DRDAVID PERLMUTTER

DRAUSTIN PERLMUTTER

MIT KRISTIN LOBERG

BLÖD

IM

KOPF?

Neustart fürs Gehirn –
damit Konsumgesellschaft, digitaler Alltag
& Fast Food uns nicht kaputtmachen

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt
und redaktionell bearbeitet von
Christina Knüllig

© 2020 by Südwest Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2020 by David Perlmutter, MD,
and Austin Perlmutter, MDa

This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.

Die vorliegende deutsche Ausgabe wurde vermittelt durch Mohrbooks AG Literary Agency, Seefeldstrasse 303, 8008 Zürich, Schweiz.

HINWEISE
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Das vorliegende Buch wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.


Projektleitung: Andrei-Sorin Teusianu
Übersetzung und Redaktion: Christina Knüllig
Korrektorat: Susanne Schneider
Herstellung: Marleen Janzen
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
Covergestaltung: Eva Salzgeber

ISBN: 978-3-641-26772-8
V001

www.suedwest-verlag.de

Allen auf der Suche nach
Verbundenheit gewidmet

Inhalt

Vorwort

Zur Einführung

Eine neue Wirklichkeit

TEIL 1: UNTER STÄNDIGEM EINFLUSS

KAPITEL 1: Das Unverbundenheitssyndrom

Traurige Zustände

KAPITEL 2: Total irre

Die unglaubliche Geschichte unseres Gehirns

KAPITEL 3: Höhen und Tiefen im Gehirn

Der Weg der Belohnung

KAPITEL 4: Verrückt nach Hightech

Wie uns das digitale Leben auseinanderbringt

KAPITEL 5 Die Gabe der Empathie

Sich vom Unverbundenheitssyndrom befreien

TEIL 2: DEN BANN BRECHEN

KAPITEL 6 Von wegen Mensch gegen Natur

Zurück zu den Wurzeln

KAPITEL 7: Reinen Tisch machen

Nervennahrung

KAPITEL 8: Süße Träume

Nächtlicher Neustart

KAPITEL 9: Glücklicher Körper, glücklicher Geist

Ein bewegter Körper bleibt in Schwung

KAPITEL 10: Stille Zeit

Achtsam sein

KAPITEL 11: Das 10-Tage-Neustart-Programm

So geht’s

KAPITEL 12 Die Neustart-Rezepte

In der Küche den Anschluss wiederfinden

Fazit

Sie werden gebraucht

Danksagung

Anmerkungen

Register

Vorwort

Die erste Auflage dieses Buches erschien in den USA ganz kurz bevor das neue und tödliche Coronavirus seinen Zug um die Welt antrat. Kollektive Angst, Panik und Stress – zusätzlich zu dem, was die Menschen ohnehin umtreibt – machen unser Buch nun umso relevanter. Unsere Botschaft hat ebenfalls mit Abstandhalten und Distanzierung zu tun, nämlich von unserer Angst. Wir stehen ein für angemessenes Handeln und Denken, für ein Verhalten, das uns körperlich und geistig stark und resilient macht, sowie für die heilende Kraft der Empathie. Wenn wir empathisch und solidarisch handeln, dann ist allen gedient.

Die COVID-19-Pandemie wirft eine Reihe von Fragen auf, auf die wir entweder noch gar keine oder zumindest keine zufriedenstellende Antwort haben. Im Verständnis um die Biologie und die Persönlichkeit dieses Virus stehen wir noch ganz am Anfang. Klar ist nur, dass seine schnelle Verbreitung alles Mögliche zutage befördert: profunde Wissenslücken und Lücken in der medizinischen Versorgung, gesellschaftliche Brüche, aber auch die Verantwortung des Einzelnen, wenn es um die Gesundheit der Mitmenschen geht. Andererseits hat die Pandemie zu einer weltweiten Solidarität und einer breiten wissenschaftlichen Zusammenarbeit geführt.

Lag der Fokus bislang auf den körperlichen Folgen des Virus, so hat es doch auch weitreichende psychische Folgen. Eine amerikanische Umfrage vom März 2020 hat gezeigt, dass davon bereits 36 Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Und 1210 Chinesen bewerteten schon Anfang 2020 den Einfluss von COVID-19 auf ihr psychisches Wohlergehen als mittelstark bis schwer. Einen heftigen Anstieg von Einsamkeitswerten verzeichnet eine Umfrage von Harris Poll. 44 Prozent der Amerikaner sind als unmittelbare Pandemiefolge so einsam wie nie. 52 Prozent wünschen sich konkrete Hilfe, um besser durch diese Zeit zu kommen. Weil der Einschnitt so stark ist, steht zu befürchten, dass uns die psychischen, aber auch die wirtschaftlichen Folgen von COVID-19 noch für Jahrzehnte beschäftigen werden.

Doch die Wahrheit ist, dass wir mit den Folgen des Virus wohl werden leben müssen. Die gute Nachricht ist, dass wir mit dieser Unsicherheit umgehen lernen können, was unsere Gesundheit und Sicherheit betrifft, aber vor allem unser geistiges Wohlergehen. Wir müssen unser Gehirn in die Lage versetzen, ruhig und besonnen zu sein. Das ist der Anfang. Wir hegen unsere Ängste ein und können dieser Krankheit innerlich gestärkt begegnen. Wir zeigen Ihnen hier wissenschaftlich fundierte Methoden, damit Sie sich in der neuen Normalität so leicht und angstfrei wie möglich bewegen. Dazu gehören unter anderem ein reduzierter Nachrichtenkonsum, Achtsamkeitsübungen, guter Schlaf, gesunde Essgewohnheiten und mehr Zeit in der Natur.

Im Kampf gegen den neuen Feind haben wir einige Freiheiten zurückstellen müssen. Davon unberührt blieb jedoch die Art, wie wir der Welt begegnen. Natürlich sollten wir die Probleme der Zeit anerkennen, aber zugleich auch danach Ausschau halten, wo sich Möglichkeiten zum Wachstum ergeben. Indem wir unseren Geist mäßigen und auf unsere Gesundheit achten, bleiben wir ganz bei uns. Und dann können wir auch den Widrigkeiten begegnen. Auf unserer gemeinsamen Reise durch diese Zeit hoffen wir, dass Ihnen dieses Buch guttun und Sie stärken möge.

