Carsten Jochum-Bortfeld

PAULUS

IN EPHESUS

Eine Expedition in die Entstehungszeit des Neuen Testaments

Für Ute Bortfeld

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Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © Reimer – Shutterstock.com

Bilder im Innenteil: © Carsten Jochum-Bortfeld

Karten: © Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-641-26345-4
V003

www.gtvh.de

INHALT

1. Die paulinischen Briefe lesen – im Alltag des römischen Reiches

2. Den Messias Jesus verkünden – in Ephesus

3. Jüdische Geschwister treffen – die Synagoge

4. Gott oder der Kaiser – die Staatsagora

5. Im Schatten des Reichtums – Wohnen in Ephesus

6. Überregionale Vernetzungen – der Hafen

7. Ephesus unter dem Schutz einer Gottheit – Artemis

8. Straßen von Ruhm und Ehre

9. Wo es nichts umsonst gibt – die Tetragonos-Agora

10. Gedenken der Toten – zur Ehre der Lebenden: Gräber in Ephesus

11. Wettkampf um Unvergängliches – Der Lauf der Messiasleute

12. Den Völkern die gute Botschaft bringen

13. Literatur

14. Bibelstellenverzeichnis

Ein Dank zum Schluss

1. DIE PAULINISCHEN BRIEFE LESEN – IM ALLTAG DES RÖMISCHEN REICHES

Die paulinischen Briefe sind Texte, von Menschen geschrieben, die in den antiken Metropolen des östlichen Mittelmeeres wohnten, in Antiochien, in Korinth oder in Ephesus. Sie wohnten nicht in den Luxuswohnungen wie den Hanghäusern in Ephesus. Die Mietskasernen der Großstädte waren ihr Zuhause. Die in diesem Buch vorgestellten Interpretationsversuche der paulinischen Briefe wagen ein Experiment: Wie lassen sich diese Texte lesen und verstehen, wenn man sie in eine antike Großstadt wie Ephesus hineinstellt? Was passiert, wenn man – vielleicht auch nur virtuell – die paulinischen Briefe in den Ruinen von Ephesus liest? Wie wirkt die antike Stadt mit ihren besonders gestalteten Räumen auf die Texte ein?

Um diesen Fragen nachgehen zu können, erlaubt sich dieses Buch ein fiktives Element. Es setzt mit der Ankunft von Paulus, Titus und Timotheus in Ephesus im Jahr 54 n. Chr. ein, dem Beginn eines längeren Aufenthaltes in Ephesus. In dieser Zeit entstehen der 1. Brief an die Messiasleute in Korinth, der Brief an Philemon und wahrscheinlich auch der an die Gruppe in Philippi. Nach dem längeren Aufenthalt machen sich Paulus und andere wieder nach Korinth auf. Auf dem Weg dorthin wird der 2. Brief nach Korinth geschrieben. Auch der Brief nach Galatien ist entweder in Ephesus oder auf dem Weg nach Korinth geschrieben. In Korinth kommt es dann zur Abfassung des so wirkmächtigen Briefes an die Messiasleute in Rom. Alle diese Schriften werden mehr oder weniger von der Zeit in der Hauptstadt der Provinz Asia geprägt. Ich gehe davon aus, dass die Eindrücke der Stadt, das soziale Miteinander der Menschen dort, die Architektur und Gestaltung der Stadt Spuren in den Briefen hinterlassen haben. Die paulinischen Briefe in den Ruinen von Ephesus lesen – das versucht dieses Buch auf der literarischen Ebene zu inszenieren. Die Gruppe von Messiasleuten, zu der Paulus gehört, erreicht Ephesus, sucht dort Kontakte, bewegt sich in den Straßen und auf den Plätzen dieser Stadt. Wie entsteht dort das, was heute die Theologie der paulinischen Briefe genannt wird?

Lange Zeit konzentrierte sich die Auslegung der Paulusbriefe auf die zentralen Glaubensaussagen in den Texten. Sie wurden isoliert für sich betrachtet. Die konkreten Lebensbedingungen der Menschen in den antiken Städten, die diese Briefe geschrieben und gelesen haben, waren nicht im Fokus der Auslegung. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des römischen Reichs sah man für die Interpretation der Bibeltexte als völlige Nebensächlichkeit an. Allein die Theologie der Paulusbriefe interessierte.

Mit diesem Buch versuche ich, eine Perspektive einzunehmen, die mit Bert Brechts »Fragen eines lesenden Arbeiters« vergleichbar ist:

»Wer baute das siebentorige Theben?

In den Büchern stehen die Namen von Königen.

Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?

Und das mehrmals zerstörte Babylon –

Wer baute es so viele Male auf?

Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer 

Siegte außer ihm? 

Jede Seite ein Sieg. 

Wer kochte den Siegesschmaus? 

Alle zehn Jahre ein großer Mann. 

Wer bezahlte die Spesen? 

So viele Berichte,

So viele Fragen.«

Diese Fragen lenken den Blick auf die Frauen und Männer, die mit ihren Händen und ihren Körpern den Aufbau und die Entwicklung von menschlichen Gesellschaften überhaupt erst möglich gemacht haben. Sie sind nicht das Werk einzelner mächtiger Männer.

In den paulinischen Briefen stehen nicht die Spitzen der Gesellschaft im Vordergrund. Hier kommt kein römischer Kaiser oder Feldherr zu Wort. Wir lesen davon, wie die Menschen aus den unteren sozialen Schichten ihren Alltag im römischen Reich bestreiten. Die Bibeltexte spiegeln das Erleben des Alltags und die andauernden Erfahrungen von Ungerechtigkeit und Gewalt wider. Es geht um das soziale Miteinander und den Kampf ums Leben und Überleben in prekären Situationen. Es ist damit eine Perspektive von unten. Gleichzeitig geht es um die Frage, ob sich Paulus mit der jeweiligen politischen und sozialen Situation arrangiert und abfindet, oder ob sich in den Briefen Formen von Widerstand und Versuche von Befreiung aus Unterdrückung und Ungerechtigkeit finden lassen.

