Inhalt

 



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Januar 2022

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin


Titelbild: Mark Freier
Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-814-4
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-820-5

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.

Besuchen Sie uns im Internet:
www.atlantis-verlag.de

Prolog

Frankreich, im Jahre des Herrn 1306

Der Ritter stolperte durch den Wald. Er war kaum noch in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Gesicht und Hände waren mit tiefen Kratzern übersät. Blut lief ihm in die Augen. Verzweifelt blinzelte er es weg.

Schwer atmend stützte er sich an einem Baumstamm ab. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass auch sein Brustpanzer von Rissen durchzogen war. Er stieß seine Klinge in den Boden und löste mit hastigen Bewegungen das unnütz gewordene Stück Rüstung. Der Ritter ließ es achtlos zu Boden fallen und nahm sein Schwert erneut an sich.

Er sah sich nach allen Richtungen um. Zu Beginn des Tages waren sie fünfundzwanzig gewesen. Nun war er allein. Seine Freunde – abgeschlachtet von diesen Kreaturen der Finsternis. Beinahe kamen ihm die Tränen, wenn er an die furchtbaren Szenen zurückdachte, deren Zeuge er geworden war. Gute Männer waren von diesen Wesen zerfleischt und in Stücke gerissen worden. Nur er war übrig. Und er hatte keinen Zweifel daran, dass auch er diesen Tag nicht würde überstehen können. Der Ritter riss sich zusammen. Falls – nein, wenn – er heute den Tod fand, dann würde er dieses Schicksal annehmen und seinem Schöpfer nicht wie ein weinerliches Häufchen Elend gegenübertreten.

Etwas knackte hinter ihm. Der Ritter fuhr herum, das Schwert zum tödlichen Stoß erhoben. Er versuchte nach Kräften, seinen Herzschlag zu beruhigen. Das Blut floss derart stark durch seine Adern, dass er meinte, es in den Ohren pochen zu hören.

Abermals knackte etwas. Er fuhr erneut herum. Aber auch jetzt konnte er nichts zwischen den eng stehenden Baumstämmen ausmachen. Diese Kreaturen machten normalerweise keinerlei Geräusche. Sie bewegten sich wie Schatten. Mehr noch, sie schienen mit den Schatten zu verschmelzen und auf ihnen zu reiten, um ihre Opfer zu attackieren. Der Ritter machte eine verkniffene Miene. Sie spielten nur mit ihm, wie eine Katze, die eine Maus gefangen hatte. Und wenn sie mit Spielen fertig waren – nun, dann erklang die Glocke zum Essenfassen.

Der Ritter trug Handschuhe, aber sie waren glitschig vor Blut. Er zog sie aus und wischte sich die Hände nacheinander an den Beinschienen ab. Das Blut war nicht sein eigenes. Aber auch nicht das seiner Angreifer, es handelte sich um das Blut Jean-Pierres. Er hatte seinen Freund und Waffenbruder festhalten wollen, als dieser von einer unsichtbar erscheinenden Macht gepackt und mit unerbittlicher Kraft in die Tiefe des Waldes gezogen worden war.

Der Ritter sah bedeutungsvoll auf seine Hände. Und wieder kämpfte er mit den Tränen. Diese Hände hatten seinen langjährigen Freund nicht halten und vor einem grausigen Schicksal bewahren können. Noch minutenlang hatte er die Stimme Jean-Pierres vernommen, wie sie vor Qualen schrie und immer wieder seinen Namen rief. Am Ende hatte er nur noch um den Tod seines Freundes gebetet, der dann endlich gnädigerweise eintrat.

Der Ritter verharrte. Er vernahm ein Knurren, aber keines, wie die Tiere, die er kannte, es ausstießen. Langsam hob er den Kopf. Über ihm hing etwas kopfüber an der Rinde festgeklammert. Es musterte ihn mit einem Ausdruck unstillbaren Hungers in den gierigen gelben Augen.

Die Kreatur öffnete ihre Krallen und ließ sich einfach auf den Ritter fallen. Dieser besaß noch die Geistesgegenwart, sein Schwert in Richtung des Angreifers zu schwingen, und fügte dem Geschöpf geboren aus Furcht und Dunkelheit eine klaffende Wunde an der Schulter zu. Sie schloss sich augenblicklich wieder. Es trat nur eine unbedeutende Menge Blut aus.

Die Kreatur riss den Ritter zu Boden und versenkte ihren Kiefer in dessen Hals. Der Mann wehrte sich, aber die unermesslichen Kräfte der Kreatur waren zu viel für ihn.

Das Wesen hob die blutverschmierte Schnauze und stieß einen spitzen Schrei aus. Weitere der Kreaturen eilten herbei und beteiligten sich an dem Festmahl. Die Schreie des Ritters verstummten, als sie sich an seinem Körper festbissen und jeden Tropfen Blut aussaugten.

Zwei Männer traten zwischen den Bäumen hervor und beobachteten das Schauspiel, der eine angewidert, der andere nicht ohne beinahe väterlichen Stolz.

Der Führer des Rudels ließ von seinem inzwischen bewegungslosen Opfer ab und griff übergangslos an. Der kleinere der beiden Männer wich angstvoll zurück, der größere hingegen hob lediglich die linke Hand. An deren Ringfinger glänzte ein grünes Juwel, eingebettet in eine goldene Fassung. Der Ring glühte grün auf. Gleichzeitig leuchtete ein Symbol auf, das dem Wesen in die Haut direkt zwischen die Augen geritzt worden war. Die Kreatur winselte und warf sich dem Mann zu Füßen, die Stirn gegen den Waldboden gedrückt.

Der Mann mit dem Ring lächelte. »Seht Ihr? Die Kreatur kann sich gegen den Einfluss des Rings nicht wehren. Sie steht völlig unter meiner Kontrolle.«

Sein Begleiter kam langsam näher. Dessen Mimik nach befürchtete dieser, jeden Augenblick doch Opfer dieses dunklen Wesens zu werden. Mit merklicher Anstrengung gelang es ihm schließlich, sich zu entspannen.

»Und wenn es sich das Symbol, mit dem Ihr es kontrolliert, einfach aus dem Fleisch reißt?«

Der Angesprochene lächelte lediglich herablassend. Seine nächsten Worte richtete er an die Kreatur: »Reiß dir das Symbol aus deinem Fleisch.«

Das Wesen richtete sich beinahe erwartungsvoll auf. Seine klauenbewehrte Hand näherte sich der eigenen Stirn. Doch kurz bevor die Krallen das blasse Fleisch erreichten, stockte es in der Bewegung. Die Hand zitterte, als würde sie gegen eine unsichtbare Kraft antreten. Anstrengung zeichnete sich auf der grausamen Fratze des Wesens ab – bis es aufgab und sich abermals vor seinem Herrn und Gebieter zu Füßen warf.

