Zum Buch:
Der junge Robin ist überwältigt, als er aus seiner Raumkapsel steigt. Der warme Sand unter seinen Füßen, der sanfte Wind und das Farbenspiel des Meeres sind so viel besser als jede noch so perfekte virtuelle Realität. Er ist auf der Erde, diesem fernen blauen Planeten, den er bislang nur aus Filmen und Erzählungen kannte. Doch seine Mission ist keine leichte: Können die Menschen auf ihren Heimatplaneten zurückkehren, obwohl sie einst dafür gesorgt hatten, dass er unbewohnbar wurde? Wie sollen sie leben, damit Glück für alle möglich ist? Und zählt Liebe noch?
Mit Hector hatte François Lelord einen unvergesslichen Helden geschaffen, dem Millionen Leserinnen und Leser folgten. In seinem neuen Roman lässt er den liebenswerten Robin in einer abenteuerlichen Mission die große Frage erkunden, wie wir in Zukunft leben wollen.
Zum Autor:
François Lelord, geboren 1953, studierte Medizin und Psychologie in Frankreich und Kalifornien. Eines Tages schloss er seine Praxis in Paris, um zu reisen und sich und seinen Leserinnen und Lesern die wirklich großen Fragen des Lebens zu beantworten. »Hectors Reise« und die folgenden sieben Romane um den Psychiater Hector und seine Suche nach dem Glück eroberten ein Millionenpublikum. François Lelord lebt mit seiner Familie in Paris.
»Macht beim Lesen einfach so richtig glücklich!« Pforzheimer Zeitung
»Wenn man dieses Buch gelesen hat, ich schwöre es Ihnen,
ist man glücklich.« Elke Heidenreich zu »Hectors Reise«
»Die Bücher von François Lelord setzen zeitgemäß fort,
wo Exupéry aufhörte.« Profil
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Für A.,
der unsere Welt von morgen erleben wird.
»Schön, Sie zu sehen«, sagt Admiralin Colette.
Und doch macht sie dazu eine verdrossene Miene – wie üblich. Ich weiß nicht, ob sie wirklich verärgert ist oder ihre schöne Stirn nur in Falten legt, um die eigene Autorität zu betonen. Mir ist aufgefallen, dass die höheren Offizierinnen dazu neigen, so ein unzufriedenes Gesicht zu ziehen. Wie einst die Männer, als sie es noch bis in die oberen Dienstgrade schafften. Als ich durch den Laufgang in die Kommandantur ging, habe ich die Porträtgalerie mit den strengen Mienen ihrer Vorgänger gesehen.
»Stehe zu Befehl, Admiralin.«
»Wir sind hier nicht in der Öffentlichkeit, Sie dürfen ein wenig lockerer sein. Setzen Sie sich doch«, sagt sie und lächelt mir zu.
Muss ich noch hinzufügen, dass Admiralin Colette ein warmes, ein beinahe strahlendes Lächeln hat? Ich sehe sie heute zum zweiten Mal lächeln, seit sie meine Vorgesetzte ist, also seit mehr als zwei Jahren. Ihr silbernes und bronzefarbenes Haar ist in einem tadellosen Dutt zusammengeführt, was das lange Oval ihres Gesichts freilegt, ihre Züge, die so regelmäßig sind, dass man sie für eine Androidin halten könnte. Aber nein, wenn sie mir zulächelt, graben sich kleine Falten in ihre Augenwinkel, und das zeigt ja wohl, dass sie ein Mensch ist.
»Sicher fragen Sie sich, weshalb ich Sie kommen ließ, ohne über Lieutenant Jessica, Ihre direkte Vorgesetzte, gegangen zu sein.«
»Ich gebe zu, dass es mich ein wenig erstaunt, Admiralin.«
Und erstaunt ist noch vorsichtig ausgedrückt. Als einfacher Rekrut habe ich es nie direkt mit einem höheren Offizier zu tun und erst recht nicht mit der Admiralin, die ganz an der Spitze unserer militärischen Organisation steht. Außerdem liege ich in allen Tests unterhalb des Durchschnitts meines Jahrgangs, und so habe ich wirklich keine Erklärung dafür, hier in diesem Raum zu sitzen.
Sogleich fühle ich mich eingeschüchtert. Ich versuche es zu verbergen, aber das ist nicht so leicht – einer der Nachteile, wenn man jung ist; man reagiert dann einfach emotionaler.
Hinter ihr, durch das große ovale Bullauge, sehe ich unseren blauen Planeten, der sich langsam um sich selbst dreht, bedeckt von der grauen Watte seiner Wolken, die hin und wieder aufreißen und den Blick auf das dunkle Blau eines Ozeans freigeben. Diese einzigartige Farbe hat dem Planeten seinen Namen gegeben.
Die Admiralin lässt den Zeigefinger über das Display ihres Schreibtischs fahren. Ich sehe, dass sie ein Dokument überfliegt.
»Tatsächlich habe ich auch Lieutenant Jessica konsultiert, aber ebenso sehr verließ ich mich auf Athena.«
Athena ist unsere zentrale Intelligenz. Sie und ihre Vorgängerversionen haben seit meiner Geburt alles über mich zusammengetragen; ich selbst habe nur Zugriff auf eine vereinfachte Fassung meiner Akte. Die vollständigen Unterlagen sind der Admiralin zugänglich, die jetzt ihren Blick vom Display hebt und mir ins Gesicht schaut. Sie hat schöne graue Augen, und es heißt, dass sie noch ihre natürliche Iris hat und keine genetisch verbesserte, wie es hier üblich ist.
Die Admiralin mustert mich eingehend.
»Haben Sie wirklich keine Ahnung, weshalb ich Sie herbestellt habe?«
»Nein, Admiralin.«
»Lieutenant Jessica hat Ihnen also nichts gesagt … Da muss ich doch annehmen, dass sie etwas gegen Sie hat. Aber das habe ich auch schon aus ihrem Bericht über Sie abgeleitet.« Und sie zeigt auf das Display.
