Harlich H. Stavemann
Unerschrocken weiterleben
Todesangst und existenzielle Probleme erkennen und bewältigen Mit Online-Material |
Harlich H. Stavemann, Dr. rer. soc., Dipl. Psych., Dipl. Kfm., Ausbildung in VT, GT, KVT, RET; Psychotherapeut seit 1979, Approbation für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Einzel- und Gruppenbehandlung. Kognitiver Therapeut, Kognitiver Verhaltenstherapeut, Associate Fellow of the Institute for Rational Therapy, seit 1984 Fortbildungsleiter, Lehrtherapeut und Supervisor für VT/KVT, Dozent und Selbsterfahrungsleiter an diversen für die Approbation in VT staatlich anerkannten Instituten, diverse Publikationen zur Integrativen KVT. Mitbegründer und Leiter des Instituts für Integrative Verhaltenstherapie (IVT) in Hamburg (seit 1986).
Vorwort
Einleitung
1 Was ist Todesangst?
1.1 Gründe für Todesangst
1.2 Schützt Todesangst vor Gefahren?
1.3 Typische Beispiele für Ursachen von Todesangst
1.4 Kann man Todesangst loswerden?
2 Was sind existenzielle Probleme?
2.1 Was sind Gefahrenkonzepte?
2.2 Wann sind Gefahrenkonzepte schädlich?
2.3 Kennzeichen für schädliche Gefahrenkonzepte
2.4 Wie entstehen schädliche Gefahrenkonzepte?
2.5 Typische Konsequenzen von existenziellen Problemen: psychische und körperliche Erkrankungen
2.6 Kann man existenzielle Probleme loswerden?
3 Eigene Gefahrenkonzepte als Ursache für die Todesangst und das existenzielle Problem erkennen
3.1 Bewusste und unbewusste Gefahrenkonzepte
3.2 Denken und Gefühle
3.3 Detektivarbeit: eigene Gefahrenkonzepte entdecken
4 Das Ziel: angemessene Gefühls- und Verhaltensreaktionen bei Unsicherheit und Gefahr
4.1 Angemessene Veränderungsziele formulieren
4.2 Veränderungsziele prüfen
5 Eigene existenzielle Probleme bewältigen
5.1 Werkzeuge zum Prüfen von Gefahrenkonzepten
5.2 Der Abschied von Sicherheit und Kontrolle
5.3 Die Alternative: Unsicherheit und Ausgeliefertsein akzeptieren
5.4 Ein neues Gefahrenkonzept erstellen
5.5 Selbst ist die Frau bzw. der Mann: die Selbstanalyse von Emotionen
6 Das neue Gefahrenkonzept leben lernen
6.1 Wie neue Konzepte erlernt werden
6.2 Übungen bestimmen und Übungsleitern erstellen
6.3 Das innere Drehbuch und Üben in der Vorstellung
6.4 Neue Selbstkonzepte im Alltag trainieren
Hinweise zum Online-Material
Arbeitsblätter
Literatur
Bildnachweis
In diesem Buch wird aufgezeigt, wodurch übertriebene oder unnötige Angst vor dem Sterben entsteht und was davon Betroffene dagegen ausrichten können.
Solche existenziellen Ängste können sich auf völlig unterschiedliche Weise zeigen. Am häufigsten sind sie an folgenden Befürchtungen zu erkennen:
an Krankheiten, Infarkten oder Infektionen zu sterben
im Fahrstuhl, in engen oder vollen Räumen zu ersticken oder anders umzukommen
durch andere Menschen (Einbrecher, Triebtäter etc.), Tiere (Schlangen, Hunde, Spinnen etc.) oder übernatürliche Wesen (Gespenster, Werwölfe, Zombies etc.) zu Tode zu kommen
ungewollt etwas »Verrücktes« zu tun (vom Balkon oder der Brücke zu springen etc.) und dabei umzukommen
die Ungewissheit, was nach dem Sterben geschehen könnte (ewige Verdammnis etc.)
Den meisten Betroffenen ist dabei gar nicht bewusst, wodurch ihre existenziellen Ängste hervorgerufen und gesteuert werden. Daher werfen wir zunächst einen Blick auf diese Ursachen und lernen eine sehr erfolgreiche Art kennen, wie man den Gründen für die eigene Angst vor dem Tod auf die Spur kommt.