Der Mann mit dem Ring wirkte sehr zufrieden mit sich und dem Ergebnis der Präsentation. »Seht Ihr? Es ist nicht in der Lage, sich zu befreien – auch wenn es das selbst nur allzu gern würde.«

»Beeindruckend, in der Tat«, kommentierte der andere. Sein Körper war in edles Samt mit Brokatstickereien gekleidet. Sein Blick zuckte zur Leiche des Ritters. »Und ein höchst aussagekräftiges Schauspiel.« Er warf seinem Gegenüber einen schrägen Seitenblick zu. »Aber wäre das alles nicht möglich gewesen, ohne fünfundzwanzig Eurer besten Ritter zu opfern?«

Der Mann mit dem Ring schnaubte. Er trug eine kunstvoll verzierte Rüstung. »Hättet Ihr mir denn geglaubt?«

Der Mann in Samt und Brokat überlegte kurz. »Vermutlich nicht. Aber jetzt glaube ich Euch.«

Die hochgewachsene Gestalt senkte die Hand mit dem Ring und entließ die Kreatur endlich aus seinem Bann. Sie zog sich winselnd vor den beiden zurück. »Ich habe das nicht gern gemacht. Diese Ritter wurden von mir sehr geschätzt. Ich hatte aber keine andere Wahl. Ihr musstet es mit eigenen Augen sehen.«

Der Mann in Samt und Brokat trat einen weiteren Schritt vor, doch sein Begleiter hielt ihn mit erhobener Hand auf. »Vorsicht! Das könnte gefährlich werden. Bleibt immer hinter mir.«

»Ich bin immer noch nicht überzeugt davon, dass wir das tun sollten. Schwarze Magie …« Er deutete auf die in abwartender Stellung verharrenden Kreaturen. »Und dann auch noch auf diese Weise angewendet. Ich weiß nicht.«

Der Herr über die Kreaturen trug eine schmucklose, aber gut verarbeitete Rüstung. Eine Armierung, wie sie sich nur eine Handvoll Menschen Frankreichs leisten konnten. Er schüttelte den Kopf. »Gewisse Befehle wurden bereits ausgegeben und dadurch wurden Abläufe in Gang gesetzt. Für Gewissensbisse ist es nun zu spät. Unser Weg liegt klar und eindeutig vor uns.« Er wandte sich seinem Begleiter nun zur Gänze zu. »Und Ihr werdet Euch gefälligst an die Abmachung halten!«

Sein Gesprächspartner wirkte nicht überzeugt. »Ich riskiere viel dabei.«

Für einen Augenblick zuckte Ärger über das Gesicht der gerüsteten Gestalt. Der Mann war dabei, seine Geduld zu verlieren, angesichts des Zögerns seines Begleiters.

»Ich etwa nicht?«, begehrte Philipp der Schöne auf, König von Frankreich. Auf der Mimik des anderen Mannes breitete sich ein ergebener Ausdruck aus und endlich nickte Papst Clemens V. zustimmend.

Teil I

Frankreich, im Jahre des Herrn 1307

Kapitel 1

Feuer, Blut, Tod. Menschen schrien auf in unsagbarer Pein, nur um Sekunden später für immer zu verstummen. Flammen stiegen zum Himmel empor. Das Dorf brannte lichterloh. Menschen rannten in dessen unheimlich anmutender Aura umher, nur um von geisterhaft zwischen den Gebäuden umherhuschenden Wesen zu Tod gehetzt zu werden.

Sie labten sich an deren Blut und machten bei diesem Gemetzel keinen Unterschied zwischen Mann, Frau oder Kind. Einige Bewohner des Dorfes stellten sich zum Kampf, wollten ihr Heim und ihre Liebsten verteidigen. Aber diejenigen wurden zuerst geholt von diesem lebendig gewordenen Albtraum, der die kleine Ortschaft heimsuchte.

Ein paar wenige schafften es, sich in die umliegenden Hügel und Felder zu retten, um dort den Schrecken auszusitzen, der die ganze Welt zu erfassen schien. Die meisten jedoch hatten keine Chance. Und noch während das Dorf bis auf die Grundmauern niederbrannte, erhob sich eine grausige, dämonenhafte Fratze über der unwirklichen Szenerie. Sie fixierte Christian durch gelblich glänzende Augen. Ihre blutverschmierte Schnauze öffnete sich und zur Verblüffung des Vampirtemplers sprach sie ihn mit Grabesstimme an: »Du gehörst mir, Halbblut!«

Christian schrak von der Schlafstatt hoch. Noch bevor er sich seiner eigenen Handlungen im Halbschlaf voll bewusst wurde, hatte seine Hand die neben der Pritsche stehende Klinge am Griff gepackt und halb aus der Scheide gezogen.

Christian sah sich um. Seine Sinne waren geschärft und suchten nach einem Gegner oder auch nur einem Anlass, an dem er seine aufgestaute Energie auslassen konnte.

Es brannte kein Licht in seinen Gemächern, trotzdem vermochte er im Dunkeln genauso gut zu sehen wie ein Mensch bei Tageslicht, möglicherweise sogar besser.

Sein Atem beruhigte sich langsam. Es war kein Feind zu sehen. Sein Zimmer war bis auf ihn selbst und seine wenigen Habseligkeiten leer.

Christian schluckte, bemerkte den trockenen Hals und leckte sich leicht über die Lippen. Er erhob sich geschmeidig und nahm eine Ratte aus dem Käfig, der griffbereit neben seinem Bett stand. Das kleine Geschöpf quiekte vor Angst, wusste es doch um das Schicksal, welches ihm bevorstand.

Christian verschloss sein Herz und schob das schlechte Gewissen beiseite, das ihn jedes Mal bei der Nahrungsaufnahme beschlich. Er musste essen. Da führte kein Weg dran vorbei. Besser eine Ratte als ein Mensch.

Christian biss heftig hinein. Augenblicklich berührte das Blut der Ratte seine Lippen, benetzte den Gaumen und floss seine Kehle hinab. Einiges davon tröpfelte auf seine bloße Brust. Nachdem er mit der Ratte fertig war, leckte er sich die Lippen sauber.

Christian erhob sich und ging zu einem kleinen Tisch mit einem Zuber darauf. Er goss etwas Wasser hinein und wusch Gesicht und Oberkörper.