Sie hat völlig recht, natürlich hat Lieutenant Jessica etwas gegen mich, aber ich halte lieber den Mund. In meiner kurzen Laufbahn beim Militär habe ich gelernt, dass es einen teuer zu stehen kommt, wenn man vor einem Offizier etwas Schlechtes über einen anderen Offizier sagt, auch wenn er es zu billigen scheint.
Mein Schweigen verrät der Admiralin, dass sie aus mir nichts herausbekommen wird. Sie lächelt wieder.
»Und der Grund? Können Sie mir eine Erklärung dafür liefern, dass Lieutenant Jessica Ihnen nicht wohlgesinnt ist?«
Der Grund ist: Vor einigen Wochen ließ mich Lieutenant Jessica eines Abends in ihre Kabine rufen. Ich habe Unwohlsein vorgetäuscht. Drei Tage später die gleiche Anfrage und von meiner Seite die gleiche Entschuldigung. Die anderen haben mir gesagt, ich sei ein Idiot; es habe schließlich nichts Entehrendes, seiner Chefin auf diese Weise zu Diensten zu sein, ganz im Gegenteil! Ich bin ja nicht aus Prinzip dagegen, aber im Blick von Lieutenant Jessica, in ihren brüsken Bewegungen, ihrer ätzenden Ironie liegt etwas, das mir schon immer missfallen hat. Manche meiner Kameraden stellten sich nicht so an, und es hat sich für ihre Beurteilung ausgezahlt.
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Es ist wahrscheinlich eine Frage der Sympathie.«
»Der Sympathie? Haben Sie etwas getan, was sie verärgert haben könnte?«
»Soweit ich mich erinnere, nicht …«
Die Admiralin muss schon wieder lächeln.
»Also wirklich – exzellent. Sie bestätigen mir, dass ich damit richtig lag, gerade Sie auszuwählen.«
»Mich auszuwählen?!«
Einen Moment lang denke ich, dass mich die Admiralin aus dem gleichen Grund in die Kommandantur kommen ließ wie Lieutenant Jessica in ihre Kabine. Ich spüre, wie ich rot werde. Obwohl die Admiralin beinahe doppelt so alt ist wie ich, fühle ich doch, dass ich für ihren Charme nicht unempfänglich wäre.
Sie bemerkt meine Verlegenheit.
»Aber nein«, sagt sie lachend, »nicht aus diesem Grund habe ich Sie herbestellt …«
»Entschuldigen Sie bitte, Admiralin.«
»Schon gut. Aber haben Sie wirklich keine Ahnung, worum es geht?«
»Nein.«
Sie lässt ihren Pilotensitz herumschwenken und weist auf unseren Planeten.
»Wie wär’s, wenn Sie dorthin aufbrechen?«
Athena, Athena, warum hast du mich verlassen? In meinem Kopf schwirren alle möglichen Schachzüge herum. Soll ich so tun, als würde ich den Zomo, der mich gerade erkannt hat und den Blick nicht von mir lässt, nicht verstehen? Und nun tun die anderen es ihm auch schon nach – alle drehen die Köpfe in meine Richtung.
Ich entscheide mich dafür, mit ihnen zu reden, aber in einem hochmütigen Ton, so als würde man sich an einen feindseligen Fremden wenden.
»Achtung, Leute, wir müssen so tun, als würden wir uns nicht kennen! Als wären wir sogar Feinde. Versteht ihr?«
Sie stehen sprachlos da, völlig perplex angesichts meines unerwarteten Auftauchens. Nach einem Moment des Schweigens erwidert der Lebhafteste von ihnen in ebenso harschem Ton: »Wie bist du hergekommen?«
»Genau wie ihr, aber ich habe meine Raumkapsel vor der Küste einer anderen Insel verloren. Wo ist euer Raumschiff?«
»Auf dem Vulkan.«
»Kommst du uns befreien?«, fragt ein anderer.
»Ich werde es versuchen. Man hat mir schon gesagt, dass vier von euch da eingesperrt sind, aber was ist mit den anderen?«
»Tot.«
»Und eure Chefin?«
»Sie auch.«
Lieutenant Zulma und ihre ungeschickten Versuche, Yû den Hof zu machen … Die Nachricht bewegt mich mehr, als ich gedacht hätte. Aber ich fange mich und frage, ob das Raumschiff noch funktionstüchtig sei.
»Jedenfalls war es in Ordnung, als wir es verließen. Sollen weitere Zomos kommen?«
»Ich weiß nicht. Wann löst ihr euch am Mühlstein ab?«
»Immer wenn die Sonne im Zenit steht.«
»Und wann sperrt man euch in dieses Haus?«
»Bei Sonnenuntergang. Hast du Waffen?«
»Nein. Genug geredet. Beschimpft mich mal ordentlich; es muss so aussehen, als wären wir Feinde.«
Diesmal kommt die Reaktion prompt und echt – wie immer, wenn Zomos ihre Aggressivität zeigen dürfen. Sie schleudern mir wüste Beleidigungen entgegen und zerren wie wild an ihren Gurten. Der Mann mit der Peitsche lässt ein paar Hiebe auf sie niedersausen, aber das bleibt ohne Wirkung.
»Lass uns gehen«, sagt Kalo, »die sind doch verrückt.«
Wir entfernen uns von der Mühle, und schon ist Schluss mit dem Gebrüll und den Schlägen.
»Woher kennen sie dich?«, fragt Kalo ohne Misstrauen.
»Sie kennen mich nicht persönlich, aber die Gemeinschaft, der ich angehöre.«
»Du siehst wirklich nicht so aus wie sie.«
»Es sind eben Krieger. Die haben was drauf.«
»Na ja«, meint er lachend, »offenbar nicht genug.«
»Wie habt ihr sie besiegt?«
»Das sind doch Kinder.«
Kalo und seine Leute haben also Krieger aus einer Zivilisation, die um mehrere Jahrhunderte weiter fortgeschritten ist, wie kleine Kinder ausgetrickst. Das beunruhigt mich: Und wenn Kalo nun meine List gewittert hat? Wie lange werden er und der Häuptling mir die Geschichte von der anderen Gemeinschaft noch glauben?
