Inhalt

Zeittafel

Danke

Sie waren nett. Fast alle.

Alice von Battenberg · 1885–1969

Schwiegermutter von Queen Elizabeth II.

»Das Rauchen habe ich erst bei meinem Tod aufgegeben.«

Lutz Baumgartner · 1909* (Todesdatum nicht bekannt)

Zuständig für die Hinrichtung von Dietrich Bonhoeffer

»Verabscheuen Sie mich?«

Winston Churchill · 1874–1965

Versager und Staatsmann

»Ich war ein Befürworter der Wahrheit, wo immer sie Sinn machte.«

Mary Ann Graves · 1826–1891

Überlebende des Dramas am Donnerpass

»Ich habe jeden Herbst geweint, wenn der erste Schnee fiel.«

Elisabeth Christ Trump · 1880–1966

Deutsche Auswanderin

»Humor ist Firlefanz.«

»Zweite Wahl zu sein war schon als Kind meine Hauptbeschäftigung.« (Frederick Crist Trump Jun., 1938–1981)

James Bedford · 1893–1967

Der Mann, der sich als Erster tiefgefrieren ließ

»So wahr ich hier mit Ihnen spreche!«

Charles A. Lindbergh Jun. · 1930–1932

Opfer der Medien

»Ich habe meinen Tod gar nicht mitbekommen.«

Katharina Morel · 1790–1876

Gastgeberin und Unternehmerin in der Fremde

»Die blöde Klarinette hätte ich schon viel früher versetzt.«

Sarah Forbes Bonetta · 1843–1880

Queen Victorias »little negro princess»

»Ich dachte, die Engländer sind weiß, weil der Nebel die Haut bleicht.«

Bonustrack:
Gespräch mit Maria von Nazareth, ca. 17 v. Chr.

»Ich heiße Maria und du darfst mich duzen.«

Quellen

Danke

Danke, Andreas Malessa. Dass du meine Buchidee von der Schweiz nach Deutschland getragen und Annette Friese davon erzählt hast. Und dass ich von dir immer wieder lerne.

Danke, Annette Friese von elayz. Dass du Andreas Malessa geglaubt hast. Mich angerufen hast. Mehr über die Buchidee wissen wolltest. Und sie mit deiner ganzen Begeisterung zu adeo gebracht und begleitet hast.

Danke, Sarah Koller, Renate Hübsch und dem Team beim adeo Verlag. Da steckt viel Liebe drin!

Danke, Rebekka, meine Frau. Da steckt auch viel Liebe drin. Und Geduld, wenn ich nächtelang versuchte, aus drei widersprüchlichen Angaben die am wenigsten falsche zu ermitteln. Und erst das Augenrollen, wenn ich in der Woche darauf den ganzen Absatz rausgekippt habe.

Danke Dominique und Leonie, meine Töchter. Für alle Ermunterung, fürs Zuhören, fürs Gegenlesen. Ich bin stolz auf euch.

Danke meinen verblichenen Interviewpartnerinnen und -partnern. Dass ihr nicht sauer seid, falls ich was geschrieben haben sollte, das ihr so nicht gesagt habt – und anders auch nicht.

Danke dir, meiner Leserin und meinem Leser. Dieses Buch habe ich extra für dich geschrieben. Und für einen prima Mitmenschen deiner Wahl. Damit du ein zweites Exemplar kaufen und ihm schenken kannst. Und wenn das ganz irre viele tun, dann kann ich noch eins schreiben. Extra für euch zwei tolle Mitmenschen.

Willi Näf

Sie waren nett. Fast alle.

»Gespräche mit Verstorbenen«, werden Sie sagen, »okay, sonst noch was?«

Ja, ich gebe zu, die Interviews fanden unter krass ungeklärten Umständen statt. Aber was wahrhaft lebensecht ist, hat ja wohl nicht auch noch Tatsächlichkeit nötig?

Eben, Sie sagen es.

Nicht, dass ich alles selbst erfunden hätte. Vieles habe ich auch selbst abgekupfert. Eiskalt, aber pingelig. Die Porträts orientieren sich am für mich greifbaren Wissen über die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Und in den Interviews waren sie so nett, mir Jahrzehnte nach ihrem Abgang neue Blickwinkel auf ihr Leben zu eröffnen, auf das Ernsthafte im Komischen zu verweisen und dabei auch das Skurrile im Gravierenden nicht zu vergessen. Und das taten sie postmortal reflektiert und überaus erhellend. Und nett. Fast alle. Meistens.

Und ja, die Menschlein auf diesem Planeten sind wohl alle irgendwie miteinander verwandt. Ein grauenhafter Gedanke. Da hilft nur Augenzwinkern. Anhaltend. Lebenslang.

Willi Näf



Alice von Battenberg · 1885–1969

Schwiegermutter von Queen Elizabeth II.

Die alte Queen Victoria wiegt ein winziges Baby in ihren Armen. Es ist ihre deutsche Urenkelin und erst einige Stunden alt. Die Queen weiß nicht, dass das Kind gehörlos ist. Dass es das wohl verrückteste Leben in der Geschichte des deutsch-englischen Adels hinlegen wird. Dass es im Buckingham Palace sterben wird. Als Nonne, als Kettenraucherin und als Schwiegermutter der Ururenkelin von Queen Victoria, Queen Elizabeth II.

Alice kommt ganz schön auf die Welt. Im Gobelin-Zimmer. Auf Schloss Windsor. Man schreibt den 25. Februar 1885, es ist 16.40 Uhr, die Geburt ist schwer, und die frisch gegarte Frau Mama, Prinzessin Viktoria, Enkelin von Queen Victoria, ist ziemlich fertig.

Prinzessin Viktoria von Hessen-Darmstadt und Prinz Ludwig von Battenberg sind zwar beide in Darmstadt aufgewachsen, aber Ludwig ist zur britischen Marine gegangen und Brite geworden. Das Paar lebt auf Schloss Heiligenberg bei Darmstadt sowie in seinen Häusern in England. Die von Battenbergs sind oft unterwegs, ihre adeligen Verwandten in ganz Europa sorgen schließlich immerfort für Hochzeiten, Taufen, Krönungen und Beerdigungen.