Dres. David und Austin Perlmutter im April 2020

Zur Einführung

Eine neue Wirklichkeit

»Willst du glücklich sein im Leben, dann sei es!«

Leo Tolstoi

Wann waren Sie das letzte Mal richtig glücklich, wann war Ihr Kopf frei und wann waren Sie ausgeruht, in Einklang mit sich und der Welt? Wenn das schon eine Weile her ist, dann ist dieses Buch genau das Richtige für Sie. Allerdings sind Sie mit diesem Gefühl auch nicht allein. Vielen von uns geht es ebenso, vielleicht, ohne es zu wissen, oder ohne eine Idee, wie sich das ändern lässt. Manche haben aber auch schon aufgegeben und funktionieren im Alltag so gut es irgendwie geht. Doch das muss nicht sein.

Lösen Sie sich aus der Monotonie und streben Sie nach Freude und Sinnhaftigkeit – und zwar auch, wenn Sie Konflikte austragen, Enttäuschungen verschmerzen und Herausforderungen annehmen müssen. Denn diese sind unvermeidlich. Nicht unvermeidlich dagegen ist ein ständiges Gefühl der Unverbundenheit, der Unbestimmtheit, die Sorge um eine unbestimmte Zukunft und ein allgemeiner Lebensüberdruss. Entscheidend ist, dass sich diese Gefühle tatsächlich oft vermeiden lassen und, was noch wichtiger ist, dass man ein nachhaltiges Lebensglück erreichen kann. So manches auf den folgenden Seiten mutet leicht an, anderes nicht, aber alle Vorhaben sind grundsätzlich umsetzbar.

Lassen Sie uns zunächst jedoch eines klarstellen: Wir selbst sind noch nicht am Ende des Weges angelangt. Wir sind zusammen mit Ihnen unterwegs. Allerdings glauben wir fest, dass wir eine gute Möglichkeit gefunden haben, wie man wirklich geistig und körperlich gesundet. Nun können wir es kaum erwarten, dass Sie sich mit uns auf den Weg machen.

Wir alle unterliegen einem modernen Paradox: Noch nie gab es so viele Möglichkeiten. Wir können essen, was wir wollen und wann wir wollen. Wir können uns in spannenden digitalen Welten verlieren. Wir können Güter und Dienstleistungen erwerben und selbst auf Knopfdruck (oder mit einer Wischbewegung) einen möglichen Partner oder eine Partnerin finden. Wir können rund um die Uhr sieben Tage die Woche online präsent sein und alles über uns preisgeben: unsere Gedanken und Einstellungen, unsere Fotos, Internetrecherchen, Likes und Nicht-Likes sowie unseren Standort. Diese Dauerpräsenz, so meinen wir, sollte uns glücklich und zufrieden machen. Viele unserer Bedürfnisse werden hier mehr als erfüllt, doch ein Paradies entsteht daraus nicht. Im Gegenteil. Wir haben es mit einer steigenden Zahl zum Teil vermeidbarer Erkrankungen zu tun und sind einsamer und unglücklicher als jemals zuvor. Wahre Freude sieht anders aus.

Das Verrückte ist, dass unsere heutige Welt – auch wenn uns die ständigen Nachrichten ein anderes Bild vermitteln – relativ friedlich ist. Doch geben Sie eine repräsentative Umfrage in Auftrag, werden Sie die meisten sagen hören, wir lebten in schlimmen Zeiten. Angst, Unbehagen und Nervosität prägen das Lebensgefühl. Viele Menschen fühlen sich irgendwie gefangen. Hinzu kommt, dass die Werte für Misstrauen neue Höhen erklimmen. Eine kürzlich unter 10 000 US-Amerikanern vorgenommene Befragung zeigt auf dem Feld der politischen Ideologie die höchste Polarisierung seit Jahrzehnten. Gegenüber 2004 hat sich der Anteil der Menschen, die den politischen Gegner negativ bewerten, mehr als verdoppelt.1 Das überrascht allerdings nicht.

Was wir Ihnen hier ans Herz legen möchten, ist eine neue Lebensperspektive. Zusammen wollen wir herausfinden, wie sich ein sinnvolles Leben erreichen und erhalten lässt, eines, das über die bloße körperliche und seelische Gesundheit hinausgeht. Es wird Zeit, mit dem Gefühl, irgendwann noch ganz blöd zu werden, Schluss zu machen. Wir wünschen uns eine Gehirnwäsche der anderen Art: einen frischen Neustart im Kopf.

MÖGLICHKEITEN … UND GRENZEN

Stellen Sie sich bitte einen Augenblick lang vor, dass Sie sich gerade einmal um nichts sorgen. Sie fühlen sich geerdet, voller Energie, weder erschöpft noch bedrückt, weder ausgebrannt noch innerlich leer. Sie vertrauen auf Ihren Körper und seine Selbstheilungskräfte. Sie sind auch nicht gestresst, weil Sie darauf vertrauen, dass sich alles schon irgendwie löst. Was morgen sein wird, müssen Sie jetzt nicht wissen, aber Sie wissen um Ihre Handlungsspielräume. Mit der Vergangenheit haben Sie Frieden geschlossen, auch wenn es traumatische Erlebnisse gab. Auch mit Freunden, die ganz anders ticken als Sie selbst, sind Sie im Reinen. Alles fühlt sich gut an. Ihre Selbstgespräche sind aufmunternd, entspannt und offen. Ihr Leben ist wie ein Lied, das Sie immer noch einmal hören möchten. So eine innere Ruhe und Zufriedenheit ist angesichts der modernen Zwänge und Verpflichtungen nur schwer vorstellbar. Aber völlig unrealistisch ist das nicht. Der Trick ist nur, dass man wissen muss, wie es in unserem Kopf zugeht. Nur so können wir aus der Negativspirale aussteigen. In diesem Buch gehen wir deshalb zunächst von einer simplen Prämisse aus:

Unsere Gehirnleistung wird manipuliert, was mehr als je zuvor zu Gefühlen der Einsamkeit führt, zu Unruhe und Depression, Misstrauen, Krankheitsanfälligkeit und Übergewicht. Gleichzeitig erleben wir eine Entfremdung – eine Unverbundenheit – uns selbst, anderen und der Welt überhaupt gegenüber.

