EISBLUMENGRAB

NORWEGEN-THRILLER

DANIELA ARNOLD

INHALT

Über das Buch

Prolog

1. Trondheim

2. Ålesund

3. Tromsø

4. Ålesund

5. Tromsø

6. Ålesund

7. Tromsø

8. Ålesund

9. Tromsø

10. Ålesund

11. Tromsø

12. Ålesund

13. Tromsø

14. Ålesund

15. Tromsø

16. Ålesund

17. Tromsø

18. Ålesund

19. Tromsø

20. Trondheim

Epilog, Teil 1

Epilog, Teil 2

Epilog, Teil 3

Danksagungen

Leseproben weiterer Werke:

Über das Buch:

Prolog

1. Hamburg

Über die Autorin

Dieses Buch widme ich meiner Familie und meinen Freunden, insbesondere dir, Ina und auch deinem Mann Olli. Ihr bzw. unsere Freundschaft haben mich nicht nur zu dieser Geschichte inspiriert, sondern mir zudem aus einer schweren Zeit geholfen. Die Depression ist ein Arschloch, ein ziemlich hartnäckiges sogar, und ich bin überzeugt, dass ihr beide neben Markus und Tim einen großen Anteil daran habt, dass ich es endlich wieder ans Licht geschafft habe. Liebe Ina, lieber Olli, ich hoffe, dass ich euch mit dieser Widmung zeigen kann, wie viel mir unsere Freundschaft bedeutet. Euch hat wahrlich der Himmel zu mir geschickt, daran glaube ich ganz fest.:-) Und eure Süße ist ja sowieso ein kleiner Engel …

So bewahrheitet sich übrigens ein altes Sprichwort, in dem es heißt, Freunde seien die Familie des Herzens …

In diesem Sinne – auf die Freundschaft und auf euch, meine lieben Freunde !!!

ÜBER DAS BUCH

Ich hab solche Angst ...

Angst vor Mami!


Frida Hagens Leben entwickelt sich zum Albtraum, als die vierjährige Tochter ihrer besten Freundin Tuva vermisst wird und alle Spuren direkt zu ihr führen. Nur Tage vor ihrem Verschwinden hatte das kleine Mädchen Frida ein furchtbares Geheimnis anvertraut, so dass sie sich nun fragen muss, wer die Frau ist, von der sie all die Jahre dachte, dass sie ihre engste Vertraute sei. Als Frida weitere tiefgreifende Veränderungen an ihrer langjährigen Freundin Tuva auffallen, macht sie sich auf die Suche nach Antworten und gerät in einen gefährlichen Strudel aus Misstrauen, Schuld und Verrat.


Die Lage spitzt sich zu, als die Polizei Auroras Verschwinden mit dem Tod einer Studentin in Verbindung bringt. Die junge Frau wurde mit zertrümmertem Schädel am Ufer des Sandnessundet aufgefunden. Als weitere Leichen gefunden werden und die Polizei einen Zusammenhang zum Verschwinden des Kindes vermutet, begreift Frida, dass manche Geheimnisse besser für immer im Dunkeln bleiben.

PROLOG

Der Zeiger der Wanduhr kriecht quälend langsam voran. Es ist mollig warm im Raum, trotzdem habe ich mir die Bettdecke bis zur Nasenspitze nach oben gezogen, weil die eisige Kälte, die von meinem Innern Besitz ergriffen hat, mir von den Zehenspitzen hinauf bis in den letzten Millimeter meines Körpers steigt, mich frösteln und mit den Zähnen klappern lässt.

Kurz frage ich mich, ob es sein kann, dass ich mir etwas eingefangen habe, doch dann verwerfe ich den Gedanken wieder. Mutter besteht darauf, dass wir alle, also jedes einzelne Mitglied dieser Familie, inklusive Jasper, dem Familienhund, täglich unsere Vitamine zu uns nehmen, um den Viren da draußen zu trotzen.