Mit etwa vier Jahren erweist Alice sich als so gut wie gehörlos. Verdickungen der Eustachi-Röhre werden erst Jahrzehnte später heilbar sein. Mama Viktoria wird klar, dass ihre Tochter lernen muss, von den Lippen zu lesen. Auf Deutsch und Englisch. Sie hält die Familie an, keine Zugeständnisse zu machen und sich stets normal zu unterhalten.

Alice und Andreas

Alice gilt als attraktiv. »Sie hat das perfekteste kleine Gesicht, diese schönen braunen Augen und dunklen Augenbrauen!«, schwärmt ihre Tante Victoria, genannt Vicky, die Witwe des deutschen Kaisers Friedrich III. »Für Alice ist kein Thron in Europa zu gut«, findet auch ihr Onkel Albert Edward, genannt Bertie, der Dandy der Familie, der dem Glücksspiel so wenig abgeneigt ist wie alten Whiskeys und jungen Frauen.

1902 segnet Queen Victoria das Zeitliche, und Dandy Bertie besteigt den Thron. Am Fest zur Krönung entdeckt die siebzehnjährige Prinzessin Alice ihren Prinzen, den vierten Sohn von König Georg I. und Olga von Griechenland, Andreas.

Die Hochzeit wird auf den 7. Oktober 1903 festgesetzt, damit der russische Zar noch mit dem österreichischen Kaiser auf die Jagd gehen kann. Von der beeindruckenden Trauung zu Darmstadt wird man später sagen, es sei das letzte große Familientreffen der europäischen Adelshäuser vor dem Ersten Weltkrieg gewesen.

Das deutsche Königshaus von England

Jahrhundertelang verheiraten Königshäuser ihre Prinzessinnen und Prinzen untereinander. Liebe ist hilfreich, Einfluss ist wichtiger. Doch verschwägert ist weder verbrüdert noch verschwestert, und die friedensfördernde Wirkung der arrangierten Ehen ist überschaubar.

Im Ersten Weltkrieg geraten dem englischen Königshaus Sachsen-Coburg und Gotha die deutschen Wurzeln zur Hypothek. Als deutsche Bomber des Typs Gotha G.IV. London angreifen, legt König Georg V. den Namen Sachsen-Coburg und Gotha demonstrativ nieder und benennt seine Dynastie nach dem königlichen Schloss südwestlich Londons im Städtchen Windsor. Es ist die Geburtsstunde der »Windsors«.

Weitere deutschstämmige Adelige anglisieren ihre Familiennamen, und Prinz Ludwig von Battenberg nennt sich fortan Louis Mountbatten. Bei der Hochzeit von Thronfolgerin Elizabeth und Prinz Philip 1947 finden mit den Windsors und den Mountbattens zwei ursprünglich deutsche Geschlechter zusammen.

Alice’ neues Zuhause, der Palast in Athen, ist riesig, kalt und wenig komfortabel. Doch König Georg I. und Olga geben ihr Bestes, ihrer Schwiegertochter ein warmes Nest zu bereiten. Griechisch ist für Alice eine Fremdsprache, und die Athener Lippen, die sie lesen lernen muss, verstecken sich oft genug unter stolzen Schnurrbärten. Aber die junge Frau ist entschlossen, Griechenland zu ihrer Heimat zu machen.

Als Offizier der griechischen Armee ist Andreas oft monatelang abwesend. Alice engagiert sich in der Fürsorge und bringt zwischen 1905 und 1914 vier Töchter zur Welt: Margarita, Theodora, Cécile und Sophie.

Zu den Traditionen, die Alice’ neue Heimat Griechenland liebevoll pflegt, gehören regelmäßige Unruhen. Regierungen und Launen kommen und gehen, mit ihrem Königshaus pflegen die Hellenen einen spontan-rustikalen Umgang. 1909 wird Alice’ Schwiegervater, König Georg I., von seinen Offizieren gezwungen, alle Prinzen aus der Armee zu entlassen, darunter auch Andreas. Drei Jahre später steht ein Krieg an – der erste Balkankrieg –, und die Prinzen werden wieder in Betrieb genommen.

Alice arbeitet in Krankenhäusern und Feldlazaretten. »Mein Gott, was sah ich!«, schreibt sie an ihre Mutter: »Zerschmetterte Arme, Beine und Köpfe, schreckliche Anblicke – und all diese Gräulichkeiten drei Tage und drei Nächte lang verbinden zu müssen. In den Korridoren überall Blut und weggeworfene Verbände, kniehoch.«

»Es würde dich stolz machen zu hören, wie jeder von Prinzessin Alice spricht. Sie hat Wunder getan. Wo immer sie arbeitete, hat sie ein gut organisiertes Krankenhaus hinterlassen. Sie ist sehr dünn, sagt aber, dass es ihr gut geht.«

Brief von Zofe Nona Kerr an Alice’ Mutter Viktoria
während des ersten Balkankrieges 1912

1913 wird der König erschossen. Prinz Andreas’ ältester Bruder Konstantin folgt ihm auf den Thron. Andreas erbt Mon Repos auf Korfu. Das Schlösschen am Meer mit seinem 25 Hektar großen Park wird zu einem neuen Zuhause der Familie.

Akropolis adieu

Im Ersten Weltkrieg zieht es Premierminister Venizelos auf die britische Seite. König Konstantin mit seinen deutschen Wurzeln setzt auf Neutralität, verliert aber den Machtkampf gegen den Premierminister und muss 1917 ins Exil. Andreas, Alice und ihre vier Töchter folgen der Sippe in die beschauliche Schweiz. Nach drei Jahren voller Tumulte wollen die Griechen ihren König zurück. Konstantin zieht wieder nach Athen in den Palast und Alice und Andreas mit ihrer Familie wieder nach Korfu.

1921 zieht Konstantin gegen die Türken in den Krieg. Auch Prinz Andreas muss an die Front. Am Tag nach seiner Abreise, dem 9. Juni 1921, bringt Alice auf dem Esszimmertisch auf Korfu ihr letztes Kind zur Welt, Prinz Philip.