Zwei weitere Fragerichtungen sind für die Textauslegungen in diesem Buch wichtig:

1. Menschliche Gesellschaften, das gesamte Zusammenleben von Menschen werden von Regelwerken bestimmt, deren Zustandekommen und normative Gültigkeit nicht immer wieder aufs Neue diskutiert und in Frage gestellt werden. Diese Regelwerke werden anerkannt und durch jede neue Anwendung immer wieder bestärkt. Ein Beispiel ist die naturgemäße Unterordnung der Frau unter den Mann. Diese Vorstellung wurde beinahe über Jahrtausende als wissenschaftlich fundierte Aussage angesehen. Antike Philosophen wie Plato und Aristoteles schrieben dazu Texte. Antike jüdische Autoren wie Jesus Sirach, Philo von Alexandrien und Flavius Josephus vertraten in ihren Werken ähnliche Positionen. Die Frau ist von Natur aus schwächer als der Mann. Deswegen muss sie sich ihm unterordnen. Damit war klar, wie das Verhältnis von Männern und Frauen in der Gesellschaft geregelt war. Die so vorgegebenen Geschlechterrollen wurden Jahrhunderte, eigentlich Jahrtausende lang mehr oder weniger bereitwillig ausgefüllt. Ein weiteres Beispiel sind die Bewertung von Armen als faule Menschen und die Qualifizierung von Armut als charakterlicher Mangel. Wie Paulus sich zu solchen Regelwerken der antiken Gesellschaft verhält, auch davon handelt dieses Buch.

2. Häuser, Straßen, Plätze und öffentliche Bauten sind keine natürlichen Gegebenheiten in einer Stadt, sondern Ergebnisse menschlicher Entscheidungen, das Produkt gesellschaftlicher Prozesse. Der Grundriss einer antiken Stadt wie Ephesus ist das Ergebnis solcher Prozesse. In der genauen Aufteilung der Stadt (Welche gesellschaftliche Gruppe wohnt wo? Welche hat wieviel Platz zur Verfügung? Wie ist der Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Wasser geregelt? usw.) werden die gesellschaftlichen Unterschiede und Machtverhältnisse greifbar. Sie sind in Stein gefasst. Ein Angehöriger der Oberschicht verfügt über mehr Platz als eine Handwerkerfamilie, er kann einfacher und in größerem Umfang auf Wasser zurückgreifen. Er hat eventuell die bessere Aussicht und atmet die bessere Luft ein, da keine Gerbereien oder Wäschereien in der Nähe seines Hauses sind. Diese Betriebe arbeiten mit Tierabfällen und menschlichem Urin. Diese Stein gewordenen Unterschiede mache ich für die Auslegung der Paulus-Briefe fruchtbar.

Die jeweiligen Orte in einer Stadt erfüllen eine bestimmte Funktion in der Gesellschaft: Für den Handel werden Marktplätze gebaut, Speicher für Waren, Straßen für den Transport über Land, Häfen für den Seeweg. Das Rechtswesen erhält Räume zur Rechtsprechung, die Verehrung der Götter benötigt Tempel, der Rat muss genügend Raum für die Klärung der politischen Angelegenheiten haben. Gleichzeitig spiegeln öffentliche Räume die besondere Gestalt politischer Herrschaft wider: In diesem Buch werde ich zeigen, wie die äußere Gestaltung von Ephesus von der besonderen Form der römischen Herrschaft geprägt worden ist.

… geschrieben von Paulus, Phoebe, Sosthenes und all den anderen

Für dieses Buch ist ein weiterer Punkt zentral. Ich betrachte Paulus konsequent innerhalb eines verzweigten Beziehungsnetzes. Paulus ist unter mehreren anderen ein Botschafter des Messias Jesus. Schaut man sich die unterschiedlichen Bücher zu den paulinischen Briefen an, so kommt man beinahe unfreiwillig zu der Annahme: Innerhalb der Theologie gilt immer noch, dass allein große Männer Geschichte machen. Allein Persönlichkeiten wie Jesus, Paulus und Luther bringen die geschichtliche Entwicklung des Christentums voran und sind in der Lage, etwas Neues zu schaffen, was die Menschheit besser macht. Bücher über Paulus konzentrieren sich auf das Individuum Paulus. Dieser durchläuft eine Entwicklung und prägt damit die Geschichte des Christentums nachhaltig. Andere Menschen kommen hier zunächst nur unter den Überschriften ›Schüler‹ oder ›Gegner‹ in den Blick. Paulus wird hier als Gründer einer Schule mit dazugehörigem Sympathisantenkreis gesehen. Erst im Verlauf der jeweiligen Darstellung wird deutlich: Paulus agiert nicht allein, er wirkt mit anderen zusammen. Diese Personen werden als ›Mitarbeiter‹ betitelt. Dass von diesen Personen wichtige Impulse für die gemeinsame Arbeit ausgegangen sind, wird allerdings selten in Erwägung gezogen. Es ist zwar ein Fortschritt gewesen, dass die vielen unterschiedlichen Menschen im Umfeld von Paulus wahrgenommen wurden. Im Endeffekt blieben sie ›Mitarbeiter‹ – und Paulus war der Chef, der seinem Schreiber die Briefe diktiert. Das theologisch wirklich Wichtige kam natürlich vom Chef.

Es lohnt sich, an dieser Stelle die neutestamentlichen Texte genauer anzuschauen. Wie wird über diese ›Mitarbeiter‹ gesprochen? Wenige Jahre nach dem Aufenthalt in Ephesus wird die Gruppe um Paulus einen Brief an die Gemeinschaft in Rom schreiben. Dieses Schreiben wird, so Röm 16,1, von einer Frau überbracht – von Phoebe. Sie ist jedoch nicht einfach nur Botin. Sie ist die, die den Brief in der Versammlung der Messiasleute vorstellt. Sie ist da, wenn die Menschen in der römischen Gemeinschaft Fragen zum Brief haben. Sie steht für eine Diskussion zur Verfügung – in der Tradition jüdischer Schriftgelehrsamkeit stehend. Phoebe wird hier als Theologin vorgestellt, als gleichwertige Botin Christi neben Paulus. In Röm 16,1-3 wird Phoebe folgendermaßen charakterisiert:

»Schwester« ist ein Wort aus der Verwandtschaftssprache, der die enge Beziehung zwischen Menschen charakterisiert. Es drückt die tiefe Solidarität zwischen ihnen aus. In alttestamentlichen Schriften wird das Volk Israel als Verwandtschaftsgruppe verstanden. Alle Angehörigen des Volkes stammen von den 12 Söhnen Jakobs und seinen Frauen ab. Zwischen Verwandten herrscht die Bereitschaft, sich gegenseitig zu stützen und in Notlagen zu helfen. Auch die Messiasleute sahen sich als Verwandte. Auch ihr Miteinander war von Solidarität und von Gleichberechtigung geprägt. Geschwister herrschen nicht übereinander. Wenn Paulus Phoebe ›Schwester‹ nennt, dann zeigt sich darin eine Beziehung, in der es nicht um Unterordnung und Befehlsgewalt geht.

