch)
um (Portugiesisch)

Als Teile der Menschheit insgesamt, der human race, tragen wir die Geschichten unserer Abstammung allesamt in uns, und ich bin neugierig darauf, was meine dazu beigetragen hat, mich zu der Person, der Autorin zu machen, die ich geworden bin. Mir ist klar, dass mir viele Generationen von Menschen vorausgegangen sind, die von einem Land in ein anderes ausgewandert sind, um sich dort ein besseres Leben zu schaffen, Menschen, die über die künstlichen Konstrukte namens Grenzen und die menschengemachten Hürden aus Kultur und Race hinweg geheiratet haben.

Meine englische Mutter lernte meinen nigerianischen Vater 1954 bei einer Commonwealth-Tanzveranstaltung im Zentrum von London kennen. Sie studierte damals an einem von Nonnen geleiteten katholischen College in Kensington, um Lehrerin zu werden; er machte eine Ausbildung zum Schweißer. Sie heirateten und bekamen in den folgenden zehn Jahren acht Kinder. In meiner Kindheit und Jugend wurde ich als »Mischling« bezeichnet, wie Menschen mit Schwarzen und weißen Wurzeln damals genannt wurden. All diese Kategorisierungen – negro, »farbig«, bi- oder multiethnisch, Schwarz, mixed-race, of colour – dienen so lange als akzeptierte Bezeichnungen, bis sie ersetzt werden. Inzwischen wissen wir, dass »menschliche Rassen« – im Sinn einer biologischen Tatsache – gar nicht existieren und wir als human race 99 Prozent unserer DNA teilen. Unsere Unterschiedlichkeiten sind nicht systematischer Natur, sondern anderen Faktoren wie beispielsweise Umwelteinflüssen geschuldet. Trotzdem ist »Race« aber gelebte Erfahrung, und ihre Auswirkungen sind daher enorm. Dass wir das Konzept als fiktiv durchschauen, heißt nicht, dass wir auch ohne die Kategorisierungen auskämen, zumindest noch nicht.

Als ich ein Kind war, galt das Konzept »Schwarz und britisch« gemeinhin als Widerspruch in sich. Wer in Großbritannien geboren war, erkannte People of Colour nicht als vollwertige Mitbürgerinnen und Mitbürger an, und diese wiederum orientierten sich häufig an ihren Herkunftsländern. Mir selbst blieb gar nichts anderes übrig, als mich als Britin zu betrachten. Ich war in diesem Land geboren, hatte mein ganzes Leben hier verbracht, auch wenn mir ständig vermittelt wurde, dass ich nicht so recht hierhergehörte, weil ich nicht weiß war. Aber Nigeria war für mich nur eine ferne Vorstellung, ein Land, aus dem mein Vater stammte, über das ich aber sonst nichts wusste.

Über die mütterliche Seite meiner Familie weiß ich sehr viel mehr als über die väterliche. Vor Kurzem erst habe ich herausgefunden, dass sich meine britischen Wurzeln über dreihundert Jahre bis 1703 zurückerstrecken. Es hätte sicher geholfen, das schon als Kind zu wissen, weil ich mich dann zugehöriger gefühlt und die nötige Munition gegen Menschen gehabt hätte, die mich und alle anderen People of Colour damals aufforderten, gefälligst dorthin zurückzugehen, woher wir gekommen waren.

Natürlich braucht man keine britischen Wurzeln, um hierherzugehören, und die Vorstellung, dass man es nur tut, wenn man welche hat, darf niemals unwidersprochen bleiben. Bürgerrechte beschränken sich nicht auf Geburtsrechte, und die Sache war schon immer kompliziert, weil viele zwar als »Untertanen« des British Empire galten, aber nie die Auszeichnung der »Staatsbürgerschaft« erhielten.

Mir ist klar, dass DNA-Tests nicht unumstritten sind, weil die verschiedenen Anbieter auf Basis unterschiedlicher Datenbanken zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen kommen, aber mich faszinieren sie trotzdem. Mein Testergebnis von AncestryDNA, das über acht Generationen zurückreicht, offenbart eine ethnische Einschätzung, die meine Wurzeln folgendermaßen beschreibt: »Nigeria: 38 Prozent, Togo: 12 Prozent, England, Nordwesteuropa: 25 Prozent, Schottland: 14 Prozent, Irland: 7 Prozent, Norwegen: 4 Prozent«. (Dabei sind Schottland und Norwegen die beiden Länder, mit denen ich keine bekannten Vorfahren verknüpfen kann.)

