Das Ding meines Lebens

Spektakuläre Raubüberfälle, Morddrohungen, Schießereien, Schutzgelderpressung, Drogenkrieg: Mit Khalil O. erklärt erstmals ein Insider, was wirklich hinter den Schlagzeilen über arabische Clans steckt. Khalil stammt aus einem polizeibekannten Clan in Berlin und öffnet eine Tür in eine verschlossene Welt, die nach ganz eigenen Gesetzen funktioniert. Er erzählt von brutaler Gewalt, Zwangsehen und Blutrache, von Familiengeschäften wie Drogenschmuggel und Raubzügen. Gleichzeitig bricht er den Mafia-Mythos vom Paten, der alle regiert. Denn Clans funktionieren anders: Es geht um die Familie, und zwar die echte.

Als plötzlich mitten in der Nacht das SEK in seine Wohnung stürmt, ist es auch der Gedanke an sie, die Familie, die Khalil schließlich zum Umdenken bringt:

»Ich hab so viele Dinger in meinem Leben gedreht, vielleicht dreh ich jetzt mal mein Leben!«

Khalil O.

mit Christine Kensche

Auf der Straße gilt unser Gesetz

Arabische Clans – Ein Insider erzählt seine Geschichte

WILHELM HEYNE VERLAG München

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Originalausgabe 2020

Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Kerstin Lücker

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von © Marlene Gawrisch

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-25728-6
V001

www.heyne.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Grüße aus der Parallelgesellschaft

Wendepunkt

Zwischen zwei Welten

»Hier gibt’s Geld für nix!«

Drei Pappeln und Unbesiegbar: Das Gesetz der Dörfer

Echte Araber

Lovestory in Beirut

Eine Kassette aus Berlin

Kanaken zwischen Kartoffeln

»Allah ist zwei Meter sechzig groß und arbeitslos«

Großfamilienbesuch

Deutsche Staatsbürger auf Heimaturlaub

Das geilste Gefühl ever

Das Ende von Romeo und Julia

Im Krieg ist klauen erlaubt

Andere Stadt …

… andere Sitten

In der Brennpunktschule

Gangs of Berlin

Im wilden Osten

Musterschüler

Wer sich schämt, verdient nix

Lehrjahre

Start-up

Schnelles Geld

Die Sache mit der Ehre

Der Ruf der Familie

Auf Brautschau

Drama in fünf Akten

Jungfrauen und Nutten

Familienbande

Der Clan expandiert

Grasgroßhandel

Drogendealer mit Buchhaltung

Schlomo Levi

Paragraf 31

Überm Himmel von Berlin

Den Umsatz steigern

Koks-Taxi

Hunde

Südamerika-Connection

Der Fluch des dreckigen Geldes

Süchtig

Haram geht immer zu haram

Gangster-Burnout

Birol

Letzter Warnschuss

Das Ding meines Lebens

Einschulung

Die Leiden des jungen Khalil

Deutschlandfunk

Abitur

Zwei Männer

Reue

Der Ruf verpflichtet

Ansagen machen

Harter Staat

Machst du was, kriegst du was

Warum Aussteigerprogramme nicht funktionieren

Der Wandel kommt von innen

Grenzgänger

Familie vs. neues Leben

Heimat

Gute Werte, schlechte Werte

Anhang

Clan-Kriminalität in Deutschland – ein Überblick

Ärger im Kleingartenidyll

Ein neues, altbekanntes Phänomen

Große Coups

Könige der Straße

1000 Nadelstiche

Anmerkungen

Glossar

Vorwort

Der Mann, der ein Café im Süden Berlins betritt, sieht ein bisschen aus wie Diego Maradona. Sein Gang wippt, unter dem Kapuzenpullover wölbt sich ein Bauch, und so, wie man sich bei Maradona schwer vorstellen kann, dass er einmal Leistungssportler war, würde man von ihm nicht unbedingt denken, dass er einen Drogenring aufgebaut und Menschen blutig geprügelt hat. Die Leute in dem Café, das er als Treffpunkt vorgeschlagen hat, begrüßen ihn mit Handschlag, er hat für jeden ein Kompliment parat, sein Lachen steckt an. Der Mann stellt sich als Khalil vor.

