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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Lars Zwickies

Covergestaltung: zero-media.net, München

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Zustand, der das Fehlen von Licht beschreibt.

In der Antike auch als Begriff für das Böse im Menschen gebräuchlich.

Eins

»Und da sitzt du, schaust in dir deinen Liebesfilm an.

So laut wie es geht, dass man den Schmerz nicht mehr hört.

Und so treibst du, und du träumst von dem was dich quält, die heile Welt.«

Voltaire, »Wo« aus dem Album

Marc

Das Schöne an Märchen ist nicht, dass sie immer mit »Es war einmal« beginnen oder mit »Und wenn sie nicht gestorben sind« enden. Das Schöne ist, dass sie manchmal wahr werden, wenn man sie nur oft genug erzählt.

Mein Märchen mit Sarah begann in einem Ort namens San Vito Lo Capo, dessen kilometerlanger Sandstrand auf der einen Seite von einem Bergmassiv und auf der anderen von einem malerischen Hafen begrenzt wurde, in dem Fischerboote an Pollern vertäut auf die nächste Ausfahrt warteten. Drei Jahre ist das jetzt her, und an jenem Tag gab es keine bösen Geister, nirgends. Vielleicht habe ich sie auch einfach nicht gesehen.

Du lagst mitten am Strand auf einer Sonnenliege, keine zehn Meter vom azurblauen Wasser des Mittelmeers entfernt. Ein Strohhut und ein Strandkleid hingen über der Lehne, und du sahst jung aus; jünger noch, als du es mit deinen achtundzwanzig Jahren ohnehin erst warst. Deine Haare waren zu einem Dutt hochgesteckt, und auf dem flachen Bauch lag ein Buch: dunkles Cover, gelber Titel, wahrscheinlich irgendein Thriller.

Von deinen Augen konnte ich nichts erkennen, sie waren hinter einer Sonnenbrille verborgen, aber in deinen Mundwinkeln zeichnete sich ein kleines Lächeln ab, als würde dich irgendetwas amüsieren. Wenn ich an unsere Anfänge zurückdenke, hast du eigentlich immer gelächelt. Damals, als noch nichts geschehen war, was dir dieses Lächeln raubte.

Henning stieß mich mit dem Ellbogen an, deutete in deine Richtung und grinste. Er sagte nichts. Er musste auch nichts sagen, die Würfel waren gefallen. An diesem Strand, unter all den Frauen, warst du der Jackpot. Natürlich sahst du gut aus, aber das war nicht das Entscheidende. Viele Frauen sehen gut aus. Wenn ich an die Zeit zurückdenke, kommt es mir ohnehin so vor, als hätte es damals ausschließlich attraktive Mädchen gegeben – vielleicht habe ich die hässlichen auch einfach nur vergessen.

»Du musst dich eincremen, sonst verbrennst du noch.«

Ich weiß nicht, warum ich das sagte; es war so ziemlich das Dümmste, das man in einer solchen Situation sagen konnte. Aber was hätte ich sonst tun können? Die einzige Alternative wäre gewesen, dich aus der Ferne stundenlang anzustarren, aber das wäre noch dümmer gewesen – da sind wir uns hoffentlich einig.

Nachdem die Worte raus waren, hast du in meine Richtung geschaut, die Sonnenbrille abgenommen und meinen Körper betrachtet, der damals noch eine ganze Ecke besser in Form war als heute. Für ein paar Sekunden traf sich unser Blick, dann hast du die Sonnenbrille wieder wie ein Visier vor die Augen geschoben und den Kopf gelangweilt abgewendet.

»Ich würde dich gerne kennenlernen, aber ich will auch nichts Falsches sagen, damit ich nicht wie ein kompletter Idiot dastehe«, sagte ich. »Das ist echt schwer. Ein Dilemma, und ich hoffe, du verstehst mein Problem.«

Mein Puls raste, aber dann hast du gelächelt. Vielleicht nur mitleidig, aber das war mir in diesem Moment egal. Ich wusste nicht, wie du heißt, wo du herkommst oder was du machst; ob du einen Freund hast, verheiratet oder lesbisch bist. Alles, was ich wusste, war, dass ich dich lieben konnte, lieben würde, lieben musste. All diese Dinge wusste ich mit einer Selbstverständlichkeit, die mir auch heute noch Angst macht. Ich war einunddreißig Jahre alt, schon lange kein naives Kind mehr, und dennoch kam es mir vor, als wäre mein bisheriges Leben nur dazu da gewesen, mich an diesen Punkt zu führen.

Zu dir.

»Das ist also deine Art, Frauen anzusprechen«, hast du nach einer Ewigkeit gesagt, und es war wie eine Erlösung.