Phoebe wird als »Diakonin« und als »Vorstand« (griech.: prostátis bezeichnet. Die Bezeichnung »Diakonin« (also Dienerin) macht deutlich: Phoebe steht im Dienst Gottes. In 1 Kor 3,5ff wird erläutert, was die Aufgabe von Dienerinnen und Dienern bei den Messiasleuten ist. Sie sind Mitarbeitende im Garten Gottes. Dieser Garten ist ein Bild für die Gemeinschaft dieser Menschen. Der Auftrag für diese Aufgabe kommt von Gott. Die Adressaten des Dienstes sind die Menschen in den Gemeinschaften. Im Fall der Phoebe ist es die Versammlung der Messiasleute in Kenchrea, einem Hafen von Korinth. Es geht insgesamt um einen Dienst für die Geschwister und nicht darum, ihnen zu befehlen und sie rumzukommandieren. In griechisch-römischer Zeit handelt es sich beim ›Dienst‹ um eine in den Augen der Gesellschaft (besser: ihrer Meinungsführer) unehrenhafte Versorgungstätigkeit von Frauen und Versklavten.

Das griechische Wort prostátis dient in der Antike der genaueren Bezeichnung eines Patrons und bedeutet Vorstand oder Anführer. Eine Aufgabe eines Patrons war der rechtliche Beistand für seine Klienten vor Gericht. Im weiteren Sinne ist damit aber auch Unterstützung und Hilfe in allen Lebensbereichen gemeint. Die Tätigkeit eines Patrons war innerhalb der antiken Gesellschaft eine öffentliche Handlung. Aus Röm 16,1-3 wird deutlich, dass Paulus selbst Hilfe von Phoebe erfahren hat. Phoebe hat damit Handlungsfelder in Anspruch genommen, die in der griechisch-römischen Antike in der Regel nur Männern zustanden. In der Sichtweise der von Männern verfassten Texte war der öffentliche Raum einer Gesellschaft allein Männern als Betätigungsfeld vorbehalten. Frauen blieb nur das Innere des Hauses. In römischer Zeit waren Gerichtsprozesse ein öffentlicher Ort ehrenhaften Handelns. Männer konnten hier ihre Ehre erlangen und verteidigen. Frauen durften hier nicht agieren. Die Rechte und Privilegien von Männern im Rechtswesen blieben ihnen verwehrt. Phoebe hat sich diesen Regeln nicht gebeugt. Sie nahm für sich in Anspruch, Rollen und Handlungen auszufüllen, die sonst nur Männern zustanden.

Frauen haben, und dafür ist Phoebe nur ein Beispiel, in den frühen Gemeinden eine zentrale, leitende Rolle inne. Paulus wendet sich in seiner Anerkennung Phoebes und der Inanspruchnahme ihrer Hilfe gegen die gängige Vorstellung, wie ein Mann zu handeln hat. Er knüpft eine Beziehung zu Phoebe. Beide setzen sich für die Sache Jesu ein, beide stützen sich in diesem schweren und gefährlichen Dienst. Für römische Männer war es undenkbar, Frauen eine solche Stellung und Autorität überhaupt zuzugestehen. Der römische Politiker Cato der Ältere hält in der Senatsdebatte um die sog. Lex Oppia (einem Gesetz, das Kleidung und Schmuck von Frauen reglementierte) Männern, die den Widerstand von Frauen gegen dieses Gesetz unterstützten, Folgendes vor: Sie seien nicht mehr Herr im eigenen Haus (Livius Römische Geschichte 34,2,2). Eine solche Nichtwahrnehmung von Herrschaft galt als unmännlich. Paulus wäre in den Augen Catos kein richtiger Mann gewesen.

Die ganze Grußliste im 16. Kapitel des Römerbriefes gibt einen lebendigen Eindruck, wie groß das Beziehungsnetz gewesen ist, zu dem Paulus gehörte. Zahlreiche Namen von Frauen und Männern stehen gleichberechtigt nebeneinander. Christliche Theologie hat zu lange diese Namen beiseitegeschoben. Natürlich werden wir mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft nie mehr über diese Menschen herausbekommen. Aber es ist ungemein wichtig wahrzunehmen, dass Paulus ein Bote Jesu Christi unter vielen anderen Menschen war, die auch vom Messias Jesus erzählten. Im Hinblick auf die vielen Frauen ist diese Nichtbeachtung ein gravierendes Problem. In vielen Kirchen dieser Welt werden Frauen immer noch diskriminiert, indem sie z.B. bei der Wahrnehmung kirchlicher Aufgaben nicht Männern gleichgestellt werden. Bei der theologischen Rechtfertigung meint man die Bibel auf seiner Seite zu haben. Der erste Blick in einen paulinischen Brief zeigt, dass diese Begründungen auf sehr unsicheren Füßen stehen. Frauen nahmen im ersten Jahrhundert in den Gruppen der Messiasleute wichtige Aufgaben wahr, und zwar – wie das Beispiel der Phoebe zeigt – zusammen mit Männern.

