Geschichtstourismus

Wiebke Kolbe

Geschichtstourismus

Theorie - Praxis - Berufsfelder

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Inhalt

TourismusTourismus ist nicht nur der weltweit zweitgrößte Wirtschaftszweig, er besitzt auch eine enorme Bedeutung in unserem Alltagsleben. Während der Coronakrise haben viele Menschen die Reisebeschränkungen als gravierende Einschränkung empfunden, und nicht von ungefähr bemühten sich die meisten Staaten, bei sinkenden Inzidenzwerten ihre Grenzen möglichst schnell wieder für Reisende zu öffnen, denn die Tourismusbranche generiert einen beträchtlichen Teil ihres Bruttosozialprodukts. Bei Tourismus denkt man vielleicht zunächst an Strandurlaub oder an kulturelle Sehenswürdigkeiten. Doch auch Geschichte spielt eine wichtige Rolle. Ob man dem LutherwegLutherweg folgt, die GefängniszelleGefängnisse Nelson Mandelas auf Robben Island oder das Geburtshaus von Karl Marx in Trier besichtigt, eine KZ-GedenkstätteGedenkstätteKZ-Gedenkstätte, einen MittelaltermarktMittelaltermarkt oder ein WikingerrestaurantWikingerrestaurant besucht, eine historische StadtführungStadtführung oder einen Rundgang durch das ReichsparteitagsgeländeReichsparteitagsgelände Nürnberg in NürnbergNürnberg bucht – das alles sind Formen von Geschichtstourismus. Mit anderen Worten: Er ist allgegenwärtig und kommt viel häufiger vor, als man auf den ersten Blick meinen mag. Denn Reisende suchen das Fremde nicht nur in räumlicher, sondern auch in zeitlicher Hinsicht (Stach 2020, o.S.). Da Geschichtstourismus eine so ubiquitäre Form der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist, kann er ohne Zweifel zur Public HistoryPublic History gezählt werden. Nicht von ungefähr erscheint dieses Buch in einer Reihe zu diesem Thema. Geschichtstourismus ist jedoch bislang erstaunlich wenig thematisiert und untersucht worden, weder von der Geschichtswissenschaft noch von der Tourismuswissenschaft. Eine systematische Bestandsaufnahme und Diskussion seiner Formen gab es noch nicht. Diese Lücke will dieses Buch schließen.

In anderen Sprachen gibt es nicht unbedingt eine Entsprechung für den deutschen Terminus Geschichtstourismus. Im Englischen ist stattdessen von heritage tourism, KulturerbeKulturerbe-TourismusTourismus, die Rede – ein Begriff, der weniger umfassend und im Deutschen weitgehend ungebräuchlich ist. Im Französischen spricht man von tourisme de mémoire oder tourisme mémoriel – Erinnerungs- oder GedenktourismusGedenktourismusTourismusGedenktourismus, der ebenfalls lediglich einen Teil des deutschen Begriffs beinhaltet. Auch das Russische kennt keinen Geschichtstourismus, sondern nur историко-культурный туризм, istoriko-kulturnyi turizm, also geschichtskulturellen Tourismus. Im Schwedischen wird vor allem kulturarvsturism (Kulturerbe-Tourismus) oder kulturturism (KulturtourismusKulturtourismusTourismusKulturtourismus) verwendet; das Wort historieturism (Geschichtstourismus) ist