»Eigentlich nicht«, erwiderte ich achselzuckend, während ich mir gleichzeitig Mühe gab, mir die Unsicherheit nicht ansehen zu lassen. »Ehrlich gesagt, bin ich gerade ein wenig überfordert. Wenn du also einen Tipp hast, was ich stattdessen sagen sollte – gerne her damit!«

Dann kam es wieder, dieses umwerfende Lächeln. »Lass mich darüber nachdenken … und in der Zwischenzeit kannst du mir im ja ein Glas Wein spendieren.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, zogst du dein bunt gemustertes Strandkleid über. Ich nutzte den kurzen Moment, in dem das Kleid deine Augen verdeckte, um Henning zu signalisieren, dass er sich verziehen sollte. Er verstand sofort und ging in Richtung unserer Liegen davon. Sein Körper war von unserem vorherigen Badeausflug immer noch feucht; Sand bedeckte die Waden, sie sahen aus wie paniert.

»Wie heißt du?«

Ich fuhr herum. »Marc«, sagte ich. »Und du?«

»Sarah. Sarah Hauptmann. Schön, dich kennenzulernen, Marc.«

Als wir über den Strand in Richtung des kleinen Orts gingen, hätte ich am liebsten schon deine Hand in meine genommen. Ich tat es nur nicht, weil ich Angst hatte, dass ich sie nie wieder loslassen würde.

Anfangs unterschieden sich unsere Schritte noch, bis sie einen gemeinsamen Rhythmus fanden und ihre Geräusche sich im Gleichklang ineinanderschoben. Ich schaute rüber zu dir, immer wieder, nur aus den Augenwinkeln. Du warst klein, nur gut einen Meter sechzig groß. Alles an dir wirkte verletzlich, und schon damals hatte ich das Gefühl, dich vor allem Bösen beschützen zu müssen. Ein altmodisches Gefühl, ich weiß, aber dennoch ist es geblieben. Bis heute.

Als wir am ankamen, hielt ich dir die Tür auf und verbeugte mich leicht. Du bist wie eine Königin reingegangen, hast dich umgeschaut und auf der Terrasse einen Stuhl gewählt, von dem aus man das Meer sehen konnte. Ich sah nichts, nur dich. Betrachtete deine ungekämmten Haare und die perfekt geschwungenen Lippen, sah die Verletzlichkeit in deinen fast noch kindlichen Gesichtszügen – der Anblick kippte die Zeit aus den Fugen. Augenblicklich wollte ich dich küssen und im Arm halten, nichts anderes. Dir sagen, dass das Herz in deiner Brust nicht grundlos schlug.

Als der Kellner kam, sah er uns an und zögerte kurz. Dann machte er eine dieser wedelnden Handbewegungen, wie sie nur Italiener stilecht hinbekommen, und sagte lächelnd: »Due amanti, un grande amore. Das sieht man sofort!«

Unsere Blicke trafen sich, und ich wusste, dass du es auch wusstest. Dass die ganze Welt es sehen konnte.

Die Vollkommenheit von Glück.

An diesem Sommertag begann mein Märchen mit Sarah, und es endete, als eine Polizistin mich drei Jahre später fragte, ob sie oder ich meinen besten Freund getötet hatte.

Sarah

Die Anfänge kennen das Ende nicht, und das Gute kann sich das Böse nicht vorstellen.

So war es auch mit uns, Marc.

Vom ersten Tag an.

Mit deinem Dauergrinsen und der aufgesetzten Coolness hast du im ersten Moment fast schon arrogant gewirkt, während dein Freund natürlicher rüberkam, irgendwie gelassener. Ich will ehrlich sein: Als ihr betont lässig auf mich zugekommen seid und euch dabei wie die Teenager gegenseitig mit den Ellbogen angestoßen habt, habe ich mir gewünscht, dass er es sein wird, der mich anspricht. Es kam anders, du warst einfach schneller.

Anfangs hoffte ich noch, dass ich über dich an ihn herankomme, aber dann, ja dann ist es passiert. Ich habe mich verliebt. In dich. In den Marc, der hinter dem Dauergrinsen und der aufgesetzten Coolness wohnt.

Kein Mensch kann steuern, in wen er sich verliebt, aber selbst wenn die Entscheidung für dich eine bewusste gewesen wäre, hätte ich sie in den folgenden Jahren nie bereut. Du bist der aufmerksamste Mann, den man sich wünschen kann, und du schaffst es immer noch, mich zu begeistern und zu überraschen.

Wie oft haben mich Freundinnen um dich beneidet? Ich weiß es nicht.

Oft.

Sehr oft.

Von Anfang an war die Liebe ein wichtiger Eckpfeiler unserer Beziehung, die körperliche Anziehungskraft ein weiterer, der stärkste jedoch das Vertrauen. Ich habe dir immer vertraut, und zwar vor allem, weil du mir gegenüber stets ehrlich gewesen bist. Nicht viele Menschen verdienen ein solches Vertrauen. Bei denen, die ich zuvor liebte und die behaupteten, stark zu sein, zeigte sich mit der Zeit, dass auch sie ihre Schwächen haben; dass ihre schönen Fassaden von Rissen durchzogen sind und dass sie auf schwachen, tönernen Füßen stehen. Du jedoch hast niemals vorgegeben, stark zu sein. Du bist es einfach, gleichzeitig jedoch auch strahlend, warm und leuchtend.

Wenn du eine Jahreszeit wärst, dann wärst du der Sommer.