In Deutschland ist gerade Clan-Saison. In Berlin, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen geht die Polizei auf Razzia bei arabischen Großfamilien. Innenminister, Lokalpolitiker und Kommissionen überbieten sich gegenseitig mit Konzepten zur Bekämpfung von Clan-Kriminalität, wollen illegales Vermögen einziehen, Staatsbürgerschaften entziehen, Aussteigerprogramme entwerfen, Kinder aus kriminellen Familien nehmen.

Auslöser der Debatten ist ein Mord am »helllichten Tag« und auf »offener Straße«, wie es bei derart drastischen Vorfällen heißt: Am 9. September 2018 streckten unbekannte Täter in Berlin einen bulligen Mann mit mehreren Schüssen nieder – vor den Augen picknickender Familien, darunter seine eigene Frau und seine Kinder. Das Opfer ist Nidal R., Clan-Krimineller und Schutzgelderpresser, die Täter stammen vermutlich aus einer rivalisierenden Familie. Vier Tage später marschierten bei der Beerdigung rund 2000 Männer zu seinem Grab, zwei Hundertschaften der Polizei bewachten das Geschehen, vor dem Friedhof staute sich der Verkehr. Die Oberhäupter berüchtigter Familien gehörten zu den Trauergästen; szenekundige Beamte zählten 128 Männer, die direkt der Organisierten Kriminalität zuzuordnen seien. Die Machtdemonstration im öffentlichen Raum setzte das Thema Clans auf die politische Agenda.

Nidal R. war über Ermittlerkreise hinaus bekannt. Für Leute wie ihn wurde der Begriff Intensivtäter geprägt. Bevor Nidal 14 und somit strafmündig wurde, verzeichnete seine Akte bereits 20 Delikte. Ihn in die Gesellschaft zu integrieren sei so gut wie unmöglich, prophezeite eine Staatsanwältin 2005.1 Als Nidal im Alter von 36 Jahren starb, umfasste sein Strafregister mehr als 100 Einträge, darunter Raub, versuchter Totschlag, Diebstahl, Nötigung, Körperverletzung und Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung. Insgesamt hatte er mehr als zehn Jahre in Haft gesessen.

In der einen Welt gilt Nidal R. als »Prototyp des Ethno-Kriminellen«2, in der anderen ist er offensichtlich ein Held: Nach seinem Tod sprühen Unbekannte in der Nähe des Tatorts am Tempelhofer Feld ein glorifizierendes Porträt auf eine Hauswand; der Bezirk Neukölln lässt es eilig übermalen. Gleichzeitig wächst der Kult um die arabische Mafia: Die Gangster-Serie »4 Blocks« wird für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Staatsanwälte und Clan-Anwälte treten in Talkshows auf. Dass Clan-Mitglieder selbst sprechen, kommt so gut wie nie vor.

Ich möchte in jenem Herbst 2018 mehr über die Strukturen der Clans erfahren und mache mich auf die Suche nach Insidern. Ich klopfe an viele Türen, werde nicht eingelassen oder schnell wieder rausgeworfen. Die Familien bleiben unter sich und halten dicht. Auch die Migrationsforscher, Sozialarbeiter, Behördenmitarbeiter und Vereine, bei denen ich vorspreche und Visitenkarten hinterlasse, können oder wollen mir keinen Kontakt vermitteln. Nach langer Recherche in der Berliner Szene und etlichen Absagen will ich das Projekt aufgeben, als an einem Freitagnachmittag mein Handy klingelt. Ein Mann aus der polizeibekannten Großfamilie O. ist dran. Er habe gehört, dass ich mit Clan-Mitgliedern sprechen möchte, sagt er. Zwar habe er seine kriminelle Karriere vor 15 Jahren beendet, aber vielleicht sei, was er wisse und erlebt habe, trotzdem interessant. Wir verabreden uns zu einem Gespräch, und so kommt es zu dem ersten Treffen in einem Neuköllner Café.