Eine weitere beinahe völlig vergessene Person aus diesem Beziehungsnetz ist Sosthenes. Er wird in 1 Kor 1,1 neben Paulus als Mitverfasser des Briefes genannt. In der exegetischen Forschung wird dies in der Regel nicht wirklich ernst genommen. Der 1 Kor bleibt ein Brief des Paulus, des Mannes, der Geschichte macht. In 1 Kor 16,16 z.B. werden die Menschen an der Seite des Paulus mit dem griechischen Wort synergós bezeichnet. Die Vorsilbe syn- betont, dass hier Menschen zusammen agieren, dass ihr Werk aus dem Zusammensein und Zusammenwirken erwächst. Die synergoí, die Mitarbeitenden, sind auf keinen Fall die Mitarbeiter des Paulus. Der Gebrauch des besitzanzeigenden Genitivs in der theologischen Literatur ist hier problematisch: Das eigentlich auf Egalität ausgerichtete Verhältnis bekommt eine hierarchische Schlagseite.

Für dieses Buch ist das Netzwerk von Menschen, in denen sich auch Paulus bewegt, von entscheidender Bedeutung. Phoebe, Prisca, Aquila, Paulus, Sosthenes und andere – sie können nur zusammen agieren und ihre Botschaft vom Messias Jesus weitergeben. Nun werden wir einen Teil dieses Netzwerkes genauer in den Blick nehmen: Paulus, Titus und Timotheus vor den Toren von Ephesus.

2. DEN MESSIAS JESUS VERKÜNDEN – IN EPHESUS

Wir schreiben das Jahr 54 n. Chr., das letzte Regierungsjahr des Kaisers Claudius.

Drei Männer nähern sich, von Osten kommend, der Stadt Ephesus. Zu Fuß kommen sie aus Richtung Magnesia, einer Stadt am Fluss Mäander. Es sind Paulus, Titus und Timotheus. Sie gehören zu einer jüdischen Gruppierung, die ihre Wurzeln in Israel hat. Für sie ist der Bauhandwerker Jesus aus Nazareth der Messias. Jesus war mit einer Gruppe von Männern, Frauen und Kindern erst durch Galiläa gezogen. Sie hatten das Reich Gottes, Gottes neue Welt angekündigt. Dann machten sie sich nach Jerusalem auf. Dort wurde Jesus verhaftet und auf Anordnung des römischen Statthalters Pontius Pilatus hingerichtet, auf Golgatha vor den Mauern Jerusalems. Wenige Tage nach der Kreuzigung Jesu erzählten Frauen und Männer aus der Bewegung davon, Jesus sei vom Tod auferstanden. Dies war ein Neubeginn für die Bewegung nach der Katastrophe auf Golgatha, ein zaghafter Neubeginn zwar, aber immerhin. Stetig breitete sich die Bewegung aus. Die Grenzen Judäas und Galiläas wurden überschritten. Menschen, die Jesus selbst nie gekannt und erlebt hatten, schlossen sich den einzelnen Gruppierungen an.

Paulus, Titus und Timotheus reisen aber nicht ins Blaue hinein. In Ephesus wollen sie Prisca und Aquila besuchen, die dort als Zeltmacher arbeiteten und die sich ihrer Gruppe einst schon in Korinth angeschlossen hatten.

Nur noch ein paar Schritte und da, jetzt wird sie schon sichtbar: Schon sehen die drei die ersten Umrisse von Ephesus: die Stadtmauer mit ihren Türmen und aufwendigen Toranlagen. Nicht mehr lange und die Männer kommen in Kontakt mit der Stadt – mit ihren Tempeln, Brunnen und Bädern.

Zu Ephesus gehört aber auch die dort praktizierte Verehrung der Artemis. Denn wer ephesinischer Bürger ist, nimmt natürlich an den Kulten um das Artemesion teil.

Wenn sie erst einmal dort sind, wollen die drei einen Brief an ihre Gemeinschaft in Philippi schreiben. Darin soll ihre Einstellung zum römischen Reich eine Rolle spielen und darin wollen sie erklären, dass Jesu Tod und Auferstehung eine Umkehrung der gesellschaftlichen Werte von Macht und Aufstieg sind. Sie wollen aufzeigen, dass die Gemeinschaft in Christus vom Himmel her bestimmt wird und sich damit im radikalen Gegensatz zum Gemeinwesen der Stadt Ephesus befindet. Was für revolutionäre Worte!

So stehen die drei jetzt vor den Mauern der Polis, bereit, ihren Anti-Weg fortzusetzen und vom Bürgerrecht des Himmels zu reden.

Die »Messiasleute«

Der Messias ist eine Figur in der jüdischen Tradition, die sehr eng mit der Hoffnung auf Gottes neue Welt verbunden ist. Der Messias steht für Recht und Gerechtigkeit (Jes 9; 11), er bringt im Auftrag Gottes Frieden für die ganze Welt. Aus dem griechischen Wort christós der Übersetzung des hebräischen Maschiach, wurde der Name der späteren Weltreligion abgeleitet. Die Vorstellung vom Messias hat seine Wurzeln im Königtum Davids. Der Prophet Natan kündigt der Familie Davids an, dass das Königtum der Familie Davids immer Bestand haben wird (2 Sam 7,16). Nach der Zerstörung des judäischen Königreichs (587 v. Chr.) wird diese Verheißung auf einen kommenden Heilsherrscher übertragen.

In diesem Buch gehe ich davon aus, dass diese Gruppe Männer, von denen oben die Rede ist, sich noch nicht als Teil einer neuen Religion verstanden hat. Zu ihrer Kennzeichnung verwende ich den von Luise Schottroff geprägten Begriff »Messiasleute«. Er macht deutlich, dass für diese Menschen Jesus der Messias ist – ohne sie aber schon vom Judentum abzutrennen. Die hoffnungsvolle Erwartung des Messias ist schließlich etwas durch und durch Jüdisches. Losgelöst vom Judentum, hat die Aussage, dass Jesus der Messias ist, keine Bedeutung. Mit ihrem Bekenntnis zu Jesus als dem Messias bewegt sich diese Gruppe inmitten jüdischen Lebens. Es ist deswegen unangemessen, für die Zeit der neutestamentlichen Texte vom frühen Christentum zu sprechen, denn diese Bezeichnung suggeriert, dass es sich um eine eigenständige und neue Religion handelt.