Wahrscheinlich bin ich außer Henning der einzige Mensch, der weiß, dass auch der Winter Teil deines Wesens ist. Dass du etwas Böses in dir trägst. Nicht auf eine übertragene Art und Weise, sondern ganz real, wie ein Organ, das sich im Körper befindet. Vielleicht wird man es nach deinem Tod bei der Autopsie finden. Ich schätze, es ist in etwa so groß wie ein Tischtennisball, sicherlich schwarz, und der Mediziner wird sagen: »Hallo … Was haben wir denn da?«

Aber ich eile den Dingen voraus. Wir sollten nicht über das Ende reden, sondern über den Anfang, denn der hatte es wirklich in sich.

Nach dem Urlaub haben wir uns so oft wie möglich gesehen, trotz der Entfernung zwischen unseren Wohnorten. Du kamst aus Hamburg, ich aus einem kleinen Ort im Taunus, und wenn wir getrennt waren, bestand mein Alltag vor allem aus grenzenlosem Vermissen und einer unglaublichen Sehnsucht. Jeden Abend haben wir stundenlang telefoniert, um die Zeit zu überbrücken, und die Tage gezählt, bis wir wieder zusammen sein konnten.

Erst mit dir habe ich mich vollständig gefühlt, und manchmal ist es mir vorgekommen, als würde ich nur für unsere Treffen leben. So war es wirklich, Marc, auch wenn du mir das später nicht mehr geglaubt hast. Du hast mit der Zeit deine eigene Wahrheit entwickelt, ich habe meine, und die gefährlichsten Lügen sind sowieso die, die wir uns selbst erzählen.

Wir waren gerade mal drei Monate zusammen, als du mich fragtest, ob ich mein Dorf im Taunus nicht verlassen und zu dir nach Hamburg ziehen will. Du sagtest, du hättest sogar schon die perfekte Wohnung für uns gefunden; eine einmalige Gelegenheit, wir müssten uns schnell entscheiden.

Ich hatte insgeheim mit einer Altbauwohnung gerechnet. Zwei Zimmer vielleicht, dazu Küche, Diele, Bad und ein kleiner Balkon. Ein unspektakuläres, aber gemütliches Heim, wo wir uns unsere eigene Welt erschaffen konnten. Wie hätte ich auch mit etwas anderem rechnen sollen? Deine Mutter ist stellvertretende Filialleiterin bei der Volksbank in Eppendorf und dein Vater Professor an der Uni, an der du mit einunddreißig immer noch studiert hast. Ein gutbürgerliches Elternhaus, keine Geldprobleme, aber weit von großem Reichtum entfernt. Umso erstaunter war ich, als ich zum ersten Mal das Loft sah.

Loft – so haben wir die Wohnung von Anfang an genannt, obwohl sie gar kein richtiges Loft ist und nur das riesige Wohnzimmer mit den Stahlträgern unter der Decke so aussieht. Hundertdreizehn Quadratmeter in Elbnähe, eigentlich viel zu groß und viel zu teuer für uns. Du meintest, es ginge, weil Henning mit einziehen und seinen Teil der Miete beisteuern würde. Eine Wohnung, zwei Wohnbereiche, kein Problem.

Mir wäre die kleine Altbauwohnung lieber gewesen.

Am Anfang hat unser Leben zu dritt dennoch erstaunlich gut funktioniert. Wir haben den Alltag hinbekommen, uns beim Kochen abgewechselt, beim Einkaufen oder beim Aufräumen. Ärger gab es nur, wenn Fensterputzen anstand oder wenn Henning mal wieder irgendeine Tussi angeschleppt hat, die dann am nächsten Morgen mit am Frühstückstisch saß und »Hey, ihr wohnt auch hier?« flötete.

Um ihm zu zeigen, wie belanglos seine One-Night-Stands sind, haben wir uns in den darauffolgenden Nächten immer besonders wild geliebt. Du hast mich besonders hart rangenommen, und ich habe besonders laut gestöhnt, damit meine Lustschreie von den ungeputzten Fenstern abprallen und Henning einen Hinweis darauf liefern, wie wahre Liebe klingt. Auch nach einem Jahr klang sie noch so. Nach zwei Jahren, nach drei.

Der Sex mit dir ist immer gut gewesen.

Der Rest hatte seine Höhen und Tiefen.

Kurz nach dem Umzug habe ich einen Job als Grafikerin gefunden, außerdem wurden wir von deinen Eltern finanziell unterstützt. Dennoch habe ich nie verstanden, wie wir uns von meinem Gehalt und ihren Zuwendungen einen solchen Lebensstil leisten können. Da war ja nicht nur die teure Wohnung, da war auch der neue , unsere Urlaube, die schicken Restaurants.

Na gut, das war gelogen.

Natürlich ahnte ich irgendwann, woher das Geld kam, es hat mich nur nicht interessiert. Ich hatte Geschmack daran gefunden, dein Leben mitzuleben. Du tust, was du tun musst, und ich verschließe die Augen und spiele die süße Freundin. Bin ich deshalb ignorant oder oberflächlich? Vielleicht. Steht es anderen zu, darüber ein Urteil zu fällen? Sicher nicht.

