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© 2022 by Annabel Streets
Titel der englischen Originalausgabe: »52 ways to walk«, Bloomsbury Publishing, London 2022
Published by arrangement with Rachel Mills Literary Ltd.
© Piper Verlag GmbH, München 2022
Illustrationen: Alexis Seabrook, © Annabel Streets 2021
Autorenfoto: Annabel Streets
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Birgit Kohlhaas und Dudarev Mikhail / Shutterstock.com
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Als ich 23 Jahre alt war und ein bisschen Geld übrig hatte, machte ich meinen Führerschein und kaufte mir eine kleine Klapperkiste. Ich liebte mein Auto und fuhr oft in der Stadt herum, einfach so zum Spaß. Dazu müssen Sie wissen, dass ich komplett ohne Auto aufgewachsen bin. Mein Vater besaß nie eines und hatte deshalb auch keinen Führerschein. Meine Mutter war über vierzig, als sie endlich mit den Fahrstunden begann, rasselte aber siebenmal durch die Prüfung. Wir lebten an abgelegenen Orten, wo öffentliche Verkehrsmittel bestenfalls unzuverlässig und schlimmstenfalls gar nicht existent waren. Wenn wir irgendetwas brauchten, gingen wir zu Fuß – oft kilometerweit. Das mag auch der Grund gewesen sein, weshalb ich meinen kleinen Fiat so mochte.
Zeitgleich mit meinem neuen Leben als motorisierter Mensch begann ich einen Schreibtischjob. Und zeitgleich mit beidem kam es zu einer seltsamen Veränderung meines Körpers (runder, schlaffer, empfindlicher, steifer) und meines Geistes (angespannt, unruhig, unzufrieden). Und dann las ich etwas, das mich sprachlos machte: In Bill Brysons stand, dass der amerikanische Durchschnittsbürger pro Woche nur 2,25 Kilometer zu Fuß geht.
In diesem Moment erkannte ich, wie dramatisch sich mein Leben verändert hatte. Denn ich war nicht besser, sprang ich doch bei jeder Gelegenheit in mein Auto, hockte den ganzen Tag am Schreibtisch und hing Abend für Abend auf dem Sofa. Mit einem Mal wünschte ich mir mit aller Macht das Leben zurück, das ich verloren hatte: die einfachen Freuden des Gehens, die zahlreichen Abenteuer auf meinen Wanderungen, die stürmischen Brisen, die es mit sich gebracht hatte. Ich beschloss daher, einen Gang zuzulegen und frischen Wind durch mein Leben wehen zu lassen.
Dazu erlegte ich mir selbst eine Regel auf: Ich wollte mein Auto nur dann benutzen, wenn es unbedingt nötig war, und ansonsten zu Fuß gehen. In den folgenden Monaten stellte ich fest, dass viele der Strecken, für die ich zuvor das Auto genommen hatte, lächerlich kurz waren. Warum war ich zum Supermarkt gefahren, obwohl er zu Fuß nur zwanzig Minuten entfernt war? Oder zum Zahnarzt – ein gemütlicher Spaziergang von einer Viertelstunde? Oder noch bizarrer: Warum um alles in der Welt war ich mit dem Auto zum Fitnessstudio gefahren, um dort auf dem Laufband zu gehen oder mich aufs Rad zu setzen?
Mir fiel auch noch etwas anderes auf: Beim ersten Anzeichen für Regen, Wind, Dunkelheit, Hitze, Hunger, Langeweile oder bei fehlender Begleitung – und das war nur ein Bruchteil meiner vielen Ausflüchte – wurde mein kleines Auto zu einer unwiderstehlichen Verlockung. Ich legte mir daher einen Hund und wetterfeste Kleidung zu, denn Kälte, Regen und Dunkelheit sollten mich nie wieder vom Spazierengehen abhalten. Schon bald liebte ich es, nächtens nach draußen zu gehen, bei Regen meine Runden zu drehen oder durch den Matsch zu marschieren, nach dem Abendessen einen Verdauungsspaziergang zu machen und an windigen Wochenenden eine Wanderung zu unternehmen. Nie zuvor war das Gehen für mich reizvoller und spannender gewesen.
Eine Weile später – als ich aufgrund meiner Schreibtischarbeit mit lähmenden Rückenschmerzen zu kämpfen hatte – stellte ich eine zweite Regel auf: Ich wollte nun möglichst viele der bislang im Sitzen ausgeübten Tätigkeiten zu Fuß machen. So würde ich künftig meine Arbeit im Gehen erledigen, im Urlaub wandern, die wöchentlichen Einkäufe als Gepäckmarsch[1] bewältigen, aus dem Kaffeetrinken bei der Freundin einen Kaffee to go machen … Doch von meinen Bekannten hörte ich dieselben Ausreden, die ich zuvor verwendet hatte. Meine Kolleginnen schlugen meine Einladungen zu Meetings auf dem Drahtesel aus: zu windig/heiß/kalt/früh/spät. Von (manchen) Freunden und (vor allem der) Familie war Ähnliches zu hören: zu weit/steil/matschig/anstrengend/langweilig … besonders langweilig.