Der Krieg gerät zur griechischen Tragödie. Der Niederlage folgt ein Staatsstreich, Konstantin muss erneut seine Sachen packen, das Revolutionskomitee sucht Schuldige für das Desaster und verhaftet Offiziere. Am 3. Dezember 1922 wird Andreas wegen Landesverrats und Befehlsverweigerung verurteilt und in die Verbannung geschickt. Ein englisches Kriegsschiff bringt die Familie außer Landes. Den kleinen Philip legt Alice mangels eines Kinderbettes in einer Orangenkiste schlafen.

In England ist Andreas aufgrund innenpolitischen Drucks nicht willkommen, doch die Familie findet Unterschlupf in Paris. Alice wird wieder einmal eine neue Sprache von den Lippen lesen lernen müssen.

Alice wird verrückt …

Das Häuschen in Paris Saint-Cloud ist klein und hübsch, aber die Stimmung bleibt trüb. Die Familie lebt von Zuwendungen von Alice’ jüngstem Bruder Dickie und seiner Frau Edwina. Andreas sitzt mit anderen Exilgriechen in Restaurants und diskutiert frustriert über Politik. Alice verkauft in einem griechischen Laden im Faubourg St. Honoré Kunst und Stickereien und sammelt Geld für griechische Expatriierte.

Eigentlich schwebt Alice ja Größeres vor. In ihrem Andreas sieht sie den Präsidenten einer neuen griechischen Republik. Eifrig verschickt sie entsprechende Schreiben an Politiker, Diplomaten und Vertreter des Völkerbundes. Man lässt sie freundlich abblitzen. »Die Prinzessin ist offensichtlich von ihren Hoffnungen mitgerissen und liest ihre eigenen Gedanken in andere hinein«, kommentiert der englische Staatssekretär Sir Eric Drummond.

Im wenig anregenden Pariser Exil kehrt bei Alice eine Leidenschaft zurück, die bereits im genauso wenig anregenden Schweizer Exil zutage getreten war: Spiritismus. Mit Gleichgesinnten übt sie Gläserrücken und empfängt göttliche Botschaften zu möglichen Ehemännern für ihre Töchter.

Der Geisteszustand ihrer Tochter bereitet Victoria Sorgen. 1930 nimmt sie die Fäden in die Hand und lässt Alice in das Sanatorium Schloss Tegel in Berlin überweisen. Eine von Alice’ Zofen erzählt Chefarzt Dr. Ernst Simmel, die Prinzessin habe Jahre zuvor eine tiefe Leidenschaft für einen Engländer empfunden, aber nicht ausleben können. Alice selbst schweigt sich aus. Simmel konsultiert Dr. Sigmund Freud, der mit Simmels beipflichtendem Kopfnicken die Diagnose stellt: paranoide Schizophrenie, mitverursacht durch sexuelle Frustration aufgrund einer nicht ausgelebten Leidenschaft.

Sigmund Freuds rabiates Prozedere wird die Mediziner Jahrzehnte später empören: starke Röntgenbestrahlung der Eierstöcke. Ob Alice zustimmt, ist nicht bekannt. Nach acht Wochen im Sanatorium entlässt die bestrahlte Prinzessin sich selbst; sie sei fit und gesund. Mutter Victoria sieht schwarz: »Ihre Wahnvorstellungen sind immer noch da.«

Anfang Mai 1930 treffen sich Victoria, Alice und die Kinder wieder einmal in Darmstadt. Victoria nimmt ihre Enkelkinder mit auf einen Ausflug. Als sie wieder nach Hause kommen, ist Alice verschwunden. Sie sitzt im Fond des Autos von Onkel Ernie, ruhiggestellt mit reichlich Betäubungsmitteln, und ist unterwegs durch den Schwarzwald in Richtung Süden. Ihr Betreuer ist Professor Karl Wilmanns aus Heidelberg, ein nach eigenen Worten hartgesottener Fachmann im Geschäft mit schwierigen Transfers. Der Transfer von Alice ist in der Tat schwierig: Sie hatte sich geweigert, mitzukommen, und Wilmanns musste Gewalt anwenden, um ihr eine Injektion mit Morphium-Scopolamin zu verabreichen.

Nach siebenstündiger Fahrt erreichen Entführer und Entführte spätabends ihr Ziel, das noble Sanatorium Bellevue bei Kreuzlingen in der Schweiz.

… und weggesperrt

Alice ist wütend. Chefarzt Dr. Ludwig Binswanger will sie nicht gehen lassen. Im Juni entschuldigt sie sich mittels Postkarte traurig bei ihrem Jüngsten, Philip, dass sie seinen neunten Geburtstag verpasst hat. Sie rechnet mit ihrer Abberufung, verschenkt ihren Reisepass, verfasst Abschiedsbriefe und legt sich ins Bett. Dann wieder schreibt sie hingebungsvoll krude Briefe an Zeitungsredaktionen oder Politiker und informiert auch Dr. Binswanger ausgiebig schriftlich über seine Defizite in spirituellen Fragen.

Kurz nach ihrem 46. Geburtstag fragt Alice ihn nach ihren Rechten als Patientin. Binswanger gesteht ihr, dass er nicht berechtigt sei, sie festzuhalten. Das zu entscheiden, obliege ihrer Familie. Jetzt erst begreift Alice, wer sie entführen ließ – ihre eigene Mutter. Und das mit dem Einverständnis von Andreas, der mittlerweile als resignierter »Privatier« in Cannes und Monaco lebt. Der zehnjährige Prinz Philip pendelt in den Internatsferien zwischen Großmutter Victoria im Kensington-Palast, Onkel Georgie in Berkshire und seinen vier älteren Schwestern, die mittlerweile alle mit deutschen Adeligen verheiratet sind.

Manchmal ist Alice so lethargisch, dass sie kaum aus dem Bett kommt und sich in einem Rollstuhl herumschieben lässt. Phasenweise ist sie selbstmordgefährdet. Dann wiederum trägt sie Kleider mit tiefem Ausschnitt und ist entzückt, die Braut Gottes zu sein, den sie im Übrigen für ein bisexuelles Wesen hält.