Khalil ist so alt wie Nidal R., als dieser erschossen wurde, und lange Zeit hat sein Leben so ausgesehen, als werde es das gleiche Ende nehmen. Er sammelt schon früh zig Einträge in seiner Strafakte und hat mit Anfang 20 von unerlaubtem Waffenbesitz über gefährliche Körperverletzung bis hin zu schwerem Diebstahl so ziemlich alles hinter sich. »Fast unmöglich zu integrieren«, ist ein Urteil, das auch auf ihn passen würde. Doch er trotzt der Prognose für jugendliche Intensivtäter und vollzieht eine Wende: Khalil holt die Schule nach, macht Abitur und studiert Soziale Arbeit. Heute arbeitet er als Anti-Gewalt-Trainer mit Intensivtätern.

Er möchte seine Geschichte erzählen, weil er glaubt, dass man aus ihr etwas lernen kann. Warum junge Männer aus Clan-Familien kriminell werden, zum Beispiel. Und was der Staat dagegen unternehmen kann.

Unserem ersten Treffen folgen mehr als fünfzig weitere. Wir laufen durch das Viertel, in dem seine Karriere als Drogendealer begann. Bei einem Abendessen in seinem Haus lerne ich seine Familie kennen. Ich spreche mit Leuten aus seinem Umfeld, die seine Vergangenheit kennen, und mit Arbeitskollegen, die seine derzeitige Tätigkeit beurteilen können. Khalil zeigt mir seine Narben, alte Fotos und Gerichtsakten. Ich bekomme Zugang zu allen seinen Dokumenten, von der Geburtsurkunde bis zu Führungs- und Arbeitszeugnissen.

Dennoch bleibe ich skeptisch. Ich traue dem Mann, der den Schlitzohr-Charme von Maradona versprüht, nicht über den Weg. Um Khalils Schilderungen einzuordnen und zu überprüfen, trage ich sie zwei Oberstaatsanwälten vor, die für Clan-Kriminalität in Berlin zuständig sind, und einem leitenden Mitarbeiter des Landeskriminalamtes, der sich seit vielen Jahren in der Clan-Szene bewegt. Die Ermittler halten Khalils Geschichte für glaubwürdig. Sie entspreche dem »gewöhnlichen Lebenslauf« eines Clan-Mitglieds. Bis zu ihrem Bruch. Eine solche Wendung, sagen sie, hätten sie noch nie erlebt. »Davon hätten wir gerne mehr«, sagt eine Staatsanwältin.

Ich begleite Khalil zwei Jahre lang. Mit der Zeit fassen wir Vertrauen zueinander, und ich beginne zu verstehen, wie einsam er ist. Khalil hat sich von seiner Familie emanzipiert und hinterfragt ihre Wertvorstellungen. Nach einem unserer Gespräche schreibt er mir eine Nachricht: »Krass, du kennst mich mittlerweile besser als alle anderen Menschen um mich herum. Ich habe keine Freunde in dem Sinne. Ich habe Leute, die alles für mich tun würden, aber ich würde mich denen nie öffnen.«

Dass ich mit ihm zusammen seine Geschichte aufschreiben kann, ist eine einmalige Chance. Khalil öffnet eine Tür in eine verschlossene Welt, zu der sonst niemand Zugang hat. Er führt den Leser in eine Gesellschaft ein, die nach eigenen Gesetzen funktioniert, in der Gewalt, arrangierte Ehen und Blutrache zum Alltag gehören; berichtet von »Familiengeschäften«, wie Drogenschmuggel und Raubzügen. Gleichzeitig bricht er den Mafia-Mythos vom Paten, der alle regiert, und beschreibt erste Anzeichen eines Umdenkens im Clan-Milieu.