Dieses Buch erschließt systematisch die vielfältigen Erscheinungsformen von Geschichtstourismus, indem es sie anhand zahlreicher Beispiele vorstellt. Es richtet sich an alle an dem Phänomen Interessierte, besonders aber an Studierende geschichts- und kulturwissenschaftlicher Fächer, für die es einen potentiellen Arbeitsmarkt darstellt. Es beginnt mit einer Einführung in die Tourismusgeschichte, bei der zunächst unterschiedliche Definitionen von TourismusTourismus und anschließend ein kurzer historischer Abriss des Tourismus von den Anfängen bis heute gegeben werden, bevor das Feld des Geschichtstourismus umrissen und definiert wird ( Kap. 2). Darauf folgt der Hauptteil des Buches, in dem seine unterschiedlichen Formen vorgestellt werden ( Kap. 3). Als erstes geht es um städtischen Geschichtstourismus ( Kap. 3.1). Dabei wird einleitend die Stadt als historischer Ort abgesteckt, bevor anhand von Beispielen der Tourismus zu historischen Gebäuden und Orten sowie zu historischen Museen und Ausstellungen erörtert wird. Es folgen Einführungen in historische ThemenwegeThemenweg und StadtführungenStadtführung, in historische StadtfesteStadtfest und MittelaltermärkteMittelaltermarkt sowie eine Darstellung historischer Event-RestaurantsRestaurantEvent-Restaurant. Anschließend geht es um regionalen und ländlichen Geschichtstourismus ( Kap. 3.2). Zunächst werden dabei BurgenBurgen und SchlösserSchlösser als touristische Ziele betrachtet, danach DenkmälerDenkmäler. Im Weiteren werden ländliche und überregionale historische Themenwege und ThemenstraßenThemenstraße behandelt, bevor schließlich ganze Regionen vorgestellt werden, die sich geschichtstouristisch unter einem übergeordneten Thema vermarkten.

Das folgende Unterkapitel handelt von Formen des historischen Tourismusdark tourismdark tourism, die ebenfalls zum Geschichtstourismus gehören ( Kap. 3.3). Nach einer theoretischen Einführung in das Phänomen des dark tourism ist es nach Destinationen gegliedert. Den Anfang machen Orte des NationalsozialismusNationalsozialismus und der DDRDDR, gefolgt von FriedhöfenFriedhöfe und GefängnissenGefängnisse, BunkernBunker und KZ-GedenkstätteGedenkstätteKZ-Gedenkstätten. Abschließend geht es um Schlachtfeld- und KriegsgräberreisenKriegsgräber und um den TourismusTourismus zu Orten von Terrorangriffen und NuklearkatastropheNuklearkatastrophen. Die sich anschließenden beiden Unterkapitel sind systematisch gegliedert und widmen sich GruppenreisenGruppenreisen ( Kap. 3.4) und unterschiedlichen Erscheinungsformen des ErinnerungstourismusErinnerungstourismusTourismusErinnerungstourismus ( Kap. 3.5). Bei den Gruppenreisen werden Studien- und BildungsreisenBildungsreisen sowie militärhistorische ReisenMilitärhistorische Reisen behandelt. Der Erinnerungstourismus umfasst Reisen deutscher HeimatvertriebenerHeimatvertriebene nach Osteuropa, verschiedene Formen des jüdischen Diaspora- und Erinnerungstourismus und schließlich Reisen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.

Im praktischen Teil des Buches wird das Arbeitsmarktpotential von Geschichtstourismus für Studierende geschichts- und kulturwissenschaftlicher Fächer beleuchtet. Dafür werden zunächst drei ganz unterschiedliche Beispiele

Abschließend möchte ich meinen Dank an diejenigen aussprechen, die die Entstehung dieses Buches begleitet haben. Die Herausgeberinnen der Reihe „Public History“, Stefanie Samida und Irmgard Zündorf, haben es angeregt, Überlegungen zum Konzept angestellt und konstruktive Rückmeldungen zum Text gegeben. Thomas Mayer hat das Manuskript gelesen und wertvolle Hinweise gegeben. Auch Gesa Kolbe-Illigasch hat Teile des Manuskripts gelesen und kommentiert. Christian Barnbeck, Uschi Bender-Wittmann und Martin Erikson haben sich bereitwillig über ihre geschichtstouristischen Unternehmen interviewen lassen. Corina Popp und Stefan Selbmann haben das Buch professionell und freundlich für den Verlag betreut. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

Was ist Tourismus?

Reisen hat es in der menschlichen Geschichte schon immer gegeben, TourismusTourismus hingegen nicht. Er entstand erst zeitgleich mit der modernen westlichen Gesellschaft, in der so genannten Sattelzeit, also Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts.

