Über das Buch

Eine vergessene Katastrophe jährt sich 2022 zum hundertsten Mal: der Brand von Smyrna, dem heutigen Izmir an der türkischen Westküste. Was diese einmalige osmanische Metropole ausmachte und wie es zu ihrer Zerstörung kommen konnte – davon handelt Lutz C. Klevemans neues Buch.

In der reichen und kosmopolitischen Handelsstadt Smyrna, der »Perle der Ägäis«, lebten einst Menschen aus aller Welt zusammen. Ihr Ende kam abrupt, als die nationalistischen Truppen Mustafa Kemals die Stadt im September 1922 niederbrannten und tausende nicht-türkische Bewohner massakrierten.

In einem gigantischen Bevölkerungsaustausch wurden danach fast zwei Millionen Christen und Muslime gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben und zwangsumgesiedelt – was als Vorbild für die ethnischen Säuberungen und Deportationen im Europa des 20. Jahrhunderts dienen sollte.

Hundert Jahre später reist Kleveman nach Izmir und auf die vorgelagerten griechischen Inseln, um nach Überresten und Zeugnissen des untergegangenen Smyrnas zu suchen. In seinen Begegnungen mit Menschen wird deutlich, wie stark die Katastrophe von 1922 noch heute nachwirkt, auch in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise. 

»Kleveman versteht es, ein Geschichtspanorama zu entfalten.« NDR Kultur über »Lemberg«

Über Lutz C. Kleveman

Lutz C. Kleveman, geboren 1974, hat Französische Literatur in Aix-en-Provence und Internationale Geschichte an der London School of Economics (LSE) studiert. Als Journalist hat Kleveman für Die Zeit, Spiegel Online, Newsweek und den Daily Telegraph geschrieben. Er ist Autor mehrerer historisch-politischer Reisebücher, u.a. von »The New Great Game« (2003), »Kriegsgefangen« (2011) und »Lemberg. Die vergessene Mitte Europas« (2017).

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Lutz C. Kleveman

Smyrna in Flammen

Der Untergang der osmanischen Metropole 1922 und seine Folgen für Europa

für
Maria und Burcu und Sandra

»Es ist wie wenn sich’s fügt
Und eines Nachts die Stadt du
Betrittst, die dich aufgezogen,
Die sie dann ganz zerstört und wieder aufgebaut
So, dass du dich mühst und andre Zeiten einsetzt
Dich wiederzufinden …«

Giorgos Seferis, Ionische Reise

Prolog

Die ersten Stadtlichter gehen an.

Soeben ist die Sonne abgetaucht, einige Wolken färben sich glutrot. In der Ferne sind die peloponnesischen Berge zu sehen.

Seit einigen Monaten wohne ich nun schon im Cavo d’Oro. Das Hotel schien mir ein guter Ort zu sein, um dieses Buch zu schreiben. Mein Zimmer hat einen Blick über die weite Hafenbucht von Piräus und die Schiffe, die auf das Ägäische Meer hinausfahren oder zurückkehren.

Das Cavo d’Oro hat schon bessere Zeiten gesehen, die Lobby ist eine Zeitmaschine in die späten 1960er Jahre: hölzerne Telefonkabinen, Pushdown-Aschenbecher auf den Tischen, Seeschlachten-Ölgemälde und die royale Ecke, wo gerahmte Porträts griechischer Könige hängen.

»Unsere Glorreichen«, wie Hoteldirektor Giorgos sie nennt, wobei er die Bilder gerne mit etwas Parfüm besprüht.

Es sind nicht mehr viele Gäste da. Selbst einige der Langzeit-Bewohner haben das Hotel inzwischen verlassen. Auch meine Nachbarin, eine pensionierte Prostituierte, die mir im Fahrstuhl immer Süßigkeiten anbietet, habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen.

Die Pandemie hat jetzt auch Griechenland erreicht. Viele Fähren wurden heute eingestellt, um die Inseln länger virusfrei zu halten, wie es heißt. Still und wellenlos liegt die Bucht da, nur einige Frachter sind noch unterwegs.

Piräus ist der letzte große Hafen an Europas poröser südöstlicher Grenze. Es ist kaum fünfzig Jahre her, als das Mittelmeer noch offen war, da kamen Passagierschiffe aus allen großen mediterranen Hafenstädten in Piräus an: aus Alexandria, aus Triest, aus Algier, aus Marseille, aus Istanbul und Beirut.