Obwohl ich also vom »Abstammungsmix« her zu gleichen Teilen Schwarz und weiß bin, sehen andere, wenn sie mich anschauen, nur meinen Vater in mir, nicht meine Mutter. Die Tatsache, dass ich keinen Anspruch auf eine Identität als Weiße erheben könnte, selbst wenn ich das wollte (was ich nicht tue), ist in sich vernunftwidrig und belegt nur einmal mehr, wie absurd das ganze Konzept von »Rassen« tatsächlich ist.

*

Ich bin 1959 in Eltham geboren und in Woolwich aufgewachsen, beides Bezirke im Süden Londons. Als nicht-weißer Person weiblichen Geschlechts aus der britischen Working Class standen die Grenzen, die mir gesetzt werden würden, bereits fest, bevor ich auch nur den Mund aufsperren und den Schock darüber hinausbrüllen konnte, aus der Fruchtwassergeborgenheit im Bauch meiner Mutter verstoßen zu werden, wo ich neun Monate in traumverlorenem Sinneseinklang mit meiner Schöpferin verbracht hatte. Meine Zukunft war wenig verheißungsvoll – ich war dazu bestimmt, als Mensch zweiter Klasse gesehen zu werden: unterwürfig, minderwertig, marginal, unerheblich. Eine waschechte Subalterne.

Zum Zeitpunkt meiner Geburt zählte das britische Parlament nur vierzehn weibliche Abgeordnete im Vergleich zu 630 Männern, das Land wurde also zu 97 Prozent von Männern regiert. Wir lebten in einer patriarchalen Gesellschaft. Das ist keine Meinung, sondern eine Tatsache. Die Stimmen von Frauen und ihre spezifischen Anliegen rund um Mutterschaft, Ehe, Beruf sowie Freiheit hinsichtlich Sex und Verhütung wurden auf politischer Ebene nur selten gehört, und auch sonst gab es im ganzen Land nur wenige Frauen in einflussreichen Führungs- oder Machtpositionen. Heute ist etwa ein Drittel der britischen Parlamentsabgeordneten weiblich.

Ein Jahr nach meiner Geburt verschaffte die Pille Frauen die Freiheit einer größeren Kontrolle über den eigenen Körper, aber es sollte weitere sechzehn Jahre dauern, bis 1975 neue Gesetze zur gleichen Entlohnung und zur Gleichbehandlung die Diskriminierung von Frauen untersagten.

Man kann also getrost davon ausgehen, dass ich eine Geschichte der zweitrangigen Stellung von Frauen in der Gesellschaft ererbt habe. Meine Mutter, Jahrgang 1933, war in der weiblichen Tradition ihrer Zeit dazu erzogen worden, sich dem Mann, den sie einmal heiraten würde, unterzuordnen und seine Bedürfnisse über ihre eigenen zu stellen. Tatsächlich gehorchte sie dem gesellschaftlichen Kodex, der von ihr verlangte, sich der Autorität meines Vaters zu beugen, bis in den Siebzigern die zweite Welle der Frauenbewegung diese gesellschaftlichen Überzeugungen anfocht und allmählich veränderte; da fing auch sie an, sich zu behaupten, inspiriert von ihren vier Teenager-Töchtern, die in sehr viel freieren Zeiten erwachsen wurden. Nach dreiunddreißig Ehejahren machte sie sich schließlich von meinem Vater unabhängig.

*

Von meinem Vater, einem Einwanderer aus Nigeria, der 1949 an Bord des altgedienten Dampfers Empire Windrush ins Mutterland gekommen war, habe ich eine Hautfarbe geerbt, die festlegte, wie mich das Land, in das ich hineingeboren wurde, künftig wahrnahm: als Ausländerin, Außenseiterin, Fremde. Zum Zeitpunkt meiner Geburt war es noch nicht verboten, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe zu diskriminieren, und es sollte noch viele Jahre dauern, bis durch die Race Relations Acts antirassistische Grundsätze in vollem Umfang in der britischen Gesetzgebung verankert wurden, von der ersten Fassung 1965, die öffentlichen Rassismus zur Straftat erklärte, bis zu der von 1976, die das Gesetz schließlich umfassender machte.

Als mein Vater ins Land kam, herrschte dort noch ein weiterer Mythos – der von der Unterlegenheit der Wilden aus Afrika, der seit den Anfängen des imperialen Projekts und des transatlantischen Sklavenhandels kursierte. Mein Vater stammte aus einem Gebiet, das fast ein Jahrhundert lang kolonialen Übergriffen und Eroberungen ausgesetzt war. Das British Empire bemühte sich nach Kräften, den Mythos aufrechtzuerhalten, es würde barbarische Kulturen zivilisieren, dabei handelte es sich in Wahrheit nur um ein ungeheuer profitables kapitalistisches Unterfangen.