Ich habe es nun eilig, wieder das Haus zu erreichen, in dem ich Tayo und Antina zurückgelassen habe. Kalo hat mir zwar versichert, dass meinen Freunden kein Haar gekrümmt werde, aber vielleicht hat man auch mich ausgetrickst wie ein kleines Kind?
Ein Buch zu schreiben, ist eine einsame Arbeit, die aber von vielen Begegnungen genährt wird.
Zuallererst denke ich an die Begegnungen mit Britta Egetemeier, meiner Verlegerin, die mir seit Hectors ersten Abenteuern zur Seite steht. Vielen herzlichen Dank, liebe Britta, für Ihre stets inspirierenden Hinweise und Ihren beständigen Rückhalt.
Danken möchte ich auch meinen Freunden, die mir in Gesprächen oft wertvolle Anregungen gaben (für mein Leben wie für meine Bücher), und ganz besonders meiner langjährigen ersten Leserin Lucy MacIntosh.
Mein Dank geht an Ralf Pannowitsch für sein Talent, meine Bücher den deutschen Leserinnen und Lesern zugänglich zu machen, und für den schönen Besuch in seiner Heimatstadt Leipzig.
Und schließlich möchte ich auch meiner Frau und meinem Sohn sagen, wie dankbar ich ihnen bin: Sie haben es immer akzeptiert, wenn ich mitten unter ihnen war und doch ganz weit fort – an der Seite meines Romanhelden Robin.
Auf die Erde zurückkehren! Das ist das große Projekt der Kolonie seit mindestens einer Generation.
Da ich nicht weiß, wer diese Erzählung liest – und ob überhaupt jemand sie eines Tages lesen wird –, sollte ich hier vielleicht ein paar Dinge erläutern.
Wir leben auf dem Mars. Zu Beginn waren wir eine kleine Ansiedlung von Wissenschaftlern, aber seit beinahe einem Jahrhundert sind wir vermutlich alles, was von der Menschheit übrig geblieben ist.
Wir alle haben in der Schule gelernt, wie die letzte bekannte Zivilisation auf Erden endete. Infolge von Klimakatastrophen und wirtschaftlichen Verwerfungen waren ganze Landstriche verödet. Das führte zu Migrationswellen und regionalen Kriegen zwischen Ländern, die sich um Wasser und Rohstoffe stritten. Aber eines Tages löschte eine thermonukleare Bombe eine Hauptstadt des Ostens aus. Es war ein Attentat, man hatte die Bombe dort platziert, sie war nicht von einer Rakete gelenkt worden. Das betroffene Land hatte gute Gründe zu der Annahme, ein rivalisierender Staat habe das Attentat ausgeheckt oder jedenfalls jene unterstützt, die es ausgeführt hatten. Und so ließ ein General der Armee dieses Landes unter Umgehung der üblichen Entscheidungsprozesse drei Marschflugkörper abfeuern. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Europa rief zu Frieden und Mäßigung auf, aber schon bald schnitt ihm ein neuerliches Attentat (diesmal ein gewöhnliches) das Wort ab. Danach wurde alles immer schlimmer, weitere Raketen zogen ihre perfekten Bahnen, jedes Land beschuldigte ein anderes, sie abgeschossen zu haben, und schon bald konnte niemand mehr jemanden beschuldigen, denn die radioaktiven Wolken und der nukleare Winter waren gekommen und hatten der menschlichen Zivilisation ein Ende gesetzt – und zugleich der Klimaerwärmung, obgleich man die doch für unumkehrbar gehalten hatte.
Vom Mars aus hatte die Kolonie diese Apokalypse mit Schrecken und Fassungslosigkeit verfolgt. Das Leben auf dem Mars war beängstigend klaustrophobisch, aber dennoch erträglich, wenn man stets daran dachte, dass man nach ein paar Monaten oder Jahren wieder auf die Erde zurückkehren konnte, um in einer ganz und gar unvirtuellen Realität dem Gesang der Vögel zu lauschen und dem Murmeln der Bäche. Aber nun war die Erde nicht mehr unsere Welt, und seither nennen wir sie nur noch den blauen Planeten, als wollten wir sie von ihrer tragischen Vergangenheit reinigen und ihr einen neuen Anfang ermöglichen.
Es war auch eine Katastrophe für den Fortschritt von Wissenschaft und Technik. Bis dahin hatte die Kolonie stets von dem profitiert, was die Forschung weltweit auf allen Gebieten hervorgebracht hatte, aber nun konnte sie nur noch auf sich selbst zählen – wie eine Universität, der man für immer jeden Kontakt mit der restlichen Welt verboten hatte.
Da man aber die mutmaßlich besten, sorgfältig ausgesuchten Individuen hierhergeschickt hatte und die künstliche Intelligenz bei der Einrichtung der Kolonie schon ziemlich weit fortgeschritten war, hatte es glücklicherweise nicht an Kreativität gefehlt, wenn es darum ging, sich anzupassen. So hat sich in weniger als fünf Generationen eine kleine Gesellschaft herausgebildet, die recht gut funktioniert und weiterhin Neuerungen in Wissenschaft und Technik hervorbringt.
Ich würde nicht sagen, dass bei uns alles rosig wäre, aber zumindest ist alles perfekt organisiert für eine Gemeinschaft von ein paar Hundert Menschen, die wie in einer Blase leben, die sie vor der giftigen Marsatmosphäre schützt.
Das jedenfalls ist die optimistische Sichtweise, und doch sind ziemlich viele Leute nicht richtig glücklich in der Kolonie.
Weshalb das so ist? Weil alles schon vorherbestimmt ist, sorgfältig geplant mit Athenas Hilfe; nichts geschieht hier unerwartet. Außer vielleicht in unseren Liebesbeziehungen, die sind der letzte Bereich, in dem uns noch so etwas wie Abenteuer bleibt. Oder vielmehr ist es Athena, die uns diesen Freiraum belassen hat, denn sie könnte unfehlbar jene Person bestimmen, die am besten zu uns passt, sei es für eine Affäre oder eine dauerhafte Beziehung. Aber man hat beschlossen, dass uns ein Bereich bleiben soll, in dem es Freiheit gibt und Unvorhersehbares. Allerdings geht es selbst dort nicht gerade riskant zu: Für den Fall von Liebeskummer stehen uns sehr effiziente Desensibilisierungstherapien zur Verfügung. Nach ein paar Sitzungen können Sie an der Person, die Sie beinahe verrückt gemacht hat, mit einer Gleichgültigkeit vorbeilaufen, in der sogar ein wenig Abscheu liegt.
