Menschenrechtsorganisationen und Regierungen sprechen von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einem »kulturellen Genozid«. Mihrigul Tursun ist wiederholt Opfer der chinesischen Bestrebungen zur totalen Assimilation der Minderheit der Uiguren geworden. Sie erlebte die sogenannten »Umerziehungslager« in ihrer unbeschreiblichen Grausamkeit, die physische und psychische Gewalt, am eigenen Leib. Auf bis heute ungeklärte Weise kam ihr kleiner Sohn ums Leben, während sie eingesperrt war. Heute hat sie trotz der auch im Exil nicht verschwundenen Bedrohung den Mut, offen über das Erlebte zu sprechen und aus eigener Erfahrung das zu beschreiben, was die uigurische Minderheit in China erleiden muss. Ein bedeutender Augenzeugenbericht, der dem Leser die Menschen hinter den Nachrichten aus China nahebringt.

Mihrigul Tursun

Andrea C. Hoffmann

ORT OHNE WIEDERKEHR

Wie ich als Uigurin Chinas Lager überlebte

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 01/2022

Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

unter Verwendung eines Fotos von Kuzzat Altay

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-28865-5
V001

www.heyne.de

Inhalt

Prolog

1 Eine Uigurin in China

2 Hochzeit mit Hindernissen

3 Drei Mal Mutter

4 Rückkehr ins Ungewisse

5 Gefangen in der Hölle

6 Was habt ihr mit meinem Sohn gemacht?

7 »Dein Gott ist Xi Jinping!«

8 Auf Schritt und Tritt überwacht

9 Dem Tode geweiht

10 Erlösung

11 Heimatlos in Ägypten

12 Mein neues Leben im alten

Nachwort

Prolog

Nach einem langen Flug landete unsere Maschine in Washington. Aufgrund der Zeitverschiebung zwischen Ägypten und den USA schien bei der Ankunft immer noch die Sonne. Meine Kinder, die auf dem letzten Drittel der Strecke geschlafen hatten, rekelten sich und sahen neugierig aus dem Fenster. »Wir sind angekommen!«, sagte ich zu ihnen. »Das ist unser neues Zuhause.«

»Viele Flugzeuge«, staunte mein Dreijähriger. Er konnte es kaum erwarten, die Maschine in Richtung Rollfeld zu verlassen. Ich angelte unsere Taschen aus den Gepäckfächern und schob ihn und seine Zwillingsschwester in Richtung Ausgang. Auf der Gangway schien uns die Nachmittagssonne ins Gesicht.

Eine arabische Passagierin half uns, einen Wagen für unser Gepäck zu ergattern. Dann standen wir in der Schlage zur Sicherheitskontrolle, ich hielt meine beiden Kleinen fest an je einer Hand. Ich konnte es kaum glauben, dass wir uns tatsächlich auf amerikanischem Boden befanden. Doch als die Immigration-Officer in Sichtweite kamen, spürte ich, dass die Kinder zappelig wurden und nicht mehr weiter gehen wollten. Mit weit geöffneten Augen starrten sie den Uniformierten und ihren Hunden entgegen, die das Gepäck auf der Suche nach Drogen beschnüffelten. »Sie werden uns schlagen!«, sagte mein Sohn ängstlich. Plötzlich rissen sich beide Kinder von mir los und rannten davon. Ich setzte ihnen hinterher. Das Gepäck ließ ich einfach stehen. Stattdessen verfolgte ich die beiden Ausreißer, die in der Menge der wartenden Menschen untergetaucht waren. Ich respektierte keines der Absperrbänder und verursachte dadurch große Unruhe. Die Sicherheitsleute waren sofort alarmiert. »Hey, kannst du nicht in der Reihe stehen?«, pflaumte mich einer an.

In diesem Moment entdeckte ich meine Kinder: Sie hatten sich unter einem Tisch versteckt. Ich eilte zu ihnen. Doch sie zitterten vor Angst, weil sie sahen, dass mir einer der Sicherheitsleute gefolgt war und sich mir von hinten näherte. »Sie werden dich festnehmen! Lauf weg, Mama!«, warnte mich meine Tochter.

»Was ist hier eigentlich los?«, fragte der Uniformierte mit lauter Stimme.

»Meine Kinder haben Angst vor Ihnen«, versuchte ich ihm zu erklären.

»Ja, aber warum?« Obwohl der Mann ungefähr 1,90 Meter groß war und eine Waffe trug, fehlte ihm jedes Verständnis, warum sich jemand vor ihm fürchten sollte.

Die Araberin, die uns mit dem Gepäck geholfen hatte, kam jetzt ebenfalls zu uns. Sie bat den Uniformierten, leiser zu sprechen. Und sie hatte Bonbons dabei, die sie den Kindern reichte, die immer noch ängstlich unter dem Tisch kauerten.

Langsam beruhigten sie sich. »Ihr seid kluge Kinder«, sagte ich zu ihnen, als sie wenig später nach etwas Zureden bereit waren, an meiner Hand langsam die Grenzkontrolle zu passieren. »Aber ihr braucht keine Angst mehr zu haben: Wir sind jetzt in den USA, wir sind in Sicherheit.«

Ich konnte ihre ängstliche Reaktion gut verstehen. Wir hatten viel durchgemacht, alle drei. Wir waren gerade der Hölle entkommen.