PATRICK LANGE
Mein Weg zum Weltmeister im Triathlon
Unter Mitarbeit von Carola Felchner
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1. Auflage 2022
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Redaktion: René Stein
Umschlaggestaltung: Karina Braun
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Abbildungen im Bildteil: © privat (wenn nicht anders angegeben)
Satz: abavo GmbH, Buchloe
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7423-1741-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1435-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1437-3
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Absoluter Rekord
Vom Kart zum Cross
Die Sache mit den Stollenreifen
Ganz cool eigentlich, so ein Triathlon
Faris statt Verein
Willkommen im Profileben
Endlich Langdistanz
Über St. Moritz nach Kona
WM ist nur einmal im Jahr
Zu viel gewollt
Homerun auf Hawaii
Die Zielscheibe auf dem Rücken
Spirale abwärts
K. o. vor laufender Kamera
Hinfallen. Kopf richten. Weitermachen.
Kleines Team, klarer Kopf
Wenn plötzlich nichts mehr planbar ist
Volles Risiko
Der Knoten platzt
Warum in die Ferne schweifen …
Challenge Roth statt Road to Kona
Zielsprint
»Mann, jetzt hör doch mal auf!« Meine Schwester Jenni ist genervt. Sie ist knapp sieben, stolze dreieinhalb Jahre älter als ich, und hat nicht das geringste Verständnis für mein liebstes Hobby: stundenlang durchs Haus rennen und Motorengeräusche machen. Dabei ist das doch das Gleiche wie bei Papa. Der ist Fahrlehrer und darf den ganzen Tag im Auto rumfahren. Mit Motorengeräusch. Meine Mutter sieht das Gerenne entspannt, solange nichts zu Bruch geht, und zum Glück ist unser Haus groß genug! Für uns vier und für eine Rennstrecke.
Unser Haus, das steht in Bad Wildungen, einem Städtchen in Nordhessen, rund 150 Kilometer von Frankfurt entfernt und 12 000 von Kona, Hawaii. Gut 17 000 Einwohner leben dort, und neben Schloss Friedrichstein, das auf einem Hügel thront und in dem jene Grafentochter gelebt haben soll, die den Gebrüdern Grimm als Vorlage für Schneewittchen diente, gibt es hübsche Fachwerkhäuser sowie den größten Kurpark Europas. All das interessierte mich allerdings herzlich wenig. Bis auf die Hügel. Und die auch nur, wenn ich auf einem stand und so schnell wie möglich hinuntersausen konnte. Es traf sich also gut, dass wir an einer Anhöhe wohnten. Sobald ich halbwegs dazu in der Lage war, mich auf einem Fahrradsattel zu halten, düste ich dort mit Freude und Vollgas hinunter, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Warum meine ältere Schwester ihr Rad grundsätzlich nach unten bis zur Senke schob, war mir ein Rätsel – sie verzichtete freiwillig auf den besten Teil! Jeder Versuch, sie doch einmal zu einem Wettrennen zu überreden, endete mit diesem Blick aus Mitleid und Verachtung, den nur große Schwestern draufhaben, deren kleine Brüder einfach nicht kapieren wollen, dass sie keinen Bock haben. Jenni war sportlich, hörte aber lieber Musik und tobte sich später auf alternativen Festivals aus, worauf ich wiederum keinen Bock haben sollte.
* * *
Ich feierte meine eigenen Festivals. Die Abfahrt war meine Bühne, und die Band bestand aus dem Brummen der dicken Gummireifen meines Kinderbikes, die über den groben Asphalt rumpelten, dem Pfeifen des Fahrtwinds, der meine Augen tränen ließ, und einem »Unten aber bremsen!«, das mir Mama oder Papa mitgaben, wenn sie mal einen meiner Downhillstarts mitbekamen.