Zu seiner Verblüffung war das Rattenblut nicht das einzige, was das Wasser fortspülte. Er schwitzte. Der Tempelritter runzelte die Stirn. Vampire schwitzten nur äußerst selten. Ihr Körper war von Natur aus dafür ausgelegt, große Belastungen sehr viel einfacher wegzustecken, als es bei Menschen der Fall war.

Ganz davon abgesehen, dass ihr Organismus und ihr Kreislauf wesentlich beschleunigter funktionierten. Schwitzen war etwas, das kaum ein Vampir je wirklich vermisste. Umso überraschter war Christian, dass er nun diese für ihn unnatürliche körperliche Ausdünstung an sich wahrnahm. Nur eines konnte einen Vampir dazu treiben, Schweiß zu produzieren: Angst. Schlichte, nackte Todesangst.

Christian hob den Kopf. Er besaß keinen Spiegel. Wozu auch? Vampire verfügten generell nicht über ein Spiegelbild. Nur zu gern hätte er jetzt seine eigene Mimik studiert.

Christian seufzte. Seit Wochen dasselbe. Jede Nacht suchte ihn der Albtraum heim, peinigte ihn mit den Schrecken des Krieges und dieser seltsamen dämonischen Fratze. Er wusste nicht, was es bedeutete. Nur eines war ihm klar: Der Traum musste eine tiefere Bedeutung besitzen. Die zu ergründen, erklärte der Ritter zu seinem vornehmlichen Ziel. Eine Gefahr erhob sich aus der Finsternis. Christian konnte es in der Luft schmecken. Er konnte es auf seiner Haut fühlen. Ja, er konnte es sogar im Boden spüren, wenn er darüberging. Der Welt stand großes Unheil bevor. Und die Templer im Schatten mussten sich dem stellen. Das war ihre Aufgabe, ihr Sinn, ihr Schicksal.

Ein Schaudern durchzog den Körper des Vampirtemplers. Es war ein Gefühl, als würde jemand über sein Grab laufen. Und im selben Moment erkannte er, dass es nicht nur das Schicksal seiner Templer im Schatten darstellte, gegen dieses neue Übel zu kämpfen. Möglicherweise war es auch ihr Schicksal, in diesem Kampf vernichtet zu werden.

Die Tür öffnete sich und Karl von Braunschweig stand mit einem Mal im Raum. Der ehemalige Johanniter wollte etwas sagen. Doch dann musterte er seinen alten Freund und Waffenbruder von oben bis unten und seufzte. Der Vampir neigte den Kopf leicht zur Seite.

»Wieder der Albtraum?«

Christian nickte. »Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Er kommt jedes Mal, wenn ich die Augen schließe. Er raubt mir den Schlaf. Wäre ich noch ein Mensch, würde ich sagen, er raubt mir auch die Seele.«

Karl lächelte nachsichtig. »Christian, mein Freund, wir sind schon seit hundertzwanzig Jahren keine Menschen mehr. Also das mit der Seele kannst du getrost vergessen.«

Christian lächelte schief. »Es ist unhöflich, einen Freund an sein Alter zu erinnern.« Sein Lächeln schwand so schnell, wie es aufgeflammt war. »Karl, da braut sich etwas zusammen. Etwas Düsteres.«

Karl ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil schien seine gute Laune sogar noch zuzunehmen. »Genau die richtige Aufgabe für uns. Wir haben DiSalvatino und Lancelot besiegt. Und außerdem noch alles, was seitdem unseren Weg gekreuzt hat. Was auch immer das ist, wovon du dir den Schlaf rauben lässt, es wird kein Gegner für unsere Klingen sein.«

Christian schüttelte müde den Kopf. »Du nimmst das viel zu leicht, Bruder.«

»Und du zu schwer. Manchmal ist ein Albtraum einfach nur ein Albtraum.«

Christian maß seinen Gegenüber mit festem Blick. »Der jede Nacht kommt und mich schweißgebadet aufschrecken lässt?«

Karl runzelte die Stirn. »Schweißgebadet, meinst du?« Als Vampir wusste Karl, was das bedeutete. Und die Schlussfolgerung gefiel ihm kein bisschen.

Karl senkte den Blick, um über das Gesagte nachzudenken. Als er den Kopf wieder hob, fiel sämtliches Amüsement von ihm ab und er bedachte seinen Templerbruder mit einer nachdenklichen Geste. »Wenn du das schon seltsam findest, dann solltest du mal rauskommen.« Karl machte Anstalten, den Raum zu verlassen und die Tür hinter sich ins Schloss zu ziehen. Er hielt jedoch noch einmal mit spitzbübischem Grinsen inne. »Aber vorher solltest du dir vielleicht etwas anziehen.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Christian sah an sich hinunter und bemerkte erst jetzt, dass er splitterfasernackt im Raum stand. Eilig zog er sich Beinkleid, Hose sowie Hemd über und folgte Karl ins Nebenzimmer.

Bereits nach wenigen Schritten blieb er wie angewurzelt stehen. Auf einem Stuhl am einzigen Tisch im Raum saßen zwei Besucher, von denen er nie gedacht hatte, sie wiederzusehen.

Christian trat näher und begrüßte Richard Löwenherz mit respektvollem Nicken, das dieser steif erwiderte. Bei Christians Anblick lösten sich seine starren Gesichtsmuskeln sogar etwas zur Andeutung eines Lächelns.

Der ehemalige König von England war vor über hundert Jahren zum Vampir gewandelt worden. Christian musterte das Gesicht des Mannes eindringlich auf der Suche nach Anzeichen der Person, die er einmal gekannt hatte.

»Gefällt dir, was du siehst?«, fragte Löwenherz spöttisch, aber nicht ohne Sympathie.

Christian richtete sich auf und errötete. Er fühlte sich ertappt. Dass seine Begutachtung derart offensichtlich gewesen war, bereitete ihm sichtliches Unbehagen.

»Bitte verzeiht!«, entgegnete er und wandte sich der Frau zu, die den Ritter begleitete.

Als Christian Miriam zum letzten Mal gesehen hatte, war sie ein Kind von gerade acht oder neun Jahren gewesen. Die Tochter von Marian und Robin war mittlerweile zur Frau gereift, und zu einer wunderschönen noch dazu. Da sie die Pubertät hinter sich gebracht hatte, war sie nun auch ein voll ausgereifter Vampir, und das ebenfalls schon seit fast hundert Jahren. Außerdem war sie es gewesen, die Löwenherz erst angefallen und dann verwandelt hatte. Warum die beiden sich hier gemeinsam blicken ließen, ging über sein Begriffsvermögen. Er hätte angenommen, dass der König Miriam für deren Taten grollte.