So gut dokumentiert und erforscht die Windrush-Generation der ersten Einwanderungen aus der Karibik nach dem Zweiten Weltkrieg ist, so wenig sind es die entsprechenden Erzählungen vom afrikanischen Kontinent. Dabei sind die Ähnlichkeiten zahlreich. Kaum war mein Vater als junger Mann in Großbritannien eingetroffen, wurde er seines individuellen Selbstbilds brutal beraubt und musste eine aufgezwungene Identität annehmen – als sichtbare Verkörperung einer jahrhundertealten negativen Falschdarstellung. Großbritannien warb damals Menschen aus den Kolonien an, um die Lücken zu füllen, die die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs hinterlassen hatten. Mein Vater war pflichtschuldigst aus seinem Heimatland angereist, wo er ein ganz normaler Mensch gewesen war, aber anstatt als Sohn des Empire willkommen geheißen zu werden, sah er sich mit dem entfesselten Rassismus längst vergangener Zeiten konfrontiert.

Hinzu kam, dass ich in die Niederungen der britischen Klassenhierarchie hineingeboren wurde, ein System, das Lebensqualität und Chancen massiv beeinflusst – und sich bis heute hält, obwohl die soziale Mobilität im Land deutlich zugenommen hat. Meine Großmutter mütterlicherseits, die wir Nana nannten, war Schneiderin. Der Vater meiner Mutter, Leslie, war Milchmann oder Milchausfahrer, wie es damals noch hieß. Seine Familie hatte früher eine Molkerei besessen. Meine Mutter, das einzige Kind der beiden, besuchte eine katholische Grammar School. Nachdem sie das College abgeschlossen hatte und Lehrerin geworden war, einer der wenigen Berufe, die gebildeten Frauen Anfang der Fünfziger offenstanden, befand sie sich auf dem besten Weg in die Middle Class. Als sie dann aber einen Afrikaner heiratete, wurde sie umstandslos ans unterste Ende der gesellschaftlichen Leiter zurückversetzt. In gewisser Weise wurde meine Mutter aus ehelichen und, sobald sie Kinder hatte, auch aus biologischen Gründen zur Schwarzen gemacht; zur »Schwarzen ehrenhalber«, wenn man so will.

Meine Mutter erzählt immer, sie habe sich, als sie meinen Vater kennenlernte, in sein Wesen verliebt, seine Hautfarbe sei ihr gar nicht aufgefallen. Sie liebte ihn und ihre Kinder, wir waren ihr ganzes Leben. Etwas anderes zählte für sie nicht, erst recht nicht der rassistische Blödsinn Außenstehender, die manche Menschen als weniger menschlich betrachteten.

Mein Vater hatte nigerianische und afrobrasilianische Wurzeln. Seine Zwillingsschwester starb bei der Geburt ihres ersten Kindes, kurz bevor er nach England ging. Außer ihr hatte er noch drei sehr viel ältere Halbgeschwister: zwei Schwestern, über die ich nichts weiter weiß, und einen Bruder, der 1927 nach Großbritannien ging, sich in Liverpool niederließ, eine Irin heiratete (deren Familie daraufhin für immer mit ihr brach) und drei Töchter bekam.

Geboren in Französisch-Kamerun wuchs mein Vater in Lagos auf, der damaligen Hauptstadt Nigerias. Sein Vater, Gregorio Bankole Evaristo, gehörte zu denen, die nach dem dortigen, sehr späten Ende der Sklaverei 1888 aus Brasilien nach Westafrika zurückgekehrt waren. Dass er selbst noch versklavt wurde, halte ich für unwahrscheinlich. In Nigeria arbeitete Gregorio als Zollbeamter, was, wie ich mir vorstelle, ein gewisses Ansehen mit sich brachte, und besaß außerdem ein Haus im brasilianischen Viertel von Lagos. Als ich Anfang der Neunziger dort war, konnten die heutigen Besitzer mir gar nicht schnell genug den Kaufvertrag präsentieren, den sie mit meiner Großmutter Zenobia geschlossen hatten, weil sie fürchteten, ich wolle Ansprüche darauf anmelden – nach fünfzig Jahren.

Angeblich hat Gregorio Zenobia, seine zweite Frau, im Kloster kennengelernt. Es ist sehr klar, dass sie dort nicht zur Schule ging, weil sie Analphabetin war. Ich verfüge über ein offizielles Dokument, das sie per Daumenabdruck unterzeichnet hat, für mich ein sehr bewegender Anblick – diese körperliche Manifestation ihrer ganz persönlichen Kerben und Linien. Weil wir sie nicht in Nigeria besucht haben und sie auch nicht nach England gereist ist, habe ich sie nie kennengelernt. Bis heute weiß ich nur wenig über sie und meinen Großvater, der noch vor der Geburt meines Vaters starb. Mein Vater kam in der Beschreibung seiner Mutter nie über den Satz hinaus, sie sei sehr nett gewesen.