Die Sattelzeit ist eine Übergangsphase von der Frühen Neuzeit zur Moderne, angesiedelt etwa 1750 bis 1850. Der Begriff wurde von dem deutschen Historiker Reinhart Koselleck (19232006) geprägt. Er knüpft an die Metapher des Bergsattels an. Koselleck hebt vor allem darauf ab, dass in dieser Zeit Schlüsselbegriffe des politischen Denkens, wie ‚Staat‘, ‚Bürger‘ oder ‚Demokratie‘, einen tiefgreifenden Bedeutungswandel erfuhren. In der Geschichtswissenschaft ist Kosellecks begriffsgeschichtliches Konzept der Sattelzeit um andere Prozesse erweitert worden, die als charakteristisch für diese Übergangszeit gelten: der soziale Wandel von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, ein tiefgreifender demographischer Wandel, der Beginn der Industrialisierung und die Entwicklung neuer Verkehrsmittel sowie die Entstehung neuer Kultur- und Konsumformen.

Das Kennzeichen touristischer Reisen ist, dass sie zweckfrei sind, oder vielmehr: dass ihr vorrangiger Zweck das reine Vergnügen ist. Wenn Menschen in vormoderner Zeit reisten, taten sie das immer aus Notwendigkeit und zu ganz bestimmten Zwecken. Menschen in ur- und frühgeschichtlicher Zeit unternahmen Reisen auf der Suche nach neuen Nahrungsquellen und Siedlungsgebieten. Weitere wichtige Reisezwecke seit der Antike sind Handel und Arbeitssuche sowie das in allen Religionen verbreitete Wallfahren. In der Frühen Neuzeit kamen Entdeckungsreisen, zunächst aus wirtschaftlichen Gründen, später aus wissenschaftlicher Neugier, hinzu. Auch die Wanderschaften von Handwerksgesellen und die Grand TourGrand Tour junger Adliger waren zweckgebunden; sie dienten der Ausbildung. Entdeckungsreisen, Pilgerreisen, Handelsfahrten und Arbeitsmigration gibt es bis heute. Hinzugekommen sind seit etwa 250 Jahren touristische Reisen, deren einziger Zweck darin besteht, fremde Orte und Länder um ihrer selbst Willen, aus reinem Vergnügen, kennenzulernen oder sich etwas Gutes zu tun. Nicht zufällig tauchte das Wort ‚Tourist‘ (von frz. tour = Reise) in den europäischen

Weshalb entstand der TourismusTourismus zeitgleich mit der Moderne? Hans-Magnus Enzensberger hat in einem für die Tourismusgeschichte klassischen Essay von 1958 die Theorie entwickelt, dass touristische Reisen eine Flucht aus dieser neuen modernen Gesellschaft darstellten. Demnach ist es eine Flucht aus einer selbst geschaffenen Realität gewesen, die erst notwendig und möglich wurde durch eine ganz spezifische historische Konstellation: die Doppelrevolution, das heißt, die politische, bürgerliche Revolution einerseits und die wirtschaftliche, industrielle andererseits sowie die Romantik als Reaktion darauf. Das Freiheitsversprechen, das die bürgerliche Revolution enthalten habe, sei von der nachfolgenden restaurativen Gesellschaft nicht eingelöst worden, den Menschen jedoch in Erinnerung geblieben. Die Romantik habe die Freiheit verklärt und sie in die Fernen der Imagination entrückt, bis sie räumlich zur zivilisationsfernen Natur, zeitlich zur vergangenen Geschichte geronnen sei. Unberührte Landschaft und unberührte Geschichte seien so die Leitbilder des Tourismus geworden. Er sei nichts Anderes als der Versuch, den in die Ferne projizierten Wunschtraum der Romantik zu verwirklichen (Enzensberger 1958, 709).

Tourismushistoriker*innen teilen Enzensbergers Auffassung, dass der TourismusTourismus in der Sattelzeit entstand, doch ist die Fluchtthese umstritten. Einig sind sich hingegen die meisten Tourismushistoriker*innen, dass die Entstehung des Tourismus mit einer veränderten Auffassung von Ästhetik und einer neuartigen Landschaftswahrnehmung einherging. Tourist*innen waren, anders als vormoderne Reisende, auf der Suche nach neuen Erfahrungen und Erkenntnissen. Der schwedische Kulturwissenschaftler und Tourismushistoriker Orvar Löfgren betrachtet Tourismus als ein kulturelles Laboratorium, in dem Menschen in der Lage sind, mit neuen Aspekten ihrer Identität, ihrer sozialen Beziehungen oder ihrer Interaktion mit der Natur zu experimentieren und dabei ihre Fantasie spielen zu lassen (Löfgren 1999, 7). Kennzeichnend für den modernen Tourismus war zudem, dass er sich rasch zu einem Massenphänomen entwickelte, das weit mehr als nur kleine Eliten der Bevölkerung erfasste. Dem amerikanischen Tourismussoziologen Dean MacCannell zufolge verkörpert ‚der Tourist‘ geradezu exemplarisch den modernen Menschen im Allgemeinen (MacCannell 1976, 1).