Nach einiger Zeit drängte sich mir eine Frage auf: Was, wenn all diese Ausreden paradoxerweise gute Gründe das Gehen waren? Damals hatte ich begonnen, regelmäßig zu den Themen Gehen und Gesundheit zu recherchieren und darüber zu schreiben. In meinem E-Mail-Postfach stapelten sich Studien über die erstaunlichen Kräfte der Bewegung und der Natur – Sonnenlicht, Erde, Schnee, Stille, Gerüche – und bestätigten einige meiner neuen Vermutungen. Schließlich begann ich meine eigenen Gehexperimente zu unternehmen: Wandern in der Höhe, in Wäldern, barfuß und rückwärts; Spaziergänge im Mondenschein, an Flüssen entlang und auf Pilgerrouten; Streifzüge zum Pilze- und Kräutersammeln, auf der Suche nach Fraktalen oder einfach der Nase nach; Touren mit Tanzen und Singen; Müllsammeln, achtsames Gehen, Power Walking, Schweigemärsche … Das Gehen war einmal mehr zum großen Abenteuer meines Lebens geworden – nur dass ich mir diesmal mithilfe der Wissenschaft das Wie und Warum erklären konnte.
Die Forschungsberichte über die gesundheitsfördernde Wirkung des Gehens schienen unwiderlegbar: Regelmäßiges Gehen half Millionen von Menschen, Diabetes zu heilen, Herz-Kreislauf-Krankheiten abzuwenden, Krebs aufzuhalten, den Blutdruck zu senken, abzunehmen, Depressionen und Angstzuständen entgegenzuwirken und noch vieles mehr. Eine Studie kam sogar zu dem Schluss, dass sich mithilfe von Bewegung fast vier Millionen vorzeitige Todesfälle pro Jahr verhindern ließen[2] – eine eher vorsichtige Schätzung aus Sicht mancher Epidemiologen, die der Meinung sind, dass Gehen jährlich bis zu acht Millionen Menschen das Leben retten könnte.[3] Einer anderen Studie zufolge ist es möglich, durch Bewegung 35 verschiedenen chronischen Erkrankungen vorzubeugen.[4]
Denn eines steht fest: Wenn wir uns bewegen, finden in unserem Körper Hunderte komplexer Veränderungen statt. Ein Spaziergang von zwölf Minuten wandelt in unserem Blut 522 Stoffwechselprodukte um – Moleküle, die sich auf den Herzschlag, die Atemluft in den Lungen, die Neuronen im Gehirn auswirken. Beim Gehen gelangt Sauerstoff in den Kreislauf, und das wiederum hat einen Einfluss auf unsere lebenswichtigen Organe, das Gedächtnis, die Kreativität, die Stimmung und die geistige Leistung. Wenn wir gehen, bewegen sich Hunderte von Muskeln, Gelenken, Knochen und Sehnen in einem komplexen, mühelosen Zusammenspiel. Sie erlauben uns nicht nur, uns fortzubewegen, sondern regulieren zudem eine Vielzahl molekularer Signalwege, erweitern die Herzkranzgefäße, stärken die Muskeln und glätten die Arterienwände. Sie entfernen den Zucker aus unserem Blut und aktivieren oder deaktivieren unsere Gene in einem unglaublich raffinierten, als epigenetische Modifikation bekannten Prozess. Gehen kommt jedoch nicht nur unserer eigenen Gesundheit zugute, sondern auch der künftiger Generationen. Inzwischen weiß man, dass sportliche Betätigung während der fruchtbaren Jahre unsere Kinder später besser vor Krankheiten schützt[5], und dass die Muttermilch von Frauen, die während der Schwangerschaft aktiv waren, einen Bestandteil enthält, der beim Baby das Risiko von Diabetes, Herzerkrankungen oder Fettsucht für den Rest seines Lebens senkt.[6]
Außerdem leisten wir jedes Mal, wenn wir eine Strecke zu Fuß zurücklegen, einen kleinen Beitrag zur Vermeidung von Luftverschmutzung und Lärmbelastung. Wir verhindern, dass noch mehr Natur in asphaltierte Parkplätze und Einkaufszentren umgewandelt wird. Mit jeder Petition an die Regierung oder Stadtverwaltung, in der wir Fußgängerwege und Parks fordern oder zum Erhalt von Wäldern und Auen aufrufen, schaffen wir eine bessere Welt für alle, jetzt und in der Zukunft. In der Natur unterwegs zu sein bringt uns unserer Umwelt näher, steigert unsere Wertschätzung für sie – für winzige Insekten und Flechten ebenso wie für prächtige Berge und Bäume. Erst wenn wir etwas schätzen, ist uns auch daran gelegen, es zu bewahren – und genau das hat unsere wunderbare Welt dringend nötig.
Natürlich verdienen auch unsere Städte es, zu Fuß erkundet zu werden. Ihre Besonderheiten offenbaren sich umso deutlicher, wenn wir, anstatt hindurchzufahren, durch die Straßen schlendern – was noch dazu umweltfreundlicher, unterhaltsamer, leiser und sicherer ist.
Wir haben das Gehen aus unserem Leben verdrängt, obwohl wir eigentlich zum Gehen geschaffen sind – und zwar nicht nur für ein paar Minuten an einem herrlich sonnigen Tag, wenn wir in Turnschuhen mit gepolsterter Sohle einen Google-Pin anpeilen, sondern in strömendem Regen, bei stürmischem Wind, bergauf und bergab, im Winter, nachts, allein oder in großen Gruppen, durch Wälder oder den Fluss entlang.
Es ist Zeit, das Gehen neu zu denken, es aus unserem molekularen Gedächtnis wieder herauszuholen. Gehen ist nicht langweilig – und ist es nie gewesen. Manchmal verharren wir vielleicht in einer Art Routine, legen immer dieselbe Strecke zurück, zur gleichen Tageszeit, mit derselben Begleitung. Doch es gibt Hunderte verschiedene Arten des Gehens und ebenso Hunderte verschiedene Gründe, zu Fuß unterwegs zu sein. Viele Routen beginnen direkt vor unserer Haustür, ganz gleich wo wir leben oder arbeiten, und lassen uns schon im nächsten Augenblick in eine magische Mischung aus Natur, Geografie, Geologie, Astronomie, Geschichte, Kultur und Architektur eintauchen.