Alice’ Zustand verbessert sich nicht. Nach über zwei Jahren gesteht Victoria sich ein, dass es kaum Sinn hat, ihre Tochter noch länger im Sanatorium in Kreuzlingen festzuhalten, zumal ein weiterer Winter in der Schweiz ihre Herzprobleme verschlimmern würde. Am 23. September 1932 verlässt Alice die Klinik in Richtung Meran zu einer Kur in wärmeren Gefilden.

Alice 2.0

Alice mag nicht in den Schoß ihrer Sippe zurückkehren. Die fünffache Mutter und unterdessen auch zweifache Großmutter beginnt ein Nomadenleben, das sechs Jahre dauern wird. Ob in Schweden oder Deutschland, Italien oder Böhmen, England oder der Schweiz, ob im Mietzimmer oder in der Pension, im Kurhaus oder im Hotel: Die alte Prinzessin mit der lockeren Schraube macht vielen Gastgebern nachhaltig Eindruck. Oft weiß nur ihre Mutter, wo Alice sich aufhält.

Im November 1936 wohnt sie als »Gräfin Hohenstein« in einer Pension in Breibach bei Kürten, sitzt gerne auf dem Boden des Gemeinschaftszimmers beim Feuer und hilft beim Kartoffelschälen. »Eine sehr moderne Frau mit einer unglaublichen Vision«, findet die Gästin Käthe Lindlar, mit der Alice indische Philosophen oder die pädagogischen Theorien von Montessori und Fröbel erörtert, und Pensionsleiter Reinhold Markwitz schreibt zwölf Jahre später in seinem Buch Das Stenogramm Gottes: »Alice von Battenberg schulde ich die Überzeugung, dass jeder Mensch die Pflicht hat, seinen Fähigkeiten entsprechend zum Fortschritt der Menschheit beizutragen, auch wenn er es für sinnlos hält oder denkt, er habe einen Grund, die Menschheit zu verachten.«

Nach einigen Jahren des Umherziehens wird der Geist der Nomadin klarer. Tochter Cécile organisiert ein Mittagessen in Bonn und bringt den mittlerweile fünfzehnjährigen Prinz Philip mit. Es ist die erste Begegnung von Mutter und Sohn seit fünf Jahren. »Mama schien es sehr zu genießen und interessiert sich für alles, was mit der Familie zu tun hat«, schreibt Cécile nach weiteren Treffen ihrer Großmutter Victoria. »Sie ist dünner, aber viel gesünder. Margarita ist besorgt über Mamas Pläne, in Griechenland ein Kloster zu gründen. Sie möchte auch Papa wiedersehen und hofft sogar, wieder bei ihm zu leben. Ich fürchte, sie wird enttäuscht sein. Außerdem hat sie ein idealistisches Bild von Papa aufgebaut, was leider völlig falsch ist.«

Am Dienstag, 16. November 1937, hebt um 13.45 Uhr in Frankfurt eine dreimotorige Ju 52 in Richtung London ab. Acht der elf Passagiere reisen gut gelaunt zu einer Hochzeit. Das Flugzeug soll in Brüssel zwischenlanden, aber es herrscht dicker Nebel. Man disponiert um, doch auch bei Ostende ist die Sicht schlecht. Beim Landeversuch kollidiert ein Tragflügel mit dem Schornstein einer Ziegelei. Die Maschine fängt Feuer, stürzt ab und brennt auf dem Dach liegend vollständig aus. Cécile und ihre Familie kommen in den Flammen ums Leben. Darmstadt ordnet Trauerbeflaggung an. Die Times bezeichnet den Unfall als »Holocaust of a family«. Das altgriechische Wort »holókaustos« bedeutet so viel wie »vollständig verbrannt«.

Am 23. November 1937 werden die Opfer in Darmstadt zu Grabe getragen. Cécile war im achten Monat schwanger gewesen, die sterblichen Überreste ihres ungeborenen Kindes liegen in einem Kindersarg. Prinz Philip reist mit dem Flugzeug aus Schottland an. Der 16-Jährige besucht dort das Internat Gordonstoun des jüdischen Reformpädagogen Kurt Hahn, der 1933 aus Deutschland geflohen war. Die Männer von Margarita, Theodora und Sophie trauern in Wehrmachts- und SS-Uniform. Telegramme des Mitgefühls von Hitler, Göring und Goebbels treffen ein.

An Céciles Beerdigung sieht Alice zum ersten Mal nach sechseinhalb Jahren ihren Mann Andreas wieder. In den Monaten danach zeigt sich, dass sie den Verlust ihrer Tochter besser verarbeitet als er. Mit 53 Jahren schließlich ist die Prinzessin Alice von Battenberg zurück im Leben. Nicht mehr krank, nur noch sonderbar. Zur finsteren, zur rechten Zeit.

Mutter 2.0

»Mein lieber Philip«, schreibt Alice 1939 ihrem 18-jährigen Sohn aus Athen, »ich habe hier eine kleine Wohnung gemietet, nur für dich und mich. Ich freue mich so sehr, hier mit dir zu leben.« Alice glaubt, Prinz Philip brauche Griechenland und umgekehrt. Aber ein Grieche ist Philip nur auf dem Papier. Geformt haben ihn das Königreich Großbritannien und Onkel Dickie, Admiral in der Royal Navy. Drei Wochen nach Englands Kriegserklärung tritt auch Philip in die Royal Navy ein. Die Front verläuft nun quer durch die Familie: Alice’ Sohn Philip kämpft auf englischer, ihre drei Schwiegersöhne auf deutscher Seite.

Der Krieg kommt auch zu Alice nach Athen. Im April 1941 besetzen die Deutschen Griechenland. Die griechische Königsfamilie flieht ins Exil, doch Prinzessin Alice bleibt. Sie will gebraucht werden. Die 56-Jährige organisiert eine der größten Suppenküchen der Stadt, kümmert sich um zwei Waisenhäuser, sorgt für Besuche von Krankenschwestern in Armenvierteln und beschafft mithilfe ihrer Kontakte und Reiseprivilegien Lebensmittelpakete aus Schweden und England.

In Briefen versucht Alice den Eindruck zu erwecken, es gehe ihr gut. Dass die deutsche Prinzessin unter deutscher Besatzung im ersten Winter 26 Kilo an Gewicht abgenommen hat, gesteht sie Philip erst zwei Jahre später.

