»Hast du heute viel zu tun, mein Schatz?« Isak beugte sich zu ihr hinunter, küsste sie zärtlich auf den Nacken, berührte wie beiläufig die Stelle links von ihrer Wirbelsäule, an der sie empfindlich war und ihr Körper sofort reagierte. Sie schloss die Augen einen Moment, genoss den Duft ihres Mannes, eine Mischung aus Moschus und seinem Duschgel, das nach Meeresalgen roch. Sie öffnete die Lider, sah ihn an. »Tut mir leid wegen gestern Abend. Ich weiß auch nicht, was mit mir los war. Aber wenn du willst, könnte ich mir jetzt ein wenig Zeit nehmen«, schnurrte sie wohl wissend, dass Isak in weniger als einer Stunde in der Schule sein musste, wo er als Grundschullehrer unzähligen Kindern dabei half, einen guten Start in ihre Schulzeit hinzulegen, während sie ihrer Arbeit als freie Online-Redakteurin für ein Werbemagazin zumeist vom Homeoffice aus nachgehen durfte.
Sie sah zu ihm auf, ließ sich bereitwillig ein weiteres Mal küssen – diesmal auf den Mund –, bevor Isak sich auf den Weg in den Flur machte, in Mantel und Schuhe schlüpfte und zur Arbeit verschwand.
Als sie schließlich allein im Haus war, die Stille sich beinahe drückend anfühlte, glitt ihr Blick wie von selbst vom Bildschirm ihres Laptops weg auf den Kalender an der Wand. Sie spürte, wie sich ihr Innerstes verkrampfte. In weniger als einer Woche war es wieder so weit. Dann würde sich herausstellen, ob sie diesmal Glück gehabt hatten und es für Isak und sie einen Grund zum Feiern gab.
Es grenzte schon fast an Ironie, dass ihrem gutaussehenden Ehemann, dem beliebtesten Lehrer der Schule, das Vaterwerden bislang verwehrt geblieben war.
Nicht, dass es an ihm liegen würde. Bei Isak war gesundheitlich alles im grünen Bereich, wie die zahlreichen Tests, denen er sich ihr zuliebe unterzogen hatte, bestätigten.
Das Problem lag viel mehr bei ihr selbst, doch waren die Spezialisten sich bisher nicht sicher, ob es nicht doch eine hormonelle Ursache gab oder ob der psychische Druck, unter dem sie wegen ihres bisher unerfüllten Kinderwunsches stand, dafür verantwortlich war, dass sie einfach nicht schwanger wurde. Vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet, da waren sich die Ärzte einig, war bei ihr alles in Ordnung. Sie hatte weder eine Endometriose oder Myome, noch verklebte Eileiter und auch um ihren Hormonhaushalt war alles bestens bestellt.
Also blieb am Ende nur die Psyche übrig, wie Isak ihr schonend beizubringen versucht hatte. Oder die Tatsache, dass sie seit mehr als zehn Jahren auf starke Schmerzmittel angewiesen war und diese sich negativ auf eine Empfängnis auswirkten. Frida seufzte. Seit ihrem 15. Lebensjahr litt sie unter heftigsten Migräneattacken, die oftmals so schlimm waren, dass sie nicht arbeiten konnte. Ursache ihres langjährigen Schmerzmartyriums war der Unfalltod ihrer Eltern, den sie bis heute nicht verwunden hatte.
Am Tag ihrer Hochzeit vor sechs Jahren hatte sie sich so mies und elend gefühlt wie lange zuvor nicht mehr, was vor allem daran lag, dass sie sich für diesen so wichtigen Tag ihres Lebens gewünscht hätte, dass ihr Vater sie zum Altar begleitete. Stattdessen hatte diese Aufgabe ihr Schwiegervater übernommen, den sie zwar sehr mochte, der nun mal aber nicht ihr leiblicher Vater war.
Um genau zu sein, gab es von ihrer Familie niemanden mehr, den zu besuchen oder überhaupt Kontakt zu halten auch nur ansatzweise Sinn ergeben hätte. Eine entfernte Cousine ihrer Mutter lebte in Deutschland, eine weitere in den USA, doch keine von beiden hatte Frida in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen.
Deswegen beschränkte sich ihre Familie auf Isak und seine Eltern, was zwar nett war, jedoch hin und wieder dafür sorgte, dass sie sich einsam fühlte, allein gelassen.
Denn so nett Isaks Mutter auch war, fühlte Frida zu ihr bei Weitem nicht dasselbe wie für ihre verstorbene Mutter, der sie alles hatte anvertrauen können. Sie erinnerte sich gern an ihre Kindheit in Kråkmo. An das kleine Häuschen am Fuße des Kråkmotinden, eines 916 Meter hohen Berges, von dessen Gipfel man eine atemberaubende Sicht auf das Tal und den Kråkmovatnet – einen kristallklaren See – genießen konnte. Als Kind war Frida oft mit ihren Eltern zum Baden an den See gegangen. Mutter und sie hatten es sich auf einer Decke beim Picknick gemütlich gemacht, während Vater sich um das Abendessen gekümmert und geangelt hatte.