Die junge Frau ließ die Begutachtung ungerührt über sich ergehen. Ihre Mundwinkel hoben sich leicht. »Es ist schön, dich zu sehen, Christian.«

Der Vampirtempler trat näher und setzte sich Miriam gegenüber. »Es … es ist auch schön, dich zu sehen«, entgegnete er in Ermangelung besserer Worte. Christian räusperte sich. »Was führt euch beide nach Metz?«

Miriams Lächeln wurde breiter. »Du«, antwortete sie fest.

Christian stutzte, fand keine Worte, um über seine Verlegenheit und Verwunderung hinwegzutäuschen.

Löwenherz legte seinen Mantel ab und setzte sich neben Miriam. Diese schwieg und überließ ihrem Begleiter das Reden. »Sie hat von dir geträumt«, begann er ohne Vorrede.

Auf diese Eröffnung wusste Christian noch weniger zu sagen als auf die kühle Begrüßung zuvor. »Wie darf ich denn das verstehen?«

Löwenherz deutete mit einem Kopfnicken auf die junge Frau neben ihm. »Miriam hat im Verlauf der letzten hundert Jahre beeindruckende Fähigkeiten entwickelt. Sie ist jetzt eine Seherin. Und eine äußerst mächtige noch dazu. Sie hat dich in ihren Träumen gesehen – vor einem brennenden Dorf.«

Christian schreckte auf. Falls überhaupt möglich, so erbleichte er noch mehr. Miriam musterte ihn ungerührt. Sie beugte sich vor und berührte ihn ganz leicht am Handrücken. »Du hast es auch gesehen, nicht wahr? Etwas kommt. Etwas Uraltes und unsagbar Böses ist dabei, seinen Weg zurück in diese Welt zu finden.« Ihre Hände schnellten vor und packten seine Handgelenke. Dieses zerbrechlich wirkende Geschöpf hielt sie wie in einem Schraubstock fest und der Tempelritter war nicht in der Lage, sich zu befreien.

»Du hast es gesehen«, drängte sie erneut, »nicht wahr? Sag es! Ich will es hören, Christian.«

»Ja«, presste er hervor. »Ja, ich habe es gesehen. Es sucht mich in meinen Träumen heim.«

Miriam ließ ihn endlich los und lehnte sich mit rätselhaftem Lächeln zurück. Christian widerstand nur mit Mühe dem Drang aufzuspringen. Er musterte die junge Frau ungläubig, während er seine schmerzenden Handgelenke massierte. Miriams Finger hatten deutliche Abdrücke hinterlassen, die nur langsam verschwanden.

Sowohl Richard Löwenherz als auch Karl beobachteten die Szene fasziniert. Der ehemalige englische König wirkte nicht überrascht, angesichts der Kraft, die die Seherin entwickeln konnte. Karl hingegen hatte die Augen weit aufgerissen. Er nahm nur zögernd die Hand vom Schwertgriff. Christians Freund sah verblüfft auf seine Finger hinab. Er wirkte wie jemand, der sich nicht erinnern konnte, überhaupt nach dem Schwert gegriffen zu haben.

Christian nahm seine Hände herunter und legte sie auf die Tischplatte vor sich ab. Er überlegte angestrengt und wählte seine nächsten Worte mit Bedacht.

»Wie können wir aufhalten, was auf uns zukommt?«

Mit einem Mal veränderte sich Miriams Mimik. Wo sie zuvor selbstsicher, ja beinahe überheblich gewirkt hatte, da machte ihr Gesichtsausdruck nun einen traurigen Eindruck.

»Vielleicht können wir das nicht«, gab sie freimütig zu. »Die Wolken des aufziehenden Sturms hängen bereits über unseren Köpfen. Donner und Blitz stehen kurz davor, sich zu entladen.«

»Du sprichst in Rätseln«, warf er ihr vor. »Sei endlich deutlich.«

Der Ausdruck ihrer Augen änderte sich abermals und sie blitzten Christian zornig entgegen. »Was kommt, wird kommen. Der Sturm baut sich bereits seit beträchtlicher Zeit auf. Ungestört. Unbemerkt. Ein Erfolg mag nicht darin bestehen, ihm entgegenzutreten und ihn zu besiegen – sondern unter Umständen lediglich darin, ihn zu überleben. Und auch die Möglichkeit hierfür sinkt von Tag zu Tag mehr.«

Christian zuckte zurück, als hätte Miriam ihn körperlich attackiert. »Was du sagst, kann unmöglich der Wahrheit entsprechen. Es gibt keinen Gegner, den man nicht besiegen kann.«

Miriam lächelte nachsichtig. »Das sagst du nur, weil du noch keinem Gegner begegnet bist, der nicht von deinem Schwert bezwungen werden konnte.« Ihre Augen blickten ihn eindringlich an. »Aber ich versichere dir, nicht jedes Übel kann von einer Klinge ausgemerzt werden. Mächtige Institutionen haben sich verbündet mit dem Ziel, die Deinen auszulöschen.«

Christian schluckte schwer. »Die Templer im Schatten?«

»Nicht nur die Templer im Schatten. Auch den Templerorden allgemein.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Du musst dich irren. Der Orden ist zu mächtig. Er hat viel zu viel Einfluss. Wer könnte sich mit ihm anlegen?«

»Jemand mit mehr Einfluss und Macht.«

Christians Gedanken überschlugen sich. Da gab es nicht viel. Die Könige und Herrscher Europas standen überwiegend bei den Templern in der Kreide. Die ehemaligen Elitekrieger der Kirche hatten sich innerhalb der letzten hundert Jahre zu den reichsten Geldverleihern der christlichen Welt entwickelt.

Es handelte sich nach Christians Dafürhalten nicht gerade um eine sinnvolle oder gar wünschenswerte Entwicklung von einem Orden, der gemeinhin als die armen Ritter bekannt war. Die Templer waren noch immer glänzende, herausragende Soldaten. Ihr Hauptaugenmerk lag nunmehr aber auf dem Anhäufen von Reichtümern und nicht mehr darin, Kirche und Menschen zu schützen. Zwischen den menschlichen Templern und ihrem vampirhaften Ableger bestand aus diesem Grund nicht mehr allzu viel Kontakt. Die Templer im Schatten betrachteten den anderen Orden als einen etwas auf Abwege geratenen Cousin.