Kaum jemand wird bestreiten, dass ungute Lebensgewohnheiten im Alltag sich negativ auf unsere Gesundheit auswirken. So wissen wir zum Beispiel, dass Junkfood uns nicht guttut und uns langfristig krank macht. Doch warum essen wir es dann immer noch? Warum konsumieren wir dauernd das Falsche? Die Antwort ist nicht ganz einfach, aber wir müssen, um weiterzukommen, der Wahrheit ins Auge sehen: weil wir systematisch an diese Gifte gewöhnt werden.

Das, was wir essen, macht uns, ähnlich wie andere Elemente unserer Lebensführung, entweder gesund oder chronisch krank. Auf das Konto der chronischen Erkrankungen gehen mittlerweile 70 Prozent aller US-amerikanischen Todesfälle, wobei die Hälfte der Amerikaner an Krankheiten wie Diabetes, Herzerkrankungen, Krebs und Alzheimerdemenz leidet.2 Und obwohl wir unablässig darüber streiten, wie wir unser Gesundheitswesen reformieren sollten, vergessen wir darüber, dass wir 75 Prozent unserer Gesundheitsausgaben für im Grunde vermeidbare Erkrankungen ausgeben.3 Die Weltgesundheitsorganisation sieht in chronisch-degenerativen Erkrankungen (darunter die eben aufgeführten) mittlerweile die Todesursache Nummer eins auf der Welt, weit vor Nahrungsmittelknappheit, Infektionskrankheiten und Kriegen.4

Für Sie ist das vielleicht nichts Neues, da Sie den Zusammenhang zwischen Ernährung und Krankheit schon kennen. Aber was Sie vielleicht noch nicht wissen, ist, dass Ihre Nahrung ebenfalls Einfluss hat auf Ihre Gefühle, Gedanken und Ihre Wahrnehmung Ihrer Umgebung. Doch genauso beeinflussen Stimmung und Wahrnehmung das Essverhalten, und zwar ganz unmittelbar. Dieser Umstand wird dann auch leidlich von der Lebensmittelindustrie ausgenutzt. Und so entsteht ein Teufelskreis, der unserer Gesundheit schadet – und unserem Gehirn. Wir werden Ihnen zeigen, wie Sie aus diesem Schlamassel wieder rauskommen. Aber es geht um weit mehr als um bloße Ernährungsgewohnheiten.

Durch die ständige Werbung werden Sie tausendfach am Tag erinnert, dass die sofortige Bedürfnisbefriedigung der Weg zum Glück ist. Diese Botschaft ist unterschwellig immer da. Abermilliarden werden weltweit investiert, damit wir das Glück auf falschen Wegen suchen. Unser Gehirn wird dabei so beeinflusst, dass wir immer mehr von dem wollen, was uns von unserem eigentlichen Ziel entfernt. Vielleicht meinen Sie, doch alles richtig zu machen, um erfolgreich zu sein. Aber so richtig will sich keine Freude einstellen. Überall in den sozialen Medien wird uns vermittelt, dass die anderen gerade richtig viel Spaß haben. Anzeigen sagen, dass der Kauf eines bestimmten Produkts unser Leben verändern wird, eine Diätpille verspricht das Abschmelzen der Rettungsringe in Nullkommanichts. Der Versuch, sich gesund zu ernähren, wird konterkariert durch leckeres Billigessen, das überall verfügbar ist. Am Ende geben wir uns selbst die Schuld dafür, dass wir ungesund leben. Das ist traurig, aber leider mittlerweile normal. In der Folge kommt es nun zu chronischem Stress, genau jenem Stress, der so schlecht ist fürs Gehirn, denn hier werden genau die Areale geschädigt, in denen das Gefühl entsteht, handlungsfähig zu sein, das eigene Leben im Griff zu haben. In dem Versuch, all das zu bewältigen, suchen wir nach einer schnellen Belohnung. Doch das macht es noch schwerer, den Teufelskreis im Hirn zu durchbrechen. Keine Lösung weit und breit. In den folgenden Kapiteln werden Sie deshalb erfahren, was genau da passiert und was Sie dagegen tun können. Da geht noch was. Sie wollen weiterkommen, Ihr Körper will es, Ihr Geist will es. Nun müssen Sie nur noch wissen, wie.

Biologisch gesehen führen uns gleich mehrere Faktoren in die Falle der sofortigen Bedürfnisbefriedigung. Das werden wir im Verlauf dieses Buches näher erläutern. So wissen Sie ja vielleicht schon, dass chronische Entzündungen Ursache vieler Erkrankungen sind, die uns heutzutage plagen. Aber Sie wissen womöglich noch nicht, dass chronische Entzündungen auch das Gehirn beeinflussen, was zu unguten Entscheidungen und impulsiven Handlungen führt.

Im ersten Teil »Unter ständigem Einfluss« werden wir uns den geheimen Mechanismen widmen, die unser aller Streben nach Sinnhaftigkeit, Freude und nachhaltiger Gesundheit unterminieren. Im zweiten Teil »Den Bann brechen« werden wir Ihnen dann zeigen, was zu tun ist, damit Sie wieder klar denken können, gute Bindungen zu anderen haben und insgesamt gesünder leben. Für alle jene unter Ihnen, die gerne strukturiert vorgehen, haben wir ein praktisches 10-Tage-Neustart-Programm aufgesetzt, das alle Einzelelemente bündelt. Denn in der Tat können Sie innerhalb von zehn Tagen gesundheitsmäßig und für Ihr Leben insgesamt eine erste Veränderung erreichen.

