Birgit Schulze-Berktold
Einkaufen ist das neue Verkaufen!
Wie digitaler Wandel, VR, KI & Co die Vertriebswelt auf den Kopf stellen
© 2021 Birgit Schulze-Berktold
Lektorat:
Achim Gralke
Korrektorat:
Bernhard Schülein
Satz:
Johann-Christian Hanke
Umschlaggestaltung:
KESS Factory GmbH
Herausgeber:
Birgit Schulze-Berktold
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Taschenbuch:
978-3-347-49945-4
ISBN Hardcover:
978-3-347-49946-1
ISBN E-Book:
978-3-347-49947-8
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»Über Qualität lässt sich trefflich streiten. Aber eines steht fest: Der Wurm muss dem Fisch schmecken – und nicht dem Angler.«
Helmut Thoma
Für André
An einem sonnigen Mittwochnachmittag bin ich zu einem Treffen mit einem meiner sehr guten Kunden in einer Lounge-Bar am Bodensee verabredet. Die Bar ist ein Geheimtipp und um diese Zeit ist es hier immer noch ruhig. Ich bin etwas zu früh, suche einen Platz für uns aus, nah am Wasser, schaue über den See und atme die Seeluft tief ein.
Ziemlich regelmäßig, alle paar Wochen, treffe ich mich hier mit Lutz, um Neuigkeiten auszutauschen und um zu sehen, wie er mit der Umsetzung seiner Pläne vorankommt. Der Stammsitz seines Unternehmens liegt ganz in der Nähe.
»Na dann, auf einen schönen Abend«, sagt er etwas atemlos und lässt sich in den Sessel mir gegenüber fallen. »Ich brauch’ erstmal was zu Trinken«. Lutz bestellt sich ein Mineralwasser und einen Gin Tonic. Wir stoßen an und nehmen einen ersten Schluck.
»Das heute war wirklich ein sch… Tag«, sagt Lutz. »Einer meiner besten Kunden ist abgesprungen! Das war einer meiner ersten, als ich die Firma gegründet habe. Mit dem Geschäftsführer habe ich an sich einen sehr guten Draht und wir sind uns am Ende immer einig geworden. Und jetzt das!«
Ich warte einen Moment und will dann wissen, was das für Lutz’ Unternehmen genau bedeutet.
»Na ja, wir werden am Ende vom Jahr schon merken, dass der Auftrag weg ist. Das zu kompensieren wird schwer.« Er steht auf, um die Karte zu holen, schaut nur kurz darauf und schlägt dann vor: »Lass uns am besten gleich erst einmal eine Runde laufen, dann geht es mir schon wieder besser. Etwas bestellen können wir ja auch später noch.«
Ich finde, das ist ein guter Vorschlag, und wir gehen los. Lutz erzählt weiter:
»Ich habe ja vor nicht allzu langer Zeit einen Vertriebsmitarbeiter eingestellt, der nichts anderes macht, als sich um meine Kunden zu kümmern. Auch er hat nichts geahnt und war immer davon überzeugt, dass wir den Auftrag erhalten. Natürlich habe ich mich auch darum gekümmert und zuletzt vor ungefähr drei Wochen mit dem Geschäftsführer Kontakt gehabt. Und jetzt ist wie aus heiterem Himmel der Auftrag an einen völlig unbekannten neuen Anbieter vergeben worden, ohne dass wir überhaupt unser Angebot abgeben konnten!« Lutz läuft noch etwas schneller und ich habe etwas Mühe, mit seinem Tempo mitzuhalten.
»Das ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Bisher waren es aber keine so großen Aufträge, die wir verloren haben. Da wir kundenspezifische Lösungen anbieten, ist ja auch die Entwicklungsabteilung immer in Kontakt mit den Kunden. Was erstmal gut ist. Allerdings sind die manchmal einfach zu vorsichtig und verprellen die Kunden eher mit ihren Bedenken, als dass sie einfach den Auftrag holen. Dabei bin ich sicher, wir sind technisch nach wie vor besser als unsere Mitbewerber und können unseren Kunden exzellente Lösungen anbieten. Das war ja auch einer der Gründe, warum ich den neuen Vertriebsmitarbeiter eingestellt habe.«
»Was hat sich denn gegenüber früher aus deiner Sicht am meisten verändert?« will ich von ihm wissen.