Gehen ist auch mehr als reines Schrittezählen oder sportliche Betätigung. Natürlich sind eine gute körperliche und geistige Gesundheit willkommene Begleiterscheinungen, doch die Freuden des Gehens gehen weit darüber hinaus. Begreifen Sie es als Möglichkeit, eine Stadt besser zu verstehen, eins zu werden mit der Natur, Zeit mit Ihrem Hund zu verbringen, Freundschaften zu vertiefen, zum Glauben und einem Gefühl von Freiheit zu finden, Ihre Verachtung gegenüber dem stinkenden Straßenverkehr auszudrücken, Ihren Geruchssinn zu schulen, Ihre Sehnsucht nach dem Sternenlicht und der Dunkelheit zu befriedigen und die wundervolle Komplexität und Schönheit unserer Welt schätzen zu lernen.
Ich hoffe, dass dieses Buch Sie dazu anregt, die Freuden, das Mysterium, das Wunder und das Hochgefühl des Gehens neu zu erleben; dass auch Sie mithilfe der hier beschriebenen 52 Arten des Gehens entdecken, wie unendlich spannend und immer wieder bereichernd die Fortbewegung auf zwei Beinen sein kann. Und ich hoffe, dass Sie in den Genuss des unendlichen Glücks und der Gesundheit kommen, die lebenslanges Gehen immer mit sich bringt.
Dieses Buch bietet Ihnen mit jedem Kapitel die Möglichkeit, eine neue Form des Gehens kennenzulernen. Dabei orientiert es sich – Woche für Woche – an einem ganzen Kalenderjahr. In den einzelnen Kapiteln habe ich versucht, auf das Wetter oder gelegentlich auch auf allgemein bekannte »Anlässe« im Jahresverlauf einzugehen. Vor allem aber habe ich sie so angeordnet, dass Sie einzelne davon ganz nach Ihren Umständen und Vorlieben auswählen können, fast so wie bei einem Frühstücksbüfett. Ich hoffe sehr, dass Sie beim Ausprobieren unterschiedlicher Gehstile, Tages- und Jahreszeiten, Wetterbedingungen, Strecken und Orte immer wieder etwas Neues, Unerwartetes oder sogar Offenbarendes entdecken werden.
Ich betrachte das Gehen als eine wunderbar spontane Angelegenheit – etwas, das wir wie und wann auch immer tun können, ohne jede Planung und Voraussicht. Tatsächlich ist das zweifellos eines der vielen Dinge, die es so reizvoll machen. Wir können einfach so loslaufen – direkt von unserer Haustür aus. Das Neue, Unerwartete und Offenbarende aber wird uns paradoxerweise am ehesten dann begegnen, wenn wir uns ein wenig vorbereiten, bevor wir losgehen. Bei nassem Winterwetter draußen unterwegs zu sein ist nun mal wesentlich angenehmer, wenn man die passende Kleidung dafür hat – und diese auch griffbereit ist. Ein Spaziergang im Mondschein ist bei Vollmond und mit einer geeigneten Strecke, einer netten Begleitung und guten Schuhen ein noch größerer Genuss. Und wenn wir zum Zeichnen losziehen wollen, ist das nicht möglich, ohne zuvor Skizzenblock und Bleistift besorgt zu haben. Außerdem ist wissenschaftlich erwiesen, dass Menschen, die regelmäßig spazieren gehen, meist feste Zeiten dafür eingeplant haben – anders als diejenigen, die nur gelegentlich eine Runde um den Block drehen.
Bevor Sie sich also ans Ausprobieren machen und losziehen, bereiten Sie sich vor: Organisieren Sie alles, was Sie mitnehmen wollen, und legen Sie sich zumindest einen ungefähren Plan zurecht. Sichten Sie Karten, Bücher, Apps oder Websites, um neue Strecken, Pilgerrouten, Weitwanderwege, unerforschte Pfade, reizvolle Ziele und Ähnliches zu entdecken, und machen Sie sich zu allem, was Sie interessiert, ein paar Notizen – diese sollten auch Informationen zur voraussichtlichen Dauer (rechnen Sie mit drei Kilometern pro Stunde), Erreichbarkeit sowie zu Parkplätzen und Einkehrmöglichkeiten enthalten.
Eine besondere Ausrüstung benötigen Sie nur für wenige Spaziergänge oder Touren in diesem Buch. Wenn Sie allerdings nachts, im Gebirge oder bei nassem Wetter unterwegs sind, haben Sie mehr davon, wenn Sie entsprechend ausgestattet sind. Das heißt, Sie sollten passende Kleidung tragen, die in gutem Zustand ist. Ob Regensachen (Stiefel, Jacke Hose) tatsächlich dicht sind, testen Sie am besten unter der Dusche. Dringt Wasser ein, geben Sie sie mit einer hochwertigen Einwaschimprägnierung in die Waschmaschine. Reinigen und imprägnieren Sie auch Ihre Wanderschuhe und ziehen Sie, wenn nötig, neue Schnürbänder ein.
Für Spaziergänge in der Stadt brauchen Sie bequemes Schuhwerk. Ich persönlich verwende Turnschuhe mit einem breiten, eher hohen Zehenraum, einer dünnen, weichen Sohle und einem Nullabsatz, bei dem sich Zehen und Ferse auf derselben Höhe befinden. Zu enge Schuhe führen oft zu einem Taubheitsgefühl oder lassen die Füße aufgrund der schlechteren Durchblutung anschwellen, während man mit zu großen Schuhen leicht stolpern und hinfallen kann. Probieren Sie also ruhig verschiedene Schuhe aus, um welche zu finden, die Ihnen wirklich gut passen.