Anschließend erlernen Sie »Werkzeuge«, mit denen sich die Ursachen für Ihre existenziellen Ängste auf Angemessenheit prüfen lassen. Weiterhin wird gezeigt, wie man mit Alltagsgefahren, Unsicherheit und Unkontrollierbarem gelassener und weniger selbstschädigend umgeht.
Diverse Beispiele und Übungsaufgaben dienen dazu, das Vermittelte leichter auf die eigene Problematik übertragen zu können. Das Vorgehen wird von A bis Z an drei typischen Beispielen demonstriert:
ein Klient, der befürchtet, an einem Herzinfarkt zu versterben
eine Klientin, die befürchtet, sich mit Keimen oder Viren tödlich zu infizieren
ein Klient, der sich vor dem »Danach« fürchtet
Um die typischen Gefahrenkonzepte dieser Personen in den einzelnen Übungsphasen besser zu erinnern, werden diese drei plakativ als »Herr Herzog«, »Frau Reinlich« und »Herr Seliger« benannt. Sie zeigen stellvertretend auch für die anderen Ursachen von existenziellen Ängsten, wie diese dauerhaft zu bewältigen sind.
Vaisala (Savaii), im Herbst 2021 |
Harlich H. Stavemann |
Ich möchte jetzt nicht sterben. Sie auch nicht?
Nun, damit liegen wir voll im Trend: Wie die meisten anderen Lebewesen streben auch Menschen von Geburt an danach, zu überleben. Dieser »Wille« ist ein genetisches Programm, das uns veranlasst, lebensbedrohenden Situationen möglichst aus dem Weg zu gehen. Falls uns das einmal nicht gelingt oder wenn wir aus bestimmten Gründen solche Situationen bewusst aufsuchen, reagieren wir mit Angst oder gar Panik. Soweit der Normalfall.
Existenzielle Probleme. Nun gibt es auch manche, die diesen Wunsch nach dem Überleben in absolutes Fordern verwandeln: »Ich will (oder darf) jetzt nicht sterben!« Und das versuchen sie dann mit ebenso beständigem wie hoffnungslosem Bemühen um Sicherheit und Kontrolle zu erreichen. Weshalb dieses Unterfangen ein hoffnungsloses ist und bleibt, betrachten wir in Abschnitt 2.4.
Menschen mit ständiger Angst vor dem Sterben haben ein »existenzielles Problem«. Sie wittern an allen Ecken unterschiedliche lebensbedrohliche Gefahren und versetzen sich damit in Todesangst.
Existenzielle Probleme beziehen sich in diesem Buch ausschließlich auf die Angst vor dem Sterben oder dem »Danach«, nicht auf drohende ökonomische oder soziale Verluste. Man erkennt sie an völlig unterschiedlichen Symptomen, z. B.
der festen Überzeugung, an einer tödlichen Erkrankung zu leiden (obwohl es keine derartigen Befunde gibt),
der Sorge, sich mit fatalen Viren und Krankheiten zu infizieren (und viel Aufwand zu betreiben, dies durch Waschen oder Putzen zu vermeiden),
der Befürchtung, Tunnel, Brücken oder Gebäude könnten ein- und Fahrstühle abstürzen und man würde ersticken (ohne dass es hierfür realistische Hinweise gibt),
der Vorstellung, Tiere oder Menschen könnten über einen herfallen und tödlich verletzen (auch wenn dies realistisch betrachtet höchst unwahrscheinlich ist) oder
der ständigen Sorge, man könne verunglücken und aufgrund widriger Umstände (wegen Menschenmassen, Entfernung oder Einsamkeit) nicht rechtzeitig Hilfe erhalten.
Manche fürchten hauptsächlich die Konsequenzen des Todes, wie z. B.
verzichten zu müssen (nicht weiterhin das Leben genießen zu dürfen),
falsch gelebt zu haben (»Hätte ich gewusst, dass ich schon sterben muss, hätte ich ganz anders gelebt!«) oder
für das bisherige Leben bestraft zu werden (z. B. durch göttliche Strafe in die Hölle zu kommen).
Diese Aufzählung ließe sich noch erheblich ausbauen (dies beleuchten wir in den Abschnitten 1.3 und 2.5 genauer). An dieser Stelle lässt sich sagen: Wer sich auch nur in einem der hier angeführten Punkte wiedererkennt, leidet mit großer Wahrscheinlichkeit unter einem existenziellen Problem und unter unangemessener Todesangst.