UNSER AUSGANGSPUNKT

Nicht alle Tage hat man ein Buch in der Hand, das Vater und Sohn geschrieben haben. Wir haben uns aus der Perspektive zweier unterschiedlicher Generationen zusammengetan, um folgender Frage nachzugehen: Was hält uns Menschen davon ab, glücklich zu sein? Hier unser Ausgangspunkt in jeweils eigenen Worten.

Austin: In meinem praktischen Jahr während des Medizinstudiums bin ich zunächst einmal ganz traditionell vorgegangen: Diagnosestellung und Behandlung individueller Erkrankungen. Ich gab mein Bestes, um die vielen Probleme meiner Patienten richtig zuzuordnen und zu managen. Doch trotz meiner Bemühungen wollten viele meiner Patienten den sorgsam ausgearbeiteten Behandlungsplänen nicht so recht folgen. Doch warum schlugen sie lebensverlängernde Medikamente aus oder eine Ernährung, die sie zumindest der Theorie nach vor einem Herzversagen oder Diabetes schützen würde?

Ich hatte fälschlicherweise angenommen, dass meine Patienten und ich die gleichen Interessen haben. Doch dieser Denkfehler löste sich auf, als ich anfing, meinen Patienten eine Frage zu stellen: »Was bedeutet Ihnen wirklich etwas?« Ich war davon ausgegangen, dass ihre Gesundheit an erster Stelle stand, und war geschockt, wie falsch ich damit lag. Für kaum jemanden lag die Gesundheit an erster Stelle, zumindest nicht so, wie ich es erwartet hatte. Stattdessen wurden Dinge wie »Familie«, »Freunde« und überraschenderweise sogar »die Hobbys« genannt. Schnell wurde klar, dass dies die Dinge waren, die den Menschen am meisten Sinnhaftigkeit und Freude brachten. Was ihnen wirklich wichtig war, war Verbundenheit. Eine gute Gesundheit war nur das Mittel zum Zweck.

Da wurde mir klar, dass ich meine Vorstellung von Hilfestellung meinerseits überdenken musste. Wenn ich wirklich etwas für meine Patienten tun wollte, dann musste ich mit ebenjener Verbundenheit anfangen.

Dies wiederum ließ mich eher verstehen, wie wir eigentlich mit uns selbst umgehen, mit anderen, mit der Welt, die uns umgibt. Mir wurde klar, dass Sinnhaftigkeit nicht im Kauf neuer Dinge liegt oder in schnellen digitalen Kontakten. Und doch lenkt uns unsere Kultur immer stärker in diese Richtung. Daten belegen, dass wir immer mehr Zeit am Tag auf der Suche nach spontaner Befriedigung zubringen und dabei das aus den Augen verlieren, was unser Leben reicher macht. Das ist besorgniserregend. Die Frage ist also nicht nur, wie man Verbundenheit erlangt, sondern auch, welcher Art die Hindernisse dabei sind. Ich fing also an, nach Möglichkeiten zu suchen, wie sich Verbundenheit erreichen lässt, und fand dabei, dass es vielleicht sogar noch wichtiger ist, sich von der Unverbundenheit zu befreien. Die Gelegenheit, dieses wichtige Thema gemeinsam mit meinem Vater auszuloten und dann damit in die Welt zu gehen, gehört mit zu den schönsten Erfahrungen meines Lebens.

David: Meine Mission über die letzten vier Jahrzehnte war immer, durch Wissen etwas zu bewirken. Wie sich der Lebensstil – einschließlich Bewegung und Ernährung – auf Gesundheit und Langlebigkeit auswirkt, war in meinen Büchern und Vorträgen immer zentral. Ich wollte diese Informationen präsentieren, damit ihre Botschaft in der allgegenwärtigen Werbung nicht untergeht. Dabei ist mir klar geworden, dass es am Ende die Unverbundenheit ist, die uns davon abhält, lange und gesund zu leben, glücklich und zufrieden zu sein. Das aber lässt sich ändern.

Dieses Buch ist nicht nur aus der Begeisterung für die Sache heraus entstanden, sondern auch eine Art Liebesdienst. Ich habe mich mit meinem Sohn für dieses Projekt zusammengetan und von ihm als Individuum, aber auch als Vertreter seiner Generation gelernt. Das ist eine große Ehre und eine wirkliche Gelegenheit. Im Hinblick auf die Zukunft macht mich das hoffnungsfroh.

NEUSTART IM KOPF

Während der Vorarbeiten zu diesem Buch hätten wir uns nicht träumen lassen, auf was wir da stoßen würden. Schon bald waren wir alarmiert und verwandelt, denn wir begriffen die Tragweite unseres Projekts. Je mehr wir uns mit der Forschung auseinandersetzten, desto mehr erkannten wir, dass wir da auf etwas ganz GROSSES gestoßen waren. Das hatte Veränderungspotenzial, und zwar nicht nur für einzelne Menschen (einschließlich uns), sondern für die Erde insgesamt und alle Gesellschaften. Das ist nicht wenig. Es geht hier um nicht weniger als um das Schicksal des Planeten. Das klingt jetzt vielleicht übertrieben, aber wir werden den Beweis erbringen. Glückliche, verbundene Menschen ermöglichen eine glückliche Erde, auf der individuellen gesundheitlichen, aber auch auf der Umweltebene. Schauen wir uns nur einmal um, wie es um das Wohl unseres Planeten bestellt ist. Nachhaltig ist das nicht. Wir brauchen Sie, und wir brauchen einander.

Wir plädieren hier im Übrigen nicht dafür, alle moderne Technik abzuschaffen. Im Gegenteil, wir schätzen diese Errungenschaften unserer Zeit und nutzen sie ebenso. Dieses Buch wäre beispielsweise nicht ohne Onlinedatenbanken und Video-Telefonkonferenzen zustande gekommen. Doch wir setzen uns für einen anderen Umgang mit der digitalen Welt ein, einen, in dem wir die aktive Rolle spielen und nicht zu Getriebenen werden. Es gibt so viele Möglichkeiten der digitalen Vernetzung und des wechselseitigen Lernens, aber dazu müssen wir die neuen Technologien auch richtig anwenden. Die Welt hat so viel zu bieten, und die Mittel und Wege, das Leben – unser Wohl – positiv zu beeinflussen, liegen direkt vor unserer Nase. Wir können es kaum erwarten, Ihnen davon zu berichten.