Außerdem führt sie seit des Kälteeinbruchs vor drei Wochen ein strenges Regiment, was die tägliche Kleiderordnung angeht. Selbst Joe, ihr neuer Freund, ist gezwungen, sich ihr zu fügen, um einer Endlosdiskussion zum Thema Unterkühlung aus dem Weg zu gehen.

Bereitwillig zieht er sich selbst auf dem kurzen Weg zu den Mülltonnen seinen dicken Anorak an, für den Mutter sicherlich an die 3000 Kronen bezahlt hat und alles nur, damit der werte Herr sich nichts wegholt. Ein Kichern entfährt mir, als ich an jene Szene neulich Abend denke, als ich beide in einer äußerst peinlichen Situation überrascht habe. Mutters Gesicht hat sich knallrot verfärbt, während Joe im Gegenzug recht cool reagiert und mich schulterzuckend angegrinst hat.

Nachdem Vater vor Jahren quasi über Nacht die Familie verlassen hatte, trauerte Mutter in der Abgeschiedenheit ihres Schlafzimmers und unbemerkt vom Rest der Familie um ihre verlorene große Liebe, bis ihr eines Tages Joe beim Einkaufen begegnete und sie sich Hals über Kopf ineinander verliebten.

Plötzlich spüre ich ihn wieder. Den Kloß im Hals, der immer dann hochkommt, wenn meine Gedanken um Vater schweifen und um die dunklen Schatten, die unsere Familie nach seinem Weggang über Jahre hinweg im Würgegriff hielten.

Zwar ist Joe mittlerweile zu uns gezogen, trotzdem kommt die Trauer um das, was wir verloren haben, zumindest bei mir hin und wieder noch hoch.

Entschieden dränge ich die trüben Gedanken beiseite, genieße die Stille im Haus, das Wissen, dass alle schlafen, ich im Grunde tun und lassen könnte, was ich will und wann ich es will.

Als ich bemerke, dass meine Lider schwer werden, schrecke ich hoch. Du darfst nicht einschlafen!, befehle ich mir selbst im Stillen, überlege kurz, ob ich in die Küche gehen und mir den Rest des kalten Kaffees in der Kanne reinziehen soll. Schließlich entscheide ich mich dagegen, denn der Geschmack dieser Brühe ist so gar nicht meins.

Mein Blick streift die Uhr. Kurz vor halb fünf.

Ich spüre, wie mein Herzschlag sich beschleunigt und sich meine Körpertemperatur erhöht. Plötzlich ertrage ich die dicke Federbettdecke nicht mehr und stoße sie mit meinen Füßen von mir weg auf den Fußboden, bleibe einige Minuten einfach so auf meinem Bett liegen, starre an die Decke. Als sich der Zeiger der vollen Stunde nähert, stehe ich auf, schlüpfe leise in meine Klamotten vom Vortag, lege mich in voller Montur zurück aufs Bett. Dann endlich ist es so weit. Ich lege die Bettdecke zurück aufs Bett, stopfe einige Klamotten darunter, bis es einigermaßen danach aussieht, als handle es sich bei der Wulst um die Umrisse eines schlafenden menschlichen Körpers. Nach einem letzten Blick auf die Uhr drücke ich die Klinke zu meinem Zimmer hinunter, schleiche mich in den Gang hinaus, wo ich meinen dicken Anorak samt Stiefel anziehe und von meiner Familie unbemerkt ins Freie husche. Draußen empfängt mich ein eiskalter Wind, der die empfindliche Haut meines Gesichts zum Brennen bringt und mich erzittern lässt. Der Wind ist so stark, dass er wie das Fauchen eines wild gewordenen Tiers klingt und obwohl ich seinetwegen die Kälte selbst durch meine dicke Kleidung spüre, bin ich froh darum, denn er wird für die von mir so dringend benötigten Schneeverwehungen sorgen. Eilig laufe ich an den Häusern der Nachbarn vorbei, genieße die Stille des frühen Morgens, bis ich knappe fünfundvierzig Minuten später endlich angekommen bin. Ich beziehe Position hinter einer Ansammlung von mehreren Bäumen und warte geduldig. Als es eine knappe halbe Stunde später auch noch zu schneien beginnt, schicke ich ein stummes Stoßgebet zum Himmel. Ich schließe die Augen und frage mich, ob der Schneefall zum genau richtigen Zeitpunkt eine Art Zeichen darstellen soll. Ein Zeichen dafür, dass alles, was hier und heute geschehen wird, von einer übergeordneten Macht vorherbestimmt ist. Ich lege den Kopf in den Nacken und schließe die Augen, spüre die Kälte der Schneeflocken wie Nadelstiche auf meinem vor Aufregung erhitzten Gesicht. Als ich ein Knirschen vernehme – näher kommende Schritte auf frisch gefallenem Schnee –, kauere ich mich in meinem Versteck zusammen und warte ab.