»Ach, die Kunden sind einfach viel unberechenbarer geworden,« seufzt er. »Früher haben wir unsere technische Lösung vorgestellt, die Kunden waren davon schnell überzeugt und wir hatten damit fast immer schon den Auftrag in der Tasche. Auch hätte mich der Geschäftsführer früher bei Gegenangeboten immer vorher angerufen, um die Sache erst einmal mit mir persönlich zu besprechen.«
An dieser Stelle drehen wir gemeinsam um und gehen langsam wieder zurück zur Bar, damit unser Tisch nicht vergeben wird.
»Diese neuen Einkäufer haben einfach keine Ahnung, worum es eigentlich geht. Und das Schlimme ist, sie können trotzdem entscheiden und reden teilweise nicht einmal mehr wirklich mit uns. Irgendwie läuft das alles nicht mehr so wie früher,« sagt Lutz. »Aber ich habe keine Ahnung, woran das eigentlich genau liegt …«
»Die Kunden sind heute besser informiert als die Anbieter.«
Es ist Samstagnachmittag, für dieses Wochenende habe ich keine Besuche oder Ausflüge geplant. Draußen regnet es, und ich sitze auf meinem Sofa mit einer Tasse Tee, um meine Präsentation für ein Vertriebsevent vorzubereiten.
Es geht um die spannende Frage, was eigentlich in den letzten Jahren mit den Kunden passiert ist. Denn die Welt hat sich durch die Digitalisierung sehr stark verändert. Vieles ist nicht mehr wie früher.
Haben sich auch die Kunden verändert? Und das Einkaufsverhalten der Unternehmen? Und wenn ja, wie unterscheidet sich ihr Verhalten von dem, was wir von früher kennen?
Im Vertrieb geht es immer zuerst um die Kunden. Sie bestimmen am Ende über unseren Erfolg und Misserfolg, über ein gutes oder schlechtes Geschäftsjahr, darüber, was gekauft wird und was nicht. Die Kunden besser zu verstehen, ihr Verhalten und am besten auch ihre Beweggründe gut zu kennen, ist genau deshalb von entscheidender Bedeutung und der Dreh- und Angelpunkt im Vertrieb. Ein wichtiger Gesichtspunkt, und ich beschließe, damit auch in meiner Präsentation zu beginnen.
Was denkst du, als meine Leserin oder als Leser, wenn du das liest? Wenn du als Unternehmer oder Unternehmerin für Ergebnisse verantwortlich, oder wenn du selbst im Vertrieb und Verkauf tätig bist, dann liegt es für dich doch vermutlich auf der Hand: dass am Ende immer die Kunden ganz wesentlich über das Unternehmensergebnis entscheiden und die monatlichen Schecks bezahlen.
Dein Produkt oder deine Dienstleistung kann noch so innovativ und einzigartig sein: Wenn die Angebote die Kunden nicht überzeugen, dann hat dein Unternehmen ein Problem. Genauso auch dann, wenn die Kunden nur wenig Einsatzmöglichkeiten sehen, wenn dein Preis oder die Produktqualität aus Sicht der Kunden nicht stimmt.
Genau deshalb ist es auch so wichtig, das Verhalten der Kunden möglichst gut zu kennen und zu verstehen. Und genau deshalb startet die Entwicklung eines neuen Produkts auch am besten nicht mit dem Produkt selbst, sondern mit der Frage, was denn die Bedürfnisse und die Anforderungen der Kunden sind.
Deshalb will ich in meiner Präsentation auch gleich am Anfang die Frage stellen, ob sich das Verhalten der Kunden in den letzten Jahren überhaupt verändert hat? Es könnte ja sein, dass bei allen Veränderungen da draußen im Markt das Verhalten der Unternehmen im B2B, beim Einkauf ihrer Produkte und Dienstleistungen im Grunde gleichgeblieben ist.