Trotz der globalen Ausrichtung dieses Buches geht es uns im Grunde um ein praktisches Grundgerüst, das Sie ganz einfach in Ihrer Lebenssituation anwenden können. Wir leben und arbeiten ebenfalls in der modernen Welt und wissen, was möglich und zugleich realistisch ist. Die gute Nachricht in diesem Zusammenhang lautet, dass es so viel gibt, was zu ändern in unserer Macht steht. Und wir wissen, dass auch Sie das können – und zwar durch eine Generalüberholung Ihres mentalen Betriebssystems. Das neue Grundgerüst – ein Neustart im Kopf – macht Ihren Kopf frei und zeigt Ihnen, wie Sie wieder klar denken und sich gut an andere binden können, kurz gesagt: wie Sie geistig wieder durchstarten.

Fertig? Dann legen wir los.

TEIL 1
UNTER STÄNDIGEM EINFLUSS

KAPITEL 1
Das Unverbundenheitssyndrom

Traurige Zustände

»Wer materialistisch lebt, hat keine Vorstellung von Freundschaft, keine Vorstellung von Liebe, nur Arbeit, 24 Stunden am Tag, wie eine Maschine. Deshalb werden wir in der modernen Gesellschaft auch Teil einer großen, sich bewegenden Maschine.«

Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama, Das Buch der Freude

Als Sie heute morgen aufgewacht sind: Was haben Sie da als Erstes gemacht? Welche kleine Ereigniskette beschreibt am besten Ihren morgendlichen Ablauf? Wir wetten, dass sich Ihr Morgenritual gegenüber dem von vor zehn oder 15 Jahren sehr stark unterscheidet. Wie viel Zeit vergeht, bis Sie Ihr Smartphone checken und digitale Medienangebote sichten, darunter auch soziale Medien? Wie viele Wisch- und Anklickbewegungen führen Sie aus? Was essen Sie zum Frühstück? Kalte Frühstücksflocken, einen Bagel oder ein Schoko-Croissant im Stehen? Welche Interaktionen finden vor dem Aus-dem-Haus-Gehen zwischen Ihnen und Ihren Lieben statt?

Wenn Sie auf der immer gleichen Route zur Arbeit fahren: Sind Sie dann bei sich und besinnen sich auf den Tag, der vor Ihnen liegt? Oder fühlen Sie sich unruhig, zerstreut und überfordert? Schreiben Sie SMS oder checken Sie Ihre Mails, telefonieren Sie per Handy, obwohl Sie sich auf den Verkehr konzentrieren sollten? Wenn Sie bei der Arbeit sind: Fällt es Ihnen schwer, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren, ohne dem Sog digitaler Ablenkung nachzugeben? Nehmen Sie Ihr Mittagessen am Schreibtisch ein? Machen Sie während des Tages dauernd irgendwas gleichzeitig, das Smartphone immer in Reichweite? Treten Sie mit anderen Menschen vor allem über E-Mails, Textnachrichten oder Telefonate in Verbindung statt persönlich?

Nehmen Sie sich nach der Arbeit Zeit für einen erfrischenden Spaziergang oder für Sport? Oder fahren Sie nach Hause, schenken sich einen Drink ein und essen zu Abend, womöglich ein Fertiggericht? Fallen Sie vom Tage erschöpft ins Bett, können aber nicht einschlafen? Wachen Sie nachts immer wieder auf? Und wenn dann endlich der Morgen graut, fühlen Sie sich dann schon erschöpft, und alles fängt von vorn an?

In den letzten 20 Jahren hat unsere Gesellschaft einen starken Wandel erfahren, und zwar vor allem durch die explosionsartige Zunahme ständig verfügbarer Technik, die uns permanent an das Netz fesselt. Man schätzt, dass 2020 70 Prozent der Menschen auf der Erde ein Smartphone besitzen.1 Und Daten belegen, dass der durchschnittliche Internetnutzer mehr als zwei Stunden pro Tag mit Social Networking beschäftigt ist.2 Eine Untersuchung fand heraus, dass Amerikaner die Augen während 42 Prozent der wachen Zeit entweder auf den Fernseher, das Smartphone, den Computer, das Tablet oder sonstige Geräte gerichtet haben.3 Angenommen, der Durchschnittsamerikaner beziehungsweise die Durchschnittsamerikanerin schläft acht Stunden, dann heißt das, dass die Leute sechs Stunden und 43 Minuten am Tag auf einen Bildschirm starren. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung macht das 7956 Tage oder fast 22 Jahre!

Diese »tektonische« Verschiebung hat zu einer allgegenwärtigen Kultur der Unverbundenheit geführt. Wir halten beim Gehen den Kopf über unser Gerät gesenkt, wir halten Abstand zu Vorstellungen und Ideen, die unseren zuwiderlaufen, während wir ständig Nachrichten empfangen, die uns sagen, was wir zu tun haben (mehr essen, mehr kaufen, mehr posten, mehr »Likes« einsammeln). Wenn wir wirklich einmal aufmerksam sind, dann spüren wir etwas in uns. Eine Leere. Ein diffuses Verlangen. Das Leben in der modernen Konsumgesellschaft verändert unsere Gehirne physisch. Aber was passiert da genau? Der Zugang zu den höheren Gehirnarealen, zu dem Teil, der uns das große Ganze sehen und wohlüberlegte Entscheidungen fällen lässt, wird verbaut. Gleichzeitig werden jetzt die Leitbahnen im Gehirn verstärkt, die uns impulsiv machen, unruhig, ängstlich, beständig auf der Suche nach einer schnellen Befriedigung. Diese Neuverschaltung führt dazu, dass wir immer mehr Zeit und Geld in Dinge investieren, die uns kein nachhaltiges Glück bescheren. Dadurch sind wir ständig unzufrieden. Und genau das will die Industrie erreichen, denn das steigert den Profit. Die ungeschminkte Wahrheit lautet: Unsere Gehirne werden zunehmend fremdbestimmt, und zwar durch kommerzielle Interessen, die sich das primitive Verlangen unseres Gehirns nach sofortiger Belohnung zunutze machen.