Es war eine schöne Zeit gewesen, doch die Erinnerung daran schmerzte, weil sie wusste, dass diese Zeiten unwiederbringlich vorbei waren, niemand ihr ihre Eltern zurückbringen konnte.
Frida zwang sich, an etwas anderes zu denken, als das Telefon klingelte. Sie warf einen Blick auf das Display und augenblicklich spürte sie, wie ein warmes Gefühl sie durchströmte. Sie hob den Hörer von der Station und lächelte beim Klang der Stimme ihrer besten Freundin. Tuva und sie hatten sich vor knapp sieben Jahren durch ihre Männer kennengelernt und waren seither nahezu unzertrennlich. Ihre Freundschaft war von Anfang an etwas ganz Besonderes gewesen. Zwischen ihnen gab es keinerlei Geheimnisse. Sie waren wie Schwestern, Seelenverwandte im Grunde, konnten einander alles anvertrauen und sei es noch so intim. Vor Tuva empfand Frida weder Scham noch Zurückhaltung, deswegen war sie die Einzige, der sie bisher anvertraut hatte, dass sie sich in die Hände einer sündteuren Fruchtbarkeitsklinik begeben hatte, in der Hoffnung, endlich schwanger zu werden. Tuva, die mit Herz und Seele in ihrer Mutterrolle aufging und Aurora vergötterte, verstand Fridas Schmerz, der mit jedem Einsetzen der monatlichen Periode einherging, weil dies bedeutete, dass sie wieder wochenlang umsonst gehofft und gezittert hatte. Tuva war es, die sie immer wieder aufrichtete und tröstete, ihr sagte, dass sie niemals aufgeben solle. Genau wie Aksel, ihr Mann, den Frida ebenfalls auf Anhieb in ihr Herz geschlossen hatte. Sie waren ein lustiges Vierergespann und es tat Frida und auch Isak gut, Zeit mit Tuva und Aksel zu verbringen. Sie verbrachten gelegentlich sogar ihre Jahresurlaube miteinander. Erst letzten Sommer waren sie zusammen in Italien gewesen, hatten sich die Sonne auf die Bäuche scheinen lassen und jeden Abend Pizza und Pasta gegessen und viel zu viel Rotwein getrunken, bis sie schließlich angesäuselt in ihre Betten gefallen waren. Sie trafen sich auch an so vielen Wochenenden im Monat wie möglich, kochten gemeinsam, aßen miteinander, saßen anschließend bis spät in die Nacht beisammen, quatschten über Gott und die Welt. Im Laufe der Jahre waren Tuva und ihr Mann zu so etwas wie Fridas zweite Familie geworden und seit Aurora – Tuvas und Aksels kleine Tochter – auf der Welt war, hatte sich das Band zwischen ihnen nur noch mehr verfestigt. Es war auch nicht so, dass Frida, weil sie selbst bislang nicht hatte Mutter werden können, ihrer Freundin dieses Glück missgönnte. Stattdessen hatte sie es von Anfang an genossen, Tuva bei der Herausforderung um ihr erstes Kind unter die Arme zu greifen, ihr zu helfen, dabei war ihr das kleine Mädchen mehr und mehr ans Herz gewachsen.
Es erfüllte Frida heute noch mit Freude und Dankbarkeit, dabei gewesen zu sein, als Aurora ihre ersten Schritte gemacht und die ersten Worte gesprochen hatte. Jetzt war die Kleine vier Jahre alt und ein stolzes Kindergartenkind, wie sie ihr immer und immer wieder voller Freude mitteilte, wann immer sie einander sahen.
Eine Weile lauschte Frida dem Geplapper ihrer Freundin, bis ihr auffiel, dass deren Stimme seltsam abgehackt und heiser klang.
»Was ist mit dir?«, fragte sie besorgt und sog die Luft ein. Tuva war vor etwas mehr als einem Monat in einen Unfall verwickelt worden, bei dem sie sich eine schwere Gehirnerschütterung und einen mehrfach gebrochenen Unterschenkel zugezogen hatte. Seither hatte sie damit zu kämpfen, ihr Familienleben trotz eines bis zum Knie eingegipsten Beines in den Griff zu bekommen.
»Ach, es ist schon okay«, wehrte Tuva ab, doch Frida wusste, dass dem nicht so war.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte sie, jetzt vehementer, ihr Ton ließ durchblicken, dass sie eine weitere Beschwichtigung nicht akzeptieren würde. Schließlich gab die Freundin nach, seufzte tief. »Aksel muss heute länger arbeiten, weil ein paar seiner Kollegen krank sind. Er hatte Aurora versprochen, mit ihr nach dem Kindergarten noch auf den Spielplatz zu gehen, damit sie ein wenig schaukeln kann.«
Frida lächelte. Jetzt wurde ihr klar, worum die Freundin sie bitten wollte, es aber nicht fertigbrachte, weil sie wusste, dass sie momentan viel zu viel Arbeit hatte. »Das geht in Ordnung«, sagte sie daher, ohne zu zögern, denn wenn sie sich jetzt bis zum frühen Nachmittag gehörig ins Zeug legte, wäre sie locker mit der Arbeit fertig, ehe sie die Kleine der Freundin aus der Tagesstätte abholen musste. Danach noch ein wenig mit ihr auf den Spielplatz bei der Aussichtsplattform zu fahren, käme ihr sogar mehr als gelegen, weil es ihr nach einem Tag ausgefüllt mit etlichen zu schreibenden Werbetexten sicher guttäte, ein bisschen an die frische Luft zu kommen. »Es ist absolut in Ordnung«, sagte sie daher noch einmal. »Ich hole Aurora ab und danach lassen wir uns noch ein bisschen frische Luft um die Nase pusten.«
Sie spürte, dass Tuvas Anspannung nachzulassen schien, und freute sich, der Freundin hatte helfen und ein wenig von dem zurückgeben zu können, was diese in letzter Zeit für sie getan hatte.