Christian und Karl wechselten einen vielsagenden Blick. An dem Ausdruck in den Augen seines Freundes erkannte der Vampirtempler, dass sich der Verstand seines Gegenübers in ähnlichen Bahnen bewegte. Die Templer hatten sich viele Feinde geschaffen. Und manch ein europäischer Fürst wäre über deren Niedergang nicht wirklich betrübt. Im Gegenteil, das Ende des Templerordens würde für viele europäische Herrscher eine Menge Probleme lösen, wären sie doch mit einem Schlag all ihre Schulden los. Aber welcher unter ihnen wäre so vermessen, die Templer direkt angreifen zu wollen? Und wer hätte die Mittel dazu?

»Was willst du, das wir tun?«, forderte Christian erneut von Miriam zu wissen.

Abermals flammte dieses rätselhafte Lächeln im Gesicht der Seherin auf. »Reise nach Paris. Auf dem Weg dorthin wirst du dir diese Frage vielleicht selbst beantworten können.« Ihr Blick glitt zur Seite und fixierte Karl. Der zuckte unwillkürlich zusammen. »Und du reist nach Süden. Der Großmeister Jacques de Molay hält sich dort auf. Er muss gewarnt werden. Das wird deine Aufgabe sein.«

Karl nickte. »Wo finde ich ihn?«

»Das wird nicht schwer sein. Der Großmeister führt eine Kolonne Ordensritter über die Alpen von Italien zurück nach Frankreich. Ich bin sicher, du wirst ihn finden.«

»Und wenn er mir nicht glaubt?«, beharrte Karl. »Deine Warnungen sind ziemlich vage gehalten. Wir wissen immer noch nicht, wer unserem Orden dermaßen grollt, um uns alle über die Klinge springen zu lassen.«

In Miriams Augen spiegelten sich die Kerzenflammen wider, die unruhig auf dem Tisch vor ihr erzitterte. »Sorg dafür, dass er dir glaubt. Falls er nicht auf dich hört, wird Jacques de Molay brennen. Und viele Ordensritter werden ihm in diesen qualvollen Tod folgen.«

Kapitel 2

Chambry, nördlich von Meaux in der Champagne, war ein Dorf mit maximal dreihundert Einwohnern. Es war ideal, um auf Beutezug zu gehen. Die Ortschaft war groß genug, um etwas Nahrhaftes zu finden, aber zu klein, um tatsächlich ernsthaften Widerstand erwarten zu müssen.

Jeanne öffnete ihren Mund und bleckte ihre Reißzähne, als ihr der Duft frischen Blutes in die Nase stieg. Ihre Zunge spielte mit den Umrissen ihrer spitzen Eckzähne. Sie bezwang ihre Ungeduld. Bald, sehr bald würde der lebensspendende rote Saft ihre Kehle herunterfließen. Es war schon viel zu lange her.

Auf die Jagd zu gehen, wurde immer gefährlicher. Die Menschen rotteten sich des Nachts zusammen. Bewaffnete Gruppen gingen auf Patrouille. Sie streiften durch die Straßen und töteten ohne Vorwarnung. Die Menschen waren sich mittlerweile der Existenz von Vampiren wohlbewusst. Und auch wenn viele Mythen über die Blutsauger im Umlauf waren, die ihre Fähigkeiten weit überspitzt darstellten, so waren die Menschen dennoch bereit, sich dieser Bedrohung zu stellen.

Die Menschen verloren ihre Angst vor der Nacht und damit auch vor den Kreaturen, die sich dort tummelten. Jeanne stieß ein kurzes Zischen aus. Die verhassten Templer im Schatten waren an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Sie brachten den Menschen bei, wie sie sich gegen die Wesen der Nacht verteidigen konnten, was vor allem unter Vampiren zu hohen Verlusten geführt hatte.

Jeanne wusste von sieben Nestern, die allein diesen Monat ausgeräuchert worden waren. Nur drei davon waren den Templern im Schatten zum Opfer gefallen. Der Rest war von ganz normalen Menschen niedergebrannt worden.

Jeanne schüttelte den Kopf. Sie musste sich voll und ganz auf diesen Raubzug konzentrieren, sonst würde ihr Clan abermals hungrig zu Bett gehen.

Sie hob den Kopf und schnupperte. Der betörende Duft menschlichen Blutes lag überall in der Luft, wurde nur hin und wieder überdeckt von dem Geruch nicht ganz so gehaltvollen Blutes von Vieh und Haustieren. Sie rümpfte die Nase. Die Verführung war groß, einfach loszustürmen und ihre Hauer in den Hals eines unschuldigen Opfers zu schlagen. Aber sie hielt sich zurück. Sie waren nicht auf der Jagd nach menschlicher Beute. Das war viel zu gefährlich geworden. Sie hatten es auf die Tiere des Dorfes abgesehen, vor allem Kühe und Pferde standen mittlerweile auf dem Speiseplan.

Mit einem wortlosen Wink gab sie zweien ihrer Begleiter zu verstehen, sich von der Seite zu nähern und alles genau zu beobachten. Jeanne hatte keine große Lust, ihre Existenz auf dem spitzen Ende eines Spießes zu beschließen. Sie mussten sehr umsichtig vorgehen.

Das Vieh wurde unruhig, je näher die Vampire kamen. Kühe und Schafe blökten immer lauter. Die Furcht packte sie. Sie wussten, was kommen würde, auch wenn dies auf die Menschen noch nicht zutraf.

Jeanne warf einen Blick zum nächtlichen Himmel. Keine Sterne standen am Firmament. Sie lächelte erfreut. Sehr gut. Bis auf wenige Lichtquellen innerhalb der Ortschaft war es eine tiefdunkle Umgebung. Perfektes Jagdwetter.

Jeanne setzte sich in Bewegung. Der Schrei einer Frau zerriss die Stille. Sie hielt unwillkürlich inne und drückte sich zurück in die Schatten. Die Anführerin der Vampire bedeutete den Mitgliedern ihres Nests, es ihr gleichzutun.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Was war geschehen? Hatte einer der Ihren sich nicht länger beherrschen können und eine der hiesigen Frauen gerissen? Möglich wäre es in der Tat. Aber falls dies zutraf, würde sie demjenigen die Hammelbeine langziehen.

Sie runzelte die Stirn. Es war allerdings auch denkbar, dass der Schrei gar nichts mit der Anwesenheit der Vampire zu tun hatte. Ein unglücklicher Zufall möglicherweise.

Weitere Schreie durchdrangen die Nacht, gleichermaßen von Männern wie Frauen und Kindern. Menschen eilten aus ihren Häusern, teilweise nur leicht bekleidet, schon für die Nachtruhe vorbereitet, aber alle bewaffnet. Äxte, Sicheln, Dreschflegel und vereinzelt sogar Schwerter kamen zum Vorschein.