Aufmerksamkeit und Entscheidungskompetenz werden an den Meistbietenden versteigert, an Firmen, die genau wissen, wie sie uns zu ihrem kommerziellen Vorteil geistig und körperlich manipulieren müssen. Diese Firmen wissen nur allzu gut, wie man die neuronalen Leitbahnen anzapfen muss, um uns von sofortiger Belohnung und inszeniertem Glück abhängig zu machen. Diesen Zustand der Entfremdung von dem, was man als wirkliches Glück bezeichnen kann, nennen wir das Unverbundenheitssyndrom. Es ist Zeit, dagegen vorzugehen. Weiter unten finden Sie eine Darstellung seiner acht Leitsymptome, von denen wir jedes einzeln in diesem Buch untersuchen und dabei zeigen werden, wie es mit der Hirnfunktion und der Gesundheit des Gehirns insgesamt in Zusammenhang steht.

DAS MODERNE PARADOX

Wollen wir uns gegen das Unverbundenheitssyndrom zur Wehr setzen, dann sollten wir uns als Erstes einmal den Unterschied ansehen zwischen der schönen neuen Welt und den tatsächlichen Fakten. Ein Blick hinter die Kulissen kann da sehr ernüchternd sein, verleiht uns aber auch die nötige Power. Die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, sie darin wertzuschätzen, steht am Anfang, wenn wir die Kontrolle über unser Leben zurückerobern wollen. Haben wir erst einmal verstanden, wie und warum unser Gehirn gekapert wurde, dann können wir ganz bewusst Weichenstellungen vornehmen, die uns wirklich weiterbringen. Dann sind wir frei für wahre Zufriedenheit und Erfüllung, eine solche, die nachhaltig und dauerhaft ist.

Auf den ersten Blick scheint es, als wären wir heute so glücklich wie nie. Wir haben Möglichkeiten ohne Ende. Man hat den Eindruck, dass wirklich alle auf Social Media immerfort lachen. Die Werbung verspricht uns, dass es noch gegen die kleinste Missstimmung ein Mittel gibt, und doch gehen Ängste und Depressionen zahlenmäßig durch die Decke. In fast allen Bundesstaaten der USA sind die Suizidraten zwischen 1999 und 2016 angestiegen, unter Jugendlichen zwischen 2007 und 2016 sogar um ganze 56 Prozent.4 [In Deutschland hat sich die Rate seit 2010 fast halbiert. A. d. Ü. Quelle: Statista] Und das, obwohl sich die Zahl der Verschreibungen von Antidepressiva in den USA seit den 1990er-Jahren um 400 Prozent erhöht hat.5 Drogen nehmen wir auch häufiger, und zwar legale wie illegale. Bei den Älteren mit Angst- und Unruhesymptomen nimmt die Hälfte Benzodiazepine (Tafil, Valium, Lorazepam), Medikamente mit bekannten und potenziell lebensgefährlichen Nebenwirkungen.6 Schlaflosigkeit befällt ungefähr ein Viertel aller amerikanischen Erwachsenen, viele von ihnen greifen auf Schlaftabletten zurück.7 Darüber hinaus verzeichnen globale Trends einen Anstieg des Alkoholkonsums, insbesondere in den Volkswirtschaften Indien und China, die sich rasch westlich orientieren.8 Das sogenannte Binge-Drinking unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist ebenfalls weltweit auf dem Vormarsch.9 Diese ernüchternden Zahlen zeugen nicht gerade von einer Kultur der Zufriedenheit.

Man sollte ja eigentlich denken, dass unsere geradezu obsessive Social-Media-Nutzung uns zu größerer Verbundenheit mit anderen führt, doch fast die Hälfte aller Amerikaner gibt an, sich manchmal oder sogar ständig einsam zu fühlen, vor allem in der Altersgruppe zwischen 18 und 22.10 Nur ungefähr die Hälfte der Amerikaner gibt an, regelmäßig bedeutsame persönliche soziale Interaktionen zu haben.11 Aristoteles hatte recht damit, dass der »Mensch von Natur aus ein soziales Wesen ist«, aber wir müssen wieder dahin zurück, uns so wie Aristoteles in Gesellschaft zu begeben. Wir nehmen an, dass er nicht unter dem Unverbundenheitssyndrom litt.

Um die Gründe für diese modernen Probleme zu verstehen – von ihrer Lösung ganz zu schweigen – , müssen wir unser wichtigstes Werkzeug überhaupt verstehen: unser Gehirn und die evolutionäre Kraft, die es zu dem machte, was es ist. Über Jahrmillionen hat es dem Druck standgehalten, sich immer wieder an wechselnde Umstände erfolgreich angepasst. Je mehr wir über seine Widerstandsfähigkeit und Formbarkeit wissen, desto mehr geraten wir ins Staunen. Aber wir müssen wissen, dass unser Hirn trotz seiner Einzigartigkeit immer noch Programme enthält, die vor sehr langer Zeit geschrieben wurden. Heute können diese mit neuer Technik »gehackt« werden, um darin das Kommando zu übernehmen, ganz so, wie Computerviren die Funktion von Software verändern können. Unser altes Verlangen nach süßer Nahrung und unser Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz zum Beispiel waren vor Urzeiten sinnvoll. Damals musste man sich während des Winters ob knapper Nahrung sorgen oder darum, vom Stamm verstoßen zu werden. Was damals eine sinnvolle Anpassungsleistung war und das Überleben sicherte, ist heutzutage ein mögliches Einfallstor der Vorteilsnahme. Die elementaren Überlebensinstinkte gehören seit ewigen Zeiten zur Ausstattung unseres Gehirns und sind heute Zielscheibe der Industrie. Es geht um die Einflussnahme – im Hinblick auf Entscheidungen, Geld, Aufmerksamkeit und Loyalität. Doch vor allem verlieren wir den Zugriff auf unser Selbst, unseren Selbstwert, unsere Identität, und zwar durch den ständigen Strom von Nachrichten, die uns sagen, wie wir aussehen, wie wir uns fühlen und wonach wir streben sollen. Am Ende fühlen wir uns ungenügend und minderwertig. Und deshalb wird es Zeit, dass wir wieder mit den höheren Funktionen unseres Gehirns in Verbindung treten.