Während Tourismushistoriker*innen es bei einer Bestimmung dessen, was TourismusTourismus ist, bei solchen Charakteristika belassen, versuchen Tourismussoziolog*innen und -wissenschaftler*innen, eine genauere Definition von Tourismus zu geben. Dabei geht es darum, ihn zeitlich und räumlich gegenüber Tagesausflügen einerseits und dauerhaftem Umzug andererseits abzugrenzen. Eine gängige DefinitionTourismusDefinition von ist, dass eine touristische Reise einen Wechsel vom gewöhnlichen Aufenthaltsort an einen anderen Ort beinhaltet und mindestens 24 Stunden, maximal

Die World Tourism OrganisationWorld Tourism Organisation (abgekürzt UNWTO, um sie nicht mit der World Trade Organisation [WTO] zu verwechseln) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Madrid und rund 100 Mitarbeiter*innen. 2013 waren 155 Staaten und 450 Organisationen Mitglied der UNWTO. Sie versteht sich als internationales Forum für Tourismuspolitik und als eine Schnittstelle für zwischenstaatliche Kommunikation. Sie verfolgt das Ziel der Entwicklung eines nachhaltigen und für alle zugänglichen TourismusTourismus und will damit weltweit zu ökonomischer Entwicklung, internationaler Verständigung, Frieden, Wohlstand und der Einhaltung der Menschenrechte beitragen. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist der Tourismus in Entwicklungsländern. Die UNTWO veröffentlicht jährlich Tourismusstatistiken, die den globalen Tourismus abbilden, und gibt Empfehlungen für die Harmonisierung verschiedener internationaler Tourismusstatistiken, beispielsweise der OECD und der EU.

Während für die geschichtswissenschaftliche Definition von Tourismus der Reisezweck entscheidend ist, spielt dieser bei der sozialwissenschaftlichen Definition lediglich eine untergeordnete Rolle. Die UNWTO-Definition von Tourismus umfasst nämlich auch Geschäftsreisen und Verwandtenbesuche und überhaupt alle Reisen, die die oben genannten Kriterien erfüllen. Aus rein praktischen Gründen können die Welttourismus- und andere Tourismusorganisationen den Reisezweck nicht zum Kriterium machen, weil das eine Befragung aller Reisenden voraussetzen würde. Die UNWTO erfasst in ihren Statistiken auch nur den internationalen Tourismus und erhebt jährlich seine internationalen Ankünfte, Ausgaben und Top-Destinationen.

In diesem Buch wird es dagegen häufig, aber nicht ausschließlich, um Inlandstourismus gehen. Der Schwerpunkt liegt auf Deutschland, doch es werden auch Beispiele aus anderen Ländern einbezogen. Die vorgestellten touristischen Angebote heben überwiegend auf Tourist*innen aus dem eigenen Land ab und sind daher in der Regel in der Landessprache gehalten. Einige richten sich aber auch an internationale Tourist*innen und sind mehr- oder zumindest auch englischsprachig.

