Christian Berkel erzählt die Geschichte von Ada: Mit ihrer jüdischen Mutter aus Nachkriegsdeutschland nach Argentinien geflohen, vaterlos aufgewachsen in einem katholischen Land, kehrt sie 1954 mit ihrer Mutter Sala nach Berlin zurück. In eine fremde Heimat, deren Sprache sie nicht spricht. Dort trifft sie auf den lange ersehnten Vater Otto, doch das Familienglück bleibt aus. In einer noch immer autoritär geprägten Gesellschaft wächst Adas Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit.
Anknüpfend an den Apfelbaum taucht Christian Berkel in seinem neuen Roman ein in die dynamische Zeit der fünfziger und sechziger Jahre. Adas Weg, ihre Reise zu sich selbst, führt sie von Buenos Aires über die Studentenbewegungen von Berlin und Paris bis nach Woodstock.
Ullstein
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Quelle des Songtextes:
»Eleanor Rigby« (Lennon/McCartney): Revolver, The Beatles, erschienen 5. 8. 1966 bei Parlophone, Seite A, Song 2.
»Mama« (Bixio/Balz/Cherubini): Heintje, Heintje, erschienen 1968 bei Ariola, Seite A, Song 2. © 1941 Mit freundlicher Genehmigung BEBOTON-VERLAG GMBH
»Oh Mia Bella Napoli« Musik: Gerhard Winkler / Text: Ralph Maria Siegel, © Boccaccio-Verlag (Richard Birnbach-Musikverlag): Rudi Schuricke singt Gerhard Winkler, Rudi Schuricke, erschienen 1959 bei Polydor, Seite A, Song 2.
»Freedom (Motherless Child)«: (Traditional American Folk). Richie Havens. Woodstock: 3 Days of Peace and Music. USA 1970.
Zitat Motto: »Sophokles.« Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Band 16. Hrsg. Michael Franz. Stroemfeld/Roter Stern 1988, S. 196.
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ISBN: 978-3-8437-2337-4
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Dieses Buch ist ein Roman, wenn auch einige seiner Charaktere erkennbare Vor- und Urbilder in der Realität haben, von denen das eine oder andere biografische Detail übernommen wurde. Dennoch sind es Kunstfiguren. Ihre Beschreibun-gen sind ebenso wie das Handlungsgeflecht, das sie bilden, und die Ereignisse und Situationen, die sich dabei ergeben, fiktiv.
Für Andrea
Daß doch niemals du erkenntest, wer du bist.
Sophokles
Ich hatte es verloren. Als junges Mädchen schrieb ich jeden Tag darin. Nicht nur Träume zeichnete ich auf. Einfach alles, was mir durch den Kopf ging. Und dann, eines Tages, nach einem meiner vielen Umzüge, war es verschwunden. Weg. In den nächsten Monaten suchte ich es überall. Ich kehrte das Unterste zuoberst, durchwühlte sogar die Mülltonnen. Hatte ich es wirklich verloren? Vielleicht sogar versehentlich weggeworfen? Bei der Suche fiel mir ein Hochzeitsfoto meiner zweiten Ehe in die Hand. Sie war kinderlos geblieben und irgendwann gescheitert. Wie so oft war ich weitergezogen, um meine Zelte woanders aufzuschlagen. Eine einsame Karawane. Ich und Ich. Dazwischen ein paar Orte. Von Trennung zu Trennung war ich mir verloren gegangen, jede Verbindung zu meiner Familie war gelöscht. Nichts war geblieben. Nichts und ein paar leere Koffer.
Erinnerungen an eine Liste aus den späten Fünfzigerjahren. Ein Spiel zwischen Uschka und mir, ein Zeitvertreib unter Heranwachsenden, der immer ernster wurde. Eine von uns warf ein Wort in den Raum, die andere nahm es auf, um den Faden weiterzuspinnen. Meistens fing meine Freundin Uschka an.
»Reisen.«
»Paris.«
»London.«
»Rom.«
»New York.«
»Was machst du in New York?«
»Spielen, eine Schauspielschule, nein, warte, eine … Modelschule.«
»Gibt’s das?«
»Weiß nicht. Weiter. Du bist dran, Ada, los, nicht einschlafen.«
»Was?«
»Was willst du beruflich machen?«
»Weiß nicht.«
»Egal, sag irgendwas.«
»Schöne Dinge.«
»Schöne Dinge?«
»Ja, vielleicht Mode. Irgendwas mit Menschen. Ich könnte deine Kleider entwerfen.«
»Designerin?«
»Kann ich das? Ich kann nicht mal zeichnen.«
»Man kann alles, was man will.«
»Alles?«
»Alles. Also. Was willst du?«
»Einen Mann.«
»Oh Gott, wie langweilig. Die kommen auch so. Muss man sich nicht wünschen.«
»Reisen. Überallhin. An Orte, wo noch niemand war. Gibt es so was?«
»Bestimmt.«
Ganze Nachmittage verbrachten wir damals so, sprangen von Ast zu Ast, während um uns herum die Häuser aus dem Boden schossen. Berlin wuchs schnell, grau und hässlich. Gab es in den Fünfzigerjahren so etwas wie ein Gefühl dafür, dass irgendetwas fehlte? Was war los in diesem Lummerland? Maikäfer flieg. Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist in Pommernland. Und Pommernland ist abgebrannt. Maikäfer flieg.
Der Maikäfer flog zu allen Gelegenheiten. Selbst meine Mutter trällerte das Lied beim Aufräumen oder Saubermachen. Es war, als gingen wir über eine Brücke, ohne es zu merken. Wohin? In unsere Vergangenheit? Ich glaube, dass wir gar keine Vergangenheit hatten. Zumindest versuchte jeder diesen Eindruck zu erwecken. Die Erwachsenen sprachen von der Stunde Null. Tabula rasa. Nicht nach uns die Sintflut, nein, wir waren die, die nach der Sintflut kamen. Wir wuchsen in den Trümmern auf, die man uns übrig gelassen hatte. Die meisten von uns sahen es nicht, weil sie es nicht anders kannten. Aber ich sah es, auch wenn ich es nicht verstand, weil ich aus Buenos Aires kam, wo es keine Bombenkrater gab. Dort tanzte die Sonne über den Dächern unversehrter Häuser. Deutschland war müde. Es roch nach Verwesung und Tod. Schweigend bauten die Menschen dieses Land wieder auf. Als kämen sie aus dem Nichts. Als hätte es vor der Stunde Null in diesem Land kein Leben gegeben. Selbst das Maikäferlied schlug von Erinnerung befreit mit seinen Flügelchen den Takt für die Zukunft. Niemand sprach. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, war nichts geschehen. Aber ihre dumpfe Angst, es könnte sich wiederholen, erinnerte sie daran, dass da noch etwas war. Diese Angst wurde zu unserer Mitgift. Auf der Suche nach einem Ventil schleppten wir sie mit uns herum. Unsere Dichtungen waren defekt. Was in uns kochte, schoss eines Tages nach allen Seiten aus uns heraus.