Generell nahmen meine Eltern meine Leidenschaft für schnelle Fortbewegung gelassen. So, wie sie überhaupt das meiste, was meine große Schwester und mich betraf, gelassen nahmen. Sie schritten nur ein, wenn es wirklich eng wurde, beispielsweise als die Schule sich zunehmend besorgt über meine mangelnde Konzentrationsfähigkeit und die Noten äußerte, die sich im Sinkflug befanden. Da schleppte mich meine Mutter zum Arzt, der dann auch prompt die Hyperaktivitätsstörung ADHS diagnostizierte. Als er mir aber Medikamente dagegen verschreiben wollte, machte sie ihm unmissverständlich klar: »Der Junge braucht keine Pillen. Der geht ab jetzt zum Sport.« Vielleicht lag diese Lockerheit darin begründet, dass die beiden früh Eltern geworden waren, hatte meine Mutter Jenni doch schon mit 18 Jahren bekommen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass in unserer Nachbarschaft das gängige Erziehungsmodell darin bestand, die Terrassentür aufzumachen, den Nachwuchs hinauszuscheuchen und abends zu kontrollieren, ob sämtliche Kinder inklusive aller Gliedmaßen wieder da waren. Meistens war das der Fall. Manchmal nicht. Eines dieser Manchmals begann mit dem Satz: »Komm, wir bauen mal eine richtig geile Schanze!« Ausgesprochen von meinem Cousin Sascha, vier Jahre älter, Torwart beim lokalen Fußballclub TV Friedrichstein und damals mein absoluter Held. Heute ist er Architekt, was sich damals schon abzeichnete. Immer, wenn wir zusammen spielten – und das taten wir oft –, bauten wir etwas: Baumhäuser, Seifenkisten, Sprungschanzen … Unzählige Male fielen wir irgendwo runter, heraus oder mit irgendwas um. Oft war es damit getan, sich den Dreck von den Klamotten zu klopfen und zu schwören, es »niemals den Eltern zu verraten«.
* * *
Ein Konzept, das an eben jener »richtig geilen Schanze« von 80 Zentimetern Höhe kolossal scheiterte. Akribisch hatten mein Cousin und ich den Schnee für den Sprungteller aufgeschüttet und festgeklopft, erste Flugversuche mit dem Schlitten waren zufriedenstellend verlaufen. Da es mittlerweile aber dunkel war, verabredeten wir uns für den nächsten Tag, um »dann mal die richtigen Sprünge« zu machen. Was wir nicht bedacht hatten: Über Nacht war der Schnee gefroren und zu einer brettharten Piste mutiert. Ich stellte lediglich erfreut fest, dass der Schlitten viel schneller wurde als am Vortag. Unbedarft und mit vollem Vertrauen in meine springerischen Fähigkeiten holte ich Schwung. Der Schlitten beschleunigte ordentlich, ich klammerte mich an die Holzstreben, spürte die leichten Vibrationen des Bodens unter den Kufen, sah die Schanze auf mich zuschießen. Genau auf die Mitte. Perfekt! Ich sauste viel zu schnell über den Schanzenteller, hob ab, flog … flog … und landete, jedoch ohne Schlitten und ziemlich unglücklich. Mein Geschoss und ich hatten uns in der Luft getrennt. Mit einem dumpfen »Plock« klatschte ich auf die eisige Schneefläche, rutschte noch ein Stück und blieb dann erst mal liegen, benommen und verdutzt.
Als ich mich wieder aufrappelte, sah ich zuerst meinen Cousin auf mich zustürzen und dann, dass mit meinem linken Arm etwas nicht stimmte. Ein Teil hing einige Zentimeter tiefer, als er eigentlich sollte. Richtiggehend abgeknickt war er. Mir wurde schummerig. Panik stieg in mir auf, langsam verdrängte der Schmerz den Schock. Ich rechne es meinem Cousin hoch an, dass er bei diesem Anblick nicht umgekippt ist, sondern es irgendwie geschafft hat, mich nach Hause zu schleppen. Meine Eltern waren eher erschrocken als wütend, packten mich ins Auto und fuhren mich ins Krankenhaus. Die Diagnose: Fraktur von Elle und Speiche im Bereich des Handgelenks, der Arm musste operiert werden. Wochenlang trug ich einen Gips, unter dem es zudem fies juckte. In dieser Zeit war Herumtoben tabu. Aber in meinem Innersten muss es mir das wert gewesen sein. Als ich nach der OP im Aufwachraum kurz die Augen aufschlug, ließ ich den verdutzten Krankenpfleger, der an meinem Bett stand, wissen: »Das war absolute Rekordweite.«
Aktiv zu sein, sich zu bewegen, Sport zu machen, das war bei uns Familienalltag. Meine Mutter Carmen war eine passionierte Reiterin, fuhr Mountainbike und war zu Schulzeiten eine respektable Leichtathletin gewesen. Sie war ein Wettkampftyp und ziemlich zäh, aber auch sehr feinsinnig, mit einem guten Gespür für Menschen, die gern und oft bei uns zu Hause ein- und ausgingen; das galt auch für Tiere. Seit ich denken kann, waren immer irgendwelche Vierbeiner um uns herum: Hunde, Katzen, Hasen und Pferde waren Teil meines Alltags.