Worum geht es in diesem Buch?
Wir beschäftigen uns mit den Ursachen und Auswirkungen von Todesangst und den damit verbundenen ungünstigen Sicherheits- und Gefahrenkonzepten. Wir betrachten die langfristig negativen Konsequenzen, die solche Konzepte für die Betreffenden haben, wie z. B. erhebliches emotionales Leid, Einschränkungen im Lebensalltag – sowohl im Privat- als auch im Berufsleben. Ersteres zeigt sich meist in Form von Ängsten bis hin zu Panikattacken, aber auch als Niedergeschlagenheit bis zu ausgeprägten Depressionen. Letzteres zeigt sich darin, dass das Denken und Handeln der davon Betroffenen sich ausschließlich um mögliche Gefahrenabwehr drehen, um erhoffte Sicherheit und Kontrolle. Andere Lebensinhalte wie Familie, Partner- oder Freundschaften oder berufliche Ziele kommen zu kurz oder werden im Extremfall kaum noch berücksichtigt. Andere Konsequenzen von Todesangst können auch körperlicher Natur sein: Erschöpfungszustände bis hin zum Burn-out oder psychosomatische Probleme.
Im Anschluss betrachten wir,
weshalb schädliche Gefahrenkonzepte die Ursache für existenzielle Probleme sind,
wann Gefahrenkonzepte schädlich sind und woran wir dies erkennen,
wie sich schädliche Gefahrenkonzepte dauerhaft verändern lassen und
wie man die oben beschriebenen Auswirkungen im privaten und beruflichen Bereich loswird und künftig erfolgreich vermeidet.
Die Lösung, die wir dazu erarbeiten, werden Sie auch auf sich selbst übertragen können, denn sie wird zum Verstehen des eigenen Problems beitragen und erste Schritte einleiten, um es zu bewältigen. Die Lektüre dient auch dazu, einen therapeutischen Prozess zu unterstützen.
Übungen und Arbeitsmaterial. In den Kapiteln finden Sie Übungsaufgaben und im letzten Abschnitt Arbeitsblätter, mit deren Hilfe Sie die vermittelten Inhalte reflektieren, auf die eigene Person umsetzen und dieses Ergebnis dann im Alltag trainieren können.
Für Interessierte wird zudem weiterführende, vertiefende Literatur angegeben.
Für wen ist dieses Buch gedacht?
Dieses Buch richtet sich an Betroffene, ohne dabei fachliche Vorkenntnisse oder »Psychologenkauderwelsch« vorauszusetzen. Es hat den Anspruch, für die eigene Psychohygiene nützlich und als Begleitlektüre bei psychotherapeutischen Behandlungen – insbesondere der Kognitiven Verhaltenstherapie – hilfreich zu sein.
Aber obwohl es Erkenntnisse vermittelt und Wege zu deren Umsetzen im Alltag beschreibt, ist es nicht als Ersatz für eine Psychotherapie gedacht, denn eigene »blinde Flecken« sind meist nur durch neutrale Außenstehende zu erkennen – und was man nicht selbst erkennt, lässt sich nicht eigenständig verändern.
Aber genau bei diesem Selbsterkennen kann und soll dieses Buch hilfreich sein. Damit sind dann auch die Grundlagen für ein Verändern gelegt. Das dafür nötige Vorgehen wird Schritt für Schritt beschrieben.
Hinweis
Wer bereits das Grundlagenbuch »Im Gefühlsdschungel«, das Buch »…und ständig tickt die Selbstwertbombe« zum Bearbeiten von Selbstwertproblemen oder »Frustkiller und Schweinehundbesieger« zum Aufbau von Frustrationstoleranz durchgearbeitet hat, wird beim Beschreiben der therapietypischen Vorgehensweise auf bekannte Inhalte stoßen. Das ist insofern unvermeidbar, als sich die therapeutische Methodik nicht dadurch ändert, dass wir in diesem Buch den Fokus auf einen speziellen Problembereich richten. Um auch denjenigen, die obige Titel noch nicht kennen, ein schlüssiges Veränderungskonzept darlegen zu können, ohne ständig auf diese Literatur verweisen zu müssen, werden die therapeutischen Prinzipien und Vorgehensweisen auch hier grundlegend eingeführt.