Wenn Sie sich für gewöhnliche Turnschuhe entscheiden, sollten Sie darauf achten, dass sie nicht zu abgetragen sind. Studien haben gezeigt, dass ältere Turnschuhe schlecht für die Haltung und den Gang sind und so zu Verletzungen führen können. Befürchten Sie, dass Sie stürzen könnten, wählen Sie leichte Schuhe ohne Schnürsenkel mit einer profilierten Laufsohle aus Gummi, die Ihnen zusätzlichen Halt gibt. In jedem Fall aber sollten Ihre Schuhe bequem, atmungsaktiv und gegebenenfalls auch wasserdicht sein.
Für längere Wanderungen oder Touren in unwegsamem Gelände benötigen Sie robuste, knöchelhohe, gut eingetragene Wanderschuhe mit Profilsohle, außerdem Wandersocken, die schnell wieder trocknen, atmungsaktiv sind und Blasen vermeiden (sofern Sie dazu neigen). Ich habe mir im Schlussverkauf gleich zwei verschiedene Paar Socken besorgt: eines für den Sommer und eines für den Winter.
Planen Sie ganztägige Touren und wollen spontan aufbrechen können, halten Sie einen kleinen Rucksack bereit. Einige Dinge lasse ich immer darin: ein paar Blasenpflaster und Wundreinigungstücher, eine Packung Taschentücher, ein paar Schmerztabletten, eine Wasserflasche, einen kleinen Skizzenblock mit Bleistift und Radiergummi, ein leichtes Fernglas, Sonnencreme, ein Notfall-Urinal und eine Packung Nüsse.
Die »Ausrüstung« für Ihre Spaziergänge (Sonnenbrille, Sonnencreme, Mütze und Handschuhe, Schirm, Anorak, Hausschlüssel, Thermobecher, Trinkflasche, Insektenschutz und was Sie sonst noch brauchen) bewahren Sie am besten griffbereit und immer am selben Ort auf, damit Sie bei Sonne, Mondschein oder einem Regenschauer auch sofort losgehen können.
Für Winterwanderungen oder Spaziergänge bei Wind sind Thermounterwäsche, Handschuhe, Mütze und dicke Socken unverzichtbar; auch eine Thermosflasche bietet sich an. Haben Sie vor, länger unterwegs zu sein, sind Teleskopwalkingstöcke hilfreich – vor allem, wenn es bergab geht. Sorgen Sie außerdem dafür, dass Ihr Rucksack bequem zu tragen ist.
Sind Sie mit Kindern unterwegs, geben Sie ihnen einen eigenen (kleinen) Rucksack mit ein paar Snacks, die sie besonders gerne mögen, dann wird es weniger Gejammer und Geschleppe, weniger Bitten und Betteln geben.
Falls Sie sich in einem Zeckenrisikogebiet aufhalten, stecken Sie auf jeden Fall ein Insektenschutzmittel und eventuell eine Zeckenkarte oder Pinzette ein.
Sollten Sie nur eine kurze Runde in der direkten Umgebung planen, sorgen Jackentaschen oder eine Hüfttasche für eine gerade Wirbelsäule und somit für eine aufrechte Haltung und locker schwingende Arme.
Wenn Sie nun also alles gepackt haben, was Sie brauchen, und Ihre ungefähre Route an die Wand gepinnt ist, steht dem Aufbruch nichts mehr im Weg. Der Blick in den Zug- oder Busfahrplan und die Suche nach fehlenden Anoraks, Trinkflaschen oder Blasenpflastern erübrigen sich ab jetzt. Wählen Sie einfach ein Kapitel aus diesem Buch aus, und legen Sie los.
Flaute auf Netflix? Dann blättern Sie vor zur 41. Woche und machen stattdessen doch einfach mal einen gesundheitsfördernden Verdauungsspaziergang. Sie haben Schlafprobleme? Finden Sie in der 50. Woche heraus, wie das Gehen zu einem tieferen Schlaf führen kann. Das schlechte Wetter hält Sie davon ab, eine Runde um den Block zu drehen? In der 12. Woche erfahren Sie, welchen unglaublichen Nutzen ein Spaziergang im Regen hat. Sie leiden unter trockenen, schmerzenden Augen, weil Sie zu viel vor dem Bildschirm sitzen? In der 8. Woche lernen Sie das Phänomen des Panoramasehens kennen. Zu müde für einen Spaziergang? Dann entdecken Sie in der 4. Woche die Vorzüge, die ein gemächlicher Bummel mit sich bringt.
Nun dürften Sie also wissen, wie dieses Buch funktioniert. Und damit bleibt nur noch eins zu sagen: Auf die Füße, fertig, los!
Elizabeth Carter, eine leidenschaftliche Spaziergängerin und englische Schriftstellerin des 18. Jahrhunderts, erklärte, am liebsten sei sie unterwegs »bei Schneegestöber und wenn der Wind pfeift«[7]. Mit dieser Einstellung war sie keineswegs allein: Im Lauf der Jahre gab es Hunderte von Frauen, die ihre anhaltende Begeisterung für frostige Spaziergänge bekundeten. So beschreibt Christiane Ritter in ihrem beeindruckenden Bericht über ihre Zeit am nördlichen Polarkreis[8] den täglichen Rundgang bei Temperaturen von minus 35°C so: »Ich gehe jeden Tag spazieren … drehe meine Runden, zehn Mal, zwanzig Mal, über die unebenen Schneeverwehungen, die hart gefroren sind wie Stahl.« Die Forschungsreisende Alexandra David-Néel (eine vollendete Meisterin der alten Meditationstechnik Tummo, der Erhöhung der eigenen Körpertemperatur) war bei ihrem Fußmarsch nach Lhasa 1924 sprachlos vor Staunen angesichts der »unermesslichen Schneemassen … des ewigen, makellosen Weiß«. Nachdem sie sich kilometerweit durch den knietiefen Schnee gekämpft hatte, erklärte sie diese Landschaft zum »Paradies«[9].