Unsere Gedanken und Entscheidungen sind wertvoll, denn aus ihnen lässt sich Profit schlagen.

Mit dem menschlichen Gehirn ist uns etwas ganz Besonderes gegeben, sehr komplex und voller Fähigkeiten. Was uns Menschen so besonders macht, ist unser übergroßer präfrontaler Kortex (Frontallappen), der gleich hinter der Stirn sitzt und fast ein Drittel des Neokortex ausmacht. Genau diesem präfrontalen Kortex werden die höheren Gehirnfunktionen zugeschrieben, etwa unsere Fähigkeit, die Zukunft zu planen, Mitgefühl zu zeigen, uns in die Lage anderer hineinzuversetzen und wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen und ein positives soziales Verhalten an den Tag zu legen, kurz all das, was uns menschlich macht. (Der präfrontale Kortex eines Schimpansen dagegen nimmt 17 Prozent seines Neokortex ein, beim Hund sind es 13 Prozent.) Der präfrontale Kortex organisiert Gedanken und Handlungen, die uns beim Erreichen von Zielen helfen, und zwar angefangen von der relativ leichten Zubereitung einer Mahlzeit bis hin zum Schreiben eines Buches, was ungleich komplexer ist. Der Fachbegriff für diese Aktivität des präfrontalen Kortex heißt exekutive Funktion. Darunter fällt auch die Fähigkeit, Gegensätze zu erkennen, zu erfassen, was gut ist und was böse, was besser ist und am besten, was gleich ist und was verschieden. Darunter fällt das Abschätzen der zukünftigen Folgen einer Handlung oder das Hinarbeiten auf ein Ziel. Darunter fällt auch eine bestimmte Erwartung aufgrund vorangegangener Erfahrung und schließlich die soziale »Kontrolle« (das heißt die Fähigkeit, einen Drang zu unterdrücken, der, würde er ausgelebt, nachteilige gesellschaftliche Folgen hätte). Die Erforschung der exekutiven Funktion explodiert im Moment geradezu. Dabei stellt sich heraus, dass viele Umweltfaktoren, die wir steuern können, zur guten Funktion unseres präfrontalen Kortex beitragen und damit letztlich über unser Verhalten und unsere Gesundheit entscheiden.

Unglücklicherweise kommen in unserem modernen Alltag viele Faktoren zusammen, die uns vom vollen Gebrauch unseres Kortex abhalten. Stattdessen sind wir nun von spontanen Eingebungen getrieben, von Ängsten und dem Wunsch nach sofortiger Befriedigung unserer Bedürfnisse, allesamt ausgelöst von einer überaktiven Amygdala (deutsch: Mandelkern), dem emotionalen Zentrum unseres Gehirns, und den Schaltkreisen des Belohnungszentrums (mehr dazu in Kürze).

Doch es gibt einen Weg aus dieser Misere. Durch eine Generalüberholung unserer Ess- und Schlafgewohnheiten, durch mehr Zeit in der Natur, mehr Bewegung und bewussteren Konsum, durch Achtsamkeit und persönliche Begegnung können wir uns wieder auf uns selbst besinnen und den präfrontalen Kortex mit ins Boot holen. Blöd im Kopf war gestern. Wir können buchstäblich ein besseres Gehirn erschaffen, das uns bessere Entscheidungen fällen lässt, sodass wir letztlich das Beste aus uns machen. Hier haben wir einmal bildlich dargestellt, was wir alles behandeln werden:

BIOLOGISCHE KRIEGFÜHRUNG

»Die Lebensmittelindustrie behauptet letztlich, dass wir gerade durch sie so sein können, wie wir wollen: wendig, viel beschäftigt, nicht mehr Sklaven am Herd. Aber in ihrer Hand werden aus Salz, Zucker und Fett, den Agenten ihres gesellschaftlichen Wandels, regelrechte Waffen. Damit halten sie die Konkurrenz in Schach und sorgen auch dafür, dass wir immer mehr davon wollen.«

Michael Moss, Das Salz-Zucker-Fett-Komplott

Um sich das Ausmaß unserer Abhängigkeiten klarzumachen, muss man sich einen Krieg mit Biowaffen auf unseren Esstellern vorstellen. Natürlich kaufen wir im Bioladen, aber es stellt sich schon die Frage, was eigentlich die anderen Lebensmittelgeschäfte verkaufen.

In der Welt der Ernährung sind wir zu Sklaven einer perversen Neudefinition dessen geworden, was das Wort »Essen« eigentlich bedeutet. In den letzten 10 000 Jahren hat sich unsere Ernährung in atemberaubender Weise verändert. Einfaches nahrhaftes Essen ist ein Auslaufmodell. Stattdessen konsumieren wir energiereiche Nahrung ohne Nährstoffe sowie Getränke, die für unseren Stoffwechsel nichts Gutes bringen. Ein ständiger Kalorienüberschuss führt unseren Körper in eine Abwärtsspirale vermeidbarer chronischer Erkrankungen, darunter Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Diabetes, Krebs und letztlich ein vorzeitiger Tod. Forschungsergebnisse der Friedman School of Nutrition Science and Policy legen nahe, dass durch schlechte Ernährung allein jeden Tag an die 1000 Todesfälle in den Vereinigten Staaten durch Herzerkrankungen, Schlaganfall und Diabetes zu verzeichnen sind.12 Geht’s noch schlimmer? Durch die vielen leeren Kalorien werden wir körperlich und geistig in einer ständigen Warteschleife gehalten. Wir haben Lust auf mehr, und das verändert auf die Dauer das Gehirn. Und teuer ist das alles obendrein: So betrugen die direkten und indirekten Kosten aller chronischen Erkrankungen im Zusammenhang mit Fettleibigkeit im Jahr 2016 1,72 Billionen US-Dollar.13 Das sind fast 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der USA!