Zum ersten Mal sah ich meinen Bruder auf der Bühne wieder. Er stand oben, ich saß unten. Shakespeare, Maß für Maß. Der Titel passte. Der Tag auch, aber das wusste ich noch nicht, als ich die Besetzung im Programmheft las. Es war der 9. November 1989.
Bei seinem Auftritt erschrak ich über seine gelb gefärbten Haare. Tat er es jetzt unserer Mutter gleich? War er Schauspieler geworden, um hinter unzähligen Masken zu verschwinden? So wie sie sich unter ihren Perücken in immer neuen Farben versteckt hatte? Fünf Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Fünf Jahre. Eine lange Zeit. Er war älter geworden. Ich vermutlich auch, aber das ist eine Wirklichkeit, die wir lieber in den Gesichtern der anderen erkennen. Jedenfalls stand er jetzt auf dem Kopf und strampelte mit seinen Beinen durch die Luft. Das Publikum klatschte und johlte, fest entschlossen, sich zu amüsieren.
Ich war gerade vierundvierzig geworden, und entgegen der Familientradition ging ich nicht oft ins Theater. Der ganze Kulturklimbim interessierte mich nur mäßig. Ich starrte geistesabwesend auf die Bühne.
Ganz vorne am Bühnenrand saß ein dicker, kleiner Schauspieler, sein schmales Gesicht und die Halbglatze erinnerten mich an meinen Vater. Er machte gerade tagespolitische Witze. Jetzt erhob er sich, ging ein paar Schritte Richtung Bühnengasse, blieb kurz stehen, machte eine unerwartete, bedeutungsvolle Pause, um sich wieder ans Publikum zu wenden. Später erfuhr ich, dass man so etwas unter Schauspielern einen falschen Abgang nannte, ein Trick, um dem darauffolgenden Satz zu größerer Wirkung zu verhelfen.
»Meine Damen und Herren … liebe Zuschauer … die Grenzen sind offen.« Niemand reagierte.
Er starrte uns ungläubig an, und trippelte an die Rampe.
»Das war kein Witz, liebe Zuschauer … meine Damen … meine Herren … die Mauer … die Mauer ist gefallen … es wurde gerade im Fernsehen verkündet.«
»Im Fernsehen, ist ja zum Piiiiiepen«, hätte meine Mutter jetzt gerufen, wenn sie neben mir säße, aber da saß sie nicht. Für einen Moment glaubte ich, sie zu vermissen. An dem Tag, an dem ich zum zweiten Mal heiratete, hatte es geknallt. Meine erste Hochzeit hatte in den Siebzigern stattgefunden, ein Irrtum, kurz und schmerzlos, nicht mehr als eine Wolke am fernen Horizont. Und dann war eine billige Uhr von Tchibo der Startschuss für ein nicht enden wollendes Zerwürfnis von zunehmend alttestamentarischer Wucht gewesen. Fünf Jahre war das her, und seit achtundzwanzig Jahren durchzog eine Mauer diese Stadt. Als ich sie mit neun Jahren zum ersten Mal schwankend betreten hatte, nach dreiwöchiger Schiffsfahrt auf der Juan de Garay aus Buenos Aires nicht mehr an festen Boden gewöhnt, war sie noch ungeteilt gewesen, aber schon zerrissen. Keine Heimat. War es auch das, worüber wir seit fünf Jahren schwiegen? Zögerlich tröpfelte Applaus in die Stille. Die Menschen schienen es zu begreifen. Die Mauer war gefallen.
Nach der Vorstellung suchte ich klopfenden Herzens den Bühneneingang. Ich fühlte mich an den Personal- und Lieferanteneingang verschiedener Hotels erinnert, in denen ich quer über den Globus verteilt gearbeitet hatte, bevor ich bei meiner jetzigen Tätigkeit gelandet war. Ich passierte die Schranke, überquerte einen Parkplatz und konnte gerade noch zur Seite springen, um nicht von einem vorbeijagenden weißen Mercedes überfahren zu werden. Noch völlig außer mir gelangte ich über ein paar Stufen zu einer Tür, hinter der sich die verglaste Pförtnerloge befand. Zwischen ein paar verdrucksten Gestalten wartete ich geduldig auf meinen Bruder. Ich war die Ältere, ich musste den ersten Schritt machen, das war ich mir und unserer Geschichte schuldig.
»Der is’ schon längst raus. So lange wie Se hier stehen, müssten Se ihm eigentlich begegnet sein. ’n weißer Mercedes, ’n 124er. Fährt immer wie ’ne gesengte Sau.«
Wie mein Vater, dachte ich. Wahrscheinlich hatte ich ihn nicht erkannt, weil er einen Hut oder eine Schiebermütze trug. Auch wie mein Vater. Alles an ihm erinnerte an meinen, an unseren Vater. Konnte ich deswegen seine Gegenwart so schwer ertragen? Den einen ersehnt, vom anderen überrumpelt? Von beiden enttäuscht? Wieder eine verpasste Gelegenheit?
»Wissen Sie, wohin er wollte?«
»Bin ick Pförtner oder Kindermädchen?«
Wie liebte ich diese Berliner Freundlichkeit. Man wusste gleich, woran man war, und wurde auch noch unentgeltlich belehrt.
»Na, nu gucken Se nich’ so traurig. Der wird dahin sein, wo sie jetzt alle hin sind.«
»Wohin denn?«
»Mensch Kindchen, haben Se Tomaten auf den Augen?«
Er deutete auf den Bildschirm des kleinen Fernsehers, der über seinem Kopf hing. Ich starrte auf die flimmernden Bilder. Menschen auf der Berliner Mauer! Aus Trabis, die bläulichen Dunst verbreiteten, leuchteten Augen hervor. Energisches Hämmern, Schreie, johlende Rufe. Grenzübergang Invalidenstraße. Da musste ich hin.