TourismusTourismus ist heutzutage ein integraler Bestandteil unserer Lebensführung, er ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Auch global spielt er eine bedeutende Rolle. Er ist der weltweit größte Dienstleistungssektor, steht für zehn Prozent des globalen Bruttosozialprodukts und sieben Prozent des weltweiten Handels. Einer von zehn Arbeitsplätzen weltweit ist im Tourismussektor angesiedelt, der jährlich um vier Prozent wächst. Unter den Nationen, die am

Tourismus von den Anfängen bis heute

Die ersten Touristen waren nicht von ungefähr Briten – nahm doch die industrielle Revolution und somit auch die kapitalistische, bürgerliche Gesellschaft ihren Anfang in England. Briten waren die ersten, die Mitte des 18. Jahrhunderts in andere europäische Länder reisten, um dort fremde Kulturen kennenzulernen und Sprachen zu lernen, kurz: um sich zu bilden (Zuelow 2016, 15f.). Es waren ebenfalls Briten, die seit Ende des 18. Jahrhunderts massenhaft die Alpen zu keinem anderen Zweck bestiegen, als ihre Schönheit zu genießen. Bis dahin war die Gebirgslandschaft als unwirtliche, ja geradezu feindliche Natur wahrgenommen worden. Nun wurde sie zum Inbegriff des Erhabenen (ebd., 31f.). Auch die Ästhetik des Rheins entdeckten Briten, aber bald folgten ihnen, wie auch in die Alpen, adlige und bürgerliche Männer und Frauen anderer europäischer Länder nach. Zeitgleich mit der Wahrnehmung des Gebirges veränderte sich auch die Wahrnehmung der anderen Landschaft, die jahrhundertelang als feindliche Natur gegolten hatte: des Meeres und seiner Küsten (Corbin 1990). Mitte des 18. Jahrhunderts wurde, wiederum in England, das erste Seebad gegründet, weil neuerdings das Baden im Meer und das Meeresklima als gesundheitsfördernd und das Meer selbst als erhaben galten. Aus dem Baden aus Gesundheitsgründen entwickelte sich im späten 19. Jahrhundert der Strandurlaub mit Baden aus reinem Vergnügen (Kolbe 2009, 23f.).

Diese Anfänge des TourismusTourismus blieben noch auf vergleichsweise kleine GruppenGruppenreisen wohlhabender Eliten beschränkt. Erst die Entwicklung erschwinglicher, schneller, komfortabler und zuverlässiger Transportmittel bahnte den Weg zum Massentourismus. Das erste Dampfschiff im Linienverkehr befuhr 1807 die Route New York–Albany; die erste Eisenbahnstrecke der Welt wurde 1825 mit der Stockton & Darlington Railway in England eröffnet. Deutschland folgte 1835 mit der Strecke NürnbergNürnberg–Fürth. Mitte des 18. Jahrhunderts kam es zu weiteren wichtigen Neuerungen in der Geschichte des Tourismus, die alle mit dem Namen eines Mannes, wiederum eines Briten, verbunden sind: Thomas Cook (18081892). Er organisierte 1841 die erste Gruppenreise für englische Arbeiter, gründete 1845 das erste Reisebüro und erfand später den Reisecheck und den Hotelvoucher. Nach den ersten Erfolgen expandierte sein Unternehmen unablässig. In den kommenden Jahrzehnten bot er In- und Auslandsreisen in zahlreiche Länder an, darunter 1872 eine Weltreise in 222 Tagen (Zuelow 2016, 6266, 102). Sein Geschäftsmodell wurde rasch von UnternehmernUnternehmer*in in anderen Ländern nachgeahmt. 1836 veröffentlichte der Brite John Murray (17781834) einen der ersten ReiseführerReiseführer,

Bis zum Ersten Weltkrieg blieb der TourismusTourismus weitgehend ein Privileg des wohlhabenden Bürgertums. Erst in der Zwischenkriegszeit kam es in vielen Ländern der Welt zu einem weiteren wichtigen Schritt in Richtung Massentourismus: der Einführung gesetzlich garantierten und bezahlten Urlaubs für alle Arbeitnehmer*innen. Dennoch konnten sich in der Weimarer Republik nur etwa 15 Prozent der Bevölkerung eine jährliche Urlaubsreise leisten (Keitz 1997, 336). Das faschistische Regime in Italien (19221943) und das nationalsozialistische in Deutschland (19331945) verstanden es, Freizeit und Tourismus geschickt für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die italienische Organisation Opera Nazionale Dopolavoro und die deutsche Nationalsozialistische Gemeinschaft Kraft durch FreudeNationalsozialistische Gemeinschaft Kraft durch Freude (KdF) organisierten Freizeit- und Urlaubsreisen der Arbeitnehmer*innen und versprachen, das bisher bürgerliche Privileg einer Urlaubsreise zu brechen und allen ‚Volksgenossen‘ zugänglich zu machen.