Über die Herkunft und das bisherige Leben der drei Männer auf der Straße zwischen Magnesia und Ephesus lässt sich einiges, aber leider zu wenig sagen. Die paulinischen Briefe geben einige biografische Stationen des Paulus wieder. Die Apostelgeschichte des Lukas erzählt den Werdegang des Verkünders der Auferstehung Jesu deutlich detailreicher; ebenso kann man etwas über die Herkunft des Timotheus erfahren (Apg 16,1). Diskutiert wird aber, ob die Apostelgeschichte als historisch zuverlässige Quelle für die Biografien einzelner Personen überhaupt taugt. Auffällig ist, dass in der Apostelgeschichte Paulus nicht als Apostel bezeichnet wird. In den Briefen hingegen wird dies immer wieder – vor allem in konfliktreichen Situationen – betont. Auch wenn die Apostelgeschichte (und das Lukasevangelium) mit der Prämisse antreten, alles möglichst genau darzustellen, muss man also vorsichtig sein; denn das sogenannte lukanische Doppelwerk will wichtige theologische Grundgedanken erzählerisch entfalten, eine genaue Wiedergabe der historischen Fakten ist hier nicht zu erwarten. Auf diese Problematik werden wir immer wieder stoßen.

Völlig eindeutig ist aber zu sagen: Paulus war jüdisch. Er versteht sich als Angehöriger des Stammes Benjamin, dem jüngsten der 12 Söhne Jakobs, er wurde gemäß der Tora (Gen 17,10-12) am achten Tage beschnitten. Die Apostelgeschichte (Apg 22,3) erzählt, dass Paulus aus der griechisch geprägten Stadt Tharsus (im Südosten der heutigen Türkei) stammt und das römische Bürgerrecht besaß. Paulus selbst kommt allerdings selbst in den Briefen an keiner Stelle auf sein Bürgerrecht zu sprechen. Für die Apostelgeschichte ist dieser Punkt dagegen zentral: Nur unter Berufung auf sein römisches Bürgerrecht konnte Paulus nach seiner Verhaftung in Jerusalem und der Überführung nach Caesarea Maritima eine Verhandlung vor dem kaiserlichen Gerichtshof erreichen (Apg 22,25-28; 25,10-11), denn nur römischen Bürgern stand diese Möglichkeit der Verlegung des Gerichtsorts nach Rom offen. Erst so also kommt es in der Apostelgeschichte zur Reise nach Rom. Sollte Paulus also wirklich römischer Bürger gewesen sein, so war es ihm überhaupt nicht wichtig.

Sicher ist darüber hinaus, dass Paulus sich in den Städten des römischen Reiches gut bewegen konnte. Er kannte durch seine Herkunft aus Tharsus deren kulturelle Prägungen, er wusste um die dortigen Schwierigkeiten des jüdischen Lebens. Was viele Menschen tagtäglich in diesen Städten erleben und erleiden mussten, war ihm vertraut. Er war einer, der wusste, wovon er sprach. Kein weltferner Prediger einer neuen Welt, sondern verbunden mit den Hoffnungen und Nöten vieler Menschen.

Paulus selbst gehörte der pharisäischen Bewegung an (Phil 3,5). Diese Bewegung war entstanden, als sich nach dem Tod Alexanders des Großen in Syrien und Ägypten von griechischer Kultur geprägte Großreiche bildeten. Für viele Juden war eine Angleichung der eigenen Lebensgewohnheiten – oft auch aus wirtschaftlichen Gründen – attraktiv. Wie aber sollten die hergebrachte, von der Tora geprägte Kultur und die »modernen« Lebensweisen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden? Viele wichtige Gebote, die das soziale Miteinander regelten, wurden an den Rand gedrängt. Die Tora schien in Gefahr zu sein. Und gerade die bäuerlichen Schichten in Israel sahen dies mit Argwohn.

Nach gewaltsamen Konflikten mit den griechischen Reichen erlangte Israel ab 164 v. Chr. politische Selbstständigkeit. Aber auch die neuen jüdischen Herrscher (die Hasmonäer) schienen die Tora zu vergessen. Die Pharisäer (wörtlich: die Abgesonderten) setzten sich nun mit großem Eifer dafür ein, dass die Tora in ganz Israel das Leben prägen und gestalten sollte. Die Tora sollte nicht nur für die Priester bestimmend sein. Alle sollten mit den Geboten der Tora ihr Leben auf Gott ausrichten, indem sie sich z.B. an die vielfältigen Reinheitsgebote der Tora im Alltag hielten. Paulus gehörte dieser Gruppe an. Er selbst sah sich als perfekten Pharisäer (Phil 3,6).

Als solcher verfolgte Paulus die Messiasleute zunächst. In der Apostelgeschichte ist davon die Rede, dass er Zeuge der Steinigung des Stephanus war und auf Geheiß des Hohepriesters gegen Messiasleute in Damaskus vorgehen wollte (Apg 7,60; 9,1-2). Mit Blick auf Paulus’ Einstellungen gegenüber den Jesus-Anhängern hat es einen klaren Bruch in Paulus’ Biografie gegeben. Aus dem Verfolger wird ein Bote der Auferstehung des Messias Jesu (Gal 1,1). Er selbst schreibt, dass er dazu von Gott berufen worden sei. Es ist kein Bruch aus eigenem Antrieb. Allerdings hat es keinen Bruch mit Blick auf seine jüdische Lebensweise gegeben. Paulus bleibt auch als von Gott berufener Bote der Auferstehung Jude. Er wird nicht zum ersten Christen. Als jüdischer Bote der Auferstehung Jesu will er die frohe Botschaft vom Messias Jesus bis an die Enden der Welt weitertragen. Deswegen ist er jetzt hier, auf der Straße von Magnesia nach Ephesus, kurz vor den Mauern der Hauptstadt der Provinz Asia.

Titus wird nur einige Male in den Briefen des Paulus erwähnt. Klar ist aber, dass er kein Jude ist. In Gal 2,3 erzählt Paulus später, wie er zusammen mit Titus zu einer Versammlung der Messiasleuten in Jerusalem gereist ist. Dort wurde die Frage diskutiert, ob und inwieweit nichtjüdische Menschen, die sich den Messiasleuten angeschlossen haben, die jüdische Lebensweise übernehmen müssen. Titus gehörte genau zu dieser Gruppe. Er war in einem nichtjüdischen Umfeld großgeworden. Sein Name ist lateinisch. Er steht für diejenigen, die zu den Messiasleuten zählten, ohne die Tora im vollem Umfang für das eigene Leben zu übernehmen: Titus war nicht beschnitten. Das Gebot der Beschneidung, dessen Erfüllung am Ende eines Konversionsprozesses zum Judentum stand, hatte er nicht vollzogen. Später wird Titus zu einem der wichtigen Protagonisten der Kollektensammlung für Jerusalem. Aus dem 2. Brief nach Korinth wird auch noch deutlich: Titus überbringt die Briefe an die Gruppe in Korinth, Briefe, mit denen die nicht unerheblichen Konflikte zwischen denen in Korinth und der Gruppe um Paulus bearbeitet wurden.