Khalil ist einen weiten Weg gegangen. Betrachtet man die Verhältnisse, aus denen er kommt, ist sein Wandel bewundernswert. Es ist jedoch keine Entwicklung von Schwarz zu Weiß, oder von Saulus zu Paulus, wie er selbst seine Geschichte umschreibt. So einfach ist das nicht. Khalil hat Kriminalität und Gewalt abgeschworen und hinterfragt die patriarchalischen Wertvorstellungen seiner Familie. Gleichzeitig vertritt er Ansichten, die die Mehrheit der Leser vermutlich ablehnen. Diese Widersprüche gilt es auszuhalten, sie gehören zu einer ehrlichen Biografie dazu. Kein Mensch ist nur schlecht oder total anständig. Handlungen sind nicht immer logisch, Weltbilder nicht konsistent. Ich lasse Khalil ohne Stringenzzwang und Moralfilter zu Wort kommen, mit Schwarz-, Weiß- und sehr vielen Grautönen – so, wie er ist.

In meiner Arbeit als Gerichtsreporterin begegnete mir gelegentlich die Kritik, ich würde Verbrechern »eine Bühne bieten« oder Taten »verharmlosen«, wenn ich ihren Hintergrund und die Beweggründe beschreibe. Genau das aber macht auch jedes Gericht. Der Kern der Strafverfolgung ist es, die Denkweise und Motive eines Menschen zu verstehen, um sein Handeln beurteilen zu können. Verstehen bedeutet dabei nicht entschuldigen, sondern nachvollziehen im Sinne von begreifen. Die Berliner Polizei etwa hat eine Spezialtruppe verdeckter Ermittler aufgestellt, die sich in der Clan-Szene umhören, in Shisha-Bars sitzen, die einschlägigen Familien gehören, und Rap-Konzerte besuchen, um das Milieu besser zu verstehen – und dadurch effektiver ermitteln zu können.

Nachdem ich im Januar 2019 einen Text über Khalil in der »Welt am Sonntag« veröffentliche, bekomme ich Anfragen von Politikern, die in ihren Wahlkreisen mit Clans zu kämpfen haben, von Kriminalbeamten, die Konzepte gegen Clan-Kriminalität schreiben, und von Forschern, die ein Aussteigerprogramm für Clan-Mitglieder entwickeln. Sie wollen mit Khalil sprechen, um zu verstehen, wie das Milieu funktioniert und was sie unternehmen müssen, um die Verhältnisse zu verändern. Khalil möchte anonym bleiben, um Frau und Kinder und sein neues Leben zu schützen. Seine Antworten auf die vielen Fragen stehen in diesem Buch.

Er hat den Mut gefasst, ausführlich zu berichten. Zum ersten Mal erzählt ein Insider aus einem großen Clan, teilweise überraschend differenziert, teilweise empörend brutal, doch immer aufschlussreich. Dieses Buch ist keine Bühne, sondern ein seltener Blick hinter die Kulissen.

Es ist aus etlichen Akten, Dokumenten und Hunderten Stunden Gesprächen entstanden, in denen Khalil mir seine Erlebnisse, Gedanken und Gefühle geschildert hat. Ich habe sie zu einer Erzählung kondensiert, mit seinen eigenen Worten, denn eine Stimme aus der Clan-Szene selbst fehlt in der Debatte über Clan-Kriminalität, zu der ich im Anhang noch einen grundlegenden geben werde.

Die folgenden Kapitel sind aus Khalils Perspektive geschrieben.

Grüße aus der Parallelgesellschaft

Wendepunkt

»Das sind die Bullen.« Ich wusste es gleich, als eine Faust gegen meine Tür hämmerte und mich aus dem Schlaf riss. Wer sonst kommt unangemeldet um fünf Uhr morgens bei dir vorbei? Meine Frau lag neben mir im Bett und kam nicht so schnell hoch, sie war im siebten Monat schwanger mit unserem ersten Kind, meinem Sohn. »AUFMACHEN, SOFORT!!!« Ich war kaum auf den Beinen, da flog die Tür schon aus den Angeln, ein Dutzend Männer stürzte hinterher. Die SEK-Typen trugen schwarze Sturmhauben und Maschinengewehre. Zwei packten mich und warfen mich zu Boden, die anderen rissen Schränke und Schubladen auf. Marwa kam langsam mit erhobenen Händen hinter dem Kleiderschrank hervor, mit dem ich den Schlafbereich vom Wohnzimmer abgetrennt hatte. Einer der Normalo-Bullen, die hinter dem SEK reinstürmten und keine Masken trugen, befahl ihr, sich aufs Sofa zu setzen. Dann wandte er sich an mich. Der Bulle war Türke. Er sprach Deutsch, aber eine Sprache, die ich verstand: »Was bist du für ein Mann?«, herrschte er mich an. »Deine Frau ist schwanger und im Nachthemd, und guck mal, wie viele fremde Männer sie jetzt gesehen haben!«