Dann ist sie endlich da. Wie immer ist sie viel zu dünn angezogen, trägt anstelle von Anorak und Schneehose nur eines ihrer dickeren Kostüme. Das Kleidchen, das sie heute Morgen anhat, ist weiß und geht von dem engen Korsagenoberteil in einen Stufenrock über, der, wenn sie ihre Pirouetten dreht, für den Betrachter zur Blume wird.

Ich beobachte, wie sie in Rekordgeschwindigkeit in ihre Schlittschuhe schlüpft und leichtfüßig wie eine Feder aufs Eis gleitet. Ich frage mich, wie sie es schafft, seit Jahren jeden Tag im Winter früh am Morgen aufzustehen und noch vor Schulbeginn mindestens ein bis zwei Stunden in der Dunkelheit Schlittschuh zu laufen und dem Wetter zu trotzen. Wie auf Befehl kriecht mir die Kälte von den Füßen die Beine hinauf in den Oberkörper, doch sie hält sich wie immer nicht damit auf, sich warmzulaufen, sondern beginnt sofort mit einer Spirale, wechselt dann in eine ihrer einfacheren Spezialfiguren, die ihr von der Presse den Künstlernamen Eisblume einbrachte, und gipfelt schließlich in einem der schwierigsten Sprünge des Eiskunstlaufs – dem dreifachen Axel.

Ich komme nicht dagegen an, dass ich mir wünsche, dass sie fällt und sich richtig wehtut, doch wie immer meistert sie diese extreme Herausforderung mit Bravour.

Erst kürzlich hat sie mir erzählt, dass ihr Trainer überzeugt davon sei, dass ihr eine steile Karriere bevorstehe, dank der sie sogar Weltruhm erlangen könne – sofern sie bereit war, weiterhin so hart an sich und ihrer Technik zu arbeiten.

Obwohl es zu dieser Jahreszeit und um diese Uhrzeit noch stockdunkel ist, erkenne ich durch die Reflexion des Schnees, wie sie die Augen schließt und ihr Gesicht von einem Lächeln erhellt wird.

Wieder setzt sie zu einem Axel an, nimmt Anlauf, streckt ihren Körper durch, springt. Ein Stromschlag fährt durch mein Innerstes.

Wäre ich wirklich bereit und imstande hinzunehmen, was schon in der nächsten Sekunde Wirklichkeit werden könnte?

Ich hole tief Luft, spüre, wie sich mein Innerstes verkrampft, weil ich trotz allem, was zwischen uns vorgefallen ist, noch etwas empfinde und mich ihr nahe fühle, wenn ich sie ansehe.

Der Teufel in Gestalt eines wunderschönen, talentierten jungen Mädchens – eines Engels – geht es mir durch den Kopf, während ich versonnen beobachte, wie sie etwa dreißig Meter vom Ufer entfernt eine Biellmann-Pirouette dreht. Als ich schon gar nicht mehr daran glaube, passiert es schließlich doch noch. Das Eis beginnt zu knacken und für den Bruchteil einer Sekunde hält sie wie erstarrt mitten in ihrer Figur inne.