»Schwester Alice umarmte mich und küsste meinen Kopf. Von diesem Moment an nannte sie mich meine kleine Nachbarin. Diese Frau konnte dir ins Herz schauen. Sie war ein großes Vorbild für mich.«

Maria Karanastasis, Waise in Athen

Kein Wort verliert Alice über die Cohens. Die jüdische Familie und die griechische Königsfamilie kennen sich seit Jahrzehnten. Als die Wehrmacht 1943 mit der Deportation der Athener Juden beginnt, erinnert Freddy Cohen sich an eine Hilfszusage des Königs dreißig Jahre zuvor. Er bittet eine Freundin, den Kontakt zu einem der letzten in der Stadt verbliebenen Mitglieder der Königsfamilie herzustellen, Prinzessin Alice. Am 15. Oktober 1943 schlüpfen Rachel Cohen, Tochter Tilde und Sohn Michel im Schutz der Dunkelheit durch eine Hintertüre in Alice’ Haus. Mitarbeitern erzählt Alice, Rachel Cohen sei eine ehemalige Schweizer Gouvernante ihrer Kinder und habe Angst vor Hitler.

Mehr als einmal steht die deutsche Gestapo vor Alice’ Tür. Sie stellt sich taub und dumm und zeigt nicht, wie gut sie Lippenlesen kann. Einmal wird die deutschstämmige Prinzessin von einem General besucht. Er fragt sie, ob er irgendetwas für sie tun könne, und sie gibt die Antwort: »Sie können Ihre Truppen aus meinem Land entfernen.«

»Prinzessin Alice rauchte wie ein Schornstein. Sie bekam Zigaretten und Schokolade in Rationen. Mindestens einmal verließ sie trotz Ausgangsverbot in Athen das Haus mit einer Art Kinderwagen, darin Schokolade und Zigaretten zum Verteilen. Ich sagte ihr, sie könnte erschossen werden. Sie antwortete: ›Man hat mir gesagt, dass man den Schuss nicht hört, der einen umbringt. Ich bin ohnehin taub, warum sollte ich mir also Sorgen machen? Außerdem ist es meine Pflicht. Wofür sonst bin ich geboren.‹«

Major Gerald Green, Alice’ Kontaktperson in Athen ab 1944

Die Nazis »säubern« Athen gründlich: Allein in Ausschwitz kommen 55 000 griechische Juden an. Doch am 12. Oktober 1944 muss die deutsche Wehrmacht sich aus Athen zurückziehen, und drei Wochen darauf verlässt Familie Cohen ihr Versteck. Auf den Tag genau vierzehn Monate nachdem Prinzessin Alice ihnen die Tür aufgemacht hatte. Alice spricht nie darüber.

Schwester Alice

Nach dem Abzug der Deutschen aus Athen geht der Zweite Weltkrieg in Griechenland nahtlos über in den Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Rechtsnationalisten. Alice geht die Arbeit nicht aus. Ein Quell von Glück ist dafür Philips Verlobung mit der britischen Kronprinzessin Elizabeth. Bei der Hochzeit am 20. November 1947 in der Westminster Abbey ist Prinzessin Alice die einzige Verwandte des Bräutigams. Philips drei deutsche Schwestern müssen zu Hause bleiben, zu frisch sind die Wunden des Krieges. Nach der Hochzeit erstattet Alice ihren Töchtern einen detaillierten Hochzeitsbericht von zweiundzwanzig Seiten.

Ein halbes Jahr später schreibt Alice auch Philip einen Brief: »Jetzt, da das letzte meiner Kinder verheiratet ist und ein Zuhause hat, habe ich das Bedürfnis nach einem ganztägigen Job, um mich zu beschäftigen.« Mit 63 Jahren gründet Alice von Battenberg ihre eigene Schwesternschaft, Martha-und-Maria. Mutter Victoria schüttelt den Kopf: »Wer hat jemals von einer Äbtissin gehört, die raucht und Canasta spielt?«

Am 6. Februar 1952 erreicht Alice die Nachricht vom Tod von König George VI. Alice’ 25-jährige Schwiegertochter Elizabeth muss nun die Erbfolge antreten.

»Du wirst viele Opfer bringen müssen«, schreibt Alice Philip, »aber jedes Opfer bringt eine unvorhersehbare Belohnung mit sich. Das habe ich erfahren in meinem Leben mit all seinen Hochs und Tiefs. Denk daran, dass Papa mit seinem brillanten Kopf und seinem sportlichen Aussehen im Geiste mit dir sein wird. Kommuniziere mit ihm, dann wirst du seine Unterstützung spüren in den kommenden Jahren, in denen du Verantwortung trägst als Freund und Berater deiner jungen Frau in ihrer neuen Rolle.«

Die Krönung von Elizabeth II. am 2. Juni 1953 ist das erste Ereignis, das im Fernsehen weltweit übertragen wird. 750 Berichterstatter kommentieren den berauschenden Anlass in 39 Sprachen. Prinzgemahl Philip geht vor seiner Königin auf dem Thron in die Knie und schwört ihr Gefolgschaft und Treue. Die Hochzeitsgäste aus den Königshäusern und Regierungspalästen der Welt tragen würdevoll die Last schwerer Roben, glitzernder Juwelen und in Medaillen gegossener Tapferkeit. Mittendrin steht eine auffällig unauffällige Frau in grauer Nonnentracht mit weißem Kinnband und braunem Hautfleck.

Doch noch abberufen

Alice fühlt sich in Athen öfter einsam und müde. Ihre Ordensgemeinschaft kommt nicht vom Fleck und muss 1959 schließen. Die Schwestern und ihre Katzen zerstreuen sich, und Alice sitzt nun in ihrem Nonnenhabit oft allein in Kolonaki Square, raucht, liest Zeitung und denkt an ihre Enkelkinder; in Deutschland hat sie fünf von Hohenlohe, drei von Baden, fünf von Hessen und dank Sophies zweiter Heirat auch noch drei Hannoveraner. In England sind es vier Mountbatten-Windsors: Charles, Anne, Andrew und Edward.

Alice reist immer öfter nach London, bringt dem kleinen Charles griechische Briefmarken mit und spielt mit den Kindern Halma. 1967 zieht sie endgültig zu ihrem Sohn. Zwei Jahre lang wandelt sie in ihrer Nonnentracht durch die Gänge des Buckingham Palace, rauchend, hustend und zufrieden.

Prinzessin Alice von Battenberg stirbt am 5. Dezember 1969 friedlich im Schlaf. Ihre 19-jährige Enkelin, Princess Royal Anne, besucht sie in ihrem Zimmer. »All die Falten und Furchen in ihrem Gesicht waren verschwunden, und zum ersten Mal erkannte ich die Ähnlichkeit zum Porträt, das Laszlo von ihr gemalt hatte.«

Alice hinterlässt drei Kleider, den Brief eines alten Freundes und ihre angefangene Antwort darauf. Sie wird am 10. Dezember 1969 in der St. George’s-Kapelle in Windsor beigesetzt. Am Abend kommt so starker Nebel auf, dass die Königin und weitere Trauergäste eine zusätzliche Nacht im Schloss Windsor verbringen.

Ein Gespräch mit Alice von Battenberg · 1885–1969

»Das Rauchen habe ich erst bei meinem Tod aufgegeben.«

Liebe Prinzessin Alice von Battenberg, ich habe Sie im Fernsehen gesehen.

Darf ich raten?

Selbstverständlich.

»The Crown«, dritte Staffel.

Richtig.

Jane Lapotaire spielt mich wunderbar schrullig. Selbst dort, wo im Drehbuch Nonsens stand.

Was für Nonsens?

Mein lieber Philip hat sich nie gegen meinen Einzug in den Buckingham Palace gesträubt. Im Gegenteil, er selbst hat mich mehrfach eingeladen.

Hatten Sie eine gute Beziehung?

Oh ja, oh ja. Aber leider erst, als ich nach meiner Schizophrenie langsam wieder zurückfand, und da war er ja schon ein junger Mann. Im Juni 1966 besuchte ich meine wunderbare Tochter Sophie, brach zusammen und lag einen Monat lang im Rotkreuzklinikum in München. Ich schrieb Philip einen Abschiedsbrief. »Mein geliebter Philip. Sei tapfer. Und denke immer daran, dass ich dich nie verlassen werde. Du wirst mich immer finden, wenn du mich am meisten brauchst. All meine Liebe, deine alte Mama.«

Das war 1966, sagen Sie?

Ja, der liebe Gott hat dann noch drei Lebensjahre angehängt.

Sind Sie 1967 freiwillig nach London gezogen?

Ach, was heißt schon freiwillig. Im April putschte in Athen wieder mal das Militär, und meine Kinder machten sich Sorgen um mich. Mit mir telefonieren konnten sie nicht, ich war ja gehörlos. Als dann auch Lilibet mich drängte, nach London zu kommen, packte ich mein Köfferchen. Ich hätte früher zu Filibets ziehen sollen.

Filibets?

Philip und Elizabeth. So nannte ich sie oft. In meinen langen Briefen schätzte ich Kürze. Was sind sie für ein gutes Team geworden! Und dabei tat Lilibet mir bei ihrer Krönung so leid, die Krone wog 2,2 Kilogramm, kein Wunder, dass sie als Königin immer kleiner geworden ist. Wissen Sie, was Philip Elizabeth nach der Krönung fragte?

Nein.

Er fragte: »Wo hast du denn diesen komischen Hut her?«

Prinz Philips trockener Humor war legendär.

Oh ja. Und er wurde mit der Zeit immer lakonischer. Kein Wunder.

Wieso kein Wunder?

Weil er voranschreiten wollte, aber nur hinterherschreiten durfte. Er hätte etwas zu sagen gehabt, aber er hatte nichts zu sagen. Also hat er sich eben verklausuliert ausgedrückt. So wie Lilibet.

Aber als Königin hatte Lilibet durchaus etwas zu sagen.

Nonsens. Untertanen wollen eine Königin, die über ihren Meinungen steht. Darum darf sie ihre eigene nicht kundtun. Andererseits interessiert die Untertanen nichts mehr als die Frage, was die Königin denkt. So muss sie sprechen, ohne dabei etwas zu sagen, und jahrzehntelang immer wieder dieselben Fragen beantworten, ohne sie zu beantworten. Der Prinzgemahl genauso. Philips ironische Interviews sind legendär.

Waren Sie selbst ironisch, Prinzessin Alice?

Viel besser, ich war sogar geisteskrank.

Ich sehe, Ironie ist Ihr Ding.

Aber ja, aber ja. Nur war ich die gehörlose und geisteskranke Prinzessin des europäischen Adels. Die Menschen haben meine Ironien nicht als solche erkannt, sie nahmen mich wörtlich – und sahen sich dann bestätigt, dass ich einen Knick in der Fichte hatte.

Wurden Sie unterschätzt?

Und wie. Darf ich Ihnen ein Beispiel erzählen, oder bin ich Ihnen zu gesprächig?

Nicht doch.

1937 schrieb ich meinem lieben Bruder Dickie einen Brief, zum ersten Mal seit sieben Jahren.

Dickie ist Louis Mountbatten, 1. Earl of Burma.

Ja, Vizekönig von Indien war Dickie auch noch, erster Seelord, britischer Generalstabschef, so viel Nonsens für einen kleinen Bruder. Aber ich habe ihn und Edwina sehr geliebt. Wo waren Sie stehen geblieben?

Ich?

Ja, wer sonst. Sie wollten ja ein Beispiel hören.

Gut, ich blieb stehen beim Brief an Dickie.

Ah ja. Zwei Jahre vor Kriegsausbruch schrieb ich ihm, es sei wohl zu schwierig, ein vereintes militaristisches Deutsches Reich aufzubrechen. Die Alliierten sollten also lieber versuchen, heimlich die Wiederherstellung des parlamentarischen Systems in den einzelnen deutschen Ländern zu unterstützen. Darf ich einen Satz aus meinem Brief zitieren?

Ich bitte darum.

»Letztendlich wäre es das Ideal, alle deutschen Staaten mit allen europäischen Staaten zu einem europäischen Verband mit einer gemeinsamen Währung und ohne Zollschranken zusammenzuführen.«

Sie haben 1937 die EU vorweggenommen.

Jaja, aber natürlich nicht ich allein. Ich habe die Vision auch mit Freunden erörtert.

Hat Ihr Bruder sich dafür eingesetzt?

Nicht sehr, glaube ich. Als Admiral dachte Dickie eher in militärischen Kategorien.

Aber Sie hat die Politik interessiert.

Oh ja! Im Sanatorium erarbeitete ich eine neue Verfassung für Griechenland. Ich schrieb jeden Tag von zwei bis vier Uhr nachmittags über Organisationsstrukturen, Wahlmodi für Präsident und Premierminister, die Rolle des Monarchen und der Provinzregierungen, steuerliche Aspekte. Meine Verfassung sollte kein Korsett sein. Innerhalb eines bestimmten Rahmens sollten Anpassungen möglich sein und einen konstitutionellen Fortschritt aufgrund praktischer Erfahrungen ermöglichen.

Donnerwetter!

Das siebenseitige Dokument hat übrigens Eingang gefunden.

Wo?

In meine Krankenakte.

War das noch ironisch oder bereits sarkastisch?

Nur ironisch. Ich bin versöhnt. Und einige meiner Ideen waren ja tatsächlich eher bizarr.

Als Sie zuletzt im Buckingham Palace wohnten, dem Zentrum der Macht, mochten Sie sich nicht einbringen?

Ich bitte Sie. Der Buckingham war das Zentrum der Machtlosigkeit. Und ich war alt und krank.

Wo waren sie glücklicher: in ihrem Kloster in Athen oder im Palast in London?

Was soll ich da sagen. In Athen wurde ich gebraucht und zermürbt, im Palast wurde ich nicht mehr gebraucht und nicht mehr zermürbt. Ich hatte die Enkelkinder um mich und konnte meinem kleinen Charles zuhören, wie er Cello spielte.

Als Gehörlose?

Das Auge hört mit. Man genießt es, den Menschen zu betrachten, der das Instrument spielt, konzentriert oder in sich versunken.

Hatten Sie Besuch?

Ja, recht oft, meine Töchter mit ihren Kindern oder andere Verwandte. Dickie sah ich fast jede Woche. Ich habe ihn mal geneckt, er komme mich doch nur besuchen, um Briefe auf dem Briefpapier des Buckingham Palace zu schreiben. Ein paar Wochen vor meinem Tod habe ich ihn wütend gemacht. Möchten Sie wissen, wie?

Sehr gerne.

Ende März 1969 machte ich mit Gott ab, am nächsten Donnerstag zu sterben. Dann rief ich Dickie an. Mein lieber Vizekönig von Indien warf seinen Terminkalender über den Haufen, damit er am Mittwoch zu mir kommen konnte, und hat sich sehr geärgert, als ich dann doch nicht gestorben bin.

Hat Gott sich nicht an Ihre Abmachung gehalten?

Ich habe wohl eher seine Stimme mit meiner verwechselt. Sie klingen recht ähnlich.

Wie kann man sie unterscheiden?

Das hätte ich damals auch gern gewusst. Oft zeigt es sich erst im Nachhinein. Sicher ist nur eins: Wenn die Stimme Gottes Sie dazu drängt, anderen zu erzählen, Sie hätten Gottes Stimme gehört, dann ist sie es nicht. Und wenn Sie es andauernd machen, kommen Sie in die Klapse. Bei denen, die behaupten, sie würden im Namen Gottes reden, ist ohnehin Vorsicht angebracht. Das kann missbraucht werden. Ich hätte ein hübsches Beispiel, möchten Sie es hören?

Nichts würde mir mehr Vergnügen bereiten.

1930 sollte ich in ein Sanatorium. Aber alle fürchteten, dass ich mich wehren würde. Und dann hat mein Arzt Dr. Lourus mir ins Ohr geflüstert: »Der Herr Jesus Christus, Ihr Ehemann, empfiehlt Ihnen, einige Zeit im Kurhaus Schloss Tegel zu verbringen.«

Fies.

Aber effektiv. Ich bin widerstandslos gegangen. Das ist womöglich der einzig dokumentierte Fall in der Geschichte der Psychoanalyse, in welcher eine Patientin den Rat des Herrn Jesus Christus persönlich befolgt hat.

Hand aufs Herz: Hat es Sie im Buckingham Palace nie gezwickt, der Königin einzuflüstern, was Gott Ihnen gesagt hat?

Ach, wissen Sie, ich war 82 und hatte so viele Überstunden angesammelt, dass Gott mir für den Rest meines Lebens freigab.

Sprach er nicht mehr mit Ihnen?

Wenn man sich schon so lange kennt wie wir, dann versteht man sich auch ohne Worte. Ich durfte einfach noch ein wenig die wirre Nonne sein. Lesen, staunen und geistesabwesend vor mich hin lächeln.

Und rauchen und husten.

Ja, ununterbrochen. Ich muss gestehen, das Rauchen habe ich erst bei meinem Tod aufgegeben. Ein neuer Lebensabschnitt ist eine feine Gelegenheit, etwas Neues anzufangen, nicht wahr? Wussten Sie übrigens, dass ich zweimal gestorben bin?

Nein.

Natürlich nicht. Meine wunderbare Enkelin Prinzessin Anne ist nämlich die Einzige, der ich das jemals erzählt habe. 1960 hat mich der frühere indische Gesundheitsminister Rajkumari Amrit Kaur, nach Indien eingeladen, weil ich mich so sehr für die Frauenarbeit interessierte. In Indien wurde ich krank, hatte ein Nahtoderlebnis und schwebte über meinem Körper.

Haben Sie ins Jenseits gesehen?

Nein. Aber es fühlte sich so wunderbar an, dass ich eine Ahnung bekam von dem, was mich vielleicht erwarten würde. Man sieht quasi sehr wenig von sehr viel. Das geht ja den meisten so, die Nahtoderfahrungen gemacht haben. Es gibt da unzählige Berichte aus allen Epochen und Kulturen.

Waren Sie enttäuscht, als Sie wieder in Ihrem Körper erwachten?

Und wie! Aber es war besser so. Statt einsam in Indien durfte ich dann zu Hause im Buckingham Palace sterben, friedlich und sanft, à dieu, frei, kein Husten mehr. Es war so schön. Wissen Sie, ich habe viele Tode überlebt.

Inwiefern?

Ich ging durch zwei Balkankriege, zwei Weltkriege, einen Bürgerkrieg und etliche Unruhen. In den Lazaretten des ersten Balkankrieges hörte ich Soldaten nach Beinamputationen tagelang schreien. Aber wenn der Tod an ihre Pritsche trat, brachte er Frieden.

Immer?

Meistens. Bei manchen löste er auch Wut oder Bitterkeit aus.

Was macht den Unterschied?

Wie man lebt, so stirbt man, vermute ich. Am leichtesten stirbt, wer gelernt hat zu vertrauen und loslassen kann. Als die Deutsche Wehrmacht 1941 Athen besetzte, ernährten wir in unseren Suppenküchen 17 000 Kinder zwischen ein und sechs Jahren. Trotzdem starben jeden Tag mehrere Hundert Menschen. Ich habe auch Kinder sterben sehen, und keines von ihnen starb bitter. Sie hatten kindliches Vertrauen.

Sie selbst standen zweimal am Grab eines eigenen Kindes.

Ja, Theodora starb zwei Monate vor mir. Aber viel schwerer zu ertragen war der Tod von Cécile und ihrer Familie beim Flugzeugabsturz 1937. Ludwig war sechs, Alexander vier. Und Cécile war schwanger. Einzig die kleine Johanna war nicht im Flugzeug gewesen und nun Vollwaise.

Was wurde aus ihr?

Achtzehn Monate später starb sie an einer Hirnhautentzündung. Ich hielt Mahnwache. Sie war noch nicht mal drei und sah ihrer Mama so ähnlich, dass mir war, als würde ich meine Cécile ein zweites Mal verlieren.

Was hat Céciles Tod mit Ihnen gemacht?

Es hat mich aufgerichtet. Eigenartig, nicht wahr?

Sehr eigenartig.

Ja, und Theodora hat später Dr. Binswanger vom Sanatorium in der Schweiz Bericht erstattet, weil ihn meine spätere Entwicklung interessierte. Und er schrieb in meine Krankenakte: »Der Flugzeugabsturz hat sie anscheinend aus ihrer Krankheit herausgerissen«.

Wie erklären Sie sich das?

Wozu sollte ich mir das erklären? Ich weiß es ja.

Neuer Versuch: Wie erklären Sie mir das?

Ich hatte wohl den Eindruck, wieder gebraucht zu werden. Gebraucht zu werden kann eine starke Medizin sein. Mein lieber Andreas hatte diese Medizin nicht, und er ist daran zerbrochen. Er war ein Offizier ohne Arbeit und ein Prinz ohne Auftrag.

Wie häufig sahen Sie Andreas?

1931 besuchte er mich im Sanatorium. 1937 trafen wir uns bei Céciles Beerdigung, 1939 in Athen. Danach sah ich ihn nie mehr.

Haben Sie Buch geführt?

Nein, aber ein liebendes Herz hat nun mal ein gutes Gedächtnis. Am 3. Dezember 1944 begann im griechischen Bürgerkrieg die Schlacht um Athen, und am selben Tag erlag Andreas im Hotel Metropole in Monte Carlo kurz nach der Rückkehr von einer Party in Nizza einem Herzinfarkt. Mich haben die Suppenküchen im ausgehungerten Athen etwas abgelenkt von meiner Trauer.

Er hatte sie 14 Jahre zuvor in der Krankheit im Stich gelassen, und Sie haben getrauert?

Hören Sie, ich war paranoid schizophren mit bipolarer Störung, manchmal war ich mit Jesus verheiratet und manchmal mit Buddha, da konnte ich Andreas keine Gefährtin mehr sein.

Sie verteidigen ihn?

Zum Glück hatte er in Monte Carlo eine Freundin, die sich so viele Jahre so rührend um ihn kümmerte, Comtesse Andrée de La Bigne. Ich habe ihr Andreas’ persönliche Gegenstände überlassen und sein Auto, bei dem die Werkstattkosten gewiss hoch waren. Andreas’ Schuldenberg ließ sich nicht völlig abtragen, obwohl ich das ganze Silber von Mon Repos verkauft habe, das Louise für mich aufgehoben hatte. Mein lieber Dickie konnte 1947 gerade noch abwenden, dass ich wegen der geerbten Schulden vor Gericht kam. Mein Philip ist ein genauso stattlicher Mann geworden wie Andreas, und er hat sich noch lange mit dem elfenbeinernen Rasierpinsel seines Vaters rasiert. Wie schön, nicht wahr? Und wussten Sie, dass Andreas und ich dreimal geheiratet haben?

Nein.

Doch. Am 7. Oktober 1903 in Darmstadt. Standesamtlich im Alten Palais, protestantisch in der Schlosskirche und orthodox in der Russischen Kapelle auf der Mathildenhöhe.

Zu viel Liebe für eine einzige Hochzeit?

Vermutlich. Unsere Hochzeitstorte wog sechzig Kilogramm und kam aus London, der mitgereiste Konditor baute sie erst in Darmstadt zusammen. Der russische Zar schenkte uns eine Million Rubel in bar, mir dazu Schmuck für 250 000 Mark und Andreas ein kleines Auto, einen Wolseley. Andreas und ich waren so glücklich.

Für das Hassen von Menschen besitzen Sie kein Talent.

Gott sei Dank. Menschen, die ich kannte, konnte ich nicht hassen. Nur die Nazis und Bolschewiken habe ich natürlich verabscheut.

Ihre Schwiegersöhne waren auch Nazis und …

… Berthold nicht!

Berthold Markgraf von Baden?

hat einen Ehrenplatz in der Schoah-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, weil sie Mitmenschen rettete. war Mitglied bei der SS-Totenkopfbrigade, er hat als KZ-Wächter Mitmenschen umgebracht. Zwei deutsche Geschichten.