Was für eine Erniedrigung. Auf der Straße war ich eine große Nummer, mit meiner Familie legte sich keiner an. Jetzt lag ich, Sohn eines berüchtigten Clans, der Gangster mit den geilsten Autos auf Berlins Straßen und den dicksten Geldbündeln in den Taschen, auf dem Bauch, die Hände auf dem Rücken gefesselt, während ein Spezialeinsatzkommando in meiner Schmutzwäsche wühlte. Die Träger von Marwas Nachthemd waren verrutscht. Halb nackt saß sie da und starrte mich an, ihre Hände zitterten. Draußen wurde es langsam hell. Als die Bullen mich abführten, pochte die Frage in meinem Kopf:

Was bin ich eigentlich für ein Mann?

Wenn mein Leben ein Film wäre, dann wäre dieser Moment die Wende. Einsam in der Zelle sitzend, kommt mir die Einsicht, dass es nicht so weitergehen kann, und ich fasse den Entschluss, mit dem Klauen, den Überfällen und dem Dealen aufzuhören und was Neues anzufangen. Aber wie das im richtigen Leben halt so ist, brauchen Wendepunkte einen Vorlauf. Der Satz des türkischen Polizisten hatte einen Samen in meinen Kopf gepflanzt, und der musste erst einmal keimen. Und wer die Realität der deutschen Strafverfolgung kennt, ahnt wahrscheinlich schon, wie lange ich als 20-Jähriger in U-Haft saß: Nach drei Tagen war ich wieder draußen. Um einen Prozess wegen schweren Diebstahls gegen mich einzuleiten, brauchte das Berliner Landgericht drei Jahre. In der Zwischenzeit gründete ich das erste Koks-Taxi mit 24-Stunden-Lieferservice. Erst, als ich voll drin war in der Dealerszene und selbst schon süchtig wie eine Cracknutte, ging der Samen endlich auf. Und dann wurde alles anders.

Also, was bin ich eigentlich für ein Mann? Vielleicht kann man meine Geschichte so zusammenfassen: vom Saulus zum Paulus. Heute führe ich ein gutbürgerliches Leben mit Eigenheim, Garten und Bewässerungsanlage am Stadtrand. Sonntags kommt die Verwandtschaft zum Grillen, einmal im Jahr mache ich mit meiner Frau und unseren drei Kindern Urlaub in Antalya. Wenn ich morgens aus meiner Einfahrt biege, sehe ich, wie manchen Bio-Deutschen der Hals schwillt: »Wie kann der Schwarzkopf sich so ein Haus leisten?«, fragen die sich. »Mit ehrlicher Arbeit und einem Kredit«, würde ich dann gerne aus dem Fenster rufen.

Zwischen zwei Welten

Ich bin nicht stolz auf meine Vergangenheit, aber ich bin stolz auf das, was ich nach meinem Ausstieg geschafft habe: Ich habe die Schule nachgeholt, Abitur gemacht und studiert. Heute bin ich Sozialarbeiter, betreue junge kriminelle Männer, wie ich selbst einer war, und versuche, sie auf die richtige Bahn zu bringen. Man könnte auch sagen, ich bin ein Vermittler zwischen zwei Welten: der deutschen und der sogenannten Parallelgesellschaft, wie es in den Medien immer heißt, wenn über arabische Clans berichtet wird, also über meine Verwandten.