»Also dann«, stelle ich mir die Frage, »wie war das denn eigentlich früher? Wie haben sich die Kunden denn noch vor einigen Jahren verhalten? Und wie ist das im Vergleich dazu heute?«
Ich lasse mir die Frage in Ruhe durch den Kopf gehen. Dann fällt mir eine Außendienstmitarbeiterin ein, sie steht sozusagen direkt vor mir. Ihr Name ist Petra, erinnere ich mich. Sie war in der Vergangenheit außerordentlich erfolgreich und hat noch vor einigen Jahren immer wieder die besten Verkaufsergebnisse des Jahres eingefahren. Petra, das weiß ich noch sehr gut, stand am Ende des Jahres fast immer vorne mit auf dem Podium und wurde im Unternehmen mit einem der ersten Plätze für die besten Verkaufszahlen ausgezeichnet. Ihre Produkte waren unter anderem Nikotinfilter zur Raucherentwöhnung, die in Apotheken rezeptfrei verkauft wurden.
Für ein Interview mit einer Vertriebszeitung wurde sie gefragt, wie es ihr denn gelänge, immer so gute Verkaufsergebnisse zu erzielen. Sie antwortete: »Ach, das war im Grunde genommen immer recht einfach! Ich kenne doch meine Kunden seit vielen Jahren und habe eine gute Beziehung zu ihnen aufgebaut! Sie mögen mich und sie wissen, dass sie sich immer auf mich verlassen können, wenn sie etwas brauchen. Bei einem Lieferengpass beispielsweise, wenn es darum geht, als erste und so schnell wie möglich eine neue Lieferung zu bekommen. Oder auch, wenn sie am Ende vom Jahr genügend Werbegeschenke brauchen, die sie an ihre guten Kunden weitergeben können. Meine Kunden bestätigen mir immer wieder, dass sie sich bei mir gut aufgehoben fühlen, dass sie ganz sicher sind, von mir bevorzugt behandelt zu werden.«
Der Journalist von der Vertriebszeitung wollte es noch genauer wissen: »Und gibt es denn noch weitere Gründe, warum Sie so gut verkaufen? Können Sie uns sagen, wie Ihre Kunden über Sie denken und was Ihre Kunden von Ihnen genau erwarten?«
Die Außendienstmitarbeiterin brauchte einen Moment. Sie dachte noch einmal nach, bevor sie antwortete: »Mein Eindruck ist: Die Kunden warten immer schon ganz gespannt auf meinen Besuch. Das sagen sie mir auch.«
Petra lächelte dabei. Man sah es ihr an, dass sie ihre Kunden mag. »Zu Beginn des Gesprächs« fuhr sie dann fort, »wollen sie fast immer wissen, ob es etwas Neues gibt. Neue Produkte vielleicht, oder jedenfalls neue Informationen? Etwas Interessantes aus dem Markt, über mein Unternehmen oder über den Wettbewerb? Ich glaube auch, oft freuen sie sich einfach, mich wieder einmal zu sehen. Und mir geht es ja ganz genauso,« ergänzte sie. »Wenn man schon so lange mit denselben Kunden zu tun hat und sich gut kennt, dann wird ja automatisch auch über Privates gesprochen. Wie es so geht, was in der Familie passiert und so weiter. Das verbindet am Ende miteinander. Der Verkauf läuft dann oftmals schon fast wie nebenbei.«
An Petra und das Interview in der Vertriebszeitung kann ich mich gut erinnern, es muss schon mehr als fünfzehn Jahre her sein. Mir geht durch den Kopf, was ich damals dazu gedacht habe: Das hört sich ja alles ganz harmonisch an, und wenn dabei auch noch so gute Verkaufsergebnisse herauskommen! Was kann es denn Besseres geben als einen Job, den man so gern macht, in dem man so erfolgreich ist und in dem man dann auch noch super bezahlt wird?
Das ist zugegeben lange her. Und zufällig habe ich Petra erst vor kurzem getroffen und mit ihr wieder einmal privat gesprochen. Sie macht auf mich immer noch einen sehr engagierten Eindruck. Allerdings hat sich in der Zwischenzeit doch das ein oder andere für sie verändert.