Es lief gut mit uns, richtig gut, und dennoch hat ein Teil von mir immer gewusst, dass ich nicht mein ganzes Leben mit dir verbringen werde. Mit den Jahren hätten wir uns auseinandergelebt; spätestens, wenn ich den Wunsch nach Kindern und etwas Solidem verspürt hätte. Es hätte immer häufiger Streit gegeben, gegenseitige Vorwürfe, und irgendwann hätte ich die Koffer gepackt, wäre gegangen und sanft im Nebel entschwunden. Wir hätten uns noch eine Zeit lang vermisst, der Nebel wäre dichter geworden, und dann wäre aus ihm eine neue Liebe getreten.

Aber so weit kommt es jetzt nicht mehr, nicht wahr? Wir sind nun aneinandergekettet, ob wir wollen oder nicht; keine Chance auf Entkommen, keine Flucht mehr möglich. Wenn irgendwann das Urteil über unsere Verfehlungen fällt, wird entweder das Loft unsere Strafe sein oder eine Zelle in irgendeiner Justizvollzugsanstalt. Meine vielleicht in Billwerder, deine in Fuhlsbüttel, keine Ahnung.

Die einzige Alternative dazu wäre: Du wanderst allein ins Gefängnis, und ich finde eine schöne Altbauwohnung mit zwei Zimmern, Küche, Bad und kleinem Balkon. Das wäre nicht meine Wunschvorstellung gewesen – die besteht immer noch darin, mit dir in Freiheit zu leben, ganz egal, was du getan hast –, aber sie ist deutlich besser als die anderen Optionen.

Denn eines ist sicher: Das Blut in unserer Küche werden wir nicht wegdiskutieren können, die Fingerabdrücke auf dem Messer auch nicht. Dabei können uns weder deine Eltern noch dein Redetalent helfen, und die Polizei will uns beide für den Mord drankriegen, das ist klar.

Die Frage ist nur, was sie bekommt.

Wohnung von Sarah, Marc und Henning

Ein Tag zuvor

»Übel. Ganz übel.«

Bianca Rakow nickte und schaute sich in der Küche um, die bereits von den Kolleginnen und Kollegen der Spurensicherung in Beschlag genommen worden war. Überall war Blut. Nicht nur ein bisschen, wie es vielleicht aus einem Steak tropfen würde; viel, richtig viel. So viel, als hätte man in dem Raum ein Schwein geschlachtet.

Das Blut klebte auf der Arbeitsplatte und an den Wänden, an den Regalen und den Verkleidungen der modernen Einbauküche. Aber am meisten davon befand sich auf dem Boden, der nahezu vollständig verschmiert war; rotbraun und nach Kupfer riechend. Nur eine Stelle war verhältnismäßig sauber geblieben; sie entsprach in etwa der Größe eines menschlichen Körpers.

Obwohl es wie in einem Schlachthaus aussah, blieb Bianca ruhig und analytisch. Sie war Mitte vierzig, eine erfahrene Ermittlerin, und sie hatte in ihrem Berufsleben schon einiges gesehen. Blut konnte sie nicht mehr schockieren, auch in solchen Mengen nicht. Es setzte lediglich eine Kette von Handlungen in Gang, die in erster Linie auf die Ergreifung des Täters ausgerichtet waren; nicht auf Mitgefühl mit dem Opfer.

Alles andere wäre in ihrem Job auch nicht effektiv gewesen, der darin bestand, Kriminelle vor Gericht zu bringen und mit den erbrachten Beweisen der Staatsanwaltschaft eine Verurteilung zu ermöglichen. Erst wenn ihr das gelungen war, verspürte sie einen Anflug von Befriedigung, weil sie den Toten im Nachhinein noch einen Hauch von Gerechtigkeit verschaffen konnte.

»Bringen Sie mich doch bitte auf den neuesten Stand«, bat sie ihren älteren Kollegen Höger, der vor ihr am Tatort eingetroffen war.

»Okay, also … Devlet Özkan, die Putzfrau, kam einen Tag früher als gewöhnlich, weil Henning Järisch – einer der drei Bewohner hier – ihr gestern Abend auf den Anrufbeantworter gesprochen und sie darum gebeten hatte. Als sie heute Morgen klingelte, hat niemand aufgemacht. Frau Özkan hat sich nicht darüber gewundert, scheinbar kam das häufiger vor, und sie hat die Wohnung dann mit ihrem Zweitschlüssel geöffnet. Als Erstes hat sie das Bad geputzt, bevor sie ins Wohnzimmer ging, um dort Staub zu saugen und die Regale abzuwischen. Hier fiel ihr auf, dass die Musikanlage eingeschaltet war. Sie hat gedacht, dass die Bewohner vergessen hätten, sie auszuschalten, und hat das dann selbst erledigt. Erst danach hat sie die Küche betreten.«