»Kindchen hat mich schon lange keiner mehr genannt«, sagte ich und fragte mich, als ich die Treppen heruntersprang, ob jetzt auch meine Augen leuchteten.
Es war frisch. Kalt sogar. Sehr kalt. Ich saß zitternd in meinem Taxi.
»Was bibbern Se denn so, junge Frau?«
Vom Kindchen zur jungen Frau, ich war gespannt, was die Nacht noch für mich bereithielt. Mürrisch suchte der hagere Fahrer im Rückspiegel nach meinem Gesicht. Unsere Blicke kreuzten sich kurz, dann sah ich im Auto neben uns ein aufgeregt gestikulierendes Pärchen. Hinter ihnen zwei Freundinnen. Alle schnatterten aufgekratzt durcheinander, als wären sie unterwegs zu einem Rockkonzert.
»Gottchen, nee, was für ein Theater. Ick glaube, mein Blechpanzer kriegt Masern.«
Ich sparte mir die Frage, ob er hier geboren war. Auch mein Vater war ein waschechter Berliner. Als wir aus Argentinien kamen, verstand ich dieses eigentümliche Nuscheln nicht. Mein Vater bemühte sich, Hochdeutsch zu sprechen. Ich verzichtete ihm zuliebe auf meine Muttersprache und lernte Deutsch in meinem neuen Vaterland.
»Ick kann das alles nich’ glauben! Soll ick Ihnen mal sagen, wie ick rüberjemacht habe, also ick meine rübergemacht, über die Grenze, soll das heißen? Sie sind ja wahrscheinlich aus Wessieland.«
»Sie meinen West-Berlin?«
»West-Berlin? Sie sind jut. Nee, wir sind hier Berlin, gibt kein West-Berlin, das sagen nur die Zonis.«
»Wer?«
»Na, die Zonis, die aus der Ostzone. Sie kommen wirklich aus Wessieland, also aus dem Westen, das merkt man sofort. Auch wie Sie angezogen sind. Ick, also ich werde mich mal hochdeutschen, damit Sie mich besser verstehen.«
Die Berliner wussten nicht nur alles, sie wussten es auch immer besser.
»Vielen Dank, das ist sehr aufmerksam von Ihnen.«
»Na, spielt doch keine Mandoline. Also, wie gesagt«, fuhr er in nöligem Singsang fort, »unter die Sitzbank habe ich mich geklemmt. Ich hab’ gedacht, ick ersticke, ja? Aber das war es mir wert. Lieber tot als rot. Die haben mich mit der Mauer kalt erwischt. Ick war in der Nacht vorher noch bei meiner Freundin zu Besuch in Pankow gewesen, schön jefeiert mit allem, was dazugehört, ja, und was soll ich sagen, am nächsten Morgen, ja, da haben die das in einem Affenzahn hochgezogen, so schnell konntste gar nich’ kieken. Zack, peng, Feierabend. Antifaschistischer Schutzwall, oder wie sie das Ding getauft haben. Ich war viel zu spät aufgewacht, Morgenstund hat Gold im Mund und Blei im Hintern, ick hatte die Zukunft verpennt. Ick weiß noch, wie ick ’n paar Stunden später da jestanden habe, wie bestellt und nich’ abjeholt, sage ick Ihnen. Ick … nee, also wirklich, ick kam mir vor wie Max Pumpe, der durch die Rippen kiekt, wie ’n Affe durchs Gitter, also guckt, meine ich, ja? Half alles nix. Ich hab’ vom ersten Tag an nur darüber nachgedacht, wie ich da wieder rauskomme. Aber so einfach war das nich’. Und dann habe ich das einzig Richtige gemacht. Ick hab meine Klappe jehalten – nich ma meine engsten Genossen hatten auch nur den leisesten Schimmer –, bin unter die Rückbank von der Droschke von meinen Chef jeklettert, der wusste natürlich nüscht, hat an de Grenze wahrscheinlich schön unschuldig aus der Wäsche jeguckt, und bei der ersten Tankstelle im Westen war ick W wie weg. Mann, war ick froh. Jut, im Osten durfte ick als Arbeiter studieren, hier haben sie das nich anerkannt, egal, habe ich mir gesagt, fährste eben Taxe. Und was soll ich Ihnen sagen, zwei Häuser hab’ ich mir zusammengekurvt, meine beiden Töchter studieren, die eine Tiermedizin, die andere Jura, was soll mir noch passieren, frage ich Sie? Ja. Und jetzt? Jetzt werden wir uns aber umgucken, wenn die alle rüberkommen, das sage ich Ihnen. Um-gu-cken werden wir uns. Gehen Sie mal rüber, laufen Sie da mal ’n bissken durch die Straßen. Um den Hals werden die Ihnen fallen. Aber warten Sie mal ’n paar Wochen, dann sieht das nämlich janz anders aus. Die werden herkommen und das Händchen aufhalten. Jelernt is jelernt. Die wissen, wie man andern die Milch aus ’m Kaffee zieht. Das wissen die aber janz jenau.«
Merkwürdig, dachte ich, ein ehemaliger Flüchtling, der sich nun durch die Nachrückenden bedroht fühlte. Die Mauer hatte auch in meinem Leben eine entscheidende Rolle gespielt. Nicht die Mauer selbst, aber der Tag, an dem sie gebaut wurde. Der 13. August 1961 war der Beginn einer Katastrophe gewesen. Vorher hatte ich gelebt, ab diesem Zeitpunkt habe ich überlebt. Wie meine Mutter. Obwohl ich als Kind, als junges Mädchen, als Frau darunter gelitten habe, merke ich, dass ich ihr immer ähnlicher werde. In meinen Träumen verfolgt sie mich, und mit ihr kommt die Angst, ich könnte aufwachen wie sie. Ausgelöscht. Lieber springe ich aus dem Fenster. Aber vorher muss ich noch ein paar Dinge erledigen. Ich möchte keine Unordnung hinterlassen.