Und übrigens: Wenn Sie genervt sind von der Liebe und all ihren Bekümmernissen, können Sie auch ein Medikament einnehmen, das alles Verlangen in Ihnen beseitigt, ohne dass es Ihre Leistungsfähigkeit im Geringsten mindert. Dann haben Sie endlich absolut Ruhe in Herzensangelegenheiten und können sich ganz und gar Ihrer Arbeit widmen und allen Dingen im Leben, die Sie wirklich interessieren.
Wenn es Ihnen aber zu langweilig wird, können Sie die Therapie absetzen, und schwupps, geht es wieder los, und Sie beginnen davon zu träumen, jemanden in die Arme zu schließen.
Alles in allem sind wir also nicht unglücklich, jeder geht einer Tätigkeit seines Zuschnitts nach, aber außer den Forschern, die eine Leidenschaft für ihr Fach hegen, den Militärs, die ganz in ihre Kriegsspiele vertieft sind, und den Ehrgeizigen, die in der Hierarchie aufsteigen wollen, langweiligen sich hier etliche Leute. Ich zum Beispiel.
Selbst wenn wir die schönsten Landschaften aus der Zeit vor der Apokalypse in virtueller Realität durchstreifen können, fehlt uns der echte Kontakt mit der Natur, den wir nie hatten. Wie übrigens die letzten Erdenbewohner, denn die Umwelt war bereits so heruntergekommen und die Unsicherheit so gewachsen, dass die meisten Leute die Metropolen nicht mehr verließen.
Deshalb träumt hier jeder oder zumindest fast jeder von dem großen Projekt der Kolonie: Eines Tages wollen wir auf den blauen Planeten zurückkehren und uns dort ansiedeln. Das wäre endlich ein echtes Abenteuer! Bestimmt nicht ohne Risiken, aber auch mit den Freuden des Unvorhergesehenen und – so denken manche – der Freiheit.
Ich glaube ja, dass diese Leute ein bisschen zu viel träumen, denn weshalb sollte Athena ihre Herrschaft auf dem blauen Planeten nicht fortsetzen wollen?
Jedenfalls wissen wir, dass die radioaktive Verstrahlung entgegen der pessimistischsten Voraussagen schon lange gesunken ist und in Ozeannähe wieder ein angenehmes Klima herrscht.
Aber warum sollte die Admiralin gerade mich für ein so wichtiges Projekt ausgewählt haben, mich, Robin Normandie, gewöhnlicher Rekrut, ohne militärische Karriere und sehr mittelmäßig in den Tests?
»Athena hat Sie ausgewählt«, sagt sie und hebt den Blick vom Bildschirm. »Und außerdem werden Sie nicht der Erste sein. Wir haben schon ein paar Zomos losgeschickt.«
Ich kann es kaum fassen. Zomos sind Berufssoldaten; sie werden für eine Rückkehr zur Erde ausgebildet, ganz anders als ich. Worin könnte ich ihnen vor Ort nützlich sein?
Und jetzt hat die Admiralin ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen.
»Möchten Sie wissen, was Athena über Sie denkt?«
Ich habe etwa hundert Stunden in den Lernmaschinen zugebracht und darin sogar geschlafen, um mich mit den verschiedenen polynesischen Sprachen vertraut zu machen, die Athena gespeichert hat.
Die einzigen Zeichen menschlicher oder nachmenschlicher Aktivität, die man seit einem guten Jahrhundert ausmachen kann, stammen nämlich alle von kleinen Inseln des Pazifischen Ozeans, und auf einen dieser Festland-Konfettischnipsel hat man auch die Zomos geschickt.
Die Übersetzungscomputer der Zomos waren mit diesen zum Teil gewiss untergegangenen Sprachen programmiert, und vielleicht ist auch dies – neben dem aggressiven Auftreten der Zomos – ein Grund für das Fehlschlagen der Mission.
Die Kommandozentrale (und damit Athena) hat es für richtig befunden, mich mit den ehemaligen Sprachen dieser Völker vertraut zu machen. So würde ich die heutigen Bewohner schneller verstehen können und womöglich nicht von der Bildfläche verschwinden – anders als unsere Spezialeinheiten.
Athena hat mir auch ein kurzes pädagogisches Programm zusammengestellt. Es dreht sich um die indigenen Völker, die zu Zeiten der großen Seefahrer und Entdecker auf diesen Inseln lebten. Sie geht nämlich von der Annahme aus, dass die Menschen nach der Apokalypse wieder in ihren Urzustand zurückgefallen sind. Durch Bilder aus alten Büchern habe ich also etwas über ihre Lebensweise gelernt, über Jagd, Fischfang und die Seefahrt in Einbäumen aller Größen. Wenig gelernt habe ich über ihre Sitten und Gebräuche, die heute allerdings auch nicht mehr dieselben sein dürften. Ich habe zwar Bilder von Harpunen und Keulen gesehen, die auch zu anderem als zum Jagen und Fischen dienen könnten, aber eigentlich war nichts davon eine Bedrohung für die Zomos, selbst wenn sie nur über nichttödliche Waffen verfügten.
Vor meinem Abflug musste ich mich mit Kommandantin Alma treffen. Sie ist die verantwortliche Offizierin für alle technischen Aspekte der Mission. Alma ist eine hübsche Brünette, die bei den Männern den Spitznamen »Pocahontas« hat, denn sie ähnelt der Heldin eines alten Animationsfilms aus Erdzeiten, den wir alle in unserer Kindheit gesehen haben, gehört er doch zum schulischen Pflichtprogramm unserer Kolonie. Wir sollen damit für die Akzeptanz anderer Kulturen sensibilisiert werden, damit wir später nie in Versuchung geraten, uns denen, die technologisch nicht so fortgeschritten sind wie wir, als Eroberer zu nähern.