Als ich angefangen habe, online Zeitung zu lesen, habe ich mir, wenn es um Migranten ging, immer zuerst die Kommentare untendrunter angeguckt. Das mache ich heute nicht mehr, denn die Sprüche sind eh immer die gleichen: »Die Kanaken liegen dem Staat auf der Tasche!« oder: »Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg!« Ja, was denn jetzt eigentlich? Entscheidet euch mal. Wenn dagegen von »kriminellen Großfamilien« die Rede ist, sind sich alle einig: »Sofort abschieben!« heißt es dann und: »Schickt die zurück zu ihren Eseln!«

Tja, ich muss die Hater unter euch leider enttäuschen: Esel kenne ich nur aus dem Kaff in Süddeutschland, wo ich geboren bin. Und auch sonst muss ich mit einigen Klischees aufräumen. Während ich meine Geschichte erzähle, habe ich keine Katze auf dem Schoß, der ich den Kopf kraule. Ich bin und war nie ein Pate, auch wenn ich die Filme echt gut fand. So eine Figur gibt es in meiner Familie nicht. Wir sind nicht die Mafia und auch nicht »4 Blocks«. Diese Serie nervt mich übertrieben. Es wird so getan, als ob es in jedem Clan eine klare Hierarchie gibt und jeder seine Aufgabe hat. Klar sind unsere Familien patriarchalisch und hierarchisch organisiert. Aber es ist nicht immer so, dass der Vater der Oberchef ist und alle klauen schickt. Mein Vater ist seit 40 Jahren in Deutschland und hat immer hart gearbeitet. Er hatte nicht ein Verfahren, nicht mal wegen Schwarzfahrens, nichts. Das heißt nicht, dass in meiner Familie alle Lämmer sind. Ich habe unter meinen Verwandten genug schlechte Vorbilder für meine kriminelle Karriere gefunden. Das Wort »Clan« finde ich aber problematisch. Es klingt nach einer geschlossenen Front, wie eine Wikingerhorde. Eine Familie ist aber keine starre Einheit. Ich würde sagen, in 80 Prozent der arabischen Großfamilien gibt es Leute, die ihre Finger in irgendetwas drin haben, seien es Drogen, Einbrüche, Schutzgeld oder Prostitution. Auf 100 Leute kommen vielleicht zehn, die kriminell sind, und zehn, die im Gefängnis sitzen. Die restlichen 80 leben ganz normal und gehen arbeiten. Okay, davon sind viele Jobs Schwarzarbeit, aber Schwarzarbeit kommt ja in den besten Familien vor. Was ich damit sagen will: Es stimmt, dass von diesen Großfamilien viele kriminell sind, aber nicht alle und auch nicht die Mehrheit der Verwandten, wie der Begriff Clan unterstellt. Ich werde ihn trotzdem weiter benutzen, weil er sich einfach so eingebürgert hat.

Über meine eigene Familie kann ich sagen, dass sie zu den größten arabischen Clans in Deutschland gehört. Wie viele Verwandte ich habe, kann selbst ich nur schätzen: Allein in Berlin sind es um die 300, und dazu kommen eigentlich auch noch die Leute der Familien, in die wir eingeheiratet haben, aber ab da wird es echt unübersichtlich.

Ich will erklären, wie die Familien ticken, und ihre Strukturen und Wertvorstellungen beschreiben. Mit meiner Geschichte möchte ich zeigen, warum Clan-Kinder kriminell werden. Aber: Ich werde niemanden verraten. Ich habe mein Leben geändert, aber nicht auf Kosten meiner Familie oder anderer Familien. Ich gehe meinen eigenen Weg und halte mich von den Geschäften meiner Verwandten fern. Doch so weit, mit meinen eigenen Brüdern zu brechen, kann ich einfach nicht gehen. Deshalb habe ich die Namen meiner Verwandten und anderer Personen, die in meinem Leben eine Rolle spielen, geändert. Es ist nicht so, dass meine Familie mich umbringen würde, wenn sie wüsste, dass ich über sie rede – das ist auch so ein Vorurteil. Wenn Onkel A, Bruder B und Cousin C zusammen einen Einbruch machen und C beim nächsten Ding nicht mehr mitmachen will, dann wird er nicht gleich abgeknallt. Das ist vielleicht bei der Mafia so, wo es kein Zurück mehr gibt, wenn du einmal beigetreten bist. Ich bin damals aus dem Koks-Taxi ausgestiegen, ohne dass mich einer aus der Familie zwingen konnte oder wollte weiterzumachen.