Mein Vater Wolfgang war Mitglied im Leichtathletikverein TV Friedrichstein und ein leidenschaftlicher Läufer, der durchaus Ambitionen hatte und mit einer Marathonzeit von knapp über drei Stunden auch schnell unterwegs war. Sport bedeutete für ihn in erster Linie aber Spaß und Geselligkeit. Er hatte über den Verein und das Laufen viele Freundschaften geschlossen und Bekanntschaften gemacht, nahm aktiv am Vereinsleben teil. Die Begeisterung meines Vaters war ansteckend, besonders bei mir. Ich fand es toll, bei Läufen am Streckenrand zu stehen, vor allem bei Marathons. Es faszinierte mich, dass Menschen so lange rennen konnten. Noch lieber aber wäre ich selbst mitgelaufen. Mein Gebettel, bitte, bitte mal auf eine Trainingsrunde mitkommen zu dürfen, blieb jedoch lange ungehört. Bis ich zwölf war, musste ich mich gedulden. Dann aber war es so weit: der erste Lauf mit »Wolle«. Noch heute weiß ich ganz genau, welche Schuhe ich dabei getragen habe. Die Runde durch den Stadtwald Bad Wildungen kann ich bis heute aus dem Kopf nachzeichnen. Mit jedem Kilometer fühlte ich mich bestätigt: Laufen, das ist cool! Ich machte das Gleiche wie Papa. Als Kind war mein Vater mein großes Vorbild. Wir unternahmen viel, schon vor dem gemeinsamen Laufen. Als meine Eltern sieben Jahre nach mir meine kleine Schwester Jacqueline bekamen, splitteten sie die Wochenenden oft auf: Meine Mutter ging mit Jenni und Jaci zu den Pferden, während Papa und ich die Autohäuser der Umgebung abfuhren und nach passenden Autos für die elterliche Fahrschule schauten.
Ich liebte es, mit ihm unterwegs zu sein, und streifte zwischen den ausgestellten Fahrzeugen herum, während mein Vater mit den Autoverkäufern verhandelte. Waren wir mal nicht unterwegs, putzten wir samstags die Fahrschulautos und -motorräder in der Einfahrt unseres Hauses in Bad Wildungen und hörten dabei die Fußball-Bundesligakonferenz im Radio. Eine Tätigkeit, zu der man mich – im Gegensatz zum Zimmeraufräumen – nie lange überreden musste. Ebenfalls schnell überzeugen konnte man mich von einem Formel-1-Nachmittag. Die schnittigen Boliden faszinierten mich. Das Luftflirren über den Wagen in der Startaufstellung, der Reifenwechsel innerhalb von Sekunden, das Taktieren, die Champagnerdusche auf dem Podium … all das beeindruckte mich sehr. Vor allem die Motorengeräusche. Und was für welche.
* * *
Michael Schuhmacher, der ziemlich oft auf dem Podium stand und an besagten Champagnerduschen beteiligt war, avancierte zu meinem ersten Profisport-Idol. Lief Sonntagnachmittag ein Rennen, saß ich vor dem Fernseher. Selbst mitten in der Nacht aufzustehen, um Live-Übertragungen aus Ländern mit Zeitverschiebung zu verfolgen, machte mir nichts aus. Im Gegenteil. Ich mochte die besondere Stimmung so früh am Morgen, die aufziehende Dämmerung und die Stille. Die hielt allerdings nur so lange an, bis das Fahrerfeld losschoss und ich Schumi oder besser den Fernseher anbrüllte, er solle jetzt »verdammt noch mal in der Kurve nach vorn ziehen«, während ich auf dem Sofa herumsprang vor Begeisterung. So angetan war ich von der Formel 1, dass ich mit zwölf Jahren eine kurze und erfolglose Kart-Karriere startete, die mit 14 bereits wieder vorbei war. Zu teuer, zu aufwendig, kein herausragendes Talent. Geblieben ist die Liebe zu schnellen Autos. Und die Erkenntnis, dass ich für andere Sportarten geeigneter bin.