Die Opera Nazionale Dopolavoro (Nationales Feierabendwerk) wurde 1925 gegründet, die Nationalsozialistische Gemeinschaft Kraft durch FreudeNationalsozialistische Gemeinschaft Kraft durch Freude (KdF), angeregt durch das italienische Vorbild, 1933. Sie war eine Unterorganisation der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und gliederte sich in fünf Ämter: Amt „Feierabend“, „Sportamt“, Amt „Schönheit der Arbeit“, Amt „Wehrmachtsheime“ und Amt „Reisen, Wandern, Urlaub“. KdF sollte die Freizeit und den Urlaub der deutschen ‚Volksgenossen‘ organisieren und gestalten. Das Amt „Reisen, Wandern, Urlaub“ bot konkurrenzlos billige Urlaubsreisen an. Ein Propagandaerfolg wurden vor allem die Seereisen, weil sie die vermeintliche Brechung bürgerlicher Privilegien durch die Nationalsozialisten besonders eindrücklich illustrierten. Tatsächlich machten sie jedoch nur ein bis zwei Prozent aller KdF-Reisen aus. 1936 wurde mit dem Bau eines KdF-Seebades in ProraProra auf Rügen begonnen, das Platz für 20000 Urlauber*innen bieten sollte. Mit Kriegsbeginn wurden die Bauarbeiten eingestellt, die riesige Bauruine, die in der DDRDDR zu Kasernen ausgebaut wurde, kann heute besichtigt werden ( Kap. 3.3.1). Ab 1941 konzentrierte sich KdF vor allem auf die Frontbetreuung deutscher Soldaten.

Damit sollte nicht zuletzt die Arbeiterschaft entpolitisiert werden (Hachtmann 2007, 120124). KdF war sehr viel erfolgreicher als ihr italienisches Pendant. Von 1934 bis 1939 fuhren fast 50 Millionen Deutsche mit der Organisation in den Urlaub – das Gros der Reisen waren allerdings Kurzfahrten bis zu drei Tagen

Die junge SowjetunionSowjetunion hatte ebenfalls das Ziel, das bürgerliche Urlaubsprivileg zu brechen, und wollte an die Stelle des vermeintlich dekadenten bürgerlichen TourismusTourismus einen neuen proletarischen Tourismus setzen, der dazu beitragen sollte, den neuen Sowjetmenschen zu schaffen. Touristische, innersowjetische, Reisen wurden zentral organisiert und sollten grundsätzlich allen Erwerbstätigen zugänglich sein. Das Ziel eines Massentourismus, der das Gros der Bevölkerung umfasste, erreichte die UdSSR jedoch, genau wie die westlichen Länder, erst ab den 1960er Jahren (Koenker 2013). Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die neuen sozialistischen Länder Osteuropas das Modell des proletarischen Urlaubs. In der DDRDDR etwa oblag dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) die zentrale Verteilung von Urlaubsplätzen in eigenen Ferienheimen, oder die Erwerbstätigen hatten die Möglichkeit, in Ferienheimen ihrer jeweiligen Betriebe Urlaub zu machen (Görlich 2012). Das Ziel eines erschwinglichen Urlaubs für alle wurde in der DDR verwirklicht, doch blieb es für die meisten beim Inlandstourismus. Reisen selbst in das sozialistische Ausland waren nur begrenzt möglich.