Und doch ist der Winter für viele von uns eine Jahreszeit, in der wir zu einem Spaziergang aufbrechen, sondern lieber zu Hause bleiben, wo es warm und trocken ist – ein großer Fehler! Jahrzehnte nachdem sich Carter, Ritter und David-Néel so fasziniert auf die Kälte einließen, enträtselt endlich auch die Wissenschaft, welche erstaunlichen Veränderungen in unserem Körper und Geist stattfinden, wenn wir uns – allein schon bei Kälte – im Freien aufhalten. Tatsächlich hat man Eis, Schnee und Kälte bereits vor vielen Jahrhunderten zu Heilzwecken eingesetzt: Ägyptische Handschriften berichten von der Verwendung kalten Wassers zur Bekämpfung von Entzündungen, britische Mönche nutzten Eis als eine Art Betäubungsmittel, und im 19. Jahrhundert griff der englische Arzt James Arnott zu Salz und zerstoßenem Eis, um Kopfschmerzen und Krebsleiden zu lindern.[10]
Machen wir einen Zeitsprung ins Jahr 2000, nach Japan, wo eines der ersten modernen Experimente stattfand, das erahnen ließ, welch komplexes Phänomen Kälte ist.[11] Die Wissenschaftler stellten zwei Gruppen von Spaziergängerinnen zusammen: Die einen trugen lange Röcke, die ihre Beine komplett verhüllten, die anderen Miniröcke, die ihre Beine von den Oberschenkeln bis zu den Knöcheln unbedeckt ließen. Die Frauen erklärten sich bereit, ein ganzes Jahr lang dieselbe Art von Rock zu tragen und ihre Beine regelmäßig untersuchen zu lassen. Als der Winter vorüber war, zeigten die -Aufnahmen, dass die Beine der Frauen im Minirock eine zusätzliche Fettschicht aufwiesen; die Beine der Frauen mit langem Rock waren hingegen unverändert geblieben. Das bedeutet jedoch nicht etwa, dass wir dick werden, wenn wir uns der Kälte aussetzen – ganz im Gegenteil, wie Wissenschaftler später herausfinden sollten.
Damals ging man noch davon aus, dass nur Babys sowie Säugetiere, die Winterschlaf halten, über eine Schutzschicht aus braunem Fettgewebe verfügen, obwohl erste Studien vermuten ließen, dass es sie möglicherweise auch unter der Haut mancher erwachsener Menschen (beispielsweise im Freien arbeitende Skandinavier) gibt. Erst ein Jahrzehnt später entdeckten amerikanische Forscher[12] die erstaunliche Wahrheit über das braune oder plurivakuoläre Fettgewebe, jenes durch Kälte aktivierte Fett, das die japanischen Minirockträgerinnen sich zugelegt hatten.
Trotz seines wenig vorteilhaften Namens ist das braune Fettgewebe gänzlich frei von jenen schädlichen Lipiden, die mit überschüssigem weißem oder beigem Fett in Verbindung stehen. Tatsächlich verbrennt das braune Fett Kalorien effektiver als jedes andere Gewebe, sogar als Muskelgewebe. Das könnte möglicherweise auch der Grund dafür sein, weshalb schlanke, aktive Menschen oft mehr braunes Fettgewebe besitzen als beleibtere Zeitgenossen, die viel sitzen.
Zu der spektakulärsten Erkenntnis aber kamen die Forscher, als sie das braune Fett genauer untersuchten und feststellten, dass es voller Mitochondrien steckt. In diesen winzigen zelleigenen Kraftwerken werden die Nahrung, die wir zu uns nehmen, und der Sauerstoff, den wir einatmen, in eine Form von Energie umgewandelt, die sich Adenosintriphosphat () nennt und sämtliche Prozesse in unseren Körperzellen unterstützt. Das braune Fettgewebe dient dazu, die zum Leben notwendige Atmung und Körpertemperatur aufrechtzuerhalten, womit sich auch erklären lässt, warum es durch Kälteeinwirkung aktiviert werden kann. Es regt unseren Stoffwechsel an, steuert unser Sättigungsgefühl, erhöht die Insulinsensitivität und vermindert ein vorzeitiges Absterben von Zellen.
Das alles geschieht, indem das braune Fett sogenannte okine produziert, Moleküle, die auf vielfältige Weise zu unserer Erhaltung beitragen. So scheinen diese speziellen Botenstoffe beispielsweise die Produktion von Follistatin anzuregen, einem Protein, das den Muskelaufbau fördert. okine sorgen außerdem für eine vermehrte Ausschüttung von -1, einem Hormon, das alle unsere Zellen zum Wachstum anregt und somit – vereinfacht gesagt – zu einer besseren Selbstheilung unseres Körpers beiträgt. Das könnte auch ein Indiz dafür sein, weshalb in einer 2021 durchgeführten Studie Menschen mit größeren Depots an braunem Fett seltener an Bluthochdruck, Herzinsuffizienz und Erkrankungen der Herzkranzgefäße litten.[13] Kein Wunder also, dass die therapeutischen Möglichkeiten, die das braune Fettgewebe bieten könnte, die Wissenschaft in helle Aufregung versetzt haben.