»Und wo ist diese Frau Özkan jetzt?«

»Schon auf dem Revier, um ihre Aussage zu Protokoll zu bringen.«

Bianca nickte. »Was haben wir sonst noch?«

»Laut den Schätzungen der Spusi müssen es mindestens drei Liter Blut sein, eher vier. Wenn es von einem einzigen Menschen stammt, ist es unwahrscheinlich, dass er das überlebt hat.«

»Sie haben gesagt, der Mann, der sie angerufen hat, dieser …«

»Henning Järisch?«

»Ja, genau. Sie meinten, er sei einer von drei Bewohnern gewesen. Was wissen wir über die anderen beiden?«

Höger sah in dem zerfledderten Notizbuch nach, das er immer bei sich trug. »Sarah Hauptmann und Marc Lammert«, sagte er dann. »Hauptmann und Lammert sind ein Paar. Sie ist einunddreißig, er vierunddreißig, ebenso wie Järisch. Ich habe die Namen bereits im Polizeicomputer checken lassen.« Höger räusperte sich. »Järisch ist vor ein paar Jahren wegen eines Drogenvergehens zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Außerdem gibt es zwei Anzeigen wegen versuchter Vergewaltigung gegen ihn, die aber beide eingestellt wurden. Ach ja, und eine wegen Autodiebstahls, die allerdings noch aus seiner Jugend stammt. Hauptmann und Lammert dagegen sind unbeschriebene Blätter.«

»Wissen wir, wo die drei sich aufhalten?«

Er schüttelte den Kopf.

Bianca seufzte und wendete sich ab, um auch die restlichen Räume zu inspizieren. Sie fing mit dem riesigen Wohnzimmer an, das ebenso teuer wie modern eingerichtet war und mit seinen naturbelassenen Wänden aus Backstein entfernt an eine kleine Fabrikhalle erinnerte. Ein imposanter Flatscreen-Fernseher beherrschte die Längswand, darunter stand ein Soundsystem von Bose und dem gegenüber eine anthrazitfarbene Designercouch, die mit Alcantara bezogen war. Nirgends sah sie Anzeichen dafür, dass jemand die Wohnung durchsucht hatte.

»Haben wir Einbruchsspuren festgestellt?«

Höger, der wie ein Hund hinter ihr hergetrottet war, schüttelte den Kopf. »Entweder hat der Täter einen Schlüssel gehabt, oder einer der drei muss ihn hereingelassen haben.«

Sie ging weiter und öffnete die nächste Tür, hinter der sich ein Schlafzimmer verbarg. Ein großer Schrank mit Schiebetüren, daneben ein etwas schmalerer aus der gleichen Serie. Der große Schrank enthielt Kleidung für eine Frau, der kleinere für einen Mann. Hilfiger, Boss, ein bisschen Gucci, aber auch viel von H&M und Esprit. Die typische Garderobe von Menschen, die über ausreichend Geld verfügten, um sich Designermarken leisten zu können, aber nicht genug hatten, um diese jeden Tag zu tragen.

Die Kommode rechts des Queen-Size-Betts war bis auf ein paar Automagazine leer, in der anderen lagen Reizwäsche, ein Dildo und gepolsterte Handschellen. Nett, dachte sie. Scheinbar waren Hauptmann und Lammert ein experimentierfreudiges Paar.

»Entschuldigung?«

Sie schreckte hoch und drehte sich um. Ein Streifenpolizist, der gerade erst die Ausbildung beendet haben konnte, stand im Türrahmen. Seine Haare waren straff nach hinten gegelt, sein Blick wirkte unsicher. Mit der rechten Hand hielt er einen der durchsichtigen Beutel hoch, die der Sicherung von Beweisstücken dienten.

»Ja?«

»Also, ich …«, stammelte er, fing sich dann aber. »Ihr Kollege hat gesagt, ich soll in der Tiefgarage nachsehen, ob der von diesem Marc Lammert dort steht. Der Wagen ist weg, aber als ich schon mal da war, dachte ich, könnte ich mich auch mal genauer umsehen. Dabei habe ich einen Blick in die Sammelmülltonnen geworfen und das hier gefunden.« Er deutete auf den Beutel. »Ich glaube, da ist Blut dran.«

Bianca nahm den Beutel in die Hand. Darin befand sich ein Steakmesser, scharf und stabil, an dessen wellenförmiger Klinge sie rote Anhaftungen erkannte. Sowohl der hölzerne Griff als auch die Edelstahlklinge waren unbeschädigt. Augenscheinlich gab es keinen Grund, das Messer in den Müll zu werfen; es sei denn, man wollte es loswerden.

Sie lobte den jungen Kollegen, was ihn strahlen ließ, dann gab sie ihm den Beutel wieder und trug ihm auf, das Beweisstück an die Spurensicherung zu übergeben, die immer noch in der Küche beschäftigt war. Er nickte eifrig und verschwand, während sie die Durchsuchung der Wohnung fortsetzte.