Die Expansion des TourismusTourismus im 20. Jahrhundert hing eng mit technologischen Fortschritten zusammen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren das Automobil und das Flugzeug erfunden worden, aber erst nach dem Krieg begannen sie eine gewisse Rolle im Tourismus zu spielen. Für die meisten Reisenden waren Auto- und Flugreisen allerdings zu dieser Zeit noch nicht erschwinglich; die Eisenbahn blieb weiterhin das wichtigste Transportmittel. In der Bundesrepublik wurde sie zwar erst 1964 vom Auto als häufigstem Urlaubstransportmittel abgelöst, aber der Siegeszug des Individual- und Massentourismus war bereits seit den 1950er Jahren nicht aufzuhalten gewesen. Das Flugzeug erreichte einen nennenswerten Anteil erst seit den 1970er Jahren, als die Preise für Flugreisen stark sanken. Nun wurden auch Fernreisen erschwinglich und machen seitdem ein stetig wachsendes Segment des Tourismusmarktes aus. In den letzten Jahren haben auch Kreuzfahrten als gehobenes Urlaubssegment stark zugenommen. Im Laufe des Jahrhunderts stiegen die Löhne kontinuierlich an und die Mittelschicht wurde zunehmend größer, so dass immer mehr Menschen immer mehr konsumieren und auch verreisen konnten. Heutzutage können sich in Westeuropa Menschen aller sozialen Schichten Urlaubsreisen leisten, in Deutschland sind es seit 1990 etwa drei Viertel der Bevölkerung (Keitz 1997, 336).

Anne E. Gorsuch/Diane P. Koenker (Hrsg.), Turizm. The Russian and East European Tourist under Capitalism and Socialism (Ithaca, London 2006).

Hasso Spode, Der Tourist. In: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Der Mensch des 20. Jahrhunderts (Frankfurt am Main, New York 1999), S. 113137.

Ders., Wie die Deutschen „Reiseweltmeister“ wurden. Einführung in die Tourismusgeschichte (Erfurt 2003).

Was ist Geschichtstourismus?

Der TourismusTourismus hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht nur zu einem Massenphänomen entwickelt, er hat sich auch stark ausdifferenziert. Neben die klassischen Tourismusformen wie Badeurlaub, Wanderferien und Städtereisen trat im letzten Drittel des Jahrhunderts eine Vielzahl an Urlaubsformen und -zielen für alle nur erdenklichen Zielgruppen, vom Ökotourismus über den Sextourismus bis hin zum Weltraumtourismus. GeschichtstourismusTourismusGeschichtstourismus (Definition)Geschichtstourismus (Definition) ist eine Tourismusform unter vielen, und durchaus eine bedeutsame. Eine ethnografische Studie stellte etwa 1998 fest, dass im 20. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten von allen touristischen Zielen solche die größte Anziehungskraft besaßen, die einen Bezug zu den vergangenen Kriegen des Landes hatten (Smith 1998). Als GeschichtstourismusTourismusGeschichtstourismus (Definition)Geschichtstourismus (Definition) wird hier jeder Tourismus verstanden, der sich auf historische Ereignisse, Dinge oder Personen bezieht. ‚Historisch‘ umfasst dabei den vergangenen Zeitraum, aus dem uns schriftliche, bildliche oder archäologische Quellen vorliegen, und legt damit einen um die Ur- und Frühgeschichte und Archäologie erweiterten Geschichtsbegriff zugrunde. Die Definition geht von den Destinationen aus und sagt nichts über die Motive und Interessen der Reisenden aus, die sich meist ohnehin nicht erschließen lassen, zumindest, wenn es sich um bereits vergangenen Geschichtstourismus handelt. Ob also die amerikanischen Tourist*innen des späten 20. Jahrhunderts etwa das USS Arizona MemorialUSS Arizona Memorial in Pearl HarbourPearl Harbour, das die Ruhestätte von 1102 amerikanischen Soldaten markiert, die beim japanischen Angriff am 7. Dezember 1941 ums Leben kamen, aus historischem Interesse besuchten, um zu trauern oder aus reiner Sensationslust, ist für die hier verwendete Definition von Geschichtstourismus unerheblich. Dennoch ist es von Interesse, sich Gedanken über die Motive von Geschichtstourist*innen zu machen. Neuere Forschungen weisen darauf hin, dass Neugier, Bildung, Unterhaltung, der Wunsch, sich in den fremden Raum der Vergangenheit zu versetzen, sowie die Konstruktion von Identitäten wiederkehrende Motive sind, die erklären können, warum Menschen gerade Geschichte touristisch erfahren und erleben wollen (Schwarz/Mysliwietz-Fleiß 2019b, 16, 2123; Groebner 2018).