Und aus Izmir, dem alten Smyrna.

In der Schuldenkrise hat ein chinesischer Staatskonzern den Hafen gekauft. Er gehört nun zur neuen Seidenstraße, mit der China seine Produkte noch stärker in den europäischen Markt drücken will.

Freihandel ist in Europa willkommen, der freie Zug von Menschen weniger. Nur wenn die Flüchtlingslager auf den ägäischen Inseln total überfüllt sind, bringt man eine Schiffsladung Frauen und Kinder über Piräus ans Festland.

Gestern wurden alle Bars in Piräus geschlossen, darunter auch meine Stammlokale, das King George und das Beluga. Nur die Kirchen sind weiter geöffnet, damit die Menschen beten können.

Ich ziehe mir ein Jackett über und gehe zum einzig verbliebenen Ort für gute Drinks: der Veranda, unserer Hotelbar.

»Immer noch hier?«, begrüßt mich Daphne, die junge Barfrau, und stellt mir ein Mythos-Bier auf den Tresen. »Es gibt Gerüchte, dass bald eine Ausgangssperre verhängt wird.«

Mit dem offenen Blick aufs Meer, den alten Holzsäulen und Rattan-Stühlen verströmt die Veranda den vagen Charme einer Kolonialvilla. Ich bin der einzige Gast. Aus ihrer Handtasche kramt Daphne einen Lippenstift und Mascara hervor, um sich im großen Spiegel hinter den Flaschenregalen zurechtzumachen. Sie ist Deutschgriechin, ihre Eltern haben sich in West-Berlin kennengelernt, auf einer Anarchisten-Demo in den 1980er Jahren. Drei Wochen später zogen sie zusammen nach Piräus.

»Meine Großeltern waren geschockt, als sie den deutschen Punker mit Irokesen-Schnitt sahen«, sagt Daphne grinsend. Als sich ihre Eltern einige Jahre später wieder trennten, kehrte der Vater nach Deutschland zurück. Daphne hat ihn lange nicht gesehen. »Er ist noch immer Punker und hat einen Job, in dem er marxistisch-leninistische Werke digitalisiert.«

Darüber müssen wir beide lachen.

»Was hat dich eigentlich nach Griechenland verschlagen?«

»Ach, ich bin damals hergekommen, um über die Flüchtlingslager zu berichten«, antworte ich. »Die Balkanroute und so.«

Skeptisch sieht sie mich an: »Keine privaten Gründe, keine Frau?«

»Nun ja, höchstens eine Frau, die mich verlassen hatte.«

»Aha, dann warst Du selbst auf der Flucht.«

»So ähnlich«, sage ich ausweichend. »Jedenfalls bin ich dabei auf eine andere Geschichte gestoßen: den großen Brand von Smyrna im September 1922, der damals eine riesige Flüchtlingswelle auslöste.«

»Ich weiß«, entgegnet Daphne ernst. »Meine Großeltern sind damals aus Smyrna geflohen. Halb Athen wurde für kleinasiatische Griechen erbaut. In den Hafenbars von Piräus hört man manchmal noch das Smyrneika, den typischen Gesang von dort.«

»Smyrna muss eine faszinierende Stadt gewesen sein, extrem kosmopolitisch«, fahre ich fort. »Menschen aus aller Welt lebten da zusammen, lauter verschiedene Kulturen und Religionen, wie heute in London oder New York. Vielleicht war Smyrna die erste wirklich globale Stadt.«

»Bis man sie niedergebrannt hat.«

»Ja, bis zum großen Feuer, ein furchtbares Verbrechen mit Zehntausenden Toten. Und Europa hat tatenlos zugesehen. Unfassbar, was damals alles geschehen ist. Darüber schreibe ich gerade.«

Daphne schenkt mir ein weiteres Bier ein und macht sich selbst eins auf. Die Veranda hat lange geöffnet, wir haben einige Stunden vor uns.

»Dann bist du nach Smyrna gereist, also nach Izmir?«

»Ja, mit der Fähre aus Piräus, vor einem Jahr.«

»Und was hast du gefunden?«

»Eine irre Geschichte.«

»Erzähl mir alles.«