Als das Knacken lauter wird, gleitet ihr Blick ungläubig zu Boden. Ihre Körperhaltung spiegelt abgrundtiefes Entsetzen wider, während sie abzuwägen scheint, ob sie es, wenn sie schnell und schnurstracks auf das Ufer zuhielte, unbeschadet ankäme. Doch so weit kommt es gar nicht mehr, denn schon im nächsten Augenblick gibt die Eisdecke unter ihr nach und verschlingt ihren zierlichen Körper in der eisigen Tiefe.

Einem ersten Impuls folgend, kämpfe ich gegen mein Gewissen an, das mir sagt, dass ich schleunigst nach einem herumliegenden Ast suchen und ihr zu Hilfe eilen sollte. Doch dann atme ich tief durch, rufe mir in Erinnerung, was sie mir angetan hat, was sie uns allen angetan hat und schlucke gegen die Enge in meinem Hals an. Ich war es, die ihr den »Tipp« gegeben hat, hier, an genau dieser Stelle zu üben und nicht dort, wo sie sonst immer Schlittschuh gelaufen ist. Ich war es, die ihr eingeredet hat, dass die Eisdecke mindestens zwanzig Zentimeter dick sei, obwohl sie in Wahrheit viel dünner war und aus mehrschichtigem Sandwicheis anstelle von einbruchsicherem Schwarzeis bestand.

Eine Zeit lang sehe ich zu, wie sie sich immer wieder verzweifelt an einer Eisscholle festzuhalten versucht, panisch herumzappelt und strampelnd um Hilfe schreit, obwohl sie ganz genau weiß, dass dies der schlimmste Fehler ist, den sie in dieser Situation machen kann, und dass sie hier draußen sowieso keiner hören wird.

Als ich sicher bin, dass ihre Kräfte sie in Kürze beinahe vollständig verlassen haben werden und die Kälte des Wassers ihren Körper von Sekunde zu Sekunde stärker lähmt, trete ich aus meinem Versteck hervor und laufe langsam auf das Ufer des Sees zu. Sie ist so damit beschäftigt, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, dass sie mich gar nicht bemerkt.

Dann geht sie mit einer Mischung aus Gurgeln, Kreischen und Keuchen unter.

Mein Herz klopft so stark gegen meinen Brustkorb, dass ich das Gefühl habe, keine Luft mehr zu bekommen. Schließlich begreife ich, dass es sich bei diesem Gefühl um Traurigkeit handelt, denn obwohl sie kein netter Mensch ist, gehörte sie doch bis zum heutigen Tage ohne jeden Zweifel zu meinem Leben, und die Vorstellung einer Zukunft ohne sie macht mir unbeschreibliche Angst.

Ich zwinge mich, ruhig zu atmen, kämpfe gegen die Tränen an, sage mir wieder und immer wieder, dass sie diese nicht verdient hat.

Ich will mich gerade umdrehen und davongehen, als ihr Arm aus dem schmalen Spalt zwischen den dünnen Eisplatten zum Vorschein kommt und sie wenig später ihren Kopf nachschiebt. Als sie mich am Ufer stehen sieht, weiten sich ihre Augen hoffnungsvoll. Ihr Gesicht sieht wächsern aus, ihre Lippen dunkelblau, trotzdem schafft sie es noch, ein leises »Hilf mir« zu rufen und sich aus letzter Kraft an einer der Eisschollen festzuklammern. Wieder kämpfe ich mit meinem Gewissen, schlucke dagegen an, stoße dann entschlossen die Luft aus und wende meinen Blick von ihr ab, in der Hoffnung, dass sie durch diese Geste begreift, wozu ich ihretwegen fähig geworden bin, zu was für einem Menschen sie mich gemacht hat.