GeschichtstourismusTourismusGeschichtstourismus (Definition)Geschichtstourismus (Definition) kann unterschiedliche Formen annehmen. Eine sehr gebräuchliche Form ist die Besichtigung – das Anschauen – etwa von historischen Gebäuden oder DenkmälerDenkmälern. Lesen und Zuhören sind weitere übliche Formen, beispielsweise das Lesen von Erläuterungstafeln oder Ausstellungstexten und das Zuhören bei einer historischen StadtführungStadtführung. In den letzten Jahrzehnten sind zunehmend aktivere Formen hinzugekommen, etwa das Begehen oder Befahren historischer ThemenwegeThemenweg, die Teilnahme an MittelaltermärktenMittelaltermarkt sowie der Besuch bestimmter RestaurantsRestaurant, die historische Gerichte in historischer Kulisse servieren. Auch die verwendeten Medien haben sich erweitert. Immer häufiger gibt es interaktive Apps, mit denen Tourist*innen genau die Informationen abrufen können, die sie interessieren.

GeschichtstourismusTourismusGeschichtstourismus (Definition) ist nicht dasselbe wie KulturtourismusKulturtourismusTourismusKulturtourismus, kann sich aber mit diesem überschneiden. Kulturtourismus bezieht sich, wie der Name sagt, auf materielle und immaterielle Erscheinungen des Kulturlebens. Es gibt indes keine allgemein verbindliche Definition von Kulturtourismus, nicht zuletzt deshalb, weil es keine allgemein gültige Definition von Kultur gibt. Traditionell wurde unter Kultur allein die Hochkultur verstanden, also historische Kunstwerke aus Bildender Kunst, Malerei, Architektur und Musik, die in klassischen

GeschichtstourismusGeschichtstourismus (Definition)TourismusGeschichtstourismus (Definition) gibt es nicht erst heutzutage, sondern bereits seit den Anfängen des TourismusTourismus. Der vergangene wie auch der gegenwärtige Geschichtstourismus ist allerdings noch kaum historisch erforscht. Bislang gibt es nur zwei Sammelbände, die sich mit unterschiedlichen Erscheinungen des internationalen Geschichtstourismus beschäftigen, ein englischsprachiger aus Finnland von 2008 (Kostiainen/Syrjämaa 2008) und ein deutscher von 2019 (Schwarz/Mysliwietz-Fleiß 2019a). Sie behandeln ein breites Spektrum des historischen und aktuellen Geschichtstourismus, darunter etwa FriedhofstourismusFriedhöfe im 19. Jahrhundert oder die Inszenierung der Region ObersalzbergObersalzberg als geschichtstouristische Destination des späten 20. Jahrhunderts. Diverse Beiträge des deutschen Bandes beschäftigen sich mit der nationalen Identitätsbildung durch Geschichtstourismus, etwa im Falle der im 19. Jahrhundert noch nicht existierenden Nationalstaaten PolenPolen und Italien. Um nationale Identitätsbildung ging es auch beim innersowjetischen Geschichtstourismus der 1960er Jahre und beim Revolutionstourismus in der Republik China (19121949) (Schwarz/Mysliwietz-Fleiß 2019a). Beiträge zum 20. Jahrhundert in dem finnischen Band handeln etwa von der Rolle der sowjetischen Vergangenheit im postsowjetischen Tourismus der baltischen Staaten, Geschichtstourismus im Italien des ersten Jahrhundertdrittels sowie dem Geschichtsgebrauch der norwegischen Küstenregion Sørland wie auch französischer Luxushotels bei der Schaffung einer touristischen ‚Marke‘

Weiterführende Literatur

Valentin Groebner, Touristischer Geschichtsgebrauch. Über einige Merkmale neuer Vergangenheiten im 20. und 21. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 408428.

Ders., Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen (Frankfurt am Main 2018).

Angela Schwarz/Daniela Mysliwietz-Fleiß (Hrsg.), Reisen in die Vergangenheit. Geschichtstourismus im 19. und 20. Jahrhundert (Wien, Köln, Weimar 2019).

Sabine Stach, Geschichtstourismus, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 10.07.2020, online unter http://docupedia.de/zg/Stach_geschichtstourismus_v1_de_2020, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok-1799.

Albrecht Steinecke, Kulturtourismus. Marktstrukturen, Fallstudien, Perspektiven (München, Wien 2007).