»Wann soll ich dir Aurora spätestens zurückbringen?«
Tuva am anderen Ende schluckte. »So gegen fünf Uhr? Und ich wäre dir dankbar, wenn du sie anschließend noch ein bisschen beschäftigen könntest, das ist mit Krücken nämlich eine ziemliche Herausforderung. Normalerweise ist Aksel dafür zuständig, bis ich wieder ganz fit bin«, erklärte sie.
»Geht klar«, gab Frida zurück. »Ich bringe sie um fünf Uhr und spiele noch mit ihr, bis Aksel kommt. Am besten machen wir jetzt Schluss, damit ich mein Zeug noch geschrieben bekomme, bis ich Aurora abhole.«
»Und was ist mit Isak? Wird es ihm nicht langsam zu viel, dass du so viel bei mir rumhängst?«
Frida schmunzelte und schüttelte den Kopf. Dann wurde ihr klar, dass Tuva das nicht sehen konnte. »Quatsch«, sagte sie schnell. »Isak weiß doch, dass du für mich dasselbe tun würdest, ginge es mir momentan so schlecht. Und außerdem? Wozu sind Freunde da, wenn nicht, um einander in brenzligen Situationen aus der Patsche zu helfen?«
Als sie ihren Wagen um halb sechs, statt fünf Uhr vorm Haus der Freundin parkte, wusste sie, dass Tuva ihr die halbstündige Verspätung nicht übel nehmen würde. »Heute waren eine Menge Kinder da«, sagte sie daher nur, als die Freundin ihr mit Krücken und schmerzverzerrtem Gesicht die Tür öffnete. »Du legst dich gleich wieder zurück aufs Sofa und ich kümmere mich um die Kleine. Wenn du willst, kann ich euch anschließend eine Kleinigkeit zum Abendessen vorbereiten. Aksel hat sicher Hunger, wenn er von der Arbeit kommt.«
Tuva schüttelte abwehrend den Kopf. »Du hast mir schon genug geholfen. Ich hab ihn vorhin angerufen und gesagt, dass er was zu essen besorgen soll, bevor er heimkommt. Ich schätze, dass er beim Italiener halten wird und uns heute Abend mit einer riesigen Pizza beglückt.« Sie schmunzelte, gab ihrer Tochter ein dickes Küsschen auf die Wange, verzog wieder das Gesicht.
»Dein Bein?«, wollte Frida wissen.
Tuva verneinte. »Meinem Bein geht es super, solange ich es nur schone. Mein Rücken ist es, der mich umbringt. Bestimmt hab ich mir durch das Laufen mit den Krücken einen Nerv im Rücken eingeklemmt. Wenn das bis zum Ende der Woche nicht besser wird, bleibt mir nichts anderes übrig, als zum Orthopäden zu gehen, um mir die berühmte Pferdespritze abzuholen.«
Frida starrte die Freundin erschrocken an. »Was soll das denn bedeuten?«
Tuva lachte, als sie Fridas Gesichtsausdruck bemerkte.
»Die ist längst nicht so schlimm, wie ihr Name uns glauben lassen will. Aksel nennt sie so, weil er Spritzen nicht ausstehen kann und wegen seines Bandscheibenvorfalls schon ein paar Mal das zweifelhafte Vergnügen hatte.«
Nachdem Frida Tuva ins Wohnzimmer begleitet hatte und sichergestellt war, dass sie bequem lag, setzte sie Teewasser auf, bereitete der Freundin eine Kanne ihres Lieblingstees zu. Anschließend verkrümelte sie sich zu Aurora ins Kinderzimmer, um ein paar Runden Memory mit ihr zu spielen. Als Aurora nach vier Runden die Lust verlor, kam Frida eine Idee. Sie würde das Mädchen noch schnell in die Wanne setzen, um Aksel zu entlasten. Sicher wäre er froh, wenn er seine kleine Prinzessin nach dem Essen sofort ins Bett stecken konnte, um ein bisschen mehr Zeit mit Tuva verbringen zu können. Sie strich Aurora über die Wange. »Kannst du dich ein paar Minuten allein beschäftigen? Ich lass dir in der Zeit das Badewasser ein.« Aurora klatschte begeistert in ihre kleinen Hände. »Nimmst du meinen Lieblingsschaum? Den in der rosafarbenen Flasche?«