* * *
Diese anderen Sportarten versuchte ich, mit der mir höchstmöglichen Geschwindigkeit zu betreiben. So hasste ich es beispielsweise, langsam zu laufen, weshalb ich bereits mit 13 Jahren auf eine doch respektable 1000-Meter-Zeit von 3:16 Minuten kam. Allerdings kostete mich dieser Bewegungsdrang auch den Job als Torwart in der Jugendmannschaft unseres Fußballvereins. Ruhig zwischen den Pfosten zu stehen und dann auf den Punkt da zu sein, wenn der Ball mal auf mich zugeflogen kam, fand ich langweilig. Dabei war ich erst ganz wild darauf gewesen, im Tor zu stehen, schließlich spielte mein Cousin Sascha auf der gleichen Position. Mein Trainer bemerkte natürlich, dass ich nicht das Paradebeispiel eines Torhüters war. Deshalb nahm er mich eines Tages zur Seite, klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Weißt du, Patrick, ich glaube, du hast einfach nicht das optimale Profil für einen Torwart. Lass uns was anderes ausprobieren.« Ab da spielte ich im Mittelfeld, und schon bald fühlte ich mich in meiner neuen Position wohler, als ich es im Tor je getan hatte. Ich spurtete auf dem Platz herum wie ein Irrer. Auch dann noch, wenn meine Mannschaftskollegen schon keuchend auf dem Rasen lagen, was mir den (durchaus respektvoll gemeinten) Ruf einbrachte, »ein bisschen bekloppt zu sein«.
Als ich mit zwölf offiziell mit dem Laufen anfangen durfte, verlor ich allerdings schnell das Interesse an Fußball. So richtig erwärmen können hatte ich mich dafür ohnehin noch nie. Viel spannender fand ich die Crossläufe, zu denen mich mein Vater mitnahm und für die ich immer bis in die Haarspitzen motiviert war. Die Tasse, die ich beim Feuerwehrlauf Mönchengladbach gewann, stand noch jahrelang wie ein Pokal in unserer Küche. Ein Grund für meinen Ehrgeiz war Papa. Ob er es nun wollte oder nicht: Er sollte stolz auf mich sein.
* * *
Lebhaft erinnere ich mich zum Beispiel an den Herkuleslauf, einen knapp sieben Kilometer langen Berglauf in Kassel mit rund 370 Höhenmetern. Am Start tummelten sich sowohl Hobbysportler als auch ambitionierte Spezialisten. Es war ein bunter Mix aus Läufern aller Leistungsklassen, und die Luft flirrte vor Gelächter und Gesprächsfetzen. Ich stand neben meinem Vater in der Menge, fest entschlossen, eine Bombenleistung auf die Schotterwege zu brennen. Eine Startnummer war und ist für mich die gedruckte Aufforderung, alles zu geben. Ob wissentlich oder nicht, goss mein Vater noch Öl ins Ehrgeizfeuer: »Guck mal, siehst du die Männer da vorn?«, fragte er und zeigte auf ein paar sehnig-schlanke Typen in Flattershorts in der ersten Reihe. »Wenn du gewinnen willst, dann musst du dich an die halten.« Er grinste, er hatte sich einen Spaß erlaubt, aber das bekam ich gar nicht mit. Für mich war klar, was ich zu tun hatte: Durch die anderen Läuferinnen und Läufer schlängelte ich mich nach vorn und positionierte mich in der ersten Startreihe. Aufgeregt wartete ich auf den Startschuss, und als der endlich ertönte, sprintete ich los, als sei ein Rudel wilder Hunde hinter mir her. War das geil! Es fühlte sich an wie Fliegen! Für ungefähr 500 Meter. Dann machten meine Beine zu, noch bevor der Anstieg überhaupt begonnen hatte.
Trotz kompletter Überanstrengung widerstand ich der Versuchung, einfach stehen zu bleiben. Aufgeben war noch nie eine Option. Aus heutiger Sicht sage ich: So eine Startnummer ist immer auch ein Vertrag mit mir selbst, nur dann nicht weiterzumachen, wenn es gesundheitsgefährdend wäre. An diesem Tag lernte ich von meinem Vater ganz nebenbei eine wichtige Lektion:
Bleib realistisch. Mach, was dein Körper dir sagt, und nicht, was die anderen machen.