»So, junge Frau, wir sind da. Näher geht nich. Da vorne stehen sie schon Spalier. Sehen Sie das? Mir wird immer ganz anders, wenn ich auch nur in die Nähe von dem Ding komme. Und wenn die das dreimal zerkloppen, solange ich lebe, trau ich dem Braten nich. Vielleicht is das alles auch nur ein ganz übler Trick, um uns am Ende doch noch einzukassieren. Macht Siebzehnfünfzig.«
»Zwanzig.«
»Au! Donnerwetter. Die Firma dankt.«
Ich nickte und stieg aus.
Autos parkten dicht an dicht, verlassen schlängelten sie sich durch die Nacht. Der Wind ging gen Osten. Hier war es still. Ich hatte die falschen Schuhe an. Langsam wurde mir bewusst, dass ich in meiner Theatergarderobe viel zu aufgedonnert war. Die Westtussi, die in den Osten stöckelt. Auf den letzten hundert Metern schallte mir der Jubel entgegen. Freudetrunken taumelten die ersten Besucher aus dem Osten auf mich zu. Zum zweiten Mal wurde ich Zeugin eines historischen Augenblicks, ach was, zum dritten, vierten, fünften oder sechsten Mal. Das erste Mal war mir nicht gut bekommen. Aber heute war Berlin nicht mehr Berlin. Kein einziges mürrisches Gesicht, zwei Stadthälften taumelten aufeinander zu. Ein Liebestaumel, ein Sinnenrausch.
Ich lief zur Sandkrugbrücke. Mit festem Schritt betrat ich das sinkende Schiff. Auf einem Stuhl stand der Regierende Bürgermeister von West-Berlin. Walter Momper hieß die Menschen über Megafon willkommen, etwas weiter hinten sah ich den ehemaligen Bürgermeister, Eberhard Diepgen, dem die Gunst der Stunde nicht beschieden war. Niemand nahm von ihm Notiz. Ein bisschen wie mein kleiner Bruder und ich, schoss es mir durch den Kopf. Es kann immer nur einer auf dem Stuhl stehen, immer nur einer schwenkt das Megafon.
Mit eingezogenem Kopf lief ich weiter. Alles um mich herum schwebte, ohne mich mitzureißen. Ich wollte dazugehören, nicht die Westmaus sein, die Tussi mit den Stöckelschuhen. Ich spürte die offenen Blicke der Menschen, ich hätte auf sie zugehen können. Aber ich fühlte mich wie damals, wie das neunjährige Mädchen aus Argentinien, das ihre Einladung nicht verstand.
Ein paar Hundert Meter weiter, fernab vom Strom, standen vereinzelte Grüppchen, man trank Sekt aus der Flasche, es wurde gelacht. Anders als bei uns, dachte ich, ganz anders. Ich zog meine Schuhe aus und ließ sie in den Manteltaschen verschwinden.
»Entschuldigung, ich würde gerne einen trinken gehen, wissen Sie, wo es hier ’ne Kneipe gibt?«
Die junge Frau mit den blonden Locken sah mich neugierig an. Kurz überlegte ich, ob sie jetzt über mein Parfum nachdachte oder über meine Kleidung. Ohne Schuhe war ich vielleicht schon etwas präsentabler, aber wahrscheinlich roch alles anders an mir. Das hatte mir mein Großvater vor Jahren erzählt, als ich ihn und seine Frau Dora in Weimar besuchte. »Der Westen riecht anders«, sagte er damals, »dieser saubere Duft, diese Verheißung, das wird unser größtes Problem werden beim Aufbau des Sozialismus.« Wäre er traurig, wenn er uns jetzt sehen könnte?
»Nee, haben alle zu.«
Erst jetzt sah ich, dass hier alles in Dunkelheit versank, während auf der anderen Seite der Westen leuchtete. Es war nicht nur der Geruch, es war auch das Licht. Als Kind dachte ich, jemand hätte das Licht ausgeschaltet. Damals konnte oder durfte die Sonne nicht so hell scheinen wie in Buenos Aires. Und jetzt?
»Willste ’n Schluck?«
Sie hielt mir ein Sektglas hin und schenkte ein, bevor ich nicken konnte.
»Wahnsinn.«
Sie fiel mir plötzlich um den Hals.
»Wahnsinn«, sagte sie noch einmal und drückte mir lachend einen Kuss auf die Wange. Erschrocken wünschte ich ihr viel Glück und lief weiter.
Eine Szene aus dem Stück eben auf der Bühne schoss mir durch den Kopf. Die weibliche Hauptfigur Isabella kam, um bei dem Statthalter Angelo für die Freiheit ihres zum Tode verurteilten Bruders zu bitten. Ihr könntet ihm verzeihen, beschwört sie ihn. Was ich nicht will, das kann ich auch nicht tun, sagt er.
Was ich nicht will, das kann ich auch nicht tun. Der Satz drehte Endlosschleifen in meinem Kopf. Stimmte das? Waren Wille und Möglichkeit so eng verzahnt? Ich blieb stehen. War ich selbst denn bereit zu verzeihen? Den ganzen Theaterabend über hatte mich diese Frage verfolgt. Wollte ich mir wirklich einreden, dass ich mir rein zufällig eine Karte für eine Vorstellung meines Bruders gekauft hatte? Ich, die fast nie ins Theater ging? Dann war die Mauer wohl auch zufällig gefallen.
Zweieinhalb Stunden später befand ich mich wieder auf der anderen Seite. Im Westen. Mit diesen Wechseln würde es nun auch bald vorbei sein, dachte ich. Komische Geschichte. Wie meine Familie. Erst auseinandergerissen, die klaffende Wunde mit Beton gefüllt, dann wieder zerschlagen. Aus alten Wunden neue gemacht. So konnte es nicht weitergehen. Ich musste mir Hilfe suchen.
Links und rechts vom Übergang fielen sie sich in die Arme. Jubel. Geschrei. Aus einem großen Korb wurden Bananen verteilt. Blasstrunken stolperten sie durcheinander. Und da war er. Mein Bruder. Mittendrin. Seine Augen leuchteten. Auch ihm klopften sie zur Begrüßung auf die Schulter.
»Na? Endlich Bananen, wa?«, schrie einer.
Nickte er versteinert? Als käme er von drüben? Hatte er in meine Richtung geschaut? Sollte ich zu ihm gehen? Meine Füße brannten vor Kälte. Ich schlüpfte in meine Schuhe und stöckelte davon.
Eine Woche nachdem ich meinen Bruder im Theater gesehen hatte, entschied ich mich anzurufen.