Timotheus kam nach Apg 16,1 aus Derbe/Lystra. Er stammte aus einer multikulturellen Ehe: der Vater Grieche, die Mutter Jüdin, die sich zum Messias Jesus bekannte. Timotheus schloss sich der Gruppe um Paulus an. Die Apostelgeschichte erzählt, dass Timotheus sich beschneiden ließ, um als jüdisch anerkannt zu werden. Seine Biografie macht deutlich: Er kannte sich in unterschiedlichen kulturellen Milieus des Reiches aus. Eine wichtige Voraussetzung für seine spätere Arbeit. Mit Paulus war er in den Städten des östlichen Mittelmeerraums unterwegs, um vom Messias Jesus zu erzählen. Er hielt durch Besuche Kontakt zu den aufgebauten Gemeinschaften. Er hat wahrscheinlich auch den 1. Brief an die Gemeinschaft in Korinth überbracht.

Blick von den Stufen des Bouleuterion Richtung Osten (Magnesisches Tor)

Die Apostelgeschichte erzählt, dass Paulus bei einem ersten kurzen Aufenthalt in Ephesus zusammen mit Prisca und Aquila gereist ist (Apg 18,18-19). Beide sind in Ephesus geblieben und haben dort einen Handwerksbetrieb eröffnet. So bekam die Gruppe um Paulus, zu denen sie sich zählten, ein Basislager in der Provinzhauptstadt Ephesus. Beide waren sie jüdisch und kamen aus der Reichshauptstadt Rom. Von dort aus war einer Notiz beim Historiker Sueton zur Folge die jüdische Bevölkerung auf Veranlassung eines Edikts des Kaiser Claudius vertrieben worden.

Wichtig ist: Prisca und Aquila haben am eigenen Leib erfahren, dass das Judentum innerhalb des Imperiums in einer prekären Situation war. Sie kennen die Schattenseiten Roms nur zu genau. Einerseits schützen kaiserliche Edikte ihr Leben nach den väterlichen Geboten, andererseits wurden Juden als Feinde des römischen Volkes angesehen (Cicero, Flaccus, 68), oder als Feinde der ganzen Menschheit (Tacitus, Historien, 5,5,1). Ihr Leben nach den väterlichen Geboten wird oft als finsterer Aberglaube abgetan (Cicero, Flaccus, 67; Tacitus, Historien, 5,4,1). Ob Prisca und Aqulia schon in Rom zu der messianischen Gruppe gehörten, ist völlig unklar. In Korinth schließen sie sich beide der Gruppe an und unterstützen sie maßgeblich. Sie arbeiten wie Paulus als Zeltmacher (Apg 18,3). Aus 1 Kor 16,19 kann man entnehmen, dass sich in ihrer Werkstatt (und damit in ihrem Wohnhaus) Messiasleute, in einer Hausgemeinschaft versammelten. Beide werden in den jeweiligen neutestamentlichen Texten gleichberechtigt nebeneinander genannt. Beide betrieben sie ihre Werkstatt, beide setzten sie sich für ihren Glauben ein – und nahmen dafür viele Nachteile in Kauf. Für die drei Männer muss es sehr wichtig gewesen sein, dass Prisca und Aquila eine Basis in Ephesus aufgebaut hatten: ein verlässlicher Anlaufpunkt nach der langen Reise, ein guter Ausgangspunkt für die weitere Arbeit.

Als die drei sich Ephesus näherten, sahen sie zunächst die Stadtmauer mit ihren Türmen und aufwendigen Toranlagen. Die Mauer erstreckte sich über die Erhebungen Preon (heute: Bülbül Dağ) und Tracheia (heute: Panayir Dağ), die man schon von Weitem sah. Die Mauer war im Auftrag von Lysimachos gebaut worden. Er war einer der Generäle Alexanders von Makedonien, die nach dem plötzlichen Tode Alexanders 323 v. Chr. in Babylon versuchten, die Macht in einem Teil des Reiches Alexanders zu erlangen.

Ephesus wurde damals von Lysimachos zwischen den Erhebungen Preon und Tracheia neu gegründet. Vorher lag die Stadt in der Ebene an den Ufern des Kaystros näher am Heiligtum der Artemis, dem Artemesion. Ephesus sollte für Lysimachos und seine Herrschaft eine wichtige Basis werden. Deswegen wurde die Stadt zur Sicherung gegen feindliche Angriffe mit einer mächtigen Mauer gesichert: Über 9 km erstreckte sie sich. Ihre Stärke betrug 2,90 bis 3,60 m, ihre Höhe bis zu 6,50 m. Zahlreiche Türme, die bis zu 9 m hoch waren, verstärkten die Verteidigungsanlage. Die sehr bewegte Geschichte Kleinasiens bis in das 1. Jh. v. Chr. zeigt, dass der Bau der Mauer unter militärischen Gesichtspunkten sinnvoll war. Zahlreiche Kriege und kleinere bewaffnete Konflikte prägten das Leben in dieser Zeit. Eine Mauer stellte aber nicht nur eine militärische Befestigung dar. In den Augen mancher antiker Zeitgenossen machte die Mauer eine Stadt überhaupt erst zu einer Stadt und war Ausdruck ihrer Autonomie.