Mir blieb an diesem Tag im hessischen Wald also nichts anderes übrig, als in einen gemächlicheren Trab zu fallen und zähneknirschend dabei zuzusehen, wie Läufer um Läufer an mir vorbeizogen. Auch mein Vater.
Was die Umgebung von Bad Wildungen massenhaft zu bieten hat, sind wunderschöne Landschaften. Hauptsächlich Wald. Da bot es sich an, so viel Leben wie möglich nach draußen zu verlegen. Auch den Sport. Zum Crosslauf gesellte sich im Alter von ungefähr 13 Jahren das Mountainbiken. Das hatte zunächst ganz pragmatische Gründe: einen Wettkampf. Bald schon aber hatte ich daran so viel Spaß, dass es dem Laufen Konkurrenz machte. Verdrängen konnte das Mountainbike meine Laufambitionen zwar nicht ganz, jedoch verschob sich die Lauferei immer mehr in den Winter, wenn es zu kalt war zum Biken. Die wärmeren Monate verbrachte ich größtenteils auf Trails und Stollenreifen. Mein gesamtes Konfirmationsgeld floss in mein erstes MTB: ein ziemlich schweres schwarzes No-Name-Bike mit gelber Federgabel, das ich mit jeder Menge Stickern verzierte – meinen »Sponsorenaufklebern«.
Gekauft hatte ich es im BikersPoint, einem lokalen Radladen, in dem ich später ab und zu im Verkauf und als Mechaniker jobbte. Schuld an dieser ersten großen Investition war ein Bikeathlon bei uns im Ort, ein Wettbewerb bestehend aus 20 Kilometern Rad fahren und fünf Kilometern Laufen. Überall hingen die Plakate. Ein Sportwettkampf! Den wollte ich sehen – und so ziemlich alle anderen Bad Wildunger auch. Die Strecke, die direkt durch den Ortskern führte, war gesäumt von Menschen. Alle jubelten den Sportlern zu, es war eine einzige große Party. Ich war hin und weg!
»Probier es doch nächstes Jahr auch mal«, schlug meine Mutter vor. »Laufen kannst du doch.« Fehlte nur noch das Mountainbike. Ein Sportgerät, über das ich mir bis dato nicht viele Gedanken gemacht hatte. Durch den Anreiz, damit einen Wettkampf bei uns vor der Haustür zu bestreiten – und am besten auch zu gewinnen –, bekam es aber plötzlich eine so große Attraktivität, dass ich sogar bereit war, mein Konfirmationsgeld dafür zu opfern.
Und was soll ich sagen? Es war meine bis dato beste Investition neben dem Eis am Stiel im Freibad. Mountainbiken gehört vor allem in der Off-Season, wenn keine Rennen anstehen, bis heute zu meinem Trainingsalltag. Wenn ich irgendwann meine professionelle Triathlonkarriere beende, werde ich mir ein Highend-Fully zulegen und die ganzen Strecken fahren, die jetzt noch zu riskant sind. Damals machte ich mir über Risiken allerdings keine Gedanken, war mir ihrer häufig nicht einmal bewusst. Da ich von Fahrtechnik keine Ahnung hatte, ging ich einfach davon aus, dass das Bike schon über Wurzeln und andere Hindernisse drüberrollen würde. Meist machte es das auch. Ich war sehr viel mit dem Rad unterwegs und schaffte auf Anhieb lange Strecken. Manchmal begleiteten mich ein paar Jungs aus meinem Schuljahrgang, Karsten, Sebastian und Florian. Oft war ich aber auch allein unterwegs.
* * *
Durch die vielen Kilometer auf dem Mountainbike bekam ich immer mehr Routine und wurde technisch besser, den Rest an Know-how in puncto Fahrtechnik holte ich mir aus Fachzeitschriften. Während andere Bravo lasen, verschlang ich das BIKE-Magazin. Dabei besitze ich kein großes Koordinations-Talent, der lokale Leichtathletikverein wird das bestätigen. Springen, Sprinten, Werfen … Alles, was ich beim Eingangstest mit zwölf Jahren machen sollte, konnte ich nicht besonders gut. Lediglich der Konditionstest, den sie mich hauptsächlich aus Ermangelung weiter Optionen machen ließen, fiel überdurchschnittlich gut aus.