»Die Kunden«, sagt sie zu mir, »sind insgesamt erheblich zurückhaltender geworden. Ich komme mir schon oft vor wie eine Art Dino, da ich immer noch mein altes Gebiet betreue und deshalb viele Kunden noch von früher kenne. Es gibt kaum noch Außendienstmitarbeiter, die so lange wie ich bei ein- und demselben Unternehmen sind und dasselbe Gebiet betreuen. Die Kunden sind es inzwischen gewohnt, alle paar Monate neue Gesichter im Außendienst zu sehen. Viele Firmen wurden aufgekauft und gehören jetzt zu anderen Unternehmen. Da ist schon lange sehr viel Bewegung im Markt und das spüren die Kunden. Und leider sind die persönlichen Kontakte deutlich weniger geworden. Ich will da nicht einmal von den Veränderungen durch Corona sprechen, schon vorher hatte sich in den letzten Jahren vieles stark verändert!«
»Was ist dir denn am Verhalten der Kunden noch aufgefallen, was sich gegenüber früher verändert hat?« hake ich noch einmal ein.
»Nach meinem Eindruck werden die Kunden in ihrem Verhalten unpersönlicher als früher und auch ungeduldiger,« sagt Petra. »Mir fällt auch besonders auf, dass sie immer sehr gut über alles informiert sind. Es gibt kaum eine neue Nachricht, die sie nicht schon vorher von irgendwoher gehört haben. Das Internet bietet heute so viele Möglichkeiten, die es früher in der Form gar nicht gab. Und ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie gut sich meine Kunden auch untereinander über Internet-Foren, Blogs und soziale Netzwerke austauschen. Inzwischen ist es so, dass ich fast mehr Neuigkeiten aus dem Markt von meinen Kunden erfahre als umgekehrt.
Und dann gibt es auch noch die Webshops, die alles verändert haben. Die Kunden sind viel weniger auf uns im Außendienst angewiesen, sie agieren viel unabhängiger als früher. Preis- und Produktvergleiche sind erheblich einfacher geworden. Das alles macht es für mich im Außendienst nicht gerade einfacher. Und ehrlich gesagt, ich bin deshalb auch ganz froh, dass ich bald meine Zeit rum habe und mich nicht mehr auf so viel Neues einstellen muss. Die Kunden von früher waren mir auf jeden Fall viel lieber!«
Ähnliche Aussagen wie die von Petra habe ich schon sehr oft gehört. Ganz offensichtlich verändert sich das Verhalten der Kunden deutlich, und sie sind schon lange nicht mehr so, wie sie einmal waren.
Wenn ich dich, meine Leserin und meinen Leser, dazu fragen würde: Welche Erfahrungen hast du damit gemacht?
Was Petra beobachtet, entspricht genau dem, was wir aus Marktuntersuchungen und Kundenbefragungen wissen. Und was längst nicht nur für die Apotheken oder den Gesundheitsmarkt, sondern für fast alle Bereiche, und insbesondere auch für den B2B-Markt gilt.
Früher waren die Kunden froh, Produkt-Informationen von den Verkäufern und gerade auch vom Außendienst zu bekommen. Heute sind im Durchschnitt und über alle Branchen 57 Prozent des Einkaufsprozesses mit einem neuen Kunden schon gelaufen, wenn der Kunde das erste Mal überhaupt mit einem Verkäufer spricht.
Mehr als die Hälfte vom Einkaufsprozess erfolgt sozusagen anonym: Der Kunde macht sich schlau im Internet und ist auf seinem Weg zur Kaufentscheidung bereits mindestens siebenmal oder noch häufiger dem Unternehmen und dem Produkt oder der Dienstleistung begegnet, ohne dass er mit einem Verkäufer gesprochen hätte. Die Anzahl der »Touchpoints«, das sind diese Begegnungen des Käufers mit einem Produkt oder Unternehmen, im Internet oder auch offline, nehmen beständig zu.
Deshalb verwundert es auch nicht, dass immer mehr Kunden zu einem immer späteren Zeitpunkt persönlichen Kontakt aufnehmen. Es ist keine Ausnahme mehr, dass Kaufinteressenten die Anbieter ausschließlich deshalb kontaktieren, um ein individuelles Preisangebot anzufragen. Und das am besten online.