Leider wird den Menschen, die die vielen Pfunde aus leeren Kalorien mit sich herumschleppen müssen, der Schwarze Peter zugeschoben, statt sie als Opfer eines Systems zu betrachten, das gesundheitsschädlich ist und süchtig macht. Wenn auch Sie mit dem Gewicht zu kämpfen haben, dann sollten Sie wissen, dass hier ganz klar mit gezinkten Karten gespielt wird, und zwar auch mit Ihnen. Sie tragen keine Schuld. In Kapitel 7 werden wir zeigen, warum moderne ungesunde Nahrungsmittel süchtig machen und man ihnen kaum widerstehen kann. Die Macht dieser Sucht ist vergleichbar mit der nach Heroin und Kokain. Auch zeigen wir Parallelen auf zwischen der amerikanischen Opioidkrise und der Fettleibigkeitsepidemie. Das Verlangen nach Schmerzmitteln ist ähnlich wie das Verlangen nach Zucker.

Zucker und hochverarbeitete Produkte stehen mittlerweile am Pranger. Aber vielleicht ist das gar nicht Ihr Problem. Vielleicht ernähren Sie sich gut und würden sich auch nie als Junkfood-süchtig bezeichnen. Ihr Gewicht liegt im gesunden Bereich. Gründe, dieses Buch zu lesen, gibt es viele, wir alle haben Stärken und Schwächen. Vielleicht ist es bei Ihnen der Schlaf. Oder Sie haben zu wenig Zeit für Ihre Lieben. Beides Faktoren, die der Gesundheit abträglich sind und das Unverbundenheitssyndrom begünstigen. Vielleicht sind Sie ein Workaholic und waren seit Ewigkeiten nicht mehr draußen in der Natur unterwegs. Oder Sie kommen nicht von Ihren Gadgets los und wissen, dass Sie eigentlich gut eine Social-Media-Pause gebrauchen könnten. Irgendwas in diesem Buch wird Sie also mit Sicherheit ansprechen. Stoff gibt es hier genug, Sie müssen ihn nur noch auf Ihre Bedürfnisse hin zuschneiden können, den Schalter umlegen und loslegen.

VERÄNDERUNGEN IN GANG SETZEN

David: Ich habe meine Lektionen im ersten Jahr meiner Facharztausbildung als Neurochirurg gelernt. Das war Mitte der 1980er-Jahre, als die Anforderungen sehr hoch waren. Wir Klinikärzte arbeiteten damals 36 Stunden am Stück und hatten dann zwölf Stunden frei, oftmals für mehrere Wochen hintereinander. Zu behaupten, dass ich damals recht wenig erholsamen Schlaf bekam, ist eine Untertreibung. Der Schlafmangel zusammen mit dem Stress war sicherlich Gift für meine Gesundheit. Dazu kam noch zu wenig Zeit, um richtig zu essen, und bald wurde ich krank. Zunächst bekam ich eine Entzündung der Speiseröhre, was das Schlucken, selbst das Wassertrinken sehr schmerzhaft machte. Als Nächstes bekam ich schlimmen Durchfall, ausgelöst durch eine Darmentzündung. Ich war so stark dehydriert, dass ich mehrere Tage intravenös versorgt werden musste. Als ich davon genas, bekam ich Windpocken.

An diesem Punkt erwog ich eine berufliche Umorientierung. Irgendwann aß ich bei meinen Eltern zu Abend, als sich wieder eine Erkrankung bei mir zeigte. Während unseres Essens bekam ich plötzlich äußerst starke Schmerzen in meinen Hoden. Dieser Schmerz überstieg alles bisher Erlebte – und ich war einiges durch meine früheren Kontaktsportarten gewohnt – , sodass meine Eltern und ich entschieden, mich in die Notaufnahme zu bringen. Dort wurde Mumps festgestellt, eine Erkrankung, die mich hätte unfruchtbar machen können.

Rückblickend betrachtet weiß ich, dass der Grund für meine gesundheitliche Misere Schlafmangel war, chronischer Stress, schlechte Ernährung und kaum noch Zeit in der Natur. Auch wenn ich keine Laborwerte mehr aus dieser Zeit habe, bin ich doch sicher, dass meine Entzündungszeichen damals hoch waren. Glücklicherweise war klar, was ich würde ändern müssen. Ich entschloss mich, die Neurochirurgie aufzugeben und mich der Neurologie zuzuwenden. Dadurch würde ich wieder die Kontrolle über meine Zeit und letztlich mein Leben bekommen. Ich glaube wirklich, dass mich diese Entscheidung gerettet hat. Auch wenn damals vieles an Stressfaktoren zusammenkam, habe ich doch mit den Jahren gelernt, dass auch weniger reicht, um krank zu werden. Schlechte Ernährung, fehlender Schlaf oder dauernder Stress können schon für sich genommen schlimme Folgen haben.

Wenn wir auch manchmal mit ernsthaften Problemen, Enttäuschungen oder Verlusten zu tun haben, dann können wir doch immer noch von einem gewissen Optimismus getragen und zufrieden sein. Glück und Frust schließen sich nicht wechselseitig aus. Allerdings können wir nie wirklich froh sein, solange wir impulsiv, einsam, narzisstisch, gleichgültig und leidenschaftslos sind. Das passt nun wirklich nicht zusammen. Diese Eigenschaften führen zu Entfremdung und machen uns krank.

Die Gesundheitsprobleme der Moderne sind viel umfassender als die Krankheiten, wie sie in einem medizinischen Lehrbuch beschrieben sind. Wahre Gesundheit hat mit Lebendigkeit in Körper und Geist zu tun, weniger mit einer Diagnosestellung. Sie hat zu tun mit Selbsterfahrung, Verbundenheit mit anderen und mit dem, was uns alle als Menschen verbindet. Um das zu erreichen, müssen wir uns mit einem ganz zentralen Element näher befassen: dem Gehirn.