Die Stadt Ephesus

Eine Stadt – eigentlich genauer: eine Polis (so das griechische Wort für eine autonome Stadt) – war ein Raum, der viele Grundhaltungen und Wertvorstellungen der Gesellschaft widerspiegelte. Ephesus war zwar in der Form, wie sie die kleine Gruppe der Messiasleute nun sah, die Gründung eines Monarchen. Aber Ephesus war immer noch fest in der Poliskultur Ioniens, des griechischen Teils der heutigen Westtürkei, verankert. Die Städte verstanden sich als Gemeinschaften von Bürgern, die über die wesentlichen Belange gemeinschaftlich entschieden. Wie weit dieses »gemeinschaftlich« ging, war von Polis zu Polis verschieden. Die Athener Verhältnisse nach den Perserkriegen, wo ein Großteil der männlichen Bevölkerung Stimmrecht in der Volksversammlung besaß, dürfte nicht der Normalfall einer Polis gewesen sein. Für Aristoteles setzt sich das Gemeinwesen aus einer bestimmten Anzahl von Bürgern zusammen. Sie bilden damit die Basis der Polis. Dies zeigt sich auch in der Art und Weise, wie die Städte häufig bezeichnet wurden. In offiziellen Dokumenten war z.B. von den Athenern die Rede, wenn die Polis Athen gemeint war. Die Gemeinschaft der Bürger bildete die Stadt. Bürger zu sein bedeutet für Aristoteles die Teilhabe »am Regieren wie auch am Regiertwerden« (Politik 1277 b 7-9). Wer daran nicht teilhatte, war im Umkehrschluss kein Bürger. Die Geschichte des antiken Griechenlands zeigt: Es war sehr erstrebenswert, Bürger zu sein. Der Grad der Teilhabe war häufig Gegenstand von Konflikten innerhalb einer Polis. Dass die Bürger aber die Geschicke ihrer Stadt selbst bestimmten, wurde zu einem wichtigen Element der griechischen Kultur in der Antike.

Eine Stadt war nicht einfach eine große Ansammlung von Häusern, in denen Menschen wohnten. Eine Stadt stand für eine hoch entwickelte Kultur. Für den antiken Architekten Vitruv ist der Fortschritt beim Bauen klarer Ausdruck der fortschrittlichen Entwicklung der Menschen (Vitruv Architektur 2,1,2.6). Im Bauen zeigen sich die zivilisatorischen Kräfte menschlicher Kultur. Städtisches Leben insgesamt bringt die Segnungen der Zivilisation für die Menschen hervor. Ohne Städte hätte das Leben in den Augen vieler antiker Zeitgenossen auf einer viel niedriger stehenden Entwicklungsstufe stattgefunden.

Eine Stadt ist ein von Menschen geplantes Gebilde. Mit dem Bau von Städten entscheidet sich der Mensch zur weiteren Entwicklung seiner Kultur, so Cicero in »Über den Staat« (2,4-11). In einer Stadt finden sich Wohnhäuser und die vielen verschiedenen Gebäude, die allen Lebensbereichen und Institutionen der damaligen Gesellschaft einen Ort geben: Tempel, Versammlungsort des Stadtrates, Brunnen, Bäder, Latrinen, Geschäftsgebäude, Versammlungsräume für Vereine, Lagerhallen usw. Viele dieser Gebäude und der darin befindlichen Einrichtungen sind Orte der Wohltaten der römischen Zivilisation. Im weiteren Verlauf dieses Buches werden einzelne Bereiche und Bauten von Ephesus noch einmal genauer in den Blick genommen.

Ephesus bekam, nachdem Alexander die Stadt in seinen Herrschaftsbereich einverleiben konnte, vom makedonischen König das Angebot, den 356 v. Chr. zerstörten Artemis-Tempel wieder aufzubauen. Die Bürger der Polis, die nach Beseitigung der persischen Herrschaft gerade erst wieder ihre Autonomie erlangt hatten, wiesen das Angebot zurück. Sie wollten selbst den Kult ihrer Stadt wieder aufbauen. Die Verehrung der Artemis war ein unabdingbarer Bestandteil des Lebens in Ephesus. Wer ephesinischer Bürger ist, nimmt natürlich an den Kulten um das Artemesion teil. Die Gemeinschaft der Bürger ist die Gemeinschaft derer, die das Heiligtum pflegen und dort ihre Opfer darbringen. Die Identität der Stadt ist von der Praktizierung des Kultes der Artemis durchdrungen. Religionsfreiheit – eine für die Antike undenkbare Vorstellung.

Blick auf die Grabungsstätten an den Hängen des Bülbül Dağ

Wie verhielt es sich mit dem politischen Konzept der Polis unter römischer Herrschaft? Demokratische Elemente in den jeweiligen Polisverfassungen wurden klar zurückgedrängt. Es fällt jedoch auf, dass viele politische Dokumente, die die politischen Geschäfte der Städte betrafen, als Subjekte der Entscheidung und der Regierungstätigkeit den Rat und die Versammlung der Bürger nennen. Die Inschrift von Ephesus (IvE 429) (sie bezieht sich auf die Errichtung des Hadrian-Tempels) nennt Publius Vedius Antoninus den »Sekretär der Volksversammlung«. Dieses Gremium existierte noch im 2. Jh. n. Chr. Die Szene in Apg 19,23-40 zeigt, auch wenn sie fiktiven Charakter hat, deutlich, dass die Menge der Bevölkerung auch in römischer Zeit Willens und in der Lage war, ihre Einstellungen und Absichten öffentlich zu artikulieren: Die Silberschmiede versuchen, die politisch Verantwortlichen zu bewegen, gegen Paulus vorzugehen. Dafür machen sie über das im großen Theater von Ephesus versammelte Volk Druck auf die Stadtregierung. Solche Aktionen sind zwar nicht mehr in ein rechtliches Regelwerk eingebunden, die das Zusammenspiel von Rat und Volksversammlung ordnete. Die Bevölkerung einer Stadt war aber nicht völlig von den politischen Prozessen ausgeschlossen.