Die kleine Ortschaft schien überaus wehrhaft. Etwas, das Jeanne nicht vorhergesehen hatte. Es half den Menschen aber nicht bei dem Grauen, das über sie kam.

Eine Gestalt sprang mit einem Mal auf die Straße, schnappte sich einen Menschen und zerrte diesen in die Nacht davon. Es geschah dermaßen schnell, dass der ganze Vorgang nur als unscharfer, undeutlicher Umriss zu erkennen war, bevor bereits Todesschreie durch die Nacht hallten. Das Schwert mit der schartigen Klinge, das der Mensch geführt hatte, lag dort, wo dieser ergriffen worden war. Es hatte ihm nicht das Geringste genutzt.

Selbst Jeanne mit ihren gesteigerten Sinneswahrnehmungen hatte den tödlichen Angreifer nicht erkennen können. Zu plötzlich war die Attacke erfolgt. Von nun an ging alles rasend schnell. Weitere Gestalten sprangen unter die völlig verdutzten Menschen. Die Bewohner der kleinen Gemeinde wurden in die Nacht hinaus und einem schrecklichen Tod entgegen gezerrt. Bald schon brach Panik unter der Bevölkerung aus. Die Menschen liefen durcheinander, Frauen packten ihre Kinder und rannten um ihr Leben, in dem Bemühen, wenigstens den Jüngsten das Grauen zu ersparen.

Nur wenige Männer entschieden sich zum Kämpfen. Sie schwangen ihre Äxte und Dreschflegel gegen einen Feind, den sie kaum vernünftig wahrnehmen konnten. Der Widerstand war von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Einer der Männer stand breitbeinig auf der Straße, den Schwertgriff mit beiden Händen gepackt. Er wandte sich in alle Richtungen, bereit, sein Leben so teuer wie nur irgend möglich zu verkaufen. Jeanne beobachtete ihn für eine Sekunde und fragte sich in dieser Zeit, ob das Verhalten des Mannes auf Mut oder Verzweiflung beruhen mochte. Sie registrierte den Schweißgeruch, der von ihm ausging. Und noch etwas anderes: einen stark säuerlichen Gestank, der sie anwiderte. Der Kerl hatte sich eingenässt.

Jeanne nickte. Verzweiflung, entschied sie schließlich und wollte sich bereits abwenden. Einer der schemenhaften Angreifer stürzte sich auf den jungen Mann und schlug mit einer Pranke zu, die dessen Kopf fast von den Schultern riss. Der Mensch fiel zur Seite, das Schwert immer noch fest mit beiden Händen gepackt.

Jeanne merkte auf. Der Angreifer blieb an Ort und Stelle stehen, sah sich um, als würde er das Gemetzel genießen. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie ein solches Wesen gesehen. Es war annähernd zwei Meter groß und von menschlicher Gestalt.

Damit endeten die Ähnlichkeiten aber auch schon. Die Kreatur hatte rings um ihren haarlosen Kopf mehrere Hörner. Aus dem Gesicht blitzten gelbe Augen, wie sie bösartiger und grausamer nicht sein konnten. Die Haut wies Risse und Unebenheiten auf. Die Risse glühten rot, als würde es sich um Ströme von Lava handeln. Der Mund dieser Kreatur verzog sich höhnisch, angesichts des menschlichen Blutes, das in jener Nacht vergossen wurde. Nein, diese Kreatur kannte keinerlei Mitleid. Das wurde ihr schlagartig klar.

Hätte Jeanne noch so etwas wie einen Herzschlag besessen, er hätte ihr wohl bis zum Hals geklopft. Langsam und unendlich vorsichtig zogen sich ihre Gefährten und sie zurück. Mit diesem Wesen und seinen Artgenossen wollten sie nichts zu tun haben. Besser einer Konfrontation aus dem Weg gehen.

Jeanne war überzeugt, sie hätten kein Geräusch verursacht. Doch das Wesen wirbelte auf dem Absatz herum. Seine Augen durchdrangen mühelos die Nacht. Vor diesem Widersacher konnte es keine Geheimnisse geben. Er sah Jeanne direkt an. Für einen winzigen Augenblick blieb die Zeit stehen.

Ihre Blicke kreuzten sich. Der Mund des Wesens öffnete sich und Jeanne bemerkte die spitz zulaufenden Eckzähne, von denen noch das menschliche Blut tropfte.

Sie riss die Augen auf. Es handelte sich um einen Vampir – aber keinen, wie sie jemals zuvor einen erblickt hatte. Und nur ein einziges Wort flammte unvermittelt in ihrem Geist auf. »Lauft!«, wies sie ihre Begleiter an. »Lauft!«, schrie sie lauter und wandte sich panisch zur Flucht.

Jeanne konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt sie solche tiefgreifende, fast urtümliche Angst verspürt hatte. Sie wollte nur noch weg von hier. Weg von diesem Ort, der selbst für Vampire ein Hort des Grauens darstellte.

Das Wesen stieß einen spitzen Schrei aus. Im selben Moment erkannte sie, dass es sich um einen Jagdruf handeln musste. Mehrere Artgenossen des ungewöhnlichen Vampirs setzten sich auf ihre Fährte. Sie konnte sie nicht sehen, wohl aber spüren. Wie eine Meute Jagdhunde hetzten sie ihre Beute zu Tode. Hinter ihr erklang ein Schrei, als Baptiste geholt wurde. Kurz danach erwischte es Isabella und Lucas. Als Nächstes wurden Emma, Hugo und Thomas geholt. Und plötzlich war Jeanne allein. Sie rannte einfach nur noch, wollte um jeden Preis überleben.

Eine düstere Gestalt wuchs direkt vor ihr aus dem Boden. Ein Schlag traf sie ins Gesicht und schickte die Vampirfrau zu Boden. Ihr Blick hob sich. Der Tod ragte über ihr auf. Mit den zu Krallen geformten Fingernägeln der rechten Hand schlug sie rein instinktiv zu. Wäre sie sich bewusst gewesen, was sie tat, sie hätte es sich unter Umständen noch einmal überlegt.

Der Schlag traf die Kreatur im Gesicht und riss es zur Seite. Auf der linken Wange ihres Gegenübers prangten fünf Striemen, durch die Blut quoll, so schwarz wie die Hölle selbst.