Als ich einen letzten Blick in ihre Richtung werfe, sehe ich gerade noch, wie sie ihr Gesicht zu einer zornigen Fratze verzieht, bevor die eisigen Wassermassen sie vollständig verschlingen.

Ich lege meinen Kopf in den Nacken, genieße die Ruhe, höre in mich hinein.

Und tatsächlich … Wo vor einigen Sekunden noch Trauer war, ist nur noch Erleichterung übrig.

Erneut schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel, wünsche mir Unmengen an Schnee, die dafür sorgen werden, dass so schnell niemand erfährt, was soeben an diesem idyllischen Ort geschehen ist.

Dann mache ich mich auf den Rückweg und hoffe, dass niemand bemerkt, dass ich so früh am Morgen schon auf den Beinen bin.

In Gedanken gehe ich die nächsten Schritte durch und lächle zufrieden.

So fühlt es sich also an, endlich frei zu sein …

1

TRONDHEIM

OKTOBER 2003

»Hi mein Alter, hast du die Kleine klargemacht und es ihr so richtig hart besorgt?«, wollte Gunnar wissen und lachte keckernd in den Hörer. Sander stöhnte. Sein bester Kumpel war nicht gerade für seine Feinfühligkeit bekannt. Er räusperte sich. »Wir haben nur gequatscht«, gab er schließlich zähneknirschend zu. Er konnte sich beinahe bildlich vorstellen, wie Gunnar – ein Schürzenjäger, wie er im Buche stand – bei diesen Worten vor Lachen fast zusammenbrach. Als in der nächsten Sekunde tatsächlich schallendes Gelächter aus dem Hörer dröhnte, wünschte er, nichts gesagt oder zumindest gelogen zu haben. Gunnar war ein Typ, der, was Frauen anging, nichts anbrennen ließ. Sein liebstes Hobby war, Mädels abzuschleppen und sie nach einer gemeinsamen Nacht wieder abzuschießen.

Er selbst war da ganz anders drauf. Zwar genehmigte er sich auch hin und wieder einen One-Night-Stand, doch wenn dem so war, dann setzte er die zweite Hälfte dieses … Arrangements vorher davon in Kenntnis. Und falls diese Aktion wegen seiner Ehrlichkeit scheitern sollte, nun ja, dann war es eben so.

Er war kein Mann, der Frauen vormachte, mit ihnen die ganz große Liebe auf den ersten Blick zu erleben, nur um sie in sein Bett zu bekommen.

Plötzlich hatte er sie wieder vor Augen. Zart und zierlich, dunkelblond, wunderschön und intelligent. Er mochte es, wenn Frauen sich mit ihm auf Augenhöhe unterhalten konnten, seine Interessen teilten, so wie es bei ihr der Fall war. Nachdem sie einander vorhin im Klub begegnet waren, hatte er den Vorschlag gemacht, zu verschwinden. Sie hatten sich in einen Imbiss in der Nähe verkrümelt und sich bei Kaffee und leckerem Carrot Cake ein wenig unterhalten. Als er sie dann gefragt hatte, ob sie sich vorstellen könne, noch mit zu ihm zu kommen, dachte er zuerst, sie würde ihm einen Korb geben, doch schließlich hatte sie tatsächlich zugesagt, mitzukommen. Letztendlich war es aber nur zu einer wilden Knutscherei gekommen, dann hatte sie sich nach einem Besuch in seinem Badezimmer überstürzt von ihm verabschiedet. Er hatte es bedauert, dass sie schon gehen wollte, doch letztendlich war sie sowieso kein Mädchen, das man einmal durch die Koje zog und dann wegwarf. Er kam nicht umhin, zuzugeben, dass sie ihn beeindruckt hatte, dass er sie mochte, sogar etwas für sie empfand, auch wenn das eigentlich beinahe unmöglich war, weil er sie doch erst viel zu kurz kannte.