Diese Kondition kam mir auf den Bad Wildunger Trails zugute, die mir mit 14 Jahren, knapp ein Jahr nach meiner ersten Mountainbiketour, aber nicht mehr genügten. Ich wollte sehen, wie gut ich im Vergleich zu anderen war. Wie ich mich anstellte, wenn die Wettkampfuhr tickte. Zum Glück war es nicht mehr lange hin bis zum Bikeathlon, dem ich entgegenfieberte wie sonst nur dem letzten Schultag vor den Sommerferien. Noch immer rechnete ich mir Siegchancen im Jugendrennen aus. Oder besser: jetzt erst recht. Dass nicht mein gesamtes Umfeld diese Einschätzung teilte, störte mich nicht.
Am besten bin ich, wenn mich niemand auf dem Schirm hat und ich ohne Druck in den Wettkampf gehen kann.
Das war mir damals nicht klar, funktionierte aber. Ab dem Moment, in dem der Startschuss fiel, war ich wie im Tunnel. Ich weiß nicht mehr viel von der Strecke oder dem Rennverlauf, außer dass ich mich sehr anstrengen musste. Ich kämpfte. Allein deshalb, weil ich es so toll fand, dass da Menschen am Straßenrand standen, die jubelten und klatschten, nur weil ein paar Leute vor ihren Augen Sport machten. Ich wollte ihnen unbedingt zeigen, dass ich diesen Applaus verdiente. Nach dem Wechsel vom Rad auf die Laufstrecke sammelte ich noch einmal alles an Energie zusammen, rannte, so schnell ich konnte, und schaffte es tatsächlich, als Erster über die Ziellinie zu sprinten! Ich sprang herum wie wild, jubelte und reckte die Arme in die Luft, als hätte ich gerade Gold bei den Olympischen Spielen gewonnen. Wie großartig es doch war, dieses Gewinnen. Ich bekam Glückwünsche, eine Finisher-Medaille und von meinen Eltern ein großes Spaghetti-Eis als Siegprämie. Es war vielleicht das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, etwas richtig gut zu machen und dafür wertgeschätzt zu werden. Dieses Gefühl wollte ich öfter haben.
* * *
Als Nächstes stürzte ich mich ins Mountainbike-Renngeschehen. Mein erster Wettkampf war in Naumburg bei Kassel. Start und Ziel befanden sich auf einem Parkplatz an einem Waldrand. Ein paar Pavillons standen herum, in denen Fahrradgeschäfte und Bikeaccessoire-Anbieter ihre Produkte ausstellten, und überall roch es nach Sixtus-Startöl. Ein Duft, den ich noch heute mit Wettkampf verbinde. Die älteren Jungs und Mädels rieben sich damit die Beine ein, dazwischen nuckelten sie irgendwas aus kleinen Fläschchen. Dopen die etwa?, überlegte ich aufgeregt.
Sie wirkten professionell auf mich, beinahe so professionell wie die herausragenden Profi-Radfahrer dieser Zeit, Jan Ullrich und Lance Armstrong. Meine damaligen Helden, die mich dann jedoch zutiefst enttäuschten. In jungen Jahren waren das meine Idole gewesen. Ich hatte ihnen zugejubelt. Spätestens durch den Festina-Skandal 1998, eine riesige Dopingaffäre und eines der wohl dunkelsten Kapitel des Radsports, wurde mir jedoch bewusst, dass ich das zu Unrecht getan hatte. Ich werde nie das Gefühl vergessen, das ich hatte, als mir als kleiner Junge von einem Tag auf den anderen meine Radsportidole weggenommen wurden. Für die Menschen, zu denen ich einst aufgeschaut hatte, hatte ich kein Verständnis und empfand nur noch Verachtung.
In diesem Moment wusste ich, dass ich niemals einen anderen Menschen so enttäuschen wollte. Dass es mein Anspruch ist, den Fans des Triathlonsports und deren Jugend zu zeigen, wozu der menschliche Körper imstande ist – ohne dass dabei Kindheitsträume zu Bruch gehen, weil illegale Methoden angewendet werden.