»Ich glaube, es ist nichts Besonderes. Also, ich meine, was ich brauche, ist … ich muss ein bisschen reden. Wie nennt man das? Gesprächstherapie?«
Drei Tage später saß ich in einem kleinen Zimmer voller alter Perserteppiche an den Wänden und auf dem Boden. Was sollte schon passieren? Die Stimme am Telefon war mir abweisend erschienen. Der Mensch am anderen Ende der Leitung hatte sich wohl keine Vorstellung davon gemacht, wie schwer es mir gefallen war, seine Nummer zu wählen. Nach dieser Bankrotterklärung saß ich nun vor ihm und starrte ihn an. Seine wachen Augen erinnerten mich an meinen Großvater.
»Ja, also … ich weiß jetzt gar nicht, was ich sagen soll, also wo ich … womit ich anfangen soll …«
»Womit Sie wollen, es ist Ihre Stunde.«
Meine Stunde also. Na gut.
»Ich … also, vor fünf Jahren habe ich den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen. Ich … äh … Anlass, also der rein äußerliche Anlass war … das klingt jetzt vielleicht etwas komisch … es war eine Uhr von Tchibo … diese Billigdinger, wissen Sie … die gibt’s in diesen Shops …«
»Die Kaffeeläden.«
»Ja. Ich … äh … wir wollten heiraten, also mein Mann und ich … es war eine relativ spontane Idee. Einfach so, gewissermaßen. Verstehen Sie?«
»Nicht ganz.«
Nicht. Gut. Dann haben wir ja schon mal etwas gemeinsam.
»Also meine Beziehung. Ich hatte immer ganz schön viele, ja … ich weiß nicht, ob man das jetzt Beziehungen nennen kann, jedenfalls Männer … eher so Bettgeschichten … Affären. Ja, das war’s eigentlich. Mehr war da nicht.«
»Aber bei Ihrem Mann war es etwas anderes.«
»Muss ich das jetzt alles erzählen?«
»Versuchen Sie es.«
»Eigentlich bin ich hergekommen, weil ich nicht schlafen kann.«
»Vielleicht können wir herausfinden, ob es da einen Zusammenhang gibt.«
»Womit?«
»Vielleicht mit verschiedenen Dingen.«
»Ja, das kann sein. Ich äh … ich rede, glaube ich, nicht so gerne, wissen Sie?«
Kann er nicht auch mal was sagen? Diese Pausen. Das ist wirklich unerträglich.
»Ich … also beruflich mache ich eigentlich was ganz anderes.«
»Was machen Sie beruflich?«
»Ich arbeite mit Gehörlosen.«
»Was genau machen Sie da? Arbeiten Sie in einer speziellen Einrichtung, einer Schule?«
»Auch, ja, also manchmal. In der Regel arbeite ich aber mit Kindern und Jugendlichen, die von Geburt an einen Hörfehler haben, also genetisch bedingt.«
»Sie verständigen sich in der Gebärdensprache?«
»Ja, und ich versuche in Zusammenarbeit mit HNO-Ärzten herauszufinden, was sich noch machen lässt. Also, ob die Schäden irreparabel sind, oder ob es vielleicht doch noch eine Chance gibt. Egal wie klein …«
»Was machen Ihre Eltern beruflich?«
»Mein Vater ist HNO-Arzt.«
»HNO-Arzt?«
»Ja.«
»Und Ihre Mutter?«
»Hausfrau. Also, seit einigen Jahren hilft sie in der Praxis mit. Sie bildet die Lehrlinge aus, also nein, nicht direkt, sie hilft ihnen mit der Berufsschule und so … sind ja meistens noch ganz junge Dinger, gerade mal sechzehn. Früher war sie Dolmetscherin. Davor Erzieherin. Also eigentlich umgekehrt. Ach, egal. Ich bringe gerade alles durcheinander. Ist alles etwas kompliziert gewesen … unser Leben. Und als mein Bruder geboren wurde, da ist sie dann zu Hause geblieben. Wahrscheinlich, um es besser zu machen.«
»Was?«
»Na, die Erziehung.«
»Inwiefern besser?«
»Na ja, keine Ahnung, besser als bei mir, denke ich mal.«
»Glauben Sie, dass Ihre Mutter, Ihnen gegenüber, ein schlechtes Gewissen hatte?«
»Keine Ahnung. Nein, glaube ich eigentlich nicht. Vielleicht hat sich das alles auch einfach nur so ergeben.«
Warum guckt er jetzt so komisch? Habe ich etwas Falsches gesagt?
»Ja. Also, ich habe damals geheiratet und … es geschah alles etwas überstürzt …«
»Waren Ihre Eltern nicht einverstanden?«
»Ja, also nein … nicht direkt …«
Was soll ich jetzt noch sagen? Reicht das nicht?
»Na ja, es war eine andere Zeit … eine … ja, eine ganz andere Zeit. Wir wollten … es war 1984. Es war so eine Schnapsidee, aus einer Laune heraus, einfach zum Standesamt rennen, mehr wollten wir gar nicht. Wir hatten beide schon eine gescheiterte Ehe hinter uns und … deswegen wollten wir auf eine Feier mit dem ganzen Pipapo verzichten und … na ja, das kam nicht so gut an, also dass wir sie nicht einladen wollten, dass wir allein feiern wollten … nur wir und wer sonst an dem Tag zufällig anrufen würde.«
»Ihre Familie konnte Ihre Entscheidung nicht akzeptieren?«
»So ungefähr, ja, kann man so sagen … also meine Eltern, meinem Bruder war es, glaube ich, egal, aber meine Mutter …«
Verdammt, warum fällt es mir so schwer, darüber zu sprechen, ist doch kein Grund zu heulen. Reiß dich zusammen, ist doch alles schon lange vorbei.
»Die Erinnerung ist noch sehr lebendig.«
»Ja.«
»Was ist geschehen?«
»An dem Tag? – Weiß nicht … Ich hatte ihnen geschrieben, ein paar Tage vorher … in dem Brief habe ich versucht, alles zu erklären, dass es nicht persönlich gemeint ist und so …«
Jetzt schweigt er. Sagt nichts mehr. Findet er wahrscheinlich auch nicht so toll. Das Kind heiratet und lädt seine Eltern nicht ein. Tragödie. Sehen alle so.