Gunnars Stimme bohrte sich in sein Bewusstsein. Wieder stöhnte Sander, überlegte, was er tun konnte, um seinen Kumpel mit einigen wohldosierten Informationen ruhigzustellen. Schließlich atmete er tief durch. »Wir haben ziemlich wild geknutscht und ein bisschen gefummelt. Sie will mich wiedersehen, deswegen dachte ich, muss ich nichts überstürzen.«

Gunnar am anderen Ende schien über seine Worte nachzudenken, doch dann ertönte ein abfälliges Prusten. »Wie sieht es die Woche bei dir aus? Bock, noch mal um die Häuser zu ziehen?«

Sander seufzte. So sehr er Gunnar mochte, nervte ihn dessen weltfremde Art zuweilen doch sehr. Die Eltern seines Kumpels waren steinreich, was ihm sehr zugutekam. Er musste sich weder seinen Lebensunterhalt selbst verdienen, noch hatte er sonst irgendwelche Verpflichtungen. Er hingegen musste neben seinen Vorlesungen und Klausuren noch sechs Mal die Woche jobben gehen, um sich diese Bruchbude und was zu beißen leisten zu können. Er hatte schlichtweg keine Kohle übrig, um sie wie Gunnar mit vollen Händen auszugeben. »Ich passe«, gab er daher lapidar zurück. »Muss arbeiten und lernen. Aber vielleicht können wir am Wochenende ein bisschen in deiner Hütte abhängen und zocken. Was sagst du?«

Wieder ein Prusten, dann Stille. »Na gut«, kam es schließlich von Gunnar, der irgendwie nicht danach klang, als sei tatsächlich alles gut. »Und wann siehst du die Kleine wieder?«

Sander grinste. »Ich hoffe, sie meldet sich später noch. Es ist noch nicht mal zwanzig Minuten her, seit sie sich vom Acker gemacht hat. Ich denke, sie ruft an, sobald sie zu Hause ist, spätestens aber in ein paar Tagen.« Er holte tief Luft, spürte, wie sich ein warmes Gefühl in seinem Innern ausbreitete. »Sie ist wirklich etwas ganz Besonderes. Und sie schien echtes Interesse an mir zu haben.«

Den letzten Satz hatte er extra betont, worauf Gunnar sofort ansprang. »Ja, ja, ich weiß schon, was du damit sagen willst. Echt nett von dir.«

Sander verkniff sich einen Kommentar.

»Du bist der Ansicht, dass ich nur wegen der Kohle meiner Alten solch einen Erfolg bei den Mädels habe. Was auch der Grund dafür ist, dass diese Affären immer nur von kurzer Dauer sind.«

Auch darauf hin schwieg Sander wohlweislich, was Gunnar nur noch mehr auf die Palme brachte.

»Liebe vergeht, Hektar besteht«, brummte er beleidigt. »Der Spruch stammt von meinem Großvater. Außerdem sind die meisten Weiber sowieso nur billige Schlampen, die keinen Wert auf echte Gefühle legen. Warum also sollte ich so blöd sein und ihnen meine offenbaren?«


Selbst Minuten später, als Sander das Telefonat mit Gunnar beendet hatte, gingen ihm dessen Worte nicht mehr aus dem Kopf.

Bis heute hatte er seinen Freund um dessen sorgloses Leben beneidet und nur allzu gerne mit ihm getauscht, was seinen Kontostand anging.

Doch wenn der Preis für eben diesen Luxus eine derartige Verrohung von Gefühlen war – sowohl der eigenen als auch die des Umfelds –, dann legte er keinen Wert auf finanzielle Unabhängigkeit.

In Gedanken versunken, trank er den letzten Schluck Billigbier aus dem Discounter, rülpste vernehmlich und griff zu seiner Zigarettenschachtel. Als er registrierte, dass sie leer war, fluchte er.

Seufzend schlurfte er in den Gang hinaus, riss seine Jacke vom Haken, zog die Wohnungstür hinter sich zu.

Als er auf den Lichtschalter hämmerte und mal wieder nichts passierte, stieß er einen unflätigen Fluