I. Kapitel.
Die Welt

Inhaltsverzeichnis

Der Kosmos ist eine Dreieinheit aus Geist, Natur und Seele; diese drei Wesensteile bestehen nur miteinander verbunden. Die Natur ist körperlich und erscheint in der Sphäre des Raumes, der Geist ist das Innere der Natur und ist zeit- und raumlos, die Seele ist das Verbindende und bewegt sich in der Sphäre der Zeit. Der gebräuchliche Ausdruck für Zeit- und Raumlosigkeit ist Ewigkeit; aber Innerlichkeit ist bezeichnender. Erinnern ist erewigen, und verewigen ist verinnerlichen. Da der Geist nichts anderes ist als die in die Innerlichkeit übertragene Natur oder die Natur nichts anderes als der in die Körperlichkeit übertragene Geist, so sind Geist und Natur dasselbe, und es besteht nur der Unterschied zwischen ihnen, daß die Natur im Raume erscheint und dadurch die Ganzheit des Geistes zerteilt. Man kann auch sagen, der einzige Unterschied zwischen Geist und Natur bestehe darin, daß die Natur sinnlich wahrnehmbar, der Geist innerlich ergreifbar ist.

Da Geist und Natur einander wesentlich gleich und nur durch die Erscheinungsweise verschieden sind, so ist nicht zu begreifen, wie die Einheit aufgehoben und aus Ruhe Bewegung werden konnte, und zwar können wir es deshalb nicht begreifen, weil das Wesen des Geistes, der Ewigkeit oder Innerlichkeit, uns unfaßbar ist. Wir können nicht begreifen, daß etwas ohne Anfang und Ende sein kann, daß Natur Geist, daß Äußeres Inneres werden kann. Vorausgesetzt muß also werden, wenn es auch nicht begriffen werden kann, daß das Äußere innerlich werden, daß das Unbewußte wissend werden wollte; oder: vorausgesetzt muß werden, daß die Weltmasse wie das Urtier die Eigenschaft der Reizbarkeit (Irritabilität) besaßen, die Eigenschaft, auf Reiz durch Bewegung zu antworten, und daß dieser Reiz in dem Triebe der Natur Geist zu werden bestand. Mit dem unfehlbar richtigen Blick des Kindmenschen lehrten deshalb die Alten, daß der Streit der Vater aller Dinge, und daß die Liebe die Urgottheit, das erste Lebenszeichen gewissermaßen der Welt, gewesen sei. Bewegung ist nicht möglich ohne Abweichung und infolgedessen Gegensätzlichkeit, Spannung, Entzweiung, womit zugleich der Trieb, die Entzweiung auszugleichen, gegeben ist. Indem also Geist und Natur sich entzweiten, wurde die Natur von Liebe zum Geist ergriffen (das Unbewußte wollte wissend werden), und diese Liebe ist der Ursprung des Lebens. Denn wie jedem Ausgleich (jeder Bewegung) eine Entzweiung vorausgegangen sein muß, so muß jedem Ausgleich, der nie absolut ausgleicht, eine neue Entzweiung folgen, und die ewige Folge von Entzweiung und Ausgleich ist das, was wir Leben oder Entwicklung nennen. Leben ist eine Folge von Entzweiung und Ausgleich; den letzten Ausgleich nennen wir Tod.

Das Äußere, welches sich von der Natur losriß, weil es die Innerlichkeit liebte und innerlich bzw. wissend werden wollte, ist die Natur, die wir im Gegensatz zur unbewußt gebliebenen Natur Geist nennen; er verhält sich negativ zur positiven Natur.

In der anorganischen Natur erscheint der Geist als Element, in der organischen zuerst als Individuum, dann als Person.

Die Spaltung des Universums in negativen Geist und positive Natur erscheint in der organischen Natur als Mann und Weib bzw. als männliches und weibliches Prinzip.

Der Mann ist wesentlich Element, Individuum, Person, das Bewegte, das Vereinzelte, das Abweichende; er hat sich von der Natur losgerissen und steht ihr negativ gegenüber; das Weib ist allgemein und typisch, eins mit der Natur und positiv wie sie. Der Ausgleich der zwischen Mann und Weib bestehenden Spannung ist das von ihnen erzeugte Kind. Das Kind ist die Seele von Mann und Weib, sie zusammen bilden den ganzen Menschen, einen Kosmos.

Wie der Mensch in positiver und negativer Natur wurzelt, so wurzelt das Kind in Mutter und Vater; sie beide bilden seine Wesenshälften, welche sich in seinem Innern zu einem neuen Individuum bzw. einer neuen Person vereinigen. Der Ausgleich der Spannung der beiden Wesenshälften, der positiven und negativen, im Innern des Menschen ist das Kunstwerk oder die Tat. Der sich entwickelnde Mensch muß handeln oder gestalten.

Die Menschheit, der Mensch und das Kunstwerk (bzw. die Tat) sind demnach Ausgleiche von Spannungen zwischen positiver, unbewußter Natur und negativer, bewußter Natur oder zwischen Natur und Geist und also Abbilder des dreieinigen Kosmos. Auch diese Dreieinheiten sind unauflösbar und können getrennt nicht bestehen. Ihre drei Wesensteile sind unbewußte Natur, bewußte Natur oder Seele und selbstbewußte Natur oder Person oder Geist.

Die Entzweiung ist Wissendwerdenwollen, das ist Lieben; der Ablauf der Entwicklung ist daher mit zunehmendem Bewußtsein und zunehmender Liebe verbunden; Bewußtwerden und Liebe sind nebeneinander herlaufende Erscheinungen. Die Entwicklung geht vom Unbewußtsein bis zum vollständigen Selbstbewußtsein, von der sinnlichen Liebe oder Liebe des Gegensatzes bis zur vollkommenen Selbstliebe oder geistigen Liebe. Ist die Natur ganz Geist geworden, so tritt sie die rückläufige Bewegung an und entwickelt sich durch den Tod wieder zur Natur. Entsprechend den drei Sphären des Raumes, der Zeit und der Innerlichkeit wiederholt sich die Entwicklung der Geist-Natur dreifach: einmal räumlich-zeitlich in der Natur- und Menschengeschichte, zweitens zeitlich-räumlich in der Geschichte jedes Individuums, drittens geistig im Innern jedes Individuums, und zwar ist der dritte Ablauf analog dem zweiten, der sein Erscheinen hervorruft, und der zweite analog dem ersten, der sein Erscheinen hervorruft. Das heißt: im Innern jedes einzelnen wiederholt sich das Verhältnis der Eltern zueinander, und in der äußeren Geschichte jedes Individuums wiederholt sich das Verhältnis von Geist und Natur, wie es zur Zeit seines Entstehens in der Geschichte bestimmt ist. Diese Wiederholung des elterlichen bzw. geschichtlichen Verhältnisses geht, bis die Bildung der Person im Innern und Äußern des Individuums vollendet ist, von welchem Zeitpunkt an die Person ihre Entwicklung selbst bestimmen kann. Das geistige Leben des Individuums hängt also ab von der Beschaffenheit des Geistes seiner Zeit, d. h. es entspricht der Stufe, die die geistige Entwicklung des Menschen zur Zeit seiner Geburt erreicht hat, und sein natürliches Leben hängt ab von der Beschaffenheit der natürlichen Kraft seiner Zeitgenossen (insbesondere seines Volkes). Die Grundlage seines Handelns und Schaffens muß demnach der geistig-natürlichen Entwicklungsstufe seiner Zeit entsprechen, je nach seiner Persönlichkeit jedoch kann es aus dieser Grundlage Neues und Eigenes hervorbringen. Ebenso hängt das geistig-natürliche Einzelwesen von der geistig-natürlichen Beschaffenheit seiner Eltern ab, die sie mit der männlichen und weiblichen Keimzelle auf dasselbe übertragen; sind aber diese Keime in ihm zu einer neuen Person verschmolzen, so kann es sein Leben frei nach seiner Eigenart gestalten.

Bis zum Entstehen seiner Persönlichkeit hängt der Mensch mit seinem Tun und Schaffen wesentlich von der Natur ab; erst mit seiner Person beginnt sein eigenes Leben und sein Verdienst.

Die kosmische Dreieinheit, die sich dem erkennenden Menschen als Geist, Natur und Weltseele darstellt, erscheint dem religiösen Menschen als Dreieinigkeit von Gott-Vater, Gott-Sohn und Heiliger Geist.

Es geht nichts im Kosmos vor, was nicht in der Menschheit vorgeht (sich in ihr spiegelt); es geht nichts in der Menschheit vor, was nicht im Menschen vorgeht; es geht nichts im Leben des Menschen vor, was nicht in seinem Innern vorgeht. Das Innere des selbstbewußten Menschen ist das Innere der Welt. Der Kosmos ist nichts als die sich entwickelnde durchgeistigte Natur und ihre Idee im menschlichen Bewußtsein.

II. Kapitel.
Der Mensch

Inhaltsverzeichnis

Die zunehmende Entfernung der negativen Natur von der positiven erscheint in der organischen Welt als Bewußtwerden. Die höchste Stufe des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein. Der Mensch ist zuerst vorwiegend unbewußt, d. h. er begreift die Welt durch Instinkt, angeborene Ideen, dann bewußt, d. h. erkennend, dann selbstbewußt, d. h. sich selbst erkennend. Das Unbewußte ist positiv, das Selbstbewußte negativ.

Das Weib ist hinter dem Manne um eine Entwicklungsstufe zurück. Jeder Mensch bzw. jede Familie soll den ganzen Kreis des Bewußtseins durchlaufen: die Familie ist ein durch Zeit und Raum vervielfältigtes Individuum. Sowohl Mann wie Weib sind zuerst unbewußt, dann bewußt, dann selbstbewußt; aber der Mann ist wesentlich selbstbewußt, die Frau wesentlich bewußt. Die Frau kann nicht in dem Maße selbstbewußt werden wie der Mann, weil sie die Aufgabe hat, Kinder hervorzubringen und dadurch notwendig mit dem Raume, der Natur, verbunden ist; der Mensch kann sich aber nur auf Kosten der Natur zum Selbstbewußtsein entwickeln, und die Frau würde, wenn sie die höchste Spitze des Selbstbewußtseins erreichte, nicht mehr gebären können, also nicht mehr Frau sein. Mit anderen Worten: die Sphäre des Selbstbewußtseins ist das Innere, der Geist; der Mensch kann aber nicht zugleich ganz Geist und Natur, ganz innerlich und äußerlich sein. Die Natur des Weibes zeigt ihre Produktionskraft im Hervorbringen von Kindern; deshalb bringt sie, obwohl stark in der Natur, im allgemeinen keine Geisteswerke hervor. Ihre selbstbewußte Seite entwickelt die Frau im Einzelleben erst im Alter, wenn das Werk des Gebärens vollbracht ist, im Völkerleben in der Rücklaufszeit (Dekadenz), wenn das Volk abstirbt. Ihr Selbstbewußtsein hat daher nur eine beschränkte Entwicklungsmöglichkeit. Dafür entfernt sich die Frau nie so weit von der Natur wie der Mann; fest gegründet auf die Natur, in der sie wurzelt, ist sie oft höherentwickelten Männern überlegen. Nur die allerhöchste Stufe des Geistes steht über der Natur. Man kann sagen, daß die Frau im allgemeinen dem Geiste näher steht als der Mann, der zwischen primitiver, roher Natur und höchster Geistigkeit schwankt, daß ihr aber die höchste Spitze des Selbstbewußtseins im allgemeinen nicht zugänglich ist.

Der unbewußte, primitive Mensch sind Mann und Frau auf der untersten Stufe der Entwicklung, auf unteren Kulturstufen, in den unteren Schichten der Gesellschaft, und zwar ist der Mann wesentlich elementar, aktiv und produktiv, die Frau wesentlich ruhend. Auf höheren Stufen ist die Frau vorwiegend bewußt, der Mann entweder vorwiegend primitiv oder vorwiegend selbstbewußt. Der Bauer ist der vorwiegend unbewußte, natürliche, typische Mensch, daher auch der am meisten Unterdrückte, Leibeigene. An der Stellung des Bauern und der Frau unterscheidet man hauptsächlich den Grad der Kultur. Sind Bauer und Frau leibeigen, ist die Kultur noch sehr unentwickelt. Wenn die Frau bewußt geworden ist, so beginnt der Mann von selbst, sie zu ehren; nur selbstbewußt will er sie nicht leiden. Ihr Rat erscheint ihm wie göttliche Eingebung, der er sich unterwirft, er fühlt, daß ihre Einfälle adäquat sind, Weltbilder. Der Staat beraubt sich einer wesentlichen Stütze, wenn er die Frau als Beraterin ausschließt.

Durch die Natur ist das Weib unzertrennlich mit der Materie verbunden und insofern, durch die Materie (den Stoff oder die Masse), sterblich. Der Mann, dem der Stoff nicht wesentlich ist, ist an sich unsterblich, er stirbt nur mittelbar durch das Weib (in sich). Dicksein, Dickwerden ist immer ein Ausdruck von vorhandener Weiblichkeit.

Das Wesen des Mannes ist Bewegung, Erregung, das Wesen des Weibes ist, durch seine Verbindung mit dem Stoff, Ruhe.

Das Wesen des Mannes ist gegliederte Bewegung, Rhythmus, das Wesen des Weibes gestaltete Masse, d. i. Form.

Das Gliederungsprinzip des bewußten Mannes (bzw. der bewußten Frau) zeigt sich in der Zeit (im Seelischen) als Charakter, das Gestaltungsprinzip des Weibes im Raume als Ordnungs- und Schönheitssinn.

Das Wesen des Mannes ist zeugend und erregend, das des Weibes empfangend und gebärend.

Das Wesen der männlichen Liebe ist Begierde, das der weiblichen Liebe Hingebung.

Der Mann hat Reizbarkeit (Irritabilität), die Frau Einbildungskraft (Phantasie). Reizbarkeit empfindet Reize und antwortet auf sie durch Bewegung, die Einbildungskraft nimmt Reize auf, bildet sie sich ein.

Der Mann ist persönlich, das Weib typisch.

Die Schönheit des Mannes ist persönlich, d. h. sie beruht auf der Eigenart und Bewegung, die des Weibes ist typisch, d. h. sie beruht auf der Form.

Der persönliche Mann repräsentiert dem Weibe Gott, das unbewußte Weib repräsentiert dem Manne die Natur.

Die wesentlichen Eigenschaften des Weibes beruhen auf seiner unlöslichen Verbindung mit der Natur, daher mit der Masse.

Das Wesen des Mannes, als Bewegung, ist Leben, das Wesen des Weibes, als Stoff, ist Tod.

Das Leben ist eine Frage, der Tod die Antwort; das Leben negativ, der Tod positiv. Man kann sagen: Der Mann stellt an das Weib die Frage des Lebens, und das Weib antwortet bejahend mit dem Tode. Der Tod gibt dem unendlich wachsenden Leben die Form. Ohne den Tod wäre der Mensch anorganisch, der Tod macht ihn zum Organismus.

Der bewegte Mann bedarf des Weibes als Ruhepunkt und Stütze und als Spiegelung seiner Persönlichkeit; das unbewegte Weib bedarf des Mannes als Beseeler und Anreger.

Das unbewußte Weib, als Stoff, wird vom Manne konsumiert, sie ermöglicht ihm das Leben, wie am brennbaren Stoffe sich das Licht entzündet. Der Trieb des unbewußten Weibes ist sich hinzugeben, sich zu opfern, der Trieb des Mannes sich vermittels des sich opfernden Weibes zum höchsten Leben zu entfalten. Das positive Weib lebt im Opfer an den negativen Mann, der negative Mann lebt durch das Opfer des positiven Weibes. Mit zunehmendem Bewußtwerden verhält das Weib sich nicht mehr rein positiv zum Manne. Das elementar Männliche verhält sich negativ zum primitiv weiblichen aber positiv zum selbstbewußt Männlichen.