Das zweite Schlafzimmer war erkennbar männlicher eingerichtet. Neben einem Kleiderschrank und einem Bett gab es hier auch einen hochwertigen Schreibtisch, unter dem sich ein Gaming-Computer verbarg und auf dem ein einundzwanzig Zoll großer Bildschirm stand. Das Bild einer nackten Frau zierte die Wand. Mehr eine Strichzeichnung, die vielleicht kunstvoll hätte wirken können, wenn die Brüste der Dame nicht so abnormal groß gewesen wären. In der Ecke: eine Yucca-Pflanze, die schon bessere Tage gesehen hatte.

»Was für Musik?«, fragte sie.

»Bitte?« Höger wirkte irritiert.

»Sie sagten, die Putzfrau hätte die Musikanlage ausgeschaltet. Was für Musik lief denn zuletzt?«

»Ach so … keine Ahnung. Glaubt die Kriminalhauptkommissarin denn, dass das wichtig wäre?«

Schon wieder eine dieser spöttischen Bemerkungen, dachte sie, von denen sie so langsam die Nase voll hatte. Sie schüttelte den Kopf, gleichzeitig war ihr aber zum Lachen zumute. Er hat es immer noch nicht verwunden, dachte sie. Er meinte offenbar immer noch, dass die Dezernatsleitung ihm zugestanden hätte, als sein Vorgesetzter vor ein paar Monaten in den Ruhestand gegangen war.

Es war halt anders gekommen, sein Problem. Höhere Stellen hatten entschieden, sie für den Job aus Bayern zu holen, und warum? Weil sie sich direkt beworben hatte, als sich die Möglichkeit auf eine solche Stelle in Hamburg bot. Sie hatte die besseren Beurteilungen und in München bereits Erfahrungen mit der Leitung einer Mordkommission gesammelt; eine Entscheidung auf höchster Ebene, die man aus sachlichen Erwägungen getroffen hatte und die dennoch an seinem Ego kratzte. Sie musste wohl damit leben, dass das Verhältnis zwischen ihnen dadurch angespannt war.

Nachdem sie die Inspektion der Wohnung mit Bad und Gästezimmer abgeschlossen hatte, kehrte sie zum vermeintlichen Tatort zurück. »Wie schaut’s aus, Kollegin? Können Sie schon etwas sagen?«

Bettina Kollmann, die leitende Beamtin der Spurensicherung, hob den Kopf und zog die Handschuhe aus. »Ohne dass ich mich jetzt schon festlegen will, würde ich sagen, dass in dieser Küche jemand mit einem Messer, einer Axt oder einer Machete attackiert worden ist. Mit irgendetwas halt, das einen großen Blutverlust verursacht. Wir haben jede Menge Fingerabdrücke und -Spuren gesichert, die aber natürlich noch ausgewertet werden müssen. Ansonsten gibt es bis jetzt noch nichts Auffälliges.«

Bianca ging neben der Kollegin in die Hocke. »Höger sprach von drei Litern Blut. Steht die Einschätzung noch?«

»Schwer zu sagen, aber eines ist gewiss: Wenn es tatsächlich von einem einzigen Menschen stammt, hat er keine Chance gehabt.«

»Sie sind also sicher, dass derjenige jetzt tot ist?«

Kollmann zuckte mit den Schultern. »Zumindest wäre es meiner Erfahrung nach das erste Mal, dass jemand ein solches Schlachthaus überlebt hat.«

Bianca nickte und erhob sich; spätestens jetzt musste sie die Küche auch offiziell als Tatort eines Mordes betrachten.

»Hat der uniformierte Kollege Ihnen schon das Messer übergeben?«, wollte sie dann wissen.

Kollmann nickte. »Es wird umgehend auf Spuren untersucht. Außerdem lasse ich einen -Abgleich machen, um zu prüfen, ob die Anhaftungen an dem Messer und das Blut in der Küche von ein und derselben Person stammen.«

Bianca bedankte sich, dann wendete sie sich Höger zu, der mittlerweile auch wieder in die Küche gekommen war. »Ich nehme an, die Fahndung nach den drei Bewohnern ist schon raus?«

»Oh, das habe ich ganz vergessen.« Er sah sie übertrieben überrascht an. »Natürlich ist die Fahndung schon raus! Ob Sie es glauben oder nicht, Frau Rakow: Wir haben hier auch schon Fälle gelöst, bevor Sie gekommen sind.«

Bianca zögerte kurz, dann sagte sie: »Kommen Sie doch bitte mal mit. Ich brauche Ihren Rat.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie in den Flur, wo sie vor den Ohren der anderen sicher waren. Er folgte ihr, und nachdem sie sich nochmals überzeugt hatte, dass niemand sie beobachtete, sah sie ihm in die Augen und sagte: »Ich glaube, wir müssen mal ein paar Dinge klarstellen, bevor das hier ausartet … Sie sind ein fähiger Polizist, Höger, das habe ich nie in Abrede gestellt. Jemand, der den Job als Leiter einer Mordkommission sicherlich auch verdient hätte, aber es ist halt anders gekommen. Sie und ich können jetzt nur entscheiden, wie wir damit umgehen wollen. Angesichts der Dinge, die in den nächsten Tagen auf uns zukommen, würde ich gerne kollegial mit Ihnen zusammenarbeiten, aber funktioniert halt nicht, wenn nur einer mitspielt. Sollten Sie sich also weiterhin wie ein bockiges Kind verhalten, dem man das Lieblingsspielzeug weggenommen hat, müsste ich leider eine Rolle einnehmen, die ich nicht einnehmen will: die der Vorgesetzten, die solche Bemerkungen wie gerade eben nicht duldet. Wenn Sie mir also zukünftig etwas mitzuteilen haben, tun Sie das bitte unter vier Augen, klar?«