Alma ist Yûs beste Freundin, aber ich habe schon immer gespürt, dass sie mich nicht gerade ins Herz geschlossen hat. Und selbst bei unserem letzten Treffen vor dem Start wahrte diese Person die hierarchische Distanz, die ihr durch den Unterschied unserer Dienstgrade möglich ist: Sie ist die Kommandantin, während ich nur ein einfacher Wehrpflichtiger bin – und noch dazu ein Neutrum.
»Auch Ihnen werden wir keine tödlichen Waffen mitgeben«, verkündete sie in schroffem Ton, als wollte sie meinen Protesten vorbeugen.
»Kein Problem, Kommandantin, ich bin selbst eine tödliche Waffe.«
Aber sie reagierte nicht auf meinen Scherz und fuhr mit ihren Instruktionen fort.
»Sie werden über die ausgefeiltesten Kommunikationsmittel verfügen – über bessere als bei der vorigen Mission!«
Sie verkündet es mir so, als wäre es ein großartiges Privileg.
»Was war eigentlich die letzte Nachricht von den Zomos?«
»Ihre Raumanzüge wurden zerstört. Laut den zuletzt übermittelten Temperaturwerten sind sie verbrannt.«
»Mit den Zomos drin?«
»Das wissen wir nicht.«
Nun verstand ich, weshalb mir Admiralin Colette diese Details vorenthalten hatte.
»Auf jeden Fall müssen Sie Ihren Raumanzug immer und überall anbehalten, Rekrut Robin. Er wird uns ständig Ihre Koordinaten übermitteln und Ihre medizinischen Werte.«
»Damit Sie sagen können, ob ich blutig, medium oder schon verschmort bin?«
Einen Augenblick lang konnte sie sich noch zusammenreißen, aber dann lachte sie laut los, und ich sah alle ihre schönen Zähne.
Das ist einer meiner Tricks, der in den Tests nicht auftaucht: Ich schaffe es meistens, die Frauen zum Lachen zu bringen.
»Na schön, Alma«, sagte ich, »lassen wir die Formalitäten einen Moment beiseite. Was denkst du wirklich über diese Mission?«
Sofort hörte sie auf zu lachen und betrachtete mich mit einem finsteren Blick. Pocahontas war zornig.
»Du hast wirklich keinen Respekt vor der Autorität! Ich habe das schon im Bericht über dich gelesen.«
»In meiner Akte? Aber wie kannst du die gelesen haben?«
»Ach, eine kleine Sonderaktion …«
Wir schauten einander an. Es war nicht nötig, Yûs Namen auszusprechen. Sie ist die Einzige, die sich direkten Zugang zu Athena verschaffen kann.
Schließlich entspannte sich Pocahontas ein wenig. »Ich glaube, die Zomos haben eine Gefahrensituation falsch eingeschätzt. Eine Gefahr, die vermutlich von Menschen ausging. Wir haben Tonschnipsel von einer Auseinandersetzung zwischen ihnen und sprachbegabten Wesen.«
»Sprachbegabten Wesen? Könnte ich sie mir mal anhören?«
»Unter keinen Umständen, die Aufnahmen sind top secret, selbst ich habe keinen Zugang.«
Ich hatte den Eindruck, dass sie mich anlog.
»Schade, ich hätte herausfinden können, ob ich diese Sprache verstehe.«
Sie entgegnete nichts, aber ich spürte, dass sie verlegen war. Natürlich wäre es hilfreich gewesen, eine Vorstellung vom letzten bekannten Wortwechsel der Zomos zu bekommen. Aber wie so oft in der Kolonie ist sicher auch mein Gespräch mit Alma mitgeschnitten worden, und sie wollte mir einfach nicht zu viel sagen, damit man ihr das eines Tages nicht vorwerfen konnte.
Ich bin noch einmal zu Stan hinübergegangen, um ihn nach ein paar Tricks zu fragen, die meine Überlebenschancen auf der Erde erhöhen konnten. Schließlich ist er dafür ausgebildet worden. Am Ende habe ich mit ihm und seinen Kameraden zwei Tage verbracht, und im Großen und Ganzen fand ich die Zomos recht sympathisch. Sie haben alles getan, um mir die Grundbegriffe des Überlebens unter irdischen Bedingungen beizubringen. Als ich aufbrechen wollte, hat mir jeder die Hand geschüttelt, um mir Glück zu wünschen. (Sie tut mir immer noch weh davon; ich hoffe bloß, dass es etwas bringt.)
Bevor ich fortging, habe ich eine kleine Ansprache gehalten: Auch wenn ich kein Zomo sei, hielten wir hier doch alle zusammen, und ich würde nicht ohne ihre Freunde zur Kolonie zurückkehren. In solchen Reden bin ich ziemlich gut, und die Ovationen der Zomos waren so laut, dass mir fast die Ohren platzten.
Vor einigen Minuten bin ich in die Erdatmosphäre eingetreten, und immer noch denke ich an Yû – werde ich sie eines Tages wiedersehen? Und wird uns das endlich glücklich machen? Da zeigt mir ein Piepton an, dass man mit mir kommunizieren will. Seltsamerweise ist auf meinem Display gar nichts zu sehen. Dann erscheinen nur Schriftzeichen.
Warum bist du fortgegangen?
Yû? Aber das ist unmöglich, sie ist eine Zivilistin, sie hat keinen Zugang zum militärischen Kommunikationsnetz. Etwa eine Nachricht von Stan?
Ich liebe dich.
Nein, von Stan kommt das nicht.
Und plötzlich flimmert das Display, und es formt sich das Bild meiner Yû, ein wenig verschwommen wie eine Fata Morgana.
Sie lächelt mir zu, hat aber Tränen im Gesicht. Sie wischt sie mit ihrer zarten Hand fort und setzt eine ernste Miene auf. Die Bildqualität verschlechtert sich, und Ton kommt überhaupt keiner.
Yû schaut auf ihre Tastatur und tippt einen Text.
Irgendetwas stimmt nicht.
Auch ich beginne zu tippen.
Was denn?
Weiß ich noch nicht.