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Eine weitere klare Position zu diesem Thema vermittelte mir mein Vater von klein auf, er hatte mir schon bei unserem ersten Lauf eingebläut: »Patrick, mach, was du möchtest. Aber wenn du zu verbotenen Mitteln greifst, hast du meinen Respekt verloren. Dann brauchst du mir nicht mehr unter die Augen zu treten. Bevor du denkst, Dopen sei eine Option, oder dich jemand dazu zu zwingen versucht, wirf unbedingt das Handtuch.« Wie für mich, so ist es auch für ihn das Schlimmste, wenn der Erfolg durch unlautere Mittel ergaunert wird. Ansonsten ein sehr meinungsoffener Mensch, war dieser Punkt für ihn nicht verhandelbar. Da er jedoch nicht nur strikt gegen Doping war, sondern mir immer auch die Sicherheit gab, dass seine Liebe, sein Respekt und seine Wertschätzung für mich nicht von Platzierungen abhingen, habe ich noch nie auch nur ansatzweise daran gedacht, zu solchen Methoden zu greifen. Selbst in Phasen, in denen ich dringend ein paar sportliche Erfolge gebraucht hätte, nur um überhaupt finanziell über die Runden zu kommen.
Ich bin überzeugt, dass es prägend ist, wie wir als Kinder und Jugendliche den Stellenwert von Leistung in unserem Leben vermittelt bekommen. Während ich heute oft den Eindruck habe, dass nur das Maximum gut genug ist, galt bei mir lediglich eine Regel, egal ob in der Schule oder im Sport:
Gib dein Bestes, dann kommt auch ein gutes Ergebnis dabei heraus.
Natürlich war das, was da auf dem Naumburger Parkplatz in den Fläschchen schwappte, nur irgendeine Zuckerlösung oder Sportgel, von dessen Existenz ich damals lediglich ebenso wenig Ahnung hatte wie von Wettkampfverpflegung oder taktischer Renngestaltung. Ich starrte auf den Zielbogen und stellte mir vor, wie es sein würde, da durchzufahren. Am besten als Erster. Der Wettkampf ging über mehrere Runden, und in meiner Gruppe, der U15, waren etwa 20 Starter, die alle das gleiche Ziel hatten wie ich: Gewinnen. Es wurde ein hartes Rennen gefahren, keiner schenkte dem anderen etwas, und ich musste ordentlich beißen, um vorn dabeizubleiben. Erst gegen Ende schaffte ich es, mich an die Spitze zu setzen, die letzten Kilometer dort zu bleiben und mein Premierenrennen auf dem Mountainbike tatsächlich zu gewinnen.
Ich war überglücklich, das Gefühl beim Durchfahren des Zielbogens war noch schöner, noch intensiver gewesen, als ich es mir vorgestellt hatte. Sicherlich auch deshalb, weil es das erste Mal war, dass ich gegen Jugendliche in meinem Alter, in meiner Leistungsklasse, angetreten war, die genauso ambitioniert waren wie ich. Bei den Crossläufen war ich meist der Jüngste. Die Erwachsenen sagten mir zwar immer, wie gut ich das machte und wie super sie fanden, was ich da ablieferte, aber mir fehlte ein direkter Vergleich. Es war eine ungeheure Motivation für mich, gegen gleichaltrige Konkurrenz zu starten. Und ich war ziemlich erfolgreich, obwohl ich zunächst weder einen Verein noch einen Coach noch so etwas wie ein strukturiertes Training vorweisen konnte.