»Ich glaube, also eigentlich habe ich immer geglaubt, ich hätte eine schöne, also eine gute Kindheit gehabt, glauben wahrscheinlich alle, na ja, nicht alle vielleicht, aber viele, hört man doch immer wieder und wundert sich …«
»Ja, das kommt vor.«
»Dass man sich wundert?«
»Auch das.«
»Na ja, man wundert sich, weil man denkt, was, der oder die soll eine glückliche Kindheit gehabt haben? Sieht aber nicht so aus. Wie bei Ehen, wenn Leute sagen, dass sie eine glückliche Ehe führen.«
»Wie sieht man denn aus, wenn man eine gute Kindheit hatte?«
Ha. Der war gut. Wie sieht man dann aus? Jedenfalls hat er Humor.
»Wahrscheinlich anders als ich. An dem Abend, als wir geheiratet haben, beziehungsweise schon verheiratet waren, post actum quasi, wie mein Vater sagen würde, da … da klingelte das Telefon. Nein, Entschuldigung, es war am Abend darauf. Wir hatten Besuch. Ein Freund meines Mannes, also meines damaligen Mannes, die Ehe hat dann nicht lang gehalten, ein Irrtum, ein Schnellschuss nur, ein Jahr später schon wieder geschieden, ex und hopp … Meine Mutter war dran und fragte, ob ihr Geschenk gefallen habe … ihre Geschenke … es war eine Armbanduhr von Tchibo für meinen Mann, also meinen Ex-Mann, und für mich eine billige Kette für ein paar Mark fünfzig bei Woolworth auf dem Grabbeltisch. Hätte ich wirklich aufheben sollen, zur Erinnerung, wir haben das Zeug aber direkt in der Mülltonne verschwinden lassen. Na ja, jedenfalls, als sie die Frage dann stellte, so mit gespielter Unschuld … da bin ich explodiert, und dann hat mein Vater ihr den Hörer aus der Hand gerissen und hat losgebrüllt, was ich mir denn einbilden würde und so … ich hätte ja keine Ahnung, ich wüsste ja nicht, unter welchen Qualen meine Mutter mich geboren habe und so weiter … und dann habe ich ihn beschimpft … alles Mögliche habe ich ihm an den Kopf geworfen, alles, was ich ihm immer schon sagen wollte, kam auf einmal raus, ich habe so geschrien, dass ich danach drei Tage komplett aphon war, ich konnte keinen Ton mehr rausbringen, nicht mal krächzen konnte ich, nur noch heiße Luft … und dann war’s still am andern Ende … totenstill … ich dachte wirklich kurz, jetzt hat er einen Herzinfarkt, jetzt hast du deinen Vater umgebracht. Also wenn er überhaupt mein Vater ist, aber das ist eine andere Geschichte. Der ganze Ödipuskram. Gilt das für Frauen auch?«
»Es geht um Sie, nicht um Freuds Theorie.«
Ach, das hat er jetzt aber schön gesagt, es geht um mich, na gut, aber schon komisch, wenn man im Zentrum der Theorie so gar nicht vorkommt, so im Auge des Zyklons.
»Keine Sorge, meine Mutter werde ich nicht heiraten, wollte ich nie, also wirklich nicht, auch nicht unbewusst …«
»Erzählen Sie.«
Gut, dann erzähle ich ihm eben alles. Meine ganze verdammte Lebensgeschichte. Bis nach Woodstock. Bis zur Tchibo-Uhr. Alles. Gnadenlos. Ich fange von vorne an, in Buenos Aires, ich erzähle ihm von den Zwillingen und ihren Eltern, von Mercedes und German, vom Foto aus der Kommode, vom Capitan und seiner Peitsche, von den Schwestern in La Falda, von der Sonne und den Kiebitzen und davon, wie grau hier alles war, als wir ankamen, wie grau es immer noch ist und dass sich alle hier mehr um ihren Rasen scheren, als jemandem ein Lächeln zu schenken, weil in diesem bescheuerten Land überhaupt nichts verschenkt wird, schon gar nicht an Kinder, weil sie Kinder hassen und immer fetter werden, weil sie schweigend in ihre Blechautos steigen, schweigend zur Arbeit fahren, schweigend nach Hause kommen, schweigend ihre Suppe auslöffeln, schweigend zu Bett gehen, um sich am Sonnabend einen hinter die Binde zu kippen, um dann ununterbrochen zu reden, als hätten sie Durchfall, als würde ihnen das ganze Zeug, das sie die ganze Woche über schweigend geschluckt haben, nun aus dem Maul laufen, aus den Ohren triefen. Schweigen, Schweigen, überall Schweigen, nichts als Schweigen. Warum soll ausgerechnet ich reden? Worüber? Über ihr Schweigen?
»Wenn Sie wollen, möchte ich Ihnen gerne helfen. Ich würde vorschlagen, dass wir mit einer hohen Behandlungsfrequenz beginnen. Viermal die Woche. Können Sie sich das vorstellen?«
»Viermal die Woche? Und egal, worüber wir sprechen?«
»Ja«, sagte er.
»Gut. Ich meine, ja, ich … ich würde das gerne machen.«
»Dann fangen wir nächste Woche an. Eine Sache noch. Für die Dauer der Behandlung sollten Sie nach Möglichkeit auf alle größeren Lebensveränderungen verzichten.«
»Ja. Wie lange wird es denn dauern?«
»Fangen wir erst mal an.«
An der Tür reichte er mir die Hand.
»Bis Montag.«
»Ja, bis Montag. Danke.«
Endlich ein Lächeln. Er sieht wirklich aus wie mein Großvater.
Mit einem Schrei fing alles an, auch bei mir. Mein Name ist Ada. Geboren wurde ich unmittelbar vor Kriegsende, im Februar 1945, in Leipzig. Als Deutschland endlich am Boden lag. Um ein Haar wäre meine Mutter bei der Geburt verblutet. Der Gynäkologe, ein alter Naziprofessor übelster Sorte, entriss mich ihr nach sechsundzwanzig Stunden mit der Zange, was so klingt, als wollte sie mich nicht hergeben, oder nicht »loslassen«, wie man neumodisch sagt. »Eine echte Viecherei, als würde ein Lastwagen durch mich hindurchkacheln«, sagte sie.