Trotzdem glaube ich, dass einigen Leuten nicht gefallen wird, was ich zu sagen habe, und zwar aus beiden Gesellschaften. Wenn man in der Mitte steht, kriegt man halt von allen Seiten auf die Fresse. Ich will eine differenzierte Sicht auf Clans ermöglichen und Luft aus dem Mythos lassen, den die Familien selbst und die Medien und Politiker aufgeblasen haben. Aber dieses Buch soll keine Verteidigungsschrift werden. Die kriminellen Zweige der Clans müssen mit harten Mitteln rangenommen werden, und ich werde erklären, welche repressiven und präventiven Methoden am besten funktionieren.

Die selbst ernannten Experten, die in den Talkshows sitzen, regen mich echt auf. Es gibt welche, die sagen, dass das Wort Clan-Kriminalität rassistisch ist und man deswegen nicht darüber sprechen darf. Die verniedlichen das Problem und sagen, die Clans sind gar nicht so schlimm. Ich würde sagen: Doch, sind sie. Und sie sind selbst schuld daran, dass sie im Fokus von Polizei, Politik und Presse stehen. Es gibt einen Witz über den syrischen Geheimdienst, der das Phänomen ganz gut trifft: Ein Mann geht in einen Falafelladen und sagt: »Drei Falafel für den syrischen Geheimdienst!«

Genauso dumm gehen arabische Gangster vor. Sie wollen zeigen, wer sie sind. Sie brettern mit ihrer S-Klasse über die Sonnenallee und parken in zweiter Reihe. Sie liefern sich eine Massenschlägerei in aller Öffentlichkeit, um zu demonstrieren: »Wir sind die und die, und wir haben vor niemandem Angst!«

Die italienische oder russische Mafia würde sich niemals so aufführen. Von denen siehst du gar nichts, die sind unsichtbar, obwohl sie in Wirklichkeit viel reicher sind als wir. Die haben Leute, die Millionen umsetzen und U-Bahn fahren. Die kleinen Idioten, die »4 Blocks« nacheifern, geben mit einer dicken Karre an, dabei haben sie nicht einmal Kohle für Sprit. Die hauen ihr komplettes Geld für ein Auto raus und müssen das Benzin dann klauen gehen. Einige haben gar nicht die Macht, die sie vorgeben, da ist viel Show dabei. Image ist eben alles.

Das Gleiche gilt für die Politik. Jeder reitet auf der Clan-Welle und versucht sich zu profilieren. Die ganzen Razzien in Shisha-Bars sind doch nur Theater. Da laufen Journalisten und Politiker mit, die ein paar flotte Sprüche in die Kameras sagen, und noch bevor die Polizisten ins erste Café gehen, weiß ganz Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh schon Bescheid. Die Polizei entdeckt ein bisschen gepanschten Apfeltabak, wenn es hochkommt zwei Kilo Gras, und das wird dann als großer Erfolg verkauft. Gleichzeitig pushen die Razzien das Zusammengehörigkeitsgefühl der Clans. Sie werden wichtiger gemacht, als sie sind, und dadurch fühlen sie sich noch stärker. Der öffentliche Umgang der Politik und Ermittlungsbehörden mit dem Thema hat zwei Seiten: Wenn man einen Scheinwerfer auf kriminelle Clans richtet, holt man ihre Verbrechen aus dem Dunkelfeld. Aber man gibt ihnen auch eine Bühne, auf der sie sich profilieren können.