Der Blick ihres Gegenübers richtete sich abermals auf sie. In seinen Augen war jedoch nicht der Hauch von Schmerz oder gar Zorn zu sehen. Er bedachte sie mit Spott. Der Kerl machte sich über sie lustig. Seine Hand hob sich. Er wischte sich das Blut ab und leckte anschließend an seinen Fingern. Der Vampir bedachte Jeanne mit einem langen Blick und sie erkannte, dass in diesem Moment über ihr Leben oder ihren Tod entschieden wurde. Jede Faser ihres Körpers erzitterte. Falls das Urteil auf Tod lautete, so hatte sie keine Chance gegen diesen Gegner. Plötzlich richtete sich der Vampir auf, sprang über sie hinweg und verschwand in der Nacht. Er krümmte ihr dabei kein einziges Haar.

Jeanne, immer noch auf dem Boden liegend, rollte sich in Fötushaltung zusammen und weinte bitterlich. Sie wusste nicht, wie lange sie auf diese Weise dalag. Aber an eines erinnerte sie sich später: Nur eine einzige Frage erfüllte ihr bewusstes Denken. Warum hatte sie überlebt, wo so viele andere den Tod gefunden hatten?

In der Nacht nach Löwenherz’ und Miriams Ankunft sattelte Christian sein Pferd, sehr zu Karls Verdruss. Der ehemalige Johanniter beobachtete seinen Templerfreund mit angespanntem Gesichtsausdruck.

Christian hielt es schließlich nicht länger aus und wandte sich dem Mann zu. »Willst du mir was sagen?«

»Das ist eine wirklich, wirklich schlechte Idee.«

Christian lächelte. »Ist das alles? Das sagst du schon die ganze Zeit.«

»Es ist eben auch meine Meinung«, hielt Karl dagegen. »Du solltest nicht allein gehen. Das ist viel zu gefährlich.«

Christian sah sich um. Der kleine Kapitelsaal der Templer im Schatten befand sich auf einer Anhöhe, von der man aus die Stadt Metz gut überblicken konnte. Die Bevölkerung hatte sich zur Ruhe begeben. Nur die örtlichen Wachen patrouillierten durch die Straßen, wenn man einmal von dem obligatorischen Diebesgesindel, den Bettlern und den Dirnen absah.

Er wandte sich erneut um. »Das haben wir doch schon alles durch, mein Freund. Allein zu reisen, wird viel weniger Aufmerksamkeit auf mich ziehen als in einer größeren Truppe.«

»Dann nimm wenigstens Hendrick mit.« Der Ritter aus Flandern hatte sich mittlerweile zu einem unverzichtbaren Mitglied des Ordens entwickelt. Nach Christian und Karl stellte Hendrick de Videre die Nummer drei der Vampirtempler dar.

Christian schüttelte den Kopf. »Hendrick brauche ich hier. Er muss die Dinge im Auge behalten.«

Karl trat näher. »Was denn für Dinge?« Der Ritter verschränkte die Arme vor der Brust. »Es gibt für uns immer weniger zu tun. Wann haben wir das letzte Mal ein Vampirnest ausgehoben? Meines Wissens ist das schon Wochen her. Es gibt immer weniger von unserer Art dort draußen – und das ist auch gut so.« Karl trat einen weiteren Schritt näher. »Es ist fast so, als …« Er ließ den Satz vielsagend ausklingen.

»… als ob unsere Arbeit getan ist?«, half Christian aus.

Karl zögerte, bestätigte dann aber die Aussage seines Freundes, indem er den Kopf leicht zur Seite neigte. »Hältst du es für möglich, dass wir die Vampirseuche nahezu ausgeräuchert haben?«

Christian hielt damit inne, das Pferd auf die bevorstehende Reise vorzubereiten, und dachte angestrengt über die Worte seines Gesprächspartners nach. »Ich bete darum.« Er seufzte. »Falls wir tatsächlich dabei sind, die Vampire auszurotten, dann hat sich damit auch der Daseinszweck der Templer im Schatten erledigt.«

Karl runzelte die Stirn. »Du redest davon, den Orden aufzulösen?«

Christian nickte wortlos und wartete ab, was für eine Meinung sein alter Freund und Weggefährte dazu hatte. Dieser schien sich im Zwiespalt zu befinden. »Das ist ein gefährlicher Pfad, auf den du uns führen willst.«

Christian bedachte seinen Freund mit einem mitfühlenden Blick. »Ungewöhnlich vielleicht, aber gefährlich sicher nicht. Wir haben den Orden damals aus der Taufe gehoben, um die Vampirseuche einzudämmen. Leben zu schützen, das war unser Kredo. Es sieht danach aus, als ob wir diese heilige Aufgabe erfüllt haben. Die Vampire sind nicht mehr.«

»Von uns abgesehen.«

Christian neigte bestätigend den Kopf. »In der Tat. Aber ich traue unseren Leuten zu, sich zu beherrschen. Immerhin haben sie dies in den letzten hundert Jahren immer und immer wieder unter Beweis gestellt. Sollten die Vampire tatsächlich ausgemerzt sein, dann ziehen wir uns einfach zurück. In die dunklen Nischen der Geschichte. Man wird uns vergessen. Bis wir eingehen in das Reich von Mythen und Legenden.«

»Deine Worte gefallen mir ehrlich gesagt gar nicht. Und deine Stimmung auch nicht.«

Christian zuckte mit den Achseln. Er überlegte, inwiefern er seine wahren Gedanken offenbaren durfte. Schließlich stieß er einen Schwall Luft aus. »Ich bin müde, Karl. Unendlich müde. Ich würde es begrüßen, wenn unsere Arbeit getan ist. Dann könnte ich mich zurückziehen und mein Leben in Einsamkeit verbringen. Der Welt bin ich überdrüssig geworden. Wäre ich noch ein Mensch, wäre ich längst tot und zu Staub zerfallen. Vielleicht wäre dies das gerechte Schicksal für mich.« Er sah auf. »Für uns alle.«

Karl verzog schmerzhaft berührt die Miene. »Selbstmord ist eine Todsünde, falls deine Worte darauf abzielen.«

»Aber gilt das auch für jemanden, der bereits tot ist?«

Dieses Argument brachte Karl für einen Moment zum Schweigen. »Du willst wirklich, dass es vorbei ist? Endgültig?«

»Ich bin mir nicht sicher. Es wäre gelogen, würde ich behaupten, der Gedanke wäre mir in den letzten Jahren nicht mehrfach gekommen. Falls es uns tatsächlich gelingt, die Vampire auszurotten, wäre das unter Umständen der geeignete Moment.«

»Wir könnten immer noch viel Gutes tun«, gab Karl zu bedenken. »Unser Orden ist die stärkste militärische Macht Europas. Wir könnten Stabilität bringen, wo bislang Chaos herrscht.«