Ihr Bild verschwindet. Und das alles wegen dieser verdammten Erdatmosphäre.
Ich versuche, die Fassung zurückzugewinnen. Yû hat es geschafft, in das militärische Kommunikationsnetzwerk einzudringen! Und das, um mir eine Nachricht zu senden, die so rätselhaft wie beunruhigend ist.
Irgendetwas stimmt nicht.
Ich müsste ernsthaft darüber nachdenken, aber dafür bleibt mir keine Zeit.
Eine weitere Serie von Pieptönen: Mein Radar signalisiert mir, dass sich eine Abwehrrakete nähert.
Diesmal bin ich nicht überrascht, denn als das Raumschiff mit den Zomos die Erde anflog, ist das Gleiche passiert. Man hat herausgefunden, dass der Flugkörper von einer ehemaligen Militärbasis auf einem Atoll abgeschossen worden war. Dort gibt es zwar keine menschlichen Aktivitäten mehr, aber die Abwehrraketensysteme haben überlebt – programmiert für die Ewigkeit, um rechtzeitig alles zu zerstören, was einem Atomsprengkopf ähneln könnte. Und mein kleines Raumschiff ähnelt einer solchen Rakete offenbar sehr.
Die elektronischen Gegenmanöver und die Ausweichbewegungen des Zomo-Raumschiffs hatten die vorige Abwehrrakete mühelos abgeschüttelt, und sie war im Pazifik untergegangen.
Ich löse dieselben Maßnahmen aus – oder vielmehr, mein Raumschiff macht es automatisch.
Zunächst scheint alles gut zu gehen. Dann aber fährt mir der Schrecken in die Glieder: Die Abwehrrakete ändert ihren Kurs und kommt erneut auf mich zugeflogen!
Seit der Ankunft der Zomos muss das Abwehrsystem gelernt haben, unsere Ausweichmanöver zu kontern! Athena hat nicht richtig eingeschätzt, wie weit die Künstliche Intelligenz in der besten Zeit des blauen Planeten schon fortgeschritten war!
Ist auch mein System lernfähig genug? Wird es mich retten?
Ich sehe die Rakete in schwindelerregendem Tempo auf mich zukommen.
Nein, ich will nicht abwarten, bis meine Künstliche Intelligenz aufwacht; ich treffe eine sehr menschliche Entscheidung – und kopple mich ab.
Um Yû zu sehen, habe ich das Kommandoschiff verlassen und die Große Kuppel durchquert. Sie überspannt den größten Teil der Weltraumkolonie und ist mit atembarer Luft gefüllt. Die Große Kuppel hat wirklich gewaltige Ausmaße, aber vom Kosmos aus gesehen, ist sie nur eine paradiesische kleine Blase, die auf einer Eishölle sitzt – der Marsoberfläche, auf der das Fehlen von Sauerstoff und die kosmische Strahlung jede Form von Leben unmöglich machen. In meiner Kindheit existierte die Große Kuppel noch nicht, aber heute ermöglicht sie es, einen Spaziergang wie früher auf der Erde zu machen. Die Ingenieure haben sie von einer Version zur nächsten sogar noch weiterentwickelt, damit sie die Farben annimmt, die der Himmel hat, wenn man ihn zu verschiedenen Tageszeiten von der Erde aus betrachtet. Sogar das Vorüberziehen der Wolken und den Lauf der Jahreszeiten haben sie einprogrammiert.
Ich will jetzt nicht alle Aspekte des Lebens in der Kolonie beschreiben, sondern einfach erwähnen, dass Körperkraft bei uns unnütz ist – bei allen Anstrengungen assistieren uns Roboter –, damit man keine Risiken eingeht und angesichts einer so lebensfeindlichen Umgebung unbedingt auf alle Einzelheiten achtet. Nicht zuletzt deshalb haben im Lauf einiger Generationen Frauen alle wichtigen Positionen besetzt.
Die Zomos haben wir trotzdem behalten.
»Nur für den Fall der Fälle«, sagte damals Admiralin Bérangère, nachdem sie die Macht übernommen hatte. Das war nach der Großen Rebellion, in der jeder dritte Bewohner der Kolonie ums Leben gekommen war. Ausgebrochen war sie infolge einer Auseinandersetzung zwischen einem Admiral unseligen Angedenkens und dem Vizeadmiral – den beiden letzten Männern, die diese Positionen innegehabt hatten.
Admiralin Bérangère hatte bereits vorausgesehen, dass die Rückkehr auf die Erde eines Tages möglich sein würde. Allerdings würden die Gesellschaften der irdischen Überlebenden, die man dort anträfe, nicht unbedingt sanftmütig sein – und zu allem Überfluss wahrscheinlich noch von Männern angeführt.
Und so beschloss man, die Zomos zu behalten. Sie haben vermutlich am meisten Ähnlichkeit mit dem, was man auf Erden einst als »Spezialeinheiten« bezeichnete; allerdings haben wir ein paar genetische Verbesserungen vorgenommen, was ihre Körperkraft und Aggressivität angeht. Die Zomos bringen ihre Tage damit zu, sich in diversen Sportarten und Kämpfen zu trainieren. Wenn sie in einem Laufgang auftauchen, hört man schon von Weitem ihre Ausrufe und ihr raues Lachen. Die meisten hier mögen sie nicht, was ich ziemlich ungerecht finde. Ich habe sogar einen Freund aus Kindheitstagen, Stan, der Zomo geworden ist.
Auch ihn muss ich noch aufsuchen.
Ich finde ihn im Trainingsraum für den Nahkampf ohne Waffe, wo er gerade mächtig auf einen anderen Zomo eindrischt. Beide tragen Helme und Protektoren mit Mikrochips, die all ihre Bewegungen aufzeichnen, damit man sie später auswerten kann. Sie können aber auch das Ende eines Kampfes auslösen, sobald die Wucht eines Treffers zu Schädigungen zu führen droht.
Genau das ist gerade passiert, als ich ankomme. Der mit den Mikrochips vernetzte Computer hat ein Signal ertönen lassen, um den Kampf zu stoppen, aber Stans Gegner, der sichtlich angeschlagen ist, versucht wieder auf die Beine zu kommen und ruft: »Nein! Wir hören nicht auf, los, weiter geht’s!«
So sind sie, die Zomos.