Dieser Berliner Jargon ist eigentlich untypisch für eine Frau aus so gutem Hause, vielleicht war er der Sehnsucht nach meinem Vater geschuldet, der noch in russischer Gefangenschaft war und sich nach seiner Rückkehr weigerte, zu uns nach Argentinien zu kommen, wohin wir nach dem Ende des Krieges emigriert waren. Mein Vater »aus dem dritten Kreuzberger Hinterhof«, wie sie sagte und was je nach Tonlage bewundernd oder vernichtend klang. Ein Lastwagen also. Tja, und dieser Lastwagen auf der Durchreise in eine vor Kälte und Hunger schlotternde Welt, das bin ich. Aber nach mir kam noch etwas. »Platt wie ein Blatt«, rief die Hebamme erschrocken dem Naziprofessor zu. Dieses Blatt war mein toter Zwilling. Sein Geschlecht ließ sich nicht mehr ermitteln.
Ob mir dieser Beginn die Sprache verschlagen hatte? War mein Schrei ein Siegesschrei, weil ich die Konkurrenz noch vor der Geburt an die Wand der Gebärmutter gedrückt hatte? Hatte ich den Urkonflikt der Menschheit, den Brudermord, noch vor dem Anfang erledigt? Ich weiß es nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob es ein Bruder oder eine Schwester war.
Jedenfalls wollte ich die ersten Jahre meines Lebens nicht sprechen. Angeblich verstand ich sehr bald jedes Wort, »aaaaber«, wie meine Mutter nicht müde wurde hervorzuheben, ich weigerte mich, ihr auch nur ein einziges Wort nachzusprechen. Das traf sie hart. Immerhin hatte man ihren Onkel schon im zarten Alter von siebenundzwanzig Jahren auf einen eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für das neue Fach der Pädagogik an der Humboldt-Universität in Berlin gehievt, ihr Vater kannte Sigmund Freud persönlich und hatte Hermann Hesse analysiert, ihre jüdische Mutter war Psychiaterin und hatte ihrerseits Vater, Mutter und Franco, den spanischen Generalissimo überlebt. Bessere Voraussetzungen konnte es kaum geben. »Punktum«, würde sie jetzt sagen. Aber ich entpuppte mich von Anfang an als eine Enttäuschung, eine Blamage, wie sie schlimmer nicht sein konnte. Ich, das Kind einer unvorstellbar großen Liebe, einer Liebe, die kein Krieg, kein Gott, ja nicht einmal der kleine österreichische Maler kleingekriegt hatte, der Gefreite mit dem neckischen Oberlippenbart, der Hitler eben. Dieses Kind, also ich, konnte oder wollte nicht sprechen. Ich hatte mich scheinbar entschieden, nicht mitzumachen, zumindest kam es meiner Mutter so vor.
Sie stand in unserem kleinen Schlafzimmer und übte eine besondere Anziehung auf mich aus. Das Anwesen, in dem wir in Buenos Aires lebten, gehörte nicht uns. Die Besitzer waren ein unvorstellbar reiches argentinisches Ehepaar, sie hießen Mercedes, ja, wie das deutsche Auto, und German, nein, das heißt nicht »Deutsch«, sondern ist die spanische Übersetzung von Hermann. Zufälligerweise, falls man an Zufälle glaubt, ist das auch der zweite Vorname meines Vaters, der eigentlich Otto heißt, Otto Hermann, aber dazu komme ich später.
Warum wir aus Deutschland dorthin gezogen waren, wusste ich nicht, ich war gerade mal zwei Jahre alt. An einem fürchterlich kalten Wintertag stiegen wir auf ein großes Schiff und legten wenige Wochen später an einem strahlenden Sommertag in Buenos Aires an. Das roch eindeutig nach Verbesserung. Zunächst. Meine Mutter fand bald diese Stelle als Erzieherin von zwei verwöhnten Blagen, Zwillinge, die nichts Besseres im Sinn hatten, als mich von früh bis spät ihre Überlegenheit spüren zu lassen. Damals wäre ich durchaus gewillt gewesen zu sprechen, allein, weil meine Mutter sich so eine unsagbare Mühe mit mir gab. Sie bastelte Kartenspiele, formte Kasperlepuppen aus feuchtem Zeitungspapier, verbrachte jede freie Minute mit mir, zumindest in der ersten Zeit. Aber ich begriff sehr schnell, dass mein Schweigen die einzige wirksame Waffe im Kampf gegen die Zwillinge war. Sie begannen mich zu fürchten und nannten mich Hexe. Wenn sie versuchten, mich zu schlagen oder auszuziehen, um mich zu demütigen, begann ich, ohne jede Vorwarnung, aus Leibeskräften zu schreien. Dabei schraubte ich meine Stimme so hoch, dass sie erschrocken das Weite suchten.
Wir lebten also in einem Palast, aber bewohnten dort nur ein winziges Zimmer. Wir waren Personal, Bodenpersonal. Und da es in diesem Zimmer nicht allzu viel zu entdecken gab, kaprizierte ich mich auf die Kommode. C’était mon caprice, würde man auf Französisch sagen, eine Sprache, die ebenso wie meine Muttersprache Spanisch weniger konfliktbeladen für mich ist als das Deutsche, das ich erst sehr spät lernte. Außerdem klingt im Französischen alles bedeutend eleganter, was mir, über meinen »Unterschichtenkomplex« hinweghalf, ein Komplex, der mir streng genommen gar nicht zustand, kam ich doch, zumindest mütterlicherseits, aus gutem Hause. Aber scheinen wir nicht am meisten, was wir am wenigsten sind?
Diese Kommode, ein klobiges Stück aus der Zeit des argentinischen Barocks, war an sich nicht sonderlich interessant, wohl aber ihr Inhalt. Sie war ein Heiligtum, niemand durfte sie ungestraft öffnen, was ihren Reiz erhöhte. Oft saß meine Mutter schweigend neben ihr, versunken in Briefe, die sie anschließend wieder in der oberen Schublade versteckte oder gegen alte Fotografien tauschte. Auf einer stand ein junger Mann mit stillem Gesicht vor einem dunklen grauen Hintergrund. Mein Vater, wie sie mir sagte.
Ich kannte ihn nur von diesem schon einigermaßen abgegriffenen Foto, das obendrein auch noch unscharf war. Ich hatte ihn nie gesehen, nie seine Stimme gehört, und in den Augen aller, insbesondere der Zwillinge, war ich ein Bastard, ein unrechtmäßiges Kind aus einem fremden Land, dessen Mutter aus Gründen, die niemand kannte oder verstand, am wenigsten ich selbst, nach Argentinien gekommen war. Ein Kind, das nicht sprechen konnte und, schlimmer noch, nicht getauft, also auch nicht katholischen Glaubens war, wie jedes andere Kind in diesem Land. Mit einer Mutter, die allen auf die Nerven ging, weil sie so deutsch war, weil sie immer alles richtig machen wollte, weil sie kein Geld hatte und von der Gunst anderer abhängig war. Mehr wusste ich über meine Herkunft nicht.
Noch geheimnisvoller war die zweite Schublade. Dort versteckte meine Mutter ihre Unterwäsche. Ihre Schlüpfer unterschieden sich von meinen nur in der Größe, daneben aber lag etwas, dem mein ganzes Interesse galt. Etwas, das ich nicht besaß, etwas, das ich auch nicht tragen durfte, es wäre auch völlig sinnlos gewesen. Mein kleiner Körper schien nicht dafür gemacht, »noch nicht«, wie meine Mutter lachend sagte, wobei sie die Augen verdrehte. Sie ahnte nicht, wie sehr ihre Worte in meinen Ohren widerhallten. Dieses eigenartige Stück bestand aus zwei Körben, in denen meine Mutter jeden Morgen ihre Brüste verstaute. Ich dachte mir schon, dass ich eines Tages auch Brüste haben würde, aber ich war eben nur eine kleine Frau, eine señorita. Was das bedeutete, wurde mir erst sehr viel später klar, aber im Gegensatz zu den Jungen waren wir Mädchen eben keine Mädchen, sondern kleine Frauen, es galt also schnell groß zu werden, denn eine kleine Frau war streng genommen keine Frau. Da sie aber auch kein Mädchen war, war sie nichts.
War meine Mutter außer Haus, schlüpfte ich in die Körbe, stopfte mir Äpfel oder Orangen hinein, band die Enden im Rücken zusammen, um stolz vor dem Spiegel auf und ab zu schreiten. Kurze Augenblicke geborgten Glücks, eine Neugier, die ich bald teuer bezahlen musste.
Warum versteckte sich meine Mutter morgens und abends beim An- und Ausziehen vor mir? Manchmal gelang es mir trotzdem, einen Blick zu erhaschen, dann rutschten die Brüste aus den Körben oder wurden wieder hineingestopft, als seien sie eine Last. Vielleicht, dachte ich, sollte ich mir mit dem Heranwachsen doch etwas Zeit lassen. Ich beschloss, von nun an meine Umgebung aufmerksamer zu betrachten.
Bald lernte ich, mir den Po zu waschen. Der Po geht von dem kleinen Schlitz vorne bis zu dem großen Schlitz hinten, erklärte meine Mutter. In beiden Schlitzen befanden sich Löcher, die ich nicht anfassen durfte, für beide gab es nur ein Wort: der Po. Der eine Po konnte dies, der andere das, aber alles in allem war es ein und dasselbe und immer auch ein bisschen »pfui«. Ich habe das später bei vielen Freundinnen festgestellt, unsere Mütter wollten das andere Wort nicht aussprechen, so als existierte es nicht, denn was nicht existiert, dafür kann es auch kein Wort geben, oder? Später in der Schule, ich war glaube ich schon sechzehn oder älter, gab es dann doch eins, »Vagina« oder auch »Scheide«. Das klang wenig ermutigend. Ich habe auch nie einen Jungen von seinem »Penis« reden hören, nicht mal im Biologieunterricht. Meine Mutter guckte streng, wenn sie über diese Dinge sprach. Sie schien auch zu glauben, dass ich alles verstand, was sie sagte, weil sie häufig ihre Sätze mit »nicht waaahr?« beendete. Ich wusste nichts über Wahrheit, aber die Schlitze zu waschen tat gut. Es war schön.
In unschuldiger Neugier, na ja, Neugier ist wohl nie frei von Schuld, jedenfalls nicht in einem katholischen Land, also eher verträumt betrat ich an einem frühen Nachmittag den Vorraum des herrschaftlichen Schlafgemachs. Die Sonne brannte durch die aufgerissenen Fenster. Hinter der angelehnten Tür bewegten sich die Schatten von Mercedes und German. Ihre nackte Haut glänzte feucht, sie röchelten, als Mercedes plötzlich einen Schmerzensschrei heiser aus sich herauspresste und mir dabei für einen endlosen Augenblick mitten ins Gesicht sah. Starr stand ich da. Stirbt sie jetzt, fragte ich mich? Und wenn ja, was tue ich dann? Wohin jetzt? In unserem Zimmer schlief meine Mutter, die durfte ich nicht wecken. Voller Angst lief ich ins Bad, zog meinen Schlüpfer aus, setzte mich auf den weißen Beckenrand der Badewanne, klemmte die Hände fest zwischen meine dünnen Schenkel irgendwo in der Nähe des Lochs. Die Tür flog auf. Eine Hand packte mich am Nacken, eine andere riss mir die Finger aus dem Schlitz. Ich schrie.
Danach wurde alles anders. Mercedes und meine Mutter sprachen nicht mehr miteinander, schlimmer noch, meine Mutter sprach auch kaum noch mit mir. Sie nahm mich hin und wieder auf den Arm oder ließ mich auf ihrem Schoß sitzen, achtete aber darauf, dass ich die Beine geschlossen hielt. Den Blick abgewandt, vermied sie jede Bewegung, kein Schaukeln, kein Wippen, wie ich es liebte. Einmal fasste ich sie am Kinn. Überrascht sahen wir einander an. Die Zeit blähte sich wie eine Seifenblase, löste sich und platzte.
Wenige Tage darauf standen wir mit dem Priester feierlich beieinander. Während er dunkel etwas vor sich hin murmelte, wahrscheinlich ein Gebet, spritzte er mir Weihwasser auf den Kopf.
Ich wusste nicht, was das war, aber meine Mutter schien stolz darauf zu sein, und so dachte ich, sie sei auch stolz auf mich. Ein vollkommen neues, ein erhabenes Gefühl.
Bald darauf verließen wir die Familie Sonntag. Ich kam nicht umhin zu denken, dass es wohl meine Schuld gewesen war.