Umso kostbarer war mir immer das einzige Foto meiner Großmutter im Familienbesitz. Ich glaube, es wurde in den Zwanzigern aufgenommen, und sie ist darauf sehr herausgeputzt, vielleicht für ihre Hochzeit. Drall, lieb und hübsch sieht sie aus, würdevoll, aber auch sittsam. (Ich hingegen habe nie sittsam ausgesehen. Gott bewahre!) Kürzlich bekam ich ein weiteres Foto in die Hände, das meine Großmutter gegen Ende ihres Lebens zeigt, und die Veränderung hat mich verblüfft. Ihr hageres, gequältes, trauriges Altersgesicht zerschlug das verklärte Bild von ihr, das ich jahrzehntelang mit mir herumgetragen hatte. Zenobia hatte vor rund vierzig Jahren ihren Mann verloren, die Zwillingsschwester meines Vaters war tot, und mein Vater war nach England ausgewandert, ohne ihr etwas davon zu sagen, damit sie nicht versuchen würde, es ihm auszureden, und hatte ihr weder nach seiner Ankunft geschrieben noch überhaupt je. Vielleicht schämte er sich ja dafür, wie er fortgegangen war. Nachdem er meine Mutter geheiratet hatte, übernahm sie die Korrespondenz mit ihrer Schwiegermutter, die ihr mit Hilfe eines Schreibers antwortete. Leider offenbaren ihre Briefe nichts darüber, wer sie war und was sie für ein Leben führte.

Als meine Großmutter 1967 starb, erfuhr mein Vater das von jemandem aus dem Umfeld der Familie in Nigeria, der ihm einen Brief schrieb:

Ich bin ein Mensch, der seinen Eltern großen Respekt erweist, vor allem meiner Mutter, die mich so gut versorgt hat, als ich klein war, und Ihre verstorbene Mutter hat mir erzählt, Sie wären einfach weggegangen und hätten sich nicht mehr um sie gekümmert oder sich für sie interessiert, das ist wirklich schlimm, und jetzt ist das Ende da, und es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Mutter am 5. verstorben ist und die Beerdigung am 11. stattfinden wird […].

Wir Kinder haben unseren strengen, auf eiserne Disziplin bedachten Vater nur ein einziges Mal in Tränen gesehen, und das war der Moment, als er diesen Brief bekam. Wir wurden aus der Küche gescheucht, drängelten uns aber draußen im Garten vor dem Fenster und spähten ungläubig hinein, um es mit eigenen Augen zu sehen. Von unerschütterlich zu ungeschützt im Bruchteil einer Sekunde. Wir hatten geglaubt, unser Vater hätte keine Gefühle, und hier hatten wir den Gegenbeweis. Diesmal brachte er nicht uns zum Weinen, sondern litt selbst. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wird mir klar, dass mein Vater nicht der harte Mensch war, als den wir ihn erlebt haben, sondern einer, der seine Gefühle nicht ausdrücken konnte. Die Trauer um den Tod seiner Mutter hatte ihn überwältigt – der Verlust, vielleicht auch die Schuldgefühle und das Wissen, dass er sie nie wiedersehen würde.

Mit acht Kindern unter zehn konnte mein Vater es sich nicht leisten, zur Beisetzung nach Nigeria zu reisen. Danach gab es keinen weiteren Kontakt zu seiner Familie dort, bis ich ihn 1984 fragte, ob er noch irgendeine Anschrift habe, und er mit der Adresse einer Cousine herausrückte, die er nicht mehr gesehen hatte, seit er ausgewandert war. Ich schrieb ihr und habe eine Kopie des Briefes aufbewahrt, in dem ich sie regelrecht anflehte: »Ich muss unbedingt etwas über meine Verwandtschaft herausfinden, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins, was auch immer – Menschen, von denen ich nie gehört, die ich nie gesehen habe.«

Die Cousine war bereits hochbetagt, und ihre Tochter antwortete mir an ihrer Stelle, wie sehr es sie freue zu hören, dass mein Vater noch am Leben war. Ihre Mutter, schrieb sie, sei »in Tränen ausgebrochen, weil sie längst alle Hoffnung aufgegeben hatte, je wieder von Deinem Vater zu hören. […] Getanzt und gesungen hat sie, und schließlich hat sie gebetet.«

Mein Vater reiste erst Anfang der Neunziger wieder nach Nigeria, vierundvierzig Jahre, nachdem er fortgegangen war. Zusammen mit meiner Mutter brachte ich ihn nach Hause, nachdem ich die Reise im Jahr zuvor selbst unternommen hatte. Meine Eltern waren geschieden und hatten das gemeinsame Haus verkauft, er konnte also als vermögender Mann auftreten. Von Nigerianern seiner Generation wurde erwartet, dass sie mit Geld zurückkehrten, wenn sie nach England ausgewandert waren. Taten sie das nicht, luden sie Schande auf die Familie und wurden als Versager betrachtet. Der Mythos, dass in Großbritannien das Geld quasi auf der Straße liege, hielt sich hartnäckig in den Kolonien, und diejenigen, die in der Heimat geblieben waren, ahnten nichts davon, wie schwer es die Menschen hatten, die es ins Herz des Weltreichs verschlug.