Doch damit nicht genug: Ein strammer Spaziergang bei kaltem Wetter fördert nicht nur unsere Zellgesundheit und hält uns fit und in Form, sondern sorgt außerdem dafür, dass unser Gehirn gut funktioniert. Mehreren Studien zufolge können wir bei kälteren Temperaturen klarer denken als bei wärmeren. Unser Gehirn braucht Glukose und arbeitet nur noch langsam, falls diese nicht in ausreichender Menge vorhanden ist. Beim Abkühlen der Körpertemperatur wird mehr Glukose benötigt als beim Erwärmen – was ein Grund dafür sein könnte, weshalb manche von uns sich in heißem Klima wie benebelt fühlen, in kaltem dagegen geistig hellwach. Eine Studie der Stanford University von 2017 zeigte, dass Menschen bei kühleren Temperaturen ein entschlussfreudigeres, besonneneres und rationaleres Denken an den Tag legten als bei wärmeren. Zu diesem Schluss war auch eine Studie von 2012[14] gekommen, der zufolge sich warmes Wetter nicht nur nachteilig auf die Fähigkeit der Menschen auswirkte, komplexe Entscheidungen zu treffen, sondern zudem auf ihre Bereitschaft, überhaupt eine Entscheidung zu treffen.
Für eine bessere geistige Leistung ist es jedoch keineswegs notwendig, tatsächlich zu Das Betrachten »kalter« Bilder reicht aus, um unser Gehirn stärker arbeiten zu lassen. Israelische Wissenschaftler legten ihren Probanden mehrere kognitive Aufgaben vor, in deren Hintergrund entweder Winter-, Sommer- oder jahreszeitlich nicht einzuordnende Landschaften zu sehen waren. Die besten Ergebnisse erreichten jene Teilnehmer, die in ihrem peripheren Blickfeld zuvor die Winterbilder zu sehen bekommen hatten.[15]
Kälte – zumindest in gemäßigter Form – trägt außerdem zu unserer psychischen Gesundheit bei. Eine Untersuchung polnischer Studenten kam zu der Erkenntnis, dass ein viertelstündiger Aufenthalt in einem kühlen, unbelaubten Wald eine »beachtliche emotionale, ausgleichende und belebende Wirkung« zeigte, was nahelegt, dass kahle Winterlandschaften ebenso zu unserer Regeneration beitragen können wie das warme, satte Grün des Frühlings.[16]
Darüber hinaus scheint ein wenig Kälte auch das Stressempfinden zu reduzieren: Einem Bericht der Universität Luxemburg[17] zufolge ließen sich durch wiederholte Kältereize im Nacken der Probanden sowohl das parasympathische (entspannende) Nervensystem aktivieren als auch der Herzschlag verlangsamen und stabilisieren – was wiederum die Annahme stützt, dass ein gewisses Maß an Kälte beruhigender wirken könnte, als man gemeinhin annimmt.
Das alles heißt jedoch nicht, dass wir freiwillig frieren und uns damit die Laune verderben müssen. Wir sollten die kälteren Monate vielmehr als eine Zeit für besonders anregende Spaziergänge betrachten. Alles sieht anders aus: Wer empfindet den Blick durch skulpturenhafte Baumgerippe oder die monochrome Geometrie der Linien und Formen nicht als außergewöhnlich? Auch die Vögel lassen sich besser beobachten als sonst. Unser Geist ist schärfer und wacher. Unser gutes braunes Fettgewebe wird kräftig aktiviert. Und zudem trainieren wir unsere Ausdauer: Bei niedrigeren Temperaturen muss das Herz nicht so stark arbeiten, und wir schwitzen weniger, was uns umso leistungsfähiger macht.[18]
Tipps
sollte es sein? Nicht besonders … Dem niederländischen Physiologen und -Forscher Wouter van Marken Lichtenbelt zufolge wird braunes Fettgewebe bereits bei leichter Kälte, also etwa 16 °C, aktiviert.[19]
soll der Spaziergang dauern? So lang, wie es Ihnen behagt – wobei eine Studie ergab, dass die Umwandlung von (schlechtem) weißem Fettgewebe (vor allem im Bereich des Bauches und der Oberschenkel) in (gutes) braunes Fettgewebe erst bei einem Aufenthalt von zwei Stunden in gemäßigter Kälte ausgelöst wird.
Zahlreiche Studien belegen, dass wir die Kälte als umso weniger abschreckend und unbehaglich empfinden, je mehr wir uns ihr aussetzen – wenn also eine Gewöhnung stattfindet. Packen Sie sich daher warm ein, und steigern Sie die Dauer Ihrer Spaziergänge Schritt für Schritt.
Sie machen sich Sorgen, dass durch die Kälte schlimmer werden könnten? Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass körperliche Betätigung im Winter genau das Gegenteil bewirkt: So traten bei Erwachsenen häufig weniger allergische Entzündungen der Luftwege auf, und Atemwegsbeschwerden wurden gelindert.[20]
Bei der Wahl Ihrer Kleidung folgen Sie am besten dem , dann wird Ihnen weder zu warm noch zu kalt sein. Meist kühlen die Hände und Füße sowie der Kopf als Erstes aus, da das Blut sich in unsere lebenswichtigen Organe zurückzieht, um diese warm zu halten: Tragen Sie daher fleecegefütterte Handschuhe, dicke Socken und eine Mütze. Wenn Ihnen warm genug ist, schieben Sie die Ärmel hoch, damit Ihre Unterarme Vitamin D aufnehmen können, und lassen Sie Sonnenlicht an Ihren Hals, um das braune Fettgewebe zu aktivieren (das sich laut Ronald Kahn, Professor der Medizin an der Harvard Medical School, häufig dort und im Bereich der Schlüsselbeine findet[21]).