Man könnte sagen, ich hatte Feuer gefangen. Mehr noch: Ich brannte lichterloh. Unkontrolliert. Und vielleicht manchmal etwas mehr, als es vernünftig war. So meldete ich mich im Übereifer mit 15 Jahren zu einem Bike-Marathon an, einem Rennen über 120 Kilometer. Heimlich, mit gefälschter Unterschrift meiner Eltern. Sie reagierten cool, als sie es herausfanden. Vermutlich hatten sie sich schon gedacht, dass ich mir einen Wettkampf so nah an unserem Zuhause nicht entgehen lassen würde. Mein Vater kam sogar mit zum Anfeuern. Die Strecke verlief in einem Gebiet, in dem ich jeden Trail kannte. Nichtsdestoweniger war der Wettkampf eine Black Box für mich. So lange am Stück war ich noch nie gefahren – und die Strecke fühlte sich schier unendlich an. Das lag allerdings weniger an meiner Ausdauer als daran, dass ich kaum Verpflegung dabeihatte. Ich hatte schlichtweg nicht daran gedacht. Ins Ziel kam ich trotzdem irgendwie. Und genau dort zeigte mir mein Körper dann auch, wie ausgelaugt ich war. Der gut gemeinte Rat meines Vaters: »Locker dir die Beine ein bisschen, bevor du ins Auto steigst«, endete für mich zusammengekrümmt auf dem Boden. Als ich mein Fußgelenk mit der Hand zum Gesäß führte, um meine Oberschenkelvorderseite zu dehnen, schoss ein brutaler Krampf in den Muskel. Neben dem Schmerz spürte ich aber noch etwas anderes: lange Strecken, die liegen mir.
* * *
Ein knappes Jahr später, 2002, gewann ich den 120-km-Marathon in Zierenberg, rund 45 Autominuten von Bad Wildungen entfernt, und absolvierte außerdem eine 260 Kilometer lange Tour um Edersee, Möhnesee und Diemelsee. Das konnte ich, einfach so. Meine Schwester Jenni war genervt, weil ich ständig Radtouren mit der Familie unternehmen wollte. Meine Eltern freuten sich, dass ich etwas gefunden hatte, das mir Spaß machte. Sie unterstützten mich, und ich wollte ihnen (und mir) beweisen, dass ich ihre Unterstützung, den Chauffeurservice zu den Rennen und den Zuschuss zu meiner Ausrüstung wert war. Entsprechend wurden die Rennen immer emotionsgeladener. Klappte etwas nicht, hatte das Bike einen Defekt oder bildete ich mir einfach nur ein, dass es einen hatte, konnte es passieren, dass ich mitten auf der Strecke abstieg und das Rad in die Prärie pfefferte.
Das würde ich heute nicht mehr machen. Mein Material nehme ich nicht als selbstverständlich hin. Es ist kostbar. Das war zwar auch mein Mountainbike, schließlich steckte mein Konfirmationsgeld darin. Damals siegte jedoch noch öfter die Wut über die Dankbarkeit; und manchmal siegte auch mein Körper über meinen Kopf. Zum Bespiel beim Radmarathon im Zuge des BIKE-Festivals im nordhessischen Willingen, eines der größten Veranstaltungen seiner Art. Das Starterfeld war gut besetzt. Genau die Herausforderung, die ich suchte. Frech stellte ich mich in die erste Startreihe und ignorierte die irritierten Blicke der Profis neben mir, doch mit dem Startschuss heizte ich los wie ein Berserker. Im Profi-Pulk ging es hinaus aus dem Ort, dann eine Weile auf einer Straße entlang. Auf Asphalt rollte es sich noch geschmeidig im Windschatten, alles richtig gemacht, ich war voll dabei. Dann zweigte die Strecke ab in den Wald. Wie auch beim Herkuleslauf zogen meine Beine die Bremse. Nicht so hart, dass ich nicht hätte weiterfahren können. Aber doch in dem Maße, dass ich mir vorkam, als würde ich im Vergleich zu den davonziehenden Profis auf der Stelle treten. Dieses Mal habe ich mein Bike nicht weggeworfen. Ich habe die Zähne zusammengebissen, das Rennen beendet und bin als der mit Abstand jüngste Teilnehmer über diese Distanz am Ende auf Platz 26 ins Ziel gekommen. Nicht meine beste Vorstellung, aber auch nicht meine schlechteste. Und das Gefühl, anfangs eine Horde von 2000 Bikern hinter mir zu haben, das war schon genial.
* * *
Es hätte ewig so weitergehen können, und eine Weile tat es das auch. Doch dann kam das Rennen, das die Weichen für mich stellte, hin zum Triathlon. Mit einem Sturz. Natürlich, beim Mountainbiken stürzt man. Regelmäßig sogar, wenn man so viel fährt, wie ich es tat. Bisher war ich aber immer mit kleineren Blessuren davongekommen. Mal ein blauer Fleck hier, mal eine Schürfwunde da. Nichts Wildes. Eher Trophäen, die man in der Schule herumzeigen konnte.