Stan nimmt seinen Helm ab und kommt mir entgegen.
Er ist ein schönes Exemplar der Gattung Mensch, auf die kriegerische Art. Seine Muskeln füllen den Kampfanzug harmonisch aus. Sein entschlossener Blick unter geraden Brauen, das energische, von einem Grübchen gezierte Kinn und die hohlen Wangen eines Athleten ohne Fettanteile lassen ihn so aussehen, wie er wirklich ist: ein Elitesoldat mit der Gabe zum Kommandanten.
Ich weiß, dass er ziemlich oft in die Kabinen der Offizierinnen gerufen wird. Dennoch herrschen strenge Regeln: nie mehr als zweimal nacheinander mit derselben Person und, was ihn betrifft, höchstens fünf Nächte pro Monat. Nachdem sexuelle Beziehungen zwischen Militärangehörigen jahrzehntelang verboten gewesen waren (was stets unterlaufen wurde), gelangten Athena und ihre Vorläufer schließlich zu den genannten Empfehlungen. Man hält sie für optimal, um Rivalitäten und enge Bindungen, die dem Funktionieren der Truppe schaden könnten, so weit wie möglich zu vermeiden. Stan ist zufrieden damit, er liebt die Abwechslung und verspürt überhaupt keine Lust, sich an jemanden zu binden, es sei denn, an seine Kumpel unter den Zomos – und auch an mich, seinen einzigen Freund, der kein Zomo ist.
»Was machst du denn hier, Rob? Wie geht’s dir?«
Ich berichte ihm von meinem Besuch bei der Admiralin und meiner künftigen Mission.
Mein Freund macht ein noch erstaunteres Gesicht als Yû.
»Die Zomos sind nicht zurückgekommen, und ausgerechnet dich schickt man dorthin?«
Genau das hat auch Yû gesagt, und ich weiß nicht warum, aber es nervt mich langsam.
»Du bist doch nicht mal Berufssoldat«, fügt Stan hinzu.
Ja, anders als er, der sich alle Hoffnungen auf eine Karriere machen darf. Dank seiner vorzüglichen Evaluationen (sowohl für seine Leistungen als auch für seine Menschenführung) kann Stan darauf hoffen, die höchsten Dienstgrade zu erklimmen; sein Handicap, ein Mann zu sein, wird dadurch kompensiert, dass die höheren Offizierinnen eine Vorliebe für ihn haben.
Vielleicht träumt er sogar davon, eines Tages Vizeadmiral zu werden – oder warum nicht gar Admiral, der erste seit mehreren Generationen?
Weil Stan unter seiner rauen Schale ein feinfühliger Freund ist, spricht er eine Sache nicht aus, aber ich weiß, dass er daran denkt: Und außerdem, mein armer Rob, bist du nur ein Neutrum!
Mit meinen Testergebnissen bin ich wirklich nichts anderes. Meine Fähigkeiten reichen nicht aus für die hochqualifizierten Jobs in der Weltraumkolonie, von denen die meisten mit Forschung oder Programmieren zu tun haben.
Neutrum ist ein besseres Wort als Nichtsnutz, aber jeder hier weiß, was es bedeutet. In den fortgeschrittenen Gesellschaften auf der Erde hatten die meisten Neutren bis in die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts Arbeit finden können, denn damals entsprach die Mehrzahl der Jobs noch ihren Fähigkeiten. Allmählich aber hatten die Fortschritte in Robotertechnik und Künstlicher Intelligenz diese Menschen immer nutzloser gemacht. Dabei hatten sie keinen anderen Makel, als durchschnittlich zu sein oder ein wenig unter dem Durchschnitt zu liegen. Die wachsende Zahl nutzloser Menschen hatte auch die mächtigen sozialen Konflikte und Migrationswellen hervorgerufen, durch die auf der Erde ein gewalttätiges und instabiles Lebensumfeld entstanden war.
Die Kolonie hat es gelernt, im Umgang mit ihren Neutren klüger zu sein, spätestens nach der Großen Rebellion, an welcher die Neutren beträchtlichen Anteil gehabt hatten und die ausgebrochen war, nachdem der damals herrschende Admiral sie in eine abgetrennte Zone der Kolonie hatte verbannen wollen.
Um die Neutren nicht mehr auszuschließen, weist man ihnen seither die Rolle von Assistenten an der Seite begabterer Individuen zu.
Und trotzdem kursiert in der Kolonie ein böser Witz: Neutrum + 1 = 0.
Es gibt auch ein paar Tätigkeiten, die noch nicht vollständig automatisiert wurden, damit man bei ihrer Ausführung das Gefühl hat, nützlich zu sein. So drosselt man beispielsweise die Roboter, um den Neutren noch ein wenig Spielraum zu lassen.
Aber die Vorstellung, eines Tages als persönlicher Assistent oder Aushilfstechniker unglaublich toll zu sein, erweckt in mir keinen wirklichen Enthusiasmus.
Zum Glück lässt man uns viel Zeit, für Hobbys, für die wir besonders talentiert zu sein glauben, auch wenn Athena schon vorhergesehen hat, dass nie etwas Großes daraus wird. Bei mir sind es das Studium der Weltgeschichte und das Schachspiel.
Ich gehöre zu einer der letzten Generationen von Neutren. Dank der Fortschritte in der Gentechnologie wird es eines Tages in der Kolonie kein einziges mehr davon geben.
Manchmal, wenn auch selten, kommt es zwischen Neutren und Höherbegabten zu Liebesbeziehungen, etwa zwischen Yû und mir, und auch zu Freundschaften, wie Stan und ich sie pflegen.