Das einzige Foto, das ich von Gregorio habe, zeigt einen elegant gekleideten Mann in königlicher Haltung, der Macht und Autorität ausstrahlt. Seine respekteinflößende Miene ähnelt der meines Vaters.

*

Es frustriert mich, dass von den Vorfahren meines Vaters jenseits seiner Eltern niemand bekannt ist. Als ich nach Nigeria kam, erklärte man mir, dass die Menschen hier nicht gern über Verstorbene sprechen, was die Nachforschungen durchaus erschwert. Egal, welches Ansehen mein Vater in seinem Herkunftsland hatte, in Großbritannien hatte er sich zum Schweißer ausbilden lassen und in Fabriken gearbeitet. Er gehörte zu der damaligen gesellschaftlichen Schicht, die ich als »Brown Immigrant Class« bezeichne. Selbst, wenn er ein Yoruba-Prinz gewesen wäre, wie es die Männer seiner Generation leichtgläubigen Engländerinnen beim ersten Anbandeln oft weismachen wollten, wäre seine Position innerhalb der Gesellschaft doch von seiner Hautfarbe und seiner Außenseiterrolle bestimmt worden, die in der allgemeinen Wahrnehmung noch unter der weißen Working Class rangierte. Die Brown Immigrant Class des 20. Jahrhunderts wurde als ganz eigene Schicht gesehen, in deren Beurteilung ökonomische Faktoren keine Rolle spielten. Auch heute noch wird die Working Class mit Weißsein assoziiert, so, als würden braune Haut und Working Class einander ausschließen.

Obwohl ich immer sage, ich käme aus der Working Class, war es, wie so oft, um einiges komplizierter. Mein Vater gehörte zur Brown Immigrant Class, aber meine Mutter zählte von Bildungsstand und Beruf her zur Middle Class, trotz ihrer Working-Class-Eltern. Unsere Familie hatte finanziell zu kämpfen. Weil meine Mutter ihren Beruf erst wieder aufnahm, als auch ihr jüngstes Kind in die Schule kam, zogen meine Eltern ihre acht Kinder mit dem Fabriklohn meines Vaters groß. Bildung stand für sie an erster Stelle, und so ermöglichten sie meinem ältesten Bruder ein paar Jahre auf einer privaten Grundschule. Er erinnert sich noch lebhaft daran, wie die ganze Klasse einmal nacheinander ein Stück aus dem beliebten rassistischen Kinderbuch Der kleine schwarze Sambo (1899) vorlesen musste, das von Sambo, seinem Vater Black Jumbo und seiner Mutter Black Mumbo handelte. »Sambo« war seit Langem eine gängige rassistische Beleidigung, sowohl in den USA als auch in Großbritannien, und »mumbo-jumbo« – im Sinne von »Kauderwelsch« – wurde als abwertende Bezeichnung für Schwarze Sprachen verwendet. Als mein siebenjähriger Bruder, das einzige nicht-weiße Kind in der Klasse, gezwungenermaßen diesen rassistischen Text vorlas, brachen alle anderen in schallendes Gelächter aus. Er hat das nie vergessen.

Meine Eltern zahlten auch dafür, dass zumindest ein paar von uns die günstig gelegene katholische Grundschule gleich nebenan besuchen konnten, eine sogenannte »Voluntary Aided School«, die teilweise von der Kirche finanziert wurde, aber einen symbolischen Betrag von zehn Pfund im Jahr von den Eltern verlangte. Mein Vater, der in einer Tauschkultur aufgewachsen war, wo um den Preis von allem und jedem gefeilscht wurde, handelte einen Gruppenrabatt mit den Nonnen aus, sodass sich die Jahresgebühr von zehn auf sechs Pfund pro Kind reduzierte. Nicht gerade Eton.

Als Kinder waren wir immer gut gekleidet, worauf meine Mutter heute noch stolz ist – dass es ihr gelungen ist, ihre acht Sprösslinge jederzeit bestmöglich zu präsentieren –, und unser Haus war immer sauber, wenn auch sonst recht verwohnt und exzentrisch. Meine Eltern waren Hausbesitzer – eine etwas irreführende Bezeichnung, denn eine Hypothek ist ja im Grunde nichts anderes als eine Verschuldung über fünfundzwanzig Jahre. Das mag einen gewissen Einfluss auf meine eigene hypothekenfeindliche Haltung als junge Frau gehabt haben.