»Ach … So läuft das jetzt?« Er starrte sie völlig perplex an. »Sie wollen die Vorgesetzte raushängen lassen? Einen auf Chefin machen?«

»Ich Ihre Chefin, und was ich will, habe ich Ihnen gerade erklärt. Von meiner Seite aus war’s das auch schon. Wir sehen uns in zwei Stunden im Präsidium zu einer ersten Lagebesprechung wieder. Informieren Sie die anderen?«

Er kniff die Lippen zusammen und nickte.

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um, verabschiedete sich von der Spurensicherung und verließ die Wohnung. Sie ging das Treppenhaus hinunter und auf die Straße hinaus, wo sie mit einem schlechten Gefühl im Bauch stehen blieb. Sie mochte solche Diskussionen nicht. Hasste es, Menschen zu maßregeln und die Chefin heraushängen zu lassen, aber manchmal ging es nicht anders. Entweder kapierte Höger es jetzt, oder ihre Zusammenarbeit würde nicht von langer Dauer sein.

Sie stand vor dem Wohnhaus und zündete sich eine Zigarette an, um die Konzentration zu schärfen und die Nerven zu beruhigen. Dabei zog sie so stark an der Kippe, als solle der Rauch ihre Lungen nie wieder verlassen; als wolle sie alles, was sie inhaliert hatte, für immer behalten.

Es half.

Kurz darauf hatte sie die Auseinandersetzung mit dem Kollegen schon wieder abgehakt und ihre Gedanken auf den Fall ausgerichtet. Ein Paar und dessen männlicher Mitbewohner, dachte sie. Eine interessante Konstellation. Ungewöhnlich, aber irgendwie auch reizvoll. Sagte man nicht, dass drei immer einer zu viel sind?

Nachdem sie aufgeraucht hatte, knibbelte sie so lange an der Zigarette herum, bis auch der letzte Rest Tabak mit der Glut herausgefallen war. Dann suchte sie nach einem Mülleimer, um den Filter zu entsorgen. Kam sich dabei fast wie eine Täterin vor, die bemüht war, am Schauplatz des Verbrechens keine Spuren zu hinterlassen.

Marc

Gegenwart

Untersuchungshaft.

Um eine Untersuchungshaft anzuordnen, muss ein dringender Tatverdacht bestehen oder Fluchtgefahr vorliegen. Alternativ kann man sie auch bei Wiederholungs- oder Verdunkelungsgefahr anwenden, um zu verhindern, dass sich zwei oder mehr Personen, die einer gemeinsamen Tat verdächtig sind, untereinander absprechen. So habe ich es im Studium gelernt. Bei Sarah und mir könnte der Haftrichter morgen zu der Einschätzung gelangen, dass mindestens zwei der drei Punkte zutreffen, was erklären würde, warum ich jetzt in einer nur wenige Quadratmeter großen Zelle in Polizeigewahrsam liege und an die Decke starre, während meine Gedanken durch den Raum wandern, an nackten Betonwänden abprallen und als nicht zusammensetzbare Bruchstücke zurückkommen.

Ich schließe die Augen, und sofort entstehen hinter den Lidern Bilder, die sich nicht vertreiben lassen. Meist sind es nur winzige Fetzen und einzelne Gedankenschnipsel, die mal klarer, mal verschwommener wirken. Die meisten drehen sich um das, was heute Morgen geschah. Um den Moment, als Sarah und ich nach Hause kamen und der Polizei direkt in die Arme liefen. Noch immer sehe ich diese Menschen vor mir, ihre erstaunten Blicke. Frauen und Männer in weißen Overalls, Zivilbeamte und Polizisten in Uniform. Zwei von ihnen haben uns aufs Präsidium gebracht und in getrennte Zellen gesteckt. Uns auseinandergerissen und weggesperrt.

Im ersten Moment waren da nur der Schock und das Unverständnis. Damit konnte ich noch umgehen, aber dann kam die Sehnsucht dazu, und sie hat mir den Rest gegeben. Seitdem habe ich immer wieder gegen Wände geschlagen und Sarahs Namen gerufen. Als ob die Schreie sie zu mir bringen könnten. Als ob wir eine Chance hätten, zusammenzukommen, wenn ich nur laut genug schreien würde.