Nehmen Sie eine mit. Bei kaltem Wetter verliert man oft Flüssigkeit, ohne es zu merken. Kaffee wäre eine gute Wahl, denn neben Bewegung und Kälte soll auch Koffein die Produktion von braunem Fett ankurbeln.
Ein Spaziergang durch tiefen Schnee kann ziemlich anstrengend sein. Versuchen Sie es doch einmal mit ! Sie eignen sich hervorragend, um weite Strecken im Schnee zurückzulegen.
Sie haben Angst, auf dem Eis auszurutschen? Sorgen Sie dafür, dass Sie Schuhe mit einem tragen. Auf Treppen und bergab gehen Sie am besten langsam und mit seitlichen Schritten. Verwenden Sie . Unsere Arme helfen uns, das Gleichgewicht zu halten, und mit den Händen können wir uns beim Fallen abstützen – stecken Sie die Hände beim Gehen daher nicht in die Taschen, und schützen Sie sie mit Handschuhen.
Die Kälte ist , und eine Unterkühlung kann tödlich sein. Tragen Sie deshalb immer angemessene Kleidung und warme Schuhe, und bewegen Sie sich so kraftvoll wie möglich (mehr dazu in der 2. Woche: Den Gang verbessern).
Als ein jugendlicher Verehrer der französischen Philosophin Simone de Beauvoir erklärte, er liebe ihre Art zu gehen, machte er ihr ein Kompliment, das sie zeit ihres Lebens nicht vergessen würde.
Wie wir gehen, verrät viel darüber, wer wir sind und wir sind. Kanadische Wissenschaftler untersuchten die Gangart von 500 Spaziergängern und konnten mit einer beeindruckenden Trefferquote von 70 Prozent herausfinden, welche der Versuchsteilnehmer erste Symptome einer kognitiven Störung aufwiesen. Damit bestätigten sie vorangegangene Studien, denen zufolge unser Gang im Alter von 45 Jahren Rückschlüsse auf das Risiko gibt, später an Alzheimer zu erkranken. Allein die Beobachtung der Gangart – so Manuel Montero-Odasso, ein Experte auf dem Gebiet des Zusammenspiels von Mobilität und kognitivem Abbau – »kann dazu beitragen, verschiedene Formen neurodegenerativer Erkrankungen zu diagnostizieren«[22]. Mit anderen Worten: An der Art, wie wir gehen, lässt sich ablesen, wie gut unser Gehirn funktioniert; sie gibt möglicherweise auch einen Hinweis darauf, wie unsere Zukunft aussehen könnte. Noch wissen die Wissenschaftler nicht, ob Veränderungen in unserem Gehirn unseren Gang beeinflussen oder ob Veränderungen unseres Gangs sich auf unser Gehirn auswirken. Unabhängig davon sollten wir aber in jedem Fall darauf achten, wie wir gehen.
Doch wer von uns tut das schon? Einen Fuß vor den anderen zu setzen ist die einfachste und natürlichste Fortbewegungsart, eine, die wir bereits als Kleinkinder beherrschen. Es ist zugleich aber auch ein unvorstellbar komplexer Vorgang, bei dem Gleichgewicht, Koordination, Kraft und Hunderte feuernder Neuronen eine Rolle spielen. Beim Gehen sind nahezu alle unsere Muskeln und Knochen beteiligt und in einem beispiellosen Bewegungsablauf aufeinander abgestimmt, den noch keine Maschine je nachbilden konnte.
Unser Lebensstil – überwiegend drinnen und am Schreibtisch – macht es uns nicht gerade einfach, mit derselben mühelosen Effizienz und Anmut zu gehen wie unsere Vorfahren. Wir quetschen unsere Füße in schicke Schuhe, hängen den ganzen Tag über dem Laptop und lümmeln uns abends auf dem Sofa – kein Wunder, dass wir an Kraft, Gleichgewichtsgefühl und Beweglichkeit verloren haben. Wir benutzen unsere Füße mit ihren 158 Knochen, Muskeln und Gelenken kaum noch, sodass sie mit der Zeit platt werden, unser Schritt unsicher wird und irgendwann gar nichts mehr geht.
Und das ist genau so schlimm, wie es klingt. Eine schlechte Gangart beeinträchtigt, wie wir uns insgesamt bewegen: Wir verzichten damit auf das intensive (und herrliche) Gefühl der Freiheit, das mit einem geschmeidigen, fließenden Gang einhergeht. Ebenso wenig kommen wir in den Genuss der damit verbundenen physiologischen Vorzüge. Auch die Sportwissenschaftlerin und Gehtrainerin Joanna Hall vertritt die Ansicht, dass sich unser derzeitiger Lebensstil nachteilig darauf auswirkt, wir gehen. Zu langes Sitzen hat zur Folge, dass unsere Hüftbeuger verkürzt und verspannt sind und unsere Haltung verkümmert. Wenn wir über dem Schreibtisch oder dem Computer kauern, sind Hals und Kopf unnatürlich weit nach vorne gebeugt, die Wirbelsäule ist zu starr und die Rückenmuskulatur verkrampft. Das stundenlange Vorlehnen schwächt die kleinen Posturalmuskeln, die für die richtige Krümmung der Wirbelsäule sorgen, und führt zu Schmerzen im unteren Rücken.