Mahmoud Al-Zein hat »Spiegel TV« mal in einer Limousine mitgenommen und irgendwas vom Nikolaus erzählt, von wegen er sei der Pate von Berlin und seine Leute würden ihn »El Presidente« nennen. Ich weiß, dass seine Verwandten hinter seinem Rücken über ihn lachen. Aber mit Mahmoud wurde dieses Mafia-Gehabe populär. Er wurde oft wegen Dealerei verhaftet, und bei einer Verhaftung war »Spiegel TV« dabei. In dem Video sieht man, wie Mahmoud auf dem Boden liegt und sagt: »Mach ma Kamera weg jetz! Mach ma Kamera weg, hab ich gesagt!« Dieser Spruch ist in der arabischen Community berühmt. Als Nidal 2018 erschossen wurde, war Mahmoud Al-Zein wieder auf freiem Fuß und ging zur Beerdigung. »Spiegel TV« war auch wieder dabei. Mahmoud läuft mit zehn Männern an der Kamera vorbei und sagt: »Mach ma nich wie kleine Kinder, mach die Kamera weg, hab ich gesagt!« Ich denke, er sagt das nicht, weil er nicht gefilmt werden will. Im Gegenteil: Er wiederholt seinen Spruch von damals, weil er weiß, dass der Kult ist.

Mehr als 2000 Leute waren auf der Beerdigung, alle Clan-Größen, wie zum Beispiel Arafat Abou-Chaker. Dabei hatte Nidal nur drei Brüder, der war ein kleines Licht für die anderen, die wären niemals in den Krieg gezogen für ihn. Warum kamen sie trotzdem? Weil sie wussten, dass jedes Kamerateam dieses Landes dabei sein würde. Die gingen zur Beerdigung, um ins Fernsehen zu kommen. Das war ein reines Schaulaufen für die. Und alle Kameras haben draufgehalten. 

Wenn es dem Staat nicht gelingt, Leute wie Mahmoud Al-Zein und Arafat Abou-Chaker wegzusperren oder abzuschieben, warum verschafft man ihnen dann so eine Präsenz? Ganz Deutschland kennt diese Namen. Egal wo sie hingehen, ihr Ruf eilt ihnen voraus, wie Billy the Kid. Wodurch ist denn Billy the Kid berühmt geworden? Durch seine Steckbriefe. Man kann effiziente Strafverfolgung auch im Hintergrund betreiben und muss nicht zu jeder Razzia ein Kamerateam bestellen und den Angebern auch noch Kultstatus verschaffen.

Mir ist klar, dass ich mich auf dünnem Eis bewege. Ich war früher selbst ein Gangster und kam mir vor wie in einem Mafiafilm. Diese Welt hat ihren Reiz, und es kann passieren, dass ich ihn ungewollt verstärke, wenn ich aus der Clan-Szene berichte. Dass die kleinen Khalils da draußen denken, sie könnten ein paar Jahre lang klauen, dealen, Kohle scheffeln und dann wieder aufhören und alles ist cool. Deshalb Achtung, Spoiler: So easy läuft das nicht. Selbst die krassen Jahre mit Carlo, Koks und Nutten hatten übertrieben eklige Seiten, die ich null vermisse.

Ich hoffe, dass ich mit diesem Buch beide Welten erreichen kann. Den Deutschen möchte ich sagen: Lasst uns doch mal aufhören, uns in den Diskussionen über Clan-Kriminalität ständig im Kreis zu drehen, und stattdessen gucken, wie wir das Problem zusammen angehen können. Wie können wir die Clans integrieren? Die Menschen können sich ändern, wenn ihr auf sie zugeht und ihnen Wege zeigt. Habt Geduld, wir sind nicht alle gleich, und es findet ein Wandel statt, den ihr von außen noch nicht seht.

Und meinen Leuten? Ihr Idioten, wacht endlich auf! Kriminalität lohnt sich nicht, schickt eure Kinder lieber in die Schule. Wenn ihr morgens in den Spiegel guckt, dann seht ihr die Person, die verantwortlich ist für eure Zukunft: Ihr selbst und niemand anderes. Ich möchte zeigen, dass sozialer Aufstieg selbst für Kanaken wie mich möglich ist – wenn jemand eine Tür aufstößt und man den Arsch zusammenkneift.