»Da ist mir schon mal tatsächlich der Kragen geplatzt«, erinnere ich mich an die Aussage des Geschäftsführers eines Unternehmens, Herrn Meißner, der sich schon länger mit innovativen Lösungen aus dem Bereich 3D-Druck im Markt positioniert hat. »Wenn es um Nachfragen für unsere 3D-Druckmaschinen geht, dann haben sich die Kunden vorher informiert, über verschiedene Anbieter, unterschiedliche Produkte und die neuesten Technologien auf dem Markt. Dann kommen sie mit sehr vorgefertigten Meinungen zu uns, und es ist alles andere als einfach, sie von ihren Meinungen wieder abzubringen. Weil sie zwar viele, aber eben nicht die richtigen Informationen haben. Und weil es damit noch schwieriger wird, die Kunden von etwas Neuem und den Vorteilen unserer Produkte zu überzeugen. Das war früher doch anders, da haben die Kunden uns wenigstens noch zugehört und nicht gemeint, alles besser zu wissen, schon bevor sie uns gehört haben.«
Aus meiner Beratersicht kann ich die Verärgerung des Geschäftsführers sehr gut nachvollziehen. Schließlich war er mit seinem Unternehmen und seinen Produkten einer der ersten und führend auf dem Markt. Er ist Experte für 3D-Druck und weiß ganz genau, wovon er redet.
Dann kommt Herr Meißner noch auf einen anderen Punkt.
»Was mich dann auch noch wirklich nervt,« sagt er, und ich sehe dabei die Zornesfalte auf seiner Stirn, »das ist, dass die Entscheidungswege in den Unternehmen immer undurchsichtiger werden und die Entscheidungsprozesse immer länger dauern. Oft gibt es ganz plötzliche Kehrtwendungen im Prozessablauf bei der Entscheidung für einen Anbieter, die von außen völlig unverständlich sind. Erst dachte ich, das liegt an meinen Vertriebsmitarbeitern, die die Dinge einfach nicht richtig im Griff haben. Dann habe ich erkannt, dass sich die Abläufe in den Unternehmen verändert haben, die ich von früher noch ganz anders kenne. In der Zeit, in der ich den Vertrieb gemacht habe, hatte sich zunächst die technische Abteilung aufgrund ihrer Kriterien für einen oder auch mehrere Anbieter entschieden. Es gab dann einen definierten Ablauf, der allen bekannt war, und fast immer nur einen Ansprechpartner und Entscheider in der Technischen Abteilung und einen im Einkauf.
Das galt auch für größere Unternehmen und sogar für Konzerne. Man kannte sich, und innerhalb von wenigen Wochen oder noch kürzeren Zeitabständen gab es eine Antwort dazu, wer den Auftrag erhalten hat, und auch warum. Heute sind Überraschungen und nicht nachvollziehbare Abläufe die Regel, auch wenig bis keine Information dazu, warum eigentlich eine Kaufentscheidung getroffen wurde. Und dann gibt es auch noch ständig neue Anforderungen und auch neue Ansprechpartner.«
Du, meine Leserin oder mein Leser, möchtest mir jetzt vielleicht sagen, dass diese Beobachtungen alles andere als neu sind. Dass das nicht erst in den letzten zwei oder drei Jahren so geworden ist, sondern sich bereits über einen viel längeren Zeitraum verändert hat.
Natürlich stimmt das, und es gibt auch einen guten Grund dafür: Denn in Zeiten von immer länger werdenden E-Mail-Verteilern, Ad-hoc-Online-Meetings, Share Point und anderen web- und cloudbasierten Collaboration-Plattformen und Contentmanagement-Systemen sind immer mehr Personen in den Unternehmen an der Einkaufsentscheidung beteiligt. Was viele Überraschungen, Verunsicherungen und manches von außen betrachtet unerklärliche Verhalten der Entscheidungsträger in den Unternehmen am besten erklärt. Aus den Berichten vieler Kunden, Vertriebsmitarbeiter und Kollegen weiß ich, dass die eigentlichen Drahtzieher bei den Kaufentscheidungen gerade für größere Aufträge für die Verkäufer oftmals anonym bleiben. Sie tauchen manchmal auf wie aus dem Nichts, entscheiden nicht selten ohne Begründung und agieren dabei im Hintergrund. Die Zeiten, in denen der Kunde sich vor seiner endgültigen Kaufentscheidung immer noch einmal bei seinem langjährigen Anbieter gemeldet hat, um ihm die Chance für einen »Last Call« zu geben, sind schon lange vorbei. Ich kann auch aus meiner Sicht nur bestätigen: Der Wind ist rauer geworden, und die Verbindlichkeit und Verlässlichkeit der Beziehungen zwischen Kunden und Anbietern deutlich geringer.
Genau das zeigt ja auch die Geschichte von Lutz, die ich dir im Prolog erzählt habe. Er hat die schlechte Erfahrung mit einem seiner wichtigsten Kunden gemacht, der trotz langjähriger, sehr guter Zusammenarbeit mit ihm und seinem Unternehmen einfach zu einem anderen Anbieter abgesprungen ist. Und das ohne jede Vorwarnung, ohne ihn auch nur darüber zu informieren.
Ich hole mir eine Tasse frisch aufgebrühten Tee und überlege dann noch einmal, ob ich in der Auflistung für mein Vertriebsevent alle wichtigen Punkte zum Thema »verändertes Kundenverhalten« aufgenommen habe.
Das hier steht jetzt schon auf meiner Liste:
Und noch etwas. Ich erinnere mich dabei an Petra, die Außendienstmitarbeiterin. Hatte sie nicht gesagt, die Kunden sind auch viel ungeduldiger geworden? Ja das stimmt, und dabei fällt mir mein Gespräch mit Jacques ein.
Jacques ist Senior Manager eines international tätigen Unternehmens im IT-Bereich. Er ist seit vielen Jahren in führenden Positionen im Vertrieb und kennt den Markt nicht nur in Deutschland, sondern auch international wie seine Westentasche. Vor einigen Monaten treffen wir uns in einer Hotelbar am Flughafen Frankfurt. Ein glücklicher Zufall, da wir beide gerade zu Kunden unterwegs sind und so seit längerem unsere Wege uns wieder einmal zusammengeführt haben.
Wie das so ist, tauschen wir uns aus über das ein oder andere private Thema, und auch über unsere Aufträge und Erfahrungen. Er erzählt mir von seinem neuen Großauftrag bei einem Konzern.
Es geht um eine Visualisierungslösung für ein Design-Center in der Automobilindustrie. Sein Unternehmen hat den Auftrag über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr mit der technischen Abteilung vorbereitet. Eine technische Lösung, die ganz speziell auf diesen einen Kunden zugeschnitten ist.
Der Entscheidungs- und Einkaufsprozess hat sich dann über mehrere Monate hingezogen und die Beauftragung ist mehrfach zeitlich nach hinten verschoben worden. Der Grund für die Verzögerungen ist auch für Jacques nicht so richtig klar geworden. Vermutlich hat es mit veränderten Zuständigkeiten beim Kunden zu tun.
»Ja, und dann,« sagt Jaques zu mir, »nachdem die nun Monate und Monate sich nicht entscheiden konnten, den Auftrag zu unterzeichnen, wollten sie alles sofort und am besten schon gestern und noch schneller als ursprünglich geplant. Mal abgesehen davon, dass es noch eine ganze Reihe Sonderwünsche gab, die so vorher nicht vereinbart waren. Klar wollen wir am Ende einen zufriedenen Kunden haben, deshalb haben wir dann ja auch alles Mögliche getan, um den Wünschen des Kunden nachzukommen.
Am Ende kam dann noch das Allerbeste: Nachdem wir endlich lieferbereit waren, hat das Unternehmen einfach seine Zahlungen eingefroren. Und zwar nicht nur über zwei oder drei Monate, sondern über einen längeren Zeitraum und nicht nur an uns, sondern an alle Anbieter! Was die technische Abteilung nicht daran gehindert hat, auf die vereinbarten Lieferzeiträume zu pochen. Und da es sich um kundenspezifische Lösungen handelt, konnten wir unsere Waren natürlich nicht so einfach an andere Kunden liefern.«
»Da lobe ich mir dann doch den Verkauf einfacher Produkte von der Stange anstelle von kundenspezifischen Lösungen, am besten gleich in großen Stückzahlen.« Die Bemerkung kann ich dann doch nicht lassen, um allerdings gleich wieder einzuschränken: »Na ja, jedenfalls dann, wenn es bei den Produkten wirklich Alleinstellungsmerkmale gibt, die so einfach nicht zu kopieren sind.«
Jacques und ich sind uns einig darüber, dass das Verkaufen alles andere als einfacher geworden ist. Und dass es mehr als genug Herausforderungen im Vertrieb gibt, die auf gute und kreative Ideen warten.
Aus den Erfahrungen mit meinen Kunden und im Vertrieb weiß ich, dass das, was mir Jacques, der Senior Manager, Herr Meißner, der Geschäftsführer und Petra, die Außendienstmitarbeiterin, erzählt haben, keine Einzelfälle sind. Dieselben und ähnliche Erfahrungen werden wieder und wieder in vielen Einzelfällen bestätigt. Die Kunden im B2B sind definitiv andere geworden. Vor allem hat sich ihre Erwartungshaltung stark verändert.
Ich nehme noch einen Schluck von meinem Tee. Manchmal frage ich mich, was es denn überhaupt noch Gutes gibt im Vertrieb und am Verkaufen? Denn wenn ich mir das so auf meiner Liste vor mir noch einmal der Reihe nach durchlese und anschaue, dann sind die Kunden zu allem anderen auch noch extrem ungeduldig und deutlich anspruchsvoller geworden als früher. Das hört sich richtig anstrengend an. Und das ist es auch.
Um einen Punkt will ich die Vorbereitung für mein Vertriebsevent noch ergänzen: Die Kunden in den Unternehmen erwarten heute ganz selbstverständlich schnellere Reaktionen bei den Anbietern als früher. Studien haben sogar gezeigt, dass heute fast immer das schnellere gegenüber dem besseren Angebot gewinnt. Und gleichzeitig erwartet der Kunde immer häufiger Angebote, die speziell auf ihn zugeschnitten sind.
Das Kundenverhalten ist anders geworden, denke ich, als ich mein Laptop zuklappe. Das Ziel der Kunden ist heute nicht eine Win-Win-Situation mit dem Anbieter, sondern ausschließlich der eigene Nutzen und der beste Preis.
Eine spannende Ausgangsposition für mein Event – und für die nächsten Kapitel dieses Buches, zu deren Lektüre ich dich einlade.
»Was im Vertrieb vor einigen Jahren gültig war, gilt heute nicht mehr.«
Heute Abend veranstalte ich eine Panel-Diskussion. Da wir immer noch in der Corona-Zeit sind, findet sie online statt. Und natürlich geht es um das Thema Vertrieb: wie Verkaufen heute funktioniert und wie sich der Vertrieb durch Corona verändert hat. Es haben sich mehr Interessenten angemeldet als erwartet, ich bin sehr zufrieden.
Wie immer bin ich mit meinen Gästen und mit meiner Assistentin Louisa schon einige Zeit vorher online. Sie wird sich um den Chat und um diejenigen kümmern, die erst später dazukommen. Die Technik funktioniert, und die Panel-Diskussion beginnt. Ich begrüße alle und stelle meine Gäste vor. Es sind drei Unternehmer aus ganz unterschiedlichen Marktbereichen. Denn mir ist es besonders wichtig, unterschiedliche Standpunkte und Sichtweisen aus verschiedenen Branchen vorzustellen. Zwei der Teilnehmer, Robert und Paul, sind meine Kunden, Daniel kenne ich schon seit langem. Er gehörte früher ebenfalls zu meinen Kunden, ist international tätig und inzwischen selbst als Berater unterwegs.
Robert stelle ich zuerst vor. Er kommt aus dem Bereich Medizintechnik. Das Unternehmen stellt Monitore und Apparaturen für die Endoskopie und die minimalinvasive Chirurgie her genauso wie Sauerstoff- und Beatmungsgeräte. Und wie wir noch sehen werden, gehört sein Unternehmen zu den Gewinnern der Corona-Krise.
Der zweite Diskussionsteilnehmer, Paul, ist einer meiner ersten Kunden. Er kommt aus einem innovativen und zugleich sehr bodenständigen Maschinenbauunternehmen in Baden-Württemberg, das Textilbearbeitungsmaschinen gemeinsam mit seinen Kunden entwickelt und herstellt.