Wahrscheinlich habe ich Sarah noch nie so geliebt wie in diesem Augenblick, und ganz sicher habe ich sie noch nie so schmerzhaft vermisst. Kein Scheiß, Mann – es tut weh, ganz tief im Fleisch, wie ein Tumor mit rasiermesserscharfen Zähnen, der dich bei lebendigem Leibe auffrisst. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist und wie es ihr geht. Ich weiß nur, dass mein ganzes Denken auf ihre Person ausgerichtet ist, wie in den letzten Jahren schon, aber da habe ich ihre Anwesenheit zu oft als etwas Selbstverständliches wahrgenommen. Ihr wunderschönes Gesicht beispielsweise, wenn sie neben mir im Schlaf lag, oder die Art, wie sie mit beiden Händen meinen Arm umschlungen hat, wenn wir spazieren gegangen sind. So viele wunderbare Dinge fallen mir ein, die nur mit Sarah und mit keiner anderen Frau möglich waren.

Irgendwann kann ich nicht mehr auf der Pritsche liegen, der Rücken tut weh, also richte ich mich auf und starre zu Boden. Einer der früheren Insassen hat ein Herz in die Fliesen geritzt; keine Ahnung, wie er das geschafft hat. Ein kurzer Name steht darin, unleserlich. Vielleicht hat er jemanden genauso vermisst, wie ich Sarah vermisse. Vielleicht wollte er auch nur, dass man sein Herz mit Füßen tritt.

Mit der Liebe ist es schon komisch, denke ich. Man kann sich nichts davon kaufen, und sie kann auch keine Krankheiten heilen, und dennoch wurden wegen ihr schon Könige gestürzt und Kriege angefangen.

Wenn es um die Liebe geht, können insbesondere Männer zu erbärmlichen Kreaturen werden. Immer sind sie es, die die Liebe durchdrehen lässt und die sie dazu bringt, irgendwelche abgefuckten Sachen zu machen, die bei klarem Verstand gar keinen Sinn ergäben.

Kriege anfangen.

Könige stürzen.

Rivalen töten.

Früher konnte ich über solche Dinge nur lachen, aber das ist vorbei, seit ich Sarah kenne. Seitdem weiß ich, dass solche Handlungen nicht nur Filmstoff für Hollywood sind, sondern ernsthaft in Betracht zu ziehende Optionen, wenn es hart auf hart kommt.

Von Anfang an waren Sarah und ich nicht wie die meisten anderen Paare, deren Liebe häufig nur von einer dünnen Eisdecke getragen wird, die schon beim kleinsten Temperaturanstieg zu schmelzen beginnt. Ich kenne solche Paare zur Genüge, und ich verachte sie. Wie kann man nur in einer Beziehung leben, in der man ständig aufeinander rumhackt und in geselliger Runde subtile Beleidigungen als neckische Scherze ausgibt; nur um zu sehen, ob man damit irgendwelche Außenstehenden auf seine Seite ziehen kann?

Sarah und ich haben solche Spielchen nie gespielt. Bis heute habe ich kein schlechtes Wort über sie verloren, und ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass es umgekehrt genauso ist. Ich vertraue ihr trotz der Fehler und Schwächen, die sie wie jeder andere Mensch auch hat. Nur dass kaum jemand diese Fehler kennt, weil sie sie so gut zu verbergen weiß.

Für Sarah ist der Schein alles, mir hingegen ist er immer egal gewesen. Ich war kein liebes Kind, und ich bin auch kein lieber Erwachsener. Anders als sie wollte ich nie sein, es wäre mir viel zu mühsam, und deshalb muss ich auch nicht so tun, als ob jedermann mein Freund oder meine Freundin wäre. Als würde ich das Gegenüber stets wundervoll, toll und außergewöhnlich finden – nur damit diese Person anschließend das Gleiche auch über mich sagt.

Die Wahrheit ist: Die Wege der meisten Menschen führen mir geradewegs am Hintern vorbei. Es ist egal, was sie sagen, denken, tun. Sie haben ihr Leben, ich habe meines, und wenn sie mich für cholerisch, arrogant oder oberflächlich halten, dann ist das halt so. Auch wenn sie meinen, dass ich trotz meiner vierunddreißig Jahre in manchen Situationen noch immer wie ein Teenager agiere, der sich weigert, Verantwortung zu übernehmen.

»Willst du Sarah nicht mal heiraten?«, fragen sie oder wollen Dinge wissen, die sie gar nichts angehen, Sachen wie: »Wollt ihr keine Kinder haben?« »Wie sieht es denn mit einer richtigen Arbeit aus?« »Mensch, Marc – willst du nicht endlich mal erwachsen werden?«

Erwachsen? Ich? Mann, das bin ich längst! Und ich trage Verantwortung, Verantwortung für ein florierendes Unternehmen. Nur dass ich damit nicht so hausieren gehe wie ihr mit euren beschissenen Beamtenjobs, also fickt euch, fickt euch alle!

Ich weiß, was ich leiste, und Sarah weiß es auch. Nur darauf kommt es an. Lebt ihr eure Vorstellung von einem bürgerlichen Leben, wir leben unsere. Zumindest taten wir es, bis …

… wir in einer Zelle gelandet sind.

… wir des Mordes an meinem besten Freund verdächtigt wurden.

… die Frage auftauchte, die mich seitdem mehr als alles andere quält: Wie konntest du nur, Sarah?