»Aber warum schicken sie gerade dich zur Erde?«, fährt Stan fort, und es klingt beinahe zornig. »Du wirst dort inmitten von Wilden sein, vielleicht von Kannibalen. Weshalb schicken sie nicht wieder uns Zomos, diesmal vielleicht eine Kampfeinheit?«
Denn die Admiralin hat mir verraten, dass man einen Trupp von zwölf Männern zur Erde geschickt hatte, und zwar unter der Führung von Lieutenant Zulma, einer Art von weiblichem Pendant zu den Zomos (ich kenne sie, denn sie ist mehrmals im Schachklub aufgetaucht – mit dem einzigen Ziel, Yû anzubaggern). Nach einigen beruhigenden Nachrichten, die sie bei ihrer Ankunft auf einer Insel abgeschickt hatten, war von den Zomos kein Lebenszeichen mehr eingetroffen. Auch die automatische Übermittlung ihrer medizinischen Werte war zum Erliegen gekommen.
»Die Admiralin hält es für eine fehlerhafte Denkweise, eine größere Truppe hinschicken zu wollen. Es hat schon einmal nicht funktioniert, und jetzt noch mehr vom Gleichen?«
»Es kotzt mich an, wenn Menschen versuchen, einen auf Künstliche Intelligenz zu machen«, sagt Stan.
Ich schaue ihm eindringlich in die Augen, um ihn zu warnen. Hier weiß man doch nie, wann unsere Gespräche mitgeschnitten werden, und da ich gerade aus dem Büro der Admiralin komme, wird meine Unterhaltung mit Stan mit Sicherheit aufgezeichnet. Aber da er auf allen Gebieten so tolle Ergebnisse hat, weiß er natürlich auch, dass man ihm ein paar Unverschämtheiten durchgehen lässt. Zu Beginn hatten die Leute Angst vor den Überwachungs- und Speichersystemen, deren Daten von Athena verarbeitet werden. Bald aber entdeckte man, welche Vorteile es hat, von automatisierten Systemen bewertet zu werden: Die subjektiv gefärbte Note eines Vorgesetzten hat wenig Einfluss – wie man ja am unvorteilhaften Bericht sehen konnte, den Lieutenant Jessica über mich abgegeben hat.
Athena hat keine wechselnden Stimmungen und lädt dich nicht ein, zu ihr aufs Zimmer zu kommen.
»Okay«, sagt Stan, der mein kleines Warnsignal empfangen hat. »Aber warum ausgerechnet du?«
»Ich habe eine Begabung für Sprachen.«
»Für Sprachen … Aber für welche denn?«
Die gleiche Frage hatte ich der Admiralin gestellt.
Ich bin wütend auf mich selbst – wie bescheuert war das denn!
Gerade habe ich mit Robin kommuniziert, aber außer ihn zu beunruhigen, konnte ich gar nichts erreichen.
Ich wollte ihn so gern noch einmal wiedersehen …
Dafür habe ich mich in einen Kanal des militärischen Nachrichtennetzes gehackt.
Um die Yû von heute glücklich zu machen, habe ich der Yû von morgen vermutlich jede Menge Ärger organisiert.
Es sei denn, meine kleinen Manöver waren wirkungsvoll, und keiner von den Minderbegabten im Kommunikationsbereich hat mitbekommen, dass ich in ihren »maximal gesicherten« Kanälen umherspaziert bin.
Na schön, jetzt aber an die Arbeit.
Weshalb nur haben sie Robin zur Erde geschickt?
Also gut, Harmonie liegt ihm, und, warum nicht, sprachbegabt ist er auch; ich habe das alles in seiner Akte nachgeprüft.
Ich glaube, dass Admiralin Colette aufrichtig ist.
Aber Athena? Warum hat Athena diese Entscheidung akzeptiert?
Ich kann es nicht erklären, aber ich spüre, dass es noch einen verborgenen Grund geben muss, irgendein Geheimnis, vergraben in Myriaden ihrer Daten und Algorithmen.
Diesen Grund will ich finden.
Es ist für mich gar nicht so schwierig, mich in Athenas Labyrinthe einzuschleichen, schließlich habe ich viele ihrer Ebenen mit angelegt. Aber in Athena einzudringen, ohne Spuren zu hinterlassen – das ist wirklich knifflig.
Bis jetzt habe ich nichts gefunden, was ich über Robin nicht schon wusste: sein Persönlichkeitsprofil, das seiner Eltern, seine Resultate in Schule und Studium, seine Freundinnen vor mir (nach dem, was er mir gesagt hat, waren es bloß Sexgeschichten, aber ich hatte den Eindruck, die Sache mit einer gewissen Anna war ernster). Mir ist jetzt noch bewusster, wie beliebt er ist: Schon in der Schule war er immer Klassensprecher, und jetzt ist er Vertreter der Wehrpflichtigen. Trotzdem, warum schickt man einen solchen Menschen ganz allein los zu dieser Mission?
Kavan versteht nicht, warum ich nicht zum Abendessen oder ins Bett komme.
Ich habe ihm gesagt, dass man mir eine wichtige Aufgabe anvertraut hat: Ich soll wieder einmal die Synchronisation zwischen den technischen und den menschlichen Daten verbessern. Das stimmt übrigens sogar, aber ich habe noch nie so viel Zeit nonstop unter meinem Helm verbracht.
Er glaubt es mir.
Wird es mir gelingen, in Athena einzudringen, ohne dass sie es merkt? Es würde sonst umgehend der Kommandantur gemeldet. Körperliche Gewalt und unerlaubte technische Eingriffe sind die beiden Delikte, die in der Kolonie am härtesten bestraft werden.
Ich bin sicher, dass selbst auf Spitzenforscher wie mich eine längere Umerziehung warten würde – heftig genug, um mich neu zu konditionieren, doch natürlich ohne bleibende Schäden.
Aber ich habe schon Leute gesehen, die sich nach einer solchen Bestrafung in wahre Zombies verwandelt hatten. Man hat ihnen nur diejenigen Fähigkeiten belassen, die mit ihrer Funktion in der Kolonie verbunden waren, aber ihre Persönlichkeit war wie weggeschliffen.
Ich würde danach nie mehr Kummer und Schmerzen empfinden können – und also auch nicht mehr Gefahr laufen, unter dem Einfluss meiner Emotionen Fehler zu begehen.
Und an meinem Liebsten könnte ich künftig vorübergehen, ohne dass mein Herz schneller zu schlagen beginnt.