Sobald wir Kinder alt genug waren, wurden wir reihum zum Hausputz eingeteilt, mussten jeden Samstagmorgen, immer zu zweit, das Haus von oben bis unten schrubben; dazu kamen tägliche Einsätze zum Geschirrspülen und Abtrocknen. Von klein auf machten wir uns unser Frühstück selbst, und ab dem elften Lebensjahr waren wir auch dafür verantwortlich, unsere Kleider selbst zu waschen und zu bügeln. Da überrascht es nicht weiter, dass aus uns allen hochgradig eigenständige Erwachsene geworden sind.

*

Als Kind mit Schwarzen und weißen Wurzeln und brauner Haut in einer überwiegend weißen Wohngegend fiel ich unweigerlich auf, weil ich anders aussah als die Mehrheit. Auffallen ist das eine, schlecht behandelt werden aber etwas ganz anderes.

Meine Familie ertrug die Hänseleien von Kindern, die dabei die Rassismen ihrer Eltern nachplapperten, ebenso wie die gewaltsamen Angriffe von Rowdys auf unser Haus, die uns so regelmäßig die Fenster einschmissen, dass wir schon beim Ersetzen der Scheiben wussten, sie würden bald wieder zertrümmert werden. Mein Vater jagte den Steinewerfern nach und zerrte sie buchstäblich zurück zu ihren Eltern, damit die für den Schaden aufkamen. (Heute dürfte er das gar nicht mehr.) Als Kind wird man von einem solchen Maß an Feindseligkeit tief getroffen, ohne dass man es reflektieren oder formulieren könnte. Man spürt Hass, obwohl man nichts getan hat, womit man ihn sich eingehandelt hätte, und so sucht man den Fehler bei sich selbst statt bei den anderen.

Ein Kind muss sich sicher fühlen können, es muss sich zugehörig fühlen, aber wenn es schon abgeurteilt wird, bevor es auch nur ein Wort sagen kann, stellt sich dieses Gefühl nicht ein. Es kam mir auch unfair vor, denn innen fühlte ich mich ja genauso wie meine kleinen weißen Spielgefährten. Wir mochten die gleiche Musik und die gleichen Fernsehsendungen, wir atmeten die gleiche Luft, aßen das gleiche Essen, hatten die gleichen Gefühle – menschliche Gefühle. Mit der Zeit legte ich mir ein Kraftfeld aus Selbstschutz zu, das mich bis heute umgibt.

Unter weiteren damals gängigen Übergriffen, wie sie andere nicht-weiße Familien erlebten, nachbarschaftlichen »Willkommensgrüßen« wie Brandbomben, kreativ eingesetzte Exkremente oder toten Ratten vor der Haustür, hatte meine Familie immerhin nicht zu leiden. Der Nachbar von gegenüber machte jedes Mal ein böses Gesicht, wenn er uns sah, und grüßte nie auch nur mit einem Wort. Viele andere Nachbarn waren aber ganz in Ordnung, auch wenn wir privat nicht viel mit ihnen zu tun hatten. Mein Vater hatte während der ganzen Zeit, die er in Großbritannien lebte, einen Hammer neben dem Bett liegen, selbst noch, als er ihn längst nicht mehr brauchte. Hätte das Gesetz es erlaubt, es wäre eine Pistole gewesen. Er hatte das Schiff, das ihn von Lagos nach Liverpool brachte, noch kaum verlassen, da sah er sich schon mit rassistischer Gewalt konfrontiert. Als ehemaliger Boxer und als Yoruba-Krieger, wie ich ihn gern sehe, stellte mein Vater sich den Angreifern. 1965 verklagte er einen Nachbarn, der regelmäßig seinen Hund in unseren Garten machen ließ. Als mein Vater ihn deswegen zur Rede stellte, beschimpfte der Mann ihn als »schwarzen Scheißkerl«, wollte sich mit ihm prügeln und hetzte den Hund auf ihn. Als mein Vater die Prügelei beenden wollte, folgte der Rassist ihm bis ins Haus, ging auf ihn los, und alles fing von vorne an.

Jetzt, beim Schreiben, habe ich die Zeugenaussage meines Vaters zu dem Vorfall vor mir, mit Schreibmaschine auf große Blätter dünnen Papiers getippt, die mit den Jahren einen Sepiaton angenommen haben. Trotz allem, was er aushalten musste, hat er sich nie als Leidtragenden, als Opfer gesehen, sondern immer als Kämpfer, der einsteckte, aber auch austeilte. Ich bin genauso, nur, dass ich meine Kämpfe mit Worten austrage. Ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn mich jemand auszustechen versucht, in dieser Hinsicht ist mir mein Vater ein Vorbild. Ich fange selbst keinen Streit an und gehe Konflikten im Allgemeinen aus dem Weg, obwohl ich als junge Frau in den Zwanzigern regelmäßig explodiert bin. Aber wenn mir jemand blöd kommt, werde ich das letzte Wort haben.