Christian wirbelte zu ihm herum. »Unsere Krieger dürfen niemals – niemals! – gegen Menschen eingesetzt werden. Unter keinen Umständen! Das werde ich nicht zulassen.«

»Es gibt auch unter den Menschen dunkle Kräfte, die man aufhalten muss.«

»Und wer entscheidet, welche Seite böse und welche gut ist? Was, wenn wir versehentlich die falsche Seite wählen?« Christian schüttelte den Kopf. »Nein, das Risiko ist zu groß, dass wir damit noch mehr Unheil säen, als ohnehin schon vorhanden ist.«

Karl seufzte. »Wie du meinst«, erwiderte er wenig überzeugt. »Welchen Weg wirst du nach Paris nehmen?«

»Über Verdun und Reims. In beiden Städten kann ich in unseren Kapitelsälen unterkommen und abwarten, bis die Nacht hereinbricht. Bei Tageslicht zu reisen, möchte ich tunlichst vermeiden.« Er sah sich halb über die Schulter um. »Wann brichst du auf?«

»Morgen Nacht«, gab Karl zurück. »Ich habe vorher noch ein paar Dinge zu erledigen. Aber das wird kein Problem sein. Ich werde de Molay vermutlich noch auf einem der Gebirgspässe abfangen können.«

Christian nickte, drehte sich ein letztes Mal um und die beiden Freunde umarmten sich herzlich. Die Vampirtempler hielten sich für einen Moment an den Unterarmen fest. Christian musterte seinen alten Freund eingehend. »Wir sehen uns bald wieder. Und wenn es Gott gefällt, dann entpuppen sich Miriams Weissagungen als nichts weiter denn heiße Luft.«

Karl nickte mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht. Doch an dessen Augen bemerkte Christian, dass der Ritter ihm kein Wort glaubte. Miriams Bilder deckten sich zu genau mit seinen Albträumen. Etwas war dabei, sich emporzuschwingen. Es war wie ein dunkler Fluch, der sich unbemerkt und unaufhaltsam über Europa legen wollte.

Christian packte die Zügel seines Pferdes und schwang sich ohne Hilfe der Steigbügel in den Sattel. Trotz des beträchtlichen Gewichts seiner Rüstung. Selbst für einen Vampir stellte dies keine geringe Leistung dar.

Zum Abschied hob er die Hand. »Viel Glück, Karl! Möge Gott mit dir sein!« Er gab dem Tier die Sporen und das Schlachtross galoppierte davon, eine dicke Staubwolke hinter sich produzierend.

Karl sah seinem Freund hinterher, bis dieser am Horizont verschwunden war. Der ehemalige Johanniter registrierte, wie hinter ihm jemand aus dem Gebäude trat. Dem Geruch nach handelte es sich um Richard Löwenherz. Der vormalige König von England gesellte sich zu ihm. Eine Weile standen sie einfach nur schweigend beieinander und genossen die Nachtluft.

»Du hast ihn gehört?«, versetzte Karl schließlich, ohne sich zu seinem Begleiter umzudrehen.

Löwenherz nickte. »Ich habe eure ganze Unterhaltung mit angehört«, versetzte dieser verschmitzt. »Auch wenn es meiner guten Kinderstube widerspricht zu lauschen.«

»Was denkst du über seine Worte?«

Löwenherz dachte kurz nach. Er senkte den Kopf und strich sich über das bärtige Kinn. »Christian ist ein kluger Kopf. Es zeugt von Weisheit, die Templer im Schatten nicht gegen Menschen einsetzen zu wollen. Es würde mehr schaden als nutzen – sowohl Europa als auch dem Orden.«

Nun wandte sich Karl ihm doch zu. Er musterte Löwenherz mit hochgezogenen Augenbrauen. »Und was meinst du zu seinem anderen Vorhaben?«

Löwenherz machte eine verkniffene Miene. Dunkle Wolken schienen ihn zu umgeben, als er antwortete: »Christian ist kriegsmüde. Derartiges habe ich schon oft erlebt, sowohl als ich noch ein Mensch war als auch danach. Diese Wirkung hat der Krieg auf manche. Einige gewöhnen sich an ihn, gewöhnen sich an das Gemetzel. Anderen wird er zuwider und dann schleichen sich Gedanken an, die man nicht haben sollte.«

»Was rätst du mir?«

Löwenherz schüttelte den Kopf. »Ich kann dir keinen Rat geben, der dich befriedigen würde. Du bist Christians Freund, nicht sein Kindermädchen. Im Endeffekt muss er seinen Weg selbst wählen. Und niemand kann für ihn entscheiden. Wählt er das Leben? Den Tod? Es obliegt ihm allein.« Der ehemalige König schüttelte den Kopf. »Aber ich denke, er wird das Leben wählen.«

»Was macht dich dessen so sicher?«

»Christian ist ein zu vernünftiger Mensch, um den anderen Weg wirklich gehen zu wollen. Aus ihm spricht lediglich die Erschöpfung. Der eigenen Existenz ein Ende setzen zu wollen, das ist ein Pfad für Feiglinge. Es ist der leichte Ausweg, damit man sich seinen eigenen Dämonen nicht mehr stellen muss. Und eines ist Christian ganz sicher nicht: ein Feigling.«

Karl schwieg eine ganze Weile. Er war sich bewusst, dass Löwenherz ihn dabei ohne erkennbare Gefühlsregung beobachtete. Schließlich ergriff der hochgewachsene Engländer erneut das Wort: »Warum stellst du mir nicht die Frage, die dich wirklich bewegt?«

Karl schluckte. »Glaubst du, er hat wirklich vor, den Orden aufzulösen?«

»Das also bereitet dir Sorgen.«

Karl nickte. »Der Orden war seit Jerusalem für mich Heimat und Familie. Ich wüsste gar nicht, wohin ich gehen sollte, wenn es die Templer im Schatten wirklich nicht länger geben würde.«

Löwenherz lachte kurz und bellend auf. »Darüber würde ich mir den Kopf nicht zerbrechen.« Er klopfte Karl kameradschaftlich auf die Schulter und kehrte ins Haus zurück. Kurz bevor sich die Tür schloss, hörte Karl Löwenherz’ letzte Worte an ihn und diese sandten einen Schauder der Furcht über seinen Rücken. »Falls Miriam recht hat mit dem, was da auf uns zukommt, können wir uns glücklich schätzen, wenn wenigstens ein paar von uns mit dem Leben davonkommen. Sie träumt nämlich ständig von der Zerstörung der Templer im Schatten. Und ich habe noch nie erlebt, dass sie sich irrt.«