Ungeeignete Schuhe wiederum engen die Zehen ein und verhärten die Fußmuskulatur, sodass wir mit dem flachen Fuß auftreten (was Hall als »passiven Laufstil« bezeichnet), anstatt die Fußsohle federnd abzurollen (der »aktive Laufstil«). Kommt beim Gehen nicht die gesamte Breite des Fußgewölbes zum Einsatz, kann es zu Hüftfehlstellungen kommen. »Wir müssen lernen, die richtigen Muskeln in der richtigen Art und Weise und im richtigen Moment einzusetzen«, erklärt Hall mir, während sie meinen Laufstil korrigiert. Seit mittlerweile 25 Jahren hilft sie anderen dabei, so zu gehen, wie ihr Körper es ursprünglich vorgesehen hat[23], und rät dazu, das Gehen von Grund auf neu zu lernen. Dadurch lassen sich Verletzungen und eine Überlastung der Gelenke vermeiden, wir können unser Tempo steigern und längere Strecken gehen. Untersuchungen der London South Bank Universität haben ergeben, dass das Gehen mit einem möglichst großen Bewegungsradius bereits nach einem Monat zu einer höheren Gehgeschwindigkeit und einer besseren skelettalen Ausrichtung führt[24]. Hier deshalb ein paar von Halls Empfehlungen:
Mediziner der Harvard Medical School raten außerdem dazu, mit den Augen einen Punkt in drei bis sechs Metern Entfernung zu fixieren und nur den Blick zu senken statt den ganzen Kopf, wenn man das Bedürfnis hat, die Bodenbeschaffenheit genauer zu prüfen – denn mit einer aufrechten Halswirbelsäule lassen sich Nackenschmerzen vermeiden. Und sie empfehlen, ganz leicht in den Hüften mitzuschwingen, da »eine minimale Drehbewegung für ein dynamischeres Gehen sorgen kann«, und darauf zu achten, nicht zu weit auszuschreiten: »Machen Sie lieber kürzere, aber dafür mehr Schritte.«[25]
Natürlich können Sie auch weiterhin so gehen, wie Sie möchten, ohne irgendetwas zu ändern. Allerdings meint Hall: »Optimieren wir unsere Gehweise, verringern wir damit das Risiko, dass Gelenke und Wirbelsäule versteifen«. Die Harvard Medical School bestätigt dies und erklärt, dass ungünstige Gehgewohnheiten (»mit relativ geringem Aufwand«) durchaus korrigiert werden können, Verletzungen so vermieden werden und Gehen noch gesundheitsfördernder und genussreicher wird.
Eine optimierte Gehweise bedeutet zudem, dass wir, wenn wir wollen, schneller gehen können. Jede Art von Gehen ist gut, und unter Umständen ist ein langsames Tempo sogar besser (mehr dazu in der 4. Woche: Die Entdeckung der Langsamkeit, sowie in der 41. Woche: Spaziergang nach dem Essen). Dennoch belegen zahlreiche Studien, dass strammes Gehen mit einer Geschwindigkeit von sechs bis sieben Stundenkilometern (rund 100 bis 130 Schritte pro Minute) besonders wirkungsvoll ist. Eine Untersuchung von 2019[26] stellte fest, dass schnelle Spaziergänger länger leben als langsamere, und führte das »geringere Risiko für eine Vielzahl schwerwiegender Krankheiten« auf das raschere Gehtempo zurück. Mit einem flotten Fußmarsch in die Schule, ins Büro oder zum Einkaufen lässt sich das tägliche Bewegungspensum ganz leicht erfüllen.
Dass wir länger unterwegs sein können, ist ein zusätzlicher Bonus der verbesserten Gangart. Mehrere Studien sprechen dafür, dass längere Runden zu Fuß besonders geeignet sind, um das Körperfett zu reduzieren und die Stimmung zu heben.[27] Wenn wir in der Lage sind, mehrere Stunden ohne große Anstrengung zu gehen, haben wir außerdem mehr Möglichkeiten. Wir können lange Bergtouren unternehmen (mehr dazu in der 35. Woche: Mit Gepäck marschieren), auf Pilgerwegen wandern (39. Woche: Auf Pilgerpfaden), einem Fluss von der Quelle bis zum Meer folgen (17. Woche: Am Fluss entlang) oder einfach eine Strecke die wir zuvor sind.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb wir das Gehen neu lernen sollten: Wenn wir uns harmonisch bewegen, mit der Geschmeidigkeit und Anmut, für die unser Körper eigentlich gemacht ist, fühlen wir uns glücklicher und selbstsicherer. Dann ist es, als hätte die neu entdeckte Leichtigkeit unserer Glieder auch unseren Geist erfasst, und wir könnten die Sorgen und Zwänge des Alltags hinter uns lassen.
Tipps
Machen Sie sich Ihre , indem Sie die genannten Ratschläge Schritt für Schritt umsetzen. Mit ein wenig Übung dürften Sie sich schon bald unbeschwerter fühlen und merken, dass Ihre Haltung aufrechter und Ihr Gehtempo ein wenig schneller geworden ist.
, Ihren Gehstil, Ihre Haltung und die Ausrichtung Ihres Körpers zu überprüfen oder filmen Sie sich beim Gehen, um sich selbst ein Bild zu machen.
Denken Sie daran, dass Ihre Gangart auch davon abhängt, . Legen Sie sich unbedingt bequeme Schuhe mit flachen Absätzen zu, die gut am Fuß sitzen und für die geplanten Spaziergänge oder Wanderungen geeignet sind.
können Ihren Gang ebenfalls beeinflussen. Verwenden Sie am besten einen Rucksack, eine Hüft- oder eine Gürteltasche.
können die Körperhaltung und das Gangbild verbessern. Probieren Sie auch einmal Wanderstöcke aus, die sich auf Ihre Körpergröße anpassen lassen.
Sollten Sie Hilfe benötigen, sehen Sie sich im Internet nach einem um, mit dem Sie Ihren persönlichen Gehstil optimieren können.