*

Die angeblich frommen Priester unserer römisch-katholischen Gemeinde sprachen nie auch nur ein Wort mit meiner rechtschaffen katholischen Mutter und ihrer Schar braunhäutiger Kinder, wenn wir uns nach der Messe vor der Kirche einfanden, zum üblichen geselligen Beisammensein mit dem Priester als beliebtem und gefragtem Gastgeber, der umherschwirrte und seine Gemeindemitglieder charmierte, zumindest die besonderen Lieblinge, die Speichellecker, die ihn abends mit Wein und Essen bewirteten. Der Papst, der größte Superstar von allen, stand naturgemäß nicht zur Verfügung, also wurde mit den Priestern als Rock-Göttern vorliebgenommen. Es war ein einziges großes Partyhopping für diese gottlosen Männer, die häufig angetrunken waren, wenn wir zur Beichte kamen, um unsere »Sünden« zu gestehen. Dann rochen wir samstagvormittags um elf ihre Alkoholfahne durch das Holzgitter des Beichtstuhls, durch das sie zu uns sprachen.

Kein Priester reichte uns je die Hand, um der einzigen Schwarzen Familie unter seinen Schäfchen Unterstützung oder auch nur Interesse entgegenzubringen. Einmal suchte meine Mutter selbst einen Priester auf, um sich Rat zu holen, wie sie es anstellen sollte, keine weiteren Kinder zu bekommen, obwohl sich die Kirche gegen Empfängnisverhütung aussprach. Er erklärte ihr, da Verhütung nun einmal verboten sei, dürfe sie auch keine verwenden, obwohl die meisten Frauen in der Gemeinde zu der Zeit nur zwei oder drei Kinder hatten und also offensichtlich verhüteten.

Meine Mutter erinnert sich auch an einen Priester, einen Mönch, der im Krankenhaus die Runde machte, als sie dort mit ihrem achten und letzten Kind in den Wehen lag. Als sie ihm erzählte, wo sie lebte, wollte er wissen, ob das in der Nähe des Hauses sei, »wo die Schokos wohnen«, ohne auch nur zu ahnen, dass das Kind im Bauch meiner Mutter eins von ebendiesen »Schokos« war. Meine Mutter, die sich fest an die Gebote der Kirche hielt, war erschüttert von der offen rassistischen Ausdrucksweise dieses Geistlichen. Heute hat der Ruf katholischer Priester längst an mehreren Fronten irreparablen Schaden genommen, aber damals wurden sie in ihren Gemeinden wie Halbgötter behandelt, und so verhielten sie sich auch.

Ein anderes Mal hatte sich einer der zuständigen Priester doch zu einem seelsorgerischen Besuch bei uns durchgerungen. Meine Mutter, damals seit sechzehn Jahren treues Gemeindemitglied, war ganz aus dem Häuschen über dieses verspätete Zeichen der Anerkennung seitens ihrer religiösen Führung, aber dann stellte sich heraus, dass sein Besuch nur das Ziel hatte, sie zu überreden, unser Haus an die Kirche zu verkaufen. Ursprünglich sei es nämlich als Teil der benachbarten Schule erbaut worden. Und jetzt brauche die Schule mehr Platz, erklärte der Priester, während er gierig die Gurkensandwiches meiner Mutter in sich hineinstopfte.

In unserer Familie herrschte also kein Zweifel an der Scheinheiligkeit des katholischen Klerus, und ab unserem fünfzehnten Geburtstag wurde meinen Geschwistern und mir die Wahl gelassen, ob wir nach zehn Jahren Sonntagsmesse noch weiter hingehen wollten. Der Reihe nach traten wir aus der Kirche aus und kehrten nie zurück; und zu guter Letzt zog auch meine Mutter nach.

*

Mein Vater machte keine Anstalten, mich und meine Geschwister an den nigerianischen Teil unserer Herkunft heranzuführen, und ließ uns abblitzen, wenn wir neugierig nachfragten. Als wir erwachsen waren, erklärte er uns, er habe das gezielt gemacht, um uns die Integration in Großbritannien zu erleichtern. In Wirklichkeit hatte er einfach weder die Zeit, die Geduld noch die Veranlagung, um acht Kindern unterschiedlichen Alters bestimmte Aspekte seiner Kultur oder seine Sprache, Yoruba, nahezubringen. Wie auch, bei so vielen Kindern? Die Sprache selbst ist schwer zu erlernen, wenn man sie im Alltag nicht verwendet und hört. Sie verfügt über verschiedene Töne, von denen jeder die Bedeutung eines Wortes verändern kann, und manche lassen auch mehrere unterschiedliche Interpretationen offen. Das Wort oro zum Beispiel kann »Freund«, »Stadt«, »Gabe« und »Stock« bedeuten; das Wort ogun wiederum heißt »Besitz«, »Medizin«, »Krieg«, »Zauberspruch« und »zwanzig« und ist außerdem der Name eines Mitglieds der Yoruba-Götterwelt. Vor Jahren habe ich einmal versucht, in einem Abendkurs Yoruba zu lernen, es aber gerade mal geschafft, bis zehn zu zählen.