In einem Brief an die Gemeinschaft der Messiasanhängern in der Stadt Philippi, der von der Gruppe um Paulus wahrscheinlich in Ephesus geschrieben wurde, taucht eine Formulierung auf, die die Distanz der Messiasleute zur politischen Kultur der antiken Städte deutlich macht: »Unser Bürgerrecht ist im Himmel« (Phil 3,20). Was hier zunächst mit »Bürgerrecht« übersetzt wurde, heißt im Griechischen políteuma. Es meint Regierung und ihre jeweiligen Geschäfte oder Aktionen. Es kann Bürgerrecht bedeuten, aber auch die Gemeinschaft der Bürger einer Polis. Hier zeigt sich ein klarer Verstehenszusammenhang: Es geht um die Gemeinschaft der Bürger, die am Herrschen und Beherrschtwerden teilhaben, die die Regierung der Polis mitbestimmen, die das Recht dazu haben (und sich somit von anderen, die nicht dazu gehören, abgrenzen). Der Kontext von Phil 3,20 zeigt, dass genau vor diesem Hintergrund der Ausdruck »unsere políteuma ist im Himmel« verstanden werden sollte.

Der ganze Brief an die Gemeinschaft in Philippi wird durch die theologische Deutung der Kreuzigung Jesu bestimmt. Eine zentrale Stelle ist der sog. Philipperhymnus in Phil 2,6-11. Hier wird im ersten Teil der Lebensweg Jesu theologisch gedeutet. Es ist ein Abstieg. Der, der göttlichen Ursprungs ist, erniedrigt sich selbst. Er wird zum Sklaven. Im Kontext der Gesellschaft des römischen Kaiserreichs bedeutet das eine völlige Umkehrung der gesellschaftlichen Werte. Von Beginn an war das politische System im Kaiserreich vom Gedanken des Aufstiegs geprägt. Augustus brauchte zur Verwaltung des riesigen Reiches kompetente einsatzwillige Menschen, die politische Aufgaben übernahmen. Den langen römischen Bürgerkrieg hatten viele aus der politischen Klasse nicht überlebt. Es brauchte aufstrebende Männer, die sich dann auch fanden.

Der Weg Jesu ist ein ganz anderer. Er wendet sich gegen das, was im politischen System Roms akzeptiert und gefordert wurde. Das Verhalten Jesu wird in Phil 2,5 für die angesprochene Gemeinschaft zur Norm: »Seid so eingestellt und verhaltet euch so, wie es der Gemeinschaft im Messias Jesus entspricht« (Phil 2,5). Die Opposition zum römischen System wird quasi zum prägenden Merkmal der Gemeinschaft in Christus.

Ab Phil 3,1 beginnt der Briefschluss. Dort geht es dann um die Frage, wonach die Angesprochenen das Leben in Christus ausrichten sollen. In Phil 3,12-16 zeigt sich Paulus als jemand, der trotz allem immer noch auf dem Weg zum endgültigen Ziel ist. Das bisher Erreichte soll aber als Richtschnur für den Weg in die Zukunft gelten. In Phil 3,18 kommen Paulus und sein Mitabsender Timotheus auf eine Gruppe zus prechen, die sie als Feinde des Kreuzes bezeichnen. Sie sind auf das Irdische fixiert. Das wurde in der Theologie häufig als Zurückweisung einer jüdischen Leistungsfrömmigkeit gedeutet (vgl. dazu Kapitel 3). Blickt man jedoch auf den Philipper-Hymnus zurück, ist klar, worum es hier geht: Paulus und Timotheus reagieren auf diejenigen, die den Anti-Weg Jesu nicht mitgehen wollen oder können.

Auf das Irdische bedacht sein – hier geht es um die Ausrichtung auf die Maßstäbe, die in der Gesellschaft gelten. Zum Teil dürfte eine solche Anpassung an die anerkannten Regeln mit der Angst vor negativen Reaktionen der Mitmenschen zu tun haben. Wer nicht mitmacht, fällt auf und wird ausgeschlossen. Das kann die wirtschaftliche Existenz gefährden. Natürlich wird es auch welche gegeben haben, die auf Steigerung des Ansehens aus waren (Phil 3,19: ihr Ruhm). Einer solchen Lebensweise setzt Paulus entgegen: »Unser Gemeinwesen ist im Himmel.« »Im Himmel« verweist auf den Bezugspunkt dieser políteuma Vom Himmel wird sie bestimmt, also vom Gott Israels. Himmel ist in der alttestamentlich-jüdischen Tradition der Ort Gottes. Vom Himmel kommt auch der Retter Jesus. Retter (griechisch: soter) ist eine zentrale Vokabel der politischen Theologie Roms. Der Kaiser ist der Retter des Erdkreises, des römischen Imperiums. Er bewahrt das Reich vor den Feinden. Augustus hatte – so die offizielle Sicht – das Reich aus dem langen Bürgerkrieg befreit und vor der Herrschaft des Marcus Antonius und Kleopatras gerettet (vgl. Vergil Georgica 1,499-519).

Die Messiasleute sehen nicht im Kaiser den Retter. Jesus ist es. Und er wird Rettung bringen, indem er die gedemütigten Körper befreien wird. Das kann man sich gar nicht real genug vorstellen. Es geht hier um die Befreiung der Körper, die durch harte Arbeit geknechtet werden. Körper, die versklavt sind und von den Mächtigen missbraucht werden. Gerade für Sklavinnen heißt dies: Freiheit vom sexuellen Missbrauch durch ihre Besitzer.

In Phil 3,20 wird eine Gemeinschaft einer anderen entgegengestellt. Die Gemeinschaft in Christus wird vom Himmel her bestimmt. Sie befindet sich im radikalen Gegensatz zum Gemeinwesen der Stadt Ephesus (und all der anderen Städte im Imperium Romanum). Die Bezeichnung für die Gemeinschaft der Messiasleute entstammt auch der politischen Kultur griechischer Stadtstaaten. Ekklesia ist die Bezeichnung der Volksversammlung der Polis. Die Versammlung, die sich im Messias Jesus gründet, steht der Versammlung der Bürger von Ephesus, Korinth oder Philippi gegenüber. Gleichzeitig demonstrieren die Messiasleute damit aber auch ihre Verbundenheit mit Israel, dem Volk Gottes. Die Versammlung Israels am Sinai ist die Versammlung Gottes (hebräisch: kahal adonaj/griechisch: ekklesía kyríou) (Dtn 4,10).

Das, was Paulus, Timotheus, Titus, Prisca und Aquilla hier in Ephesus ins Werk setzen, wendet sich gegen die Grundüberzeugung und Wertmaßstäbe der políteuma in Ephesus, einer Stadt im römischen Reich.