Definition
Todesangst beschreibt die akute Furcht vor dem Sterben. Diese bezieht sich dabei sowohl auf den Sterbeprozess selbst (Angst vor dem Leiden), auf den damit verbundenen Verzicht (nicht mehr am Leben teilhaben zu dürfen) sowie auch auf ein mögliches Jenseits (Strafe für ein falsch gelebtes Dasein). Die Höhe des Angsterlebens ist häufig immens – bis hin zu Panik – und schränkt die Lebensqualität der Betroffenen massiv ein.
Das Gefühl der Angst bezieht sich stets auf eine vermeintliche oder tatsächliche Gefahr. Aber nicht jedes Angsterleben resultiert aus existenziellen Befürchtungen. So können z. B. auch Befürchtungen, die sich auf einen vermeintlich drohenden Selbstwertverlust oder auf mögliche Einschränkungen oder Strafen beziehen, zu Angst und Panik führen.
Um die unterschiedlichen Ursachen für Todesangst besser zu verstehen, betrachten wir zunächst die häufigsten Argumente der davon Betroffenen. Was finden diejenigen, die dauerhaft unter Todesangst leiden, am tatsächlich oder vermeintlich kurz bevorstehenden Ableben so schrecklich?
(1) Der Verzicht: »Ich will noch bleiben!«
Den meisten fällt es schwer, auf etwas zu verzichten, was sie gerade genießen. So ist das am häufigsten genannte Argument dafür, jetzt noch nicht sterben zu wollen, dass man den Verzicht auf das Bestehende so besonders furchtbar findet. Dabei können die Inhalte dessen, was als Verzicht empfunden wird, sehr unterschiedlich sein, z. B.: »Ich will/darf jetzt noch nicht sterben, weil ich
… noch erleben will, wie meine Kinder/Enkel groß werden!«
… noch gar nicht richtig gelebt habe. Ich will erst noch … erleben/erreichen!«
… bisher nur geackert und noch nicht den Erfolg meiner Arbeit genossen habe!«
… noch länger mit … zusammen sein will!«
… das Leben gerade so toll finde!«
Selbst diejenigen, die ihr Leben zurzeit gar nicht sonderlich genießen, sondern sich eher unzufrieden durch ihr Dasein treiben lassen, befürchten plötzlich: »Ich will/darf jetzt noch nicht sterben, weil ich
… ganz anders gelebt hätte, wenn ich gewusst hätte, dass es so früh vorbei ist!«
… das Leben noch gar nicht genossen habe!«
… noch gar nichts erreicht habe!«
(2) Die Unsicherheit: »Gibt es etwas danach?«
Manche haben mit dem Sterben überhaupt kein Problem – solange sie sicher sind, dass es ein Danach gibt, das viel schöner und erstrebenswerter als das jetzige Dasein ist. Das Problem dabei: Man kann so etwas zwar glauben, aber dadurch wird es nicht wirklich sicher.
Genau diese Unsicherheit ist es, die bei vielen zu immenser Angst vor dem Tod führt. Menschen, die zwar an ein Leben nach dem Diesseits glauben oder doch zumindest darauf hoffen, müssen trotzdem mit der absoluten Unsicherheit bezüglich folgender Fragen leben:
Geht es danach irgendwie weiter?
Wie geht es weiter?
Hängt das »Wie« von meinem bisherigen Leben ab?
Wer entscheidet darüber, wie es weitergeht?
Nach welchen Kriterien wird das entschieden?
Kann ich beeinflussen, wie es weiter geht?
Es ist leicht nachzuvollziehen, dass die Todesangst derjenigen, die an ein Danach glauben, immer dann besonders ausgeprägt ist, wenn sie an eine richtende, bestrafende höhere Instanz glauben, die für ein falsch oder sündig gelebtes Dasein die ewige Verdammnis vorsieht.
(3) Das Nichts: »Es soll etwas übrig bleiben!« oder »Ich will nicht vergessen werden!«
Auch wer nicht an ein Jenseits glaubt, kann sich vor dem Danach fürchten – obwohl er weder »Himmel« noch »Hölle« erwartet. Diese Personen finden die Vorstellung furchtbar, plötzlich nicht mehr da zu sein, dass ihre Existenz vollständig ausgelöscht ist, nichts von ihnen übrig bleibt und sie irgendwann völlig vergessen sind.