Mein Vater ließ uns nur selten draußen spielen, erst recht nicht auf der Straße – zu einer Zeit, als Kinder häufig ganz frei draußen herumstreunen durften, ohne die vielen Ängste und Einschränkungen, die es heute berechtigterweise gibt. Irgendwann bekamen wir doch ein Fahrrad, aber da wir es uns zu acht teilen mussten, war es eine recht nutzlose Errungenschaft. Mein Mann erinnert sich an seine Vorstadtkindheit, in der er morgens mit einem Lunchpaket aus dem Haus gehen und den ganzen Tag im Park mit seinen Freunden spielen durfte, bis es dunkel wurde. Das klingt paradiesisch, und für ihn war es das auch. Zum Glück hatten wir einen großen Garten, in dem wir uns austoben konnten.

Der unausweichliche Clash der Kulturen, der entsteht, wenn die Vorstellungen von Kindererziehung eines Einwanderers einer völlig anderen Kultur entstammen als der, in die seine Kinder hineingeboren werden, hat meine Kindheit in mancher Hinsicht beeinträchtigt. Ein Mann, der in den Zwanzigerjahren in Nigeria zur Welt gekommen ist, will Kinder allenfalls sehen, aber nicht hören, und neigt zur körperlichen Züchtigung, wann immer sie gegen sein militärisches Regiment verstoßen. Dummerweise lebten wir aber nicht in Nigeria, wo so etwas an der Tagesordnung war, sondern in Großbritannien, wo man zunehmend davon abkam, Kinder zu schlagen. Und er entschärfte die Angst, die er uns einimpfte, auch nicht mit zärtlicher Zuwendung in anderen Momenten. Als ich herausfand, dass meine Schulfreundinnen für ihre Missetaten bloß ausgeschimpft wurden, erschien mir das entsetzlich ungerecht. Ich lebte in Angst vor ihm, vor dem hölzernen Kochlöffel, den er für kleinere Vergehen verwendete, und vor dem Gürtel, der bei größeren zum Einsatz kam. Meine Mutter flehte immer um Nachsicht für uns, hatte aber wenig Glück mit ihren Versuchen, gegen die Autorität des Oga, des Ältesten, des Patriarchen im Haus, aufzubegehren.

Die britische Gesellschaft meiner Vorortkindheit konnte dem Konzept des Schwarzseins absolut nichts Positives abgewinnen, bis auf die Musik, die aus den USA herüberkam, die Supremes, die Jackson 5, Stevie Wonder und die Four Tops. Davon abgesehen war Schwarz gleichbedeutend mit böse, niederträchtig, hässlich, minderwertig, kriminell, dumm und gefährlich – und mein Vater war furchterregend. Einer meiner Brüder formulierte es damals so: »Wenn Daddy vorne zur Tür reinkommt, rennt die Freude hinten raus.« Er redete nur mit uns, um uns ellenlange Vorträge über unser angeblich so schlechtes Benehmen zu halten, die bis zu einer Stunde dauern konnten, und wir mussten währenddessen strammstehen und den Eindruck erwecken, dass wir wie brave Kinderlein aufmerksam zuhörten – kein Grinsen, kein Stirnrunzeln, kein Gähnen, kein Augenverdrehen, sonst waren wir geliefert. Wenn wir mit unseren Freunden irgendwo hinwollten, mussten wir das entsprechende Gesuch schon Wochen vorher einreichen und einen weiteren Vortrag über die Gefahren der Gesellschaft und unseren eigenen niederen Charakter über uns ergehen lassen, meistens, während er das Abendessen verzehrte, das er sich zuvor selbst gekocht hatte: Fleisch, Kartoffeln, Möhren und Kohl, alles mit Soße vermanscht. Er kochte sich immer sein eigenes Essen, wenn er von der Arbeit kam, und verzehrte es dann direkt aus dem Topf; mit seinem morgendlichen Porridge machte er es genauso, sehr pragmatisch im Grunde, weil es so weniger abzuspülen gab. War der endlose Vortrag dann vorbei, wurde die Erlaubnis in aller Regel verweigert. Es konnte auch sein, dass auf einen Vortrag noch eine Tracht Prügel folgte.