(4) Der Sterbeprozess: »Es könnte schmerzhaft sein!«
Bei anderen, die sich nicht vor einem Danach fürchten müssen, weil sie nicht daran glauben oder es nicht für bedrohlich halten, kann sich die Todesangst auf den Sterbeprozess selbst beziehen. Sie fürchten sich vor den möglicherweise vorangehenden Schmerzen und dem Leiden.
Mit all diesen Argumenten setzen wir uns im Kapitel 5 auseinander. Dort prüfen wir sie vor allem auf Angemessenheit.
Viele glauben an einen schützenden Charakter des Angstgefühls. Sie meinen dann z. B., dass Angst sie vor Gefahren und Schaden bewahren könne, dass sie zu ihrer Sicherheit beitrage und dass sie damit lebenserhaltend sei. Diese Erwartungen prüfen wir besser zunächst, bevor wir auch so etwas glauben.
Angst schützt nicht!
Wer glaubt, Angst schütze vor Gefahr, vertauscht Ursache und Wirkung. Wie wir später im Abschnitt 3.2.1 genauer beleuchten, ist es genau andersherum. Angst schützt nicht – weder vor Taschendieben, noch vor Körben beim Flirten, noch vor dem Tod. Wäre es so, müssten die, die besonders viel Angst empfinden, ja besonders sicher sein und ungewöhnlich lange leben.
Es lässt sich leicht beobachten, dass dem nicht so ist. Zudem kennen die meisten bereits die lästigen Nebenwirkungen von starker Angst: Sie kann zum völligen Erstarren, dem Angst-Stupor, oder – bei Ängsten, die auf vieles Verschiedenes bezogen sein kann – zu unkontrolliertem Verhalten führen. Beides ist völlig ungeeignet, um einer Gefahr sinnvoll zu begegnen.
Angst ist das Resultat aus Gefahrenzuschreibungen
Halten wir zunächst fest: Todesangst kann NICHT vor dem Tod schützen. Sie ist lediglich das Ergebnis aus einer realen oder vermeintlich existenziellen Bedrohung. Selbst wenn eine Gefahrenzuschreibung übertrieben oder sogar total unsinnig wäre, ändert das nichts an der Intensität der dadurch hervorgerufenen Todesangst. So kann sich jemand beispielsweise in Todesangst versetzen, weil er glaubt, der erhöhte Herzschlag sei ein Zeichen für einen drohenden Infarkt – selbst, wenn er tatsächlich nur eine gesunde Anpassungsleistung des Organismus, z. B. beim Treppensteigen, ist. Im Abschnitt 3.2.1 beleuchten wir diesen Zusammenhang genauer.
Sinnvolle und unsinnige Angst?
Todesangst kann man daher auch empfinden, wenn tatsächlich gar keine Gefahr besteht, man aber dennoch fest davon überzeugt ist. Manche veranlasst dies dazu, zwischen sinnvoller und unsinniger Angst zu unterscheiden. Betrachten wir, weshalb auch dies unangemessen ist:
Wir stellten bereits fest, dass Angst das Resultat einer Gefahrenzuschreibung, eines inneren Alarmschreis ist. Aber woran soll die Angst erkennen, ob wir tatsächlich in Gefahr sind, ob der Alarmschrei sinnvoll ist?
Betrachten wir hierzu eine Analogie: Angenommen, auf dem Dach eines Hochhauses ist eine Sirene zum Feueralarm installiert und in jeder Etage befindet sich ein Alarmknopf. Was hat es zu bedeuten, wenn plötzlich die Sirene heult? Richtig. Es sagt nichts darüber aus, ob es brennt, sondern lediglich, dass jemand auf den Alarmknopf gedrückt hat. Keine Ahnung, ob dies zu Recht geschah. Selbst wenn sich jemand einen Streich erlaubt hätte, würde die Sirene dann nicht »unsinnigerweise« heulen. Sie tut dann genau, was sie soll: Sie heult, wenn jemand auf den Knopf drückt. Sie kann nicht entscheiden, ob dies sinnvoll geschah oder nicht.
Ebenso verhält es sich mit Angstreaktionen. Sie entstehen auch, wenn jemand unsinnigerweise Alarm schreit und unrealistische Gefahren sieht.
Fazit
Angst schützt nicht. Man kann auch nicht sinnvolle von unsinniger Angst unterscheiden, wohl aber zwischen angemessenen und unangemessenen Gefahrenzuschreibungen oder Alarmschreien.
Schützen Gefahrenzuschreibungen?
»Nun, wenn Angst schon nicht schützt, dann doch vielleicht das Erkennen von Gefahr?«
Diese Frage lässt sich mit einem entschiedenen »Jein!« beantworten. Einerseits ist es für unser Überleben oft hilfreich, wenn wir bestehende Lebensgefahren erkennen. Aber das Erkennen der Gefahr, die Gefahrenzuschreibung in einer Situation allein reicht nicht aus, um sie erfolgreich zu meistern. Dazu benötigt man zusätzlich hilfreiche Lösungsstrategien für die jeweilige Gefahrensituation. Besitzt man diese nicht, hilft auch kein Erkennen der bestehenden Gefahr. Fällt jemand z. B. beim Fensterputzen aus dem 8. Stock, schützt das Erkennen der akuten Lebensgefahr nicht vor den Konsequenzen des Aufpralls.
Fazit
Vor lebensbedrohlichen Situationen schützen weder Angst noch das Erkennen der Gefahr, sondern allenfalls eine geeignete Strategie, mit dieser Situation erfolgreich umzugehen.
Wo kauft man Strategien zur Gefahrenabwehr?
Na, das wär’ was. Ebenso könnte ich versuchen, mir Sprachkenntnisse zu kaufen. Leider gibt es hierfür keine bequeme Lösung. Besonders für diejenigen mit einem existenziellen Problem wird es nun haarig, denn solche Lösungsstrategien erwirbt man durch das erfolgreiche Konfrontieren mit gefährlichen Situationen. Also dadurch, eigene (oder durch andere vermittelte) Lösungswege selbst auszuprobieren und zu üben.
Ja, Sie haben Recht: Selbstverständlich ist das unsicher und gefährlich. Es könnte in die Hose gehen. Aber das ist das unvermeidbare Risiko, wenn jemand lernen will, erfolgreich mit Gefahrensituationen umzugehen. Eltern und Erziehende können von dieser Problematik ein Lied singen: Einerseits möchte man seine Sprösslinge von jeder Gefahr fernhalten, anderseits bringt man sie genau dadurch in Gefahr, da sie dann ja nicht lernen, damit erfolgreich umzugehen. Dieses Dilemma besteht auch noch für Erwachsene, insbesondere für solche mit einem existenziellen Problem.
Wir betrachteten bereits in der Einführung einige Situationen, in denen Menschen mit einem existenziellen Problem mit Todesangst reagieren. Wenn wir dies nun genauer unter die Lupe nehmen, schälen sich einige Schwerpunkte heraus, die wiederum eine Vielzahl an Varianten beinhalten.
Krankheitsbefürchtungen
Am häufigsten wird von Todesangst in Zusammenhang mit Krankheitsbefürchtungen berichtet, etwa wenn jemand befürchtet, dass ein tödlicher Infarkt drohe (Herzinfarkt, Schlaganfall) oder dass das Herz nicht in Ordnung sei (z. B. plötzlicher Herzstillstand, Herzklappenfehler oder Mangelversorgung).
Beispiel
Herrn Herzog, 53 Jahre, Leiter einer IT-Abteilung, verheiratet, 2 Kinder, wurde nahegelegt, sich eine neue Stelle zu suchen, da ihm sonst aufgrund der Vorkommnisse in der letzten Zeit gekündigt würde.
Seit Herr Herzog vor einem Monat im Fernsehen das Gesundheitsmagazin zum Thema Herzerkrankungen sah, sorgt er sich wieder verstärkt um sein Herz. Wie schon häufiger zuvor befürchtet er auch diesmal wieder, an einer unerkannten Herzerkrankung zu leiden und daran zu sterben. Vorsorglich achtet er sehr genau auf innere Signale: auf Atmung, Herzschlag, Schwindelgefühl und kalten Schweiß. Sobald er eines davon wahrnimmt, gerät er durch die dann einsetzende Angstspirale (genauer s. Abschn. 3.5) in Todesangst und Panik. Entweder sucht er dann selbst einen Arzt auf oder er ruft den Notarzt. In den letzten Wochen hatte er wegen der Arztbesuche diverse Fehlzeiten. Auch bei der Arbeit wirkt er abgelenkt und nervös. In den letzten zwei Wochen hat er dreimal den Notarzt in den Betrieb gerufen.
Andere befürchten, dass sich bei ihnen eine schleichende, unentdeckte, potenziell tödliche Erkrankung ausbreitet (z. B. Hirntumor, Leukämie, Hirnhautentzündung, Haut-, Lungen-, Magen-, Brust-, Hoden-, Leber-, Bauchspeicheldrüsen-, Gebärmutterhals-, Zungen-, Blut-, Darmkrebs).
Beispiel
Frau K., 39 Jahre, inzwischen langzeitarbeitslose MTA, hat womöglich Krebs. Bisher ergaben zwar sämtliche Untersuchungen keinen Befund, aber Frau K. zweifelt daran. Womöglich hat man bei ihr nicht so genau hingeschaut. Sie ist ja auch nur gesetzlich versichert …
Mehrfach täglich steht sie entkleidet vor dem Spiegel und prüft auf Anzeichen von Hautkrebs, Knötchen an der Brust und den Lymphdrüsen. Wird sie nicht fündig, ist sie kurzzeitig beruhigt – bis sie an andere mögliche Tumorerkrankungen im Magen, Darm, Gebärmutter, Blase, Leber etc. denkt, besonders wenn die letzte Kontrolluntersuchung schon einige Wochen zurückliegt.
Frau K. ist bei allen Internisten und anderen Fachärzten ihrer Umgebung gut bekannt. Inzwischen bekommt sie dort kaum noch kurzfristige Untersuchungstermine. Oft muss sie die deswegen Termine in Nachbarstädten vereinbaren, um überhaupt noch sofort untersucht zu werden. Bis es so weit ist, erleidet sie Zustände von Todesangst.
Wieder andere befürchten, von aggressiven lebensbedrohenden Keimen, Bakterien und Viren befallen zu werden (z. B. HIV, Covid-19, BSE, Tuberkulose) oder sich bei anderen damit anzustecken. Oder sie befürchten, dass sie durch Mücken, Spinnen, Zecken oder andere Tiere infiziert werden (z. B. mit Dengue, Malaria, Ebola, Chikungunya, Meningitis, Tollwut) und daran zugrunde gehen. Einen besonders belastenden Fall schildert folgendes Beispiel.
Beispiel
Frau Reinlich, 34 Jahre, Hausfrau, verheiratet, 2 Kinder, ist heute wieder am täglichen Großreinemachen. Penibel werden alle Möbel und Haushaltsgegenstände abgewischt, Schränke ausgeräumt, sterilisiert und wieder eingeräumt, nachdem sie den Inhalt entweder auf dem Balkon ausgeschüttelt oder feucht abgewischt hat. Am sorgfältigsten widmet sie sich dann dem Fußboden, der Küche und dem Bad. Nach sechs Stunden ist sie fertig – gerade rechtzeitig, bevor die Kinder aus der Schule kommen. Die müssen die Schuhe ausziehen und die Oberbekleidung wechseln. Die Schuhe werden sofort desinfiziert, die getragene Oberbekleidung wird auf den Balkon gehängt oder kommt sofort in die Wäsche. Dann duschen die Kinder. Dasselbe Ritual findet nach der Rückkehr ihres Mannes statt. Frau Reinlich schützt sich und ihre Lieben vor Keimen. An Besuch kann sich bei den Reinlichs niemand mehr erinnern …
Manche Betroffene befürchten, plötzlich verrückt zu werden und etwas Fatales zu tun (z. B. sich wie ein Vogel fühlen zu wollen und vom Balkon oder einer Brücke zu springen).
Beispiel
Herr F., 28 Jahre, Angestellter, Single, lebt in einer Dreizimmerwohnung mit Balkon im 8. Stock. Eines Tages genoss er die Aussicht vom Balkon, trat auch an die Brüstung heran und sah nach unten. Er stellte sich vor, wie es wohl sei, aus dem 8. Stock zu fallen. Später stellt er sich auch mehrfach vor, wie es wohl sei, von dort aus wie ein Vogel langsam hinunter zu schweben. Über diese inneren »Filme« ist er dann doch beunruhigt: Was soll das denn? Fängt er nun etwa an zu spinnen?
Seitdem meidet Herr F. seinen Balkon – vorsichtshalber. Man weiß ja nie …
Er sorgt sich darum, ungewollt etwas Unüberlegtes, Verrücktes zu tun.
Kontrollverlust
Fast ebenso häufig wird von Todesangst berichtet, wenn die Betroffenen einen »Kontrollverlust« befürchten. Dieser kann sich auf unterschiedliche Situationen beziehen, so z. B., wenn sie
als passiv Mitreisende unterwegs sind (z. B. per Flugzeug, Schiff, Bahn, Auto) und andere die Kontrolle über das Verkehrsmittel haben,
sich in ärztliche Behandlung begeben müssen (der absolute Kontrollverlust droht bei einer Narkose),
klettern/auf Leitern steigen (es könnte ihnen schwindlig werden),
im Meer schwimmen (man könnte einen Krampf bekommen oder in eine Strömung/einen Sog geraten),
einschlafen (man könnte nicht wieder aufwachen).
Gefahr durch andere
Viele der Betroffenen versetzen sich auch in Todesangst, wenn sie an die Gefährdung durch andere denken – sowohl durch andere Menschen als auch durch Tiere, z. B. wenn sie daran denken,
auf Hunde, Schlangen, Spinnen, Bienen, Wespen zu treffen (man könnte gebissen werden, an einer unerkannten Blutvergiftung sterben oder an einem allergischen Schock),
überfallen und dabei umgebracht zu werden,
durch eine in Panik geratene Menschenmasse überrannt zu werden (und dabei umzukommen),
durch betrunkene oder unter Drogen stehende Verkehrsteilnehmer*innen tödlich zu verunglücken oder
durch leichtsinnige Nachbar*innen oder Mitbewohner*innen umzukommen.
Keine Hilfe durch andere
Manche reagieren auch auf völlig gegensätzliche Situationen mit Todesangst, nämlich immer dann, wenn sie glauben, allein und womöglich hilflos zu sein, niemanden um Hilfe bitten zu können oder nicht schnell genug in ein Krankenhaus zu kommen, weil sie niemanden um sich herum haben, der sie versorgen oder retten könnte. Ihre existenziellen Befürchtungen haben sie z. B., wenn sie
allein zuhause sind,
allein im Wald spazieren gehen,
allein eine unbekannte Strecke fahren oder verreisen,
das nächste Krankenhaus oder der/die nächste Notärzt*in weiter als 10 km entfernt ist,
in einer fremden Stadt / einem fremden Hotel übernachten,
»ohne Netz« sind und niemanden anrufen können.
Schicksalsschläge
Andere reagieren in unterschiedlichen Situationen mit Todesangst, weil sie befürchten, aufgrund eines Unfalls zu ersticken, abzustürzen oder sonst wie umzukommen, wenn sie z. B.
mit dem Fahrstuhl fahren (er könnte abstürzen oder stecken bleiben, ohne dass Hilfe kommt),
durch einen Tunnel gehen/fahren (er könnte einstürzen),
über eine Brücke gehen/fahren (sie könnte einbrechen),
ins Kino/Theater gehen (es könnte z. B. brennen oder eine Panik ausbrechen),
zu öffentlichen Veranstaltungen gehen (es könnte ein Terroranschlag verübt werden),
an steilen Abhängen stehen (er könnte plötzlich abrutschen),
in ein Gewitter geraten (man könnte vom Blitz erschlagen werden).
Momentane Lebensumstände
Auch die momentanen Lebensumstände können bei Menschen mit existenziellen Problemen zu Todesangst führen, unabhängig davon, ob der augenblickliche Zustand als positiv oder negativ empfunden wird. So kann jemand Todesangst empfinden, weil sie oder er
die jetzige Situation so toll findet, dass er sie unter keinen Umständen verlassen möchte (»Ich will jetzt nicht sterben müssen!«),
etwas getan hat, was gegen die eigenen Glaubensregeln verstößt und nicht sicher ist, ob es vergeben wird/ob bereits genug dafür gebüßt und gesühnt wurde,
bisher nichts oder »zu wenig« erlebt oder erreicht hat (»Ich darf noch nicht sterben!«),
ein wichtiges Lebens- oder Genussziel noch nicht erreicht hat (z. B. Kinder großziehen, die Welt umsegeln, ein Buch schreiben, eine Pilgerreise unternehmen).
Wie wir sehen, hält das Leben die unterschiedlichsten Möglichkeiten bereit, an denen man sterben und sich deshalb in Todesangst versetzen kann. Eine davon wird irgendwann, früher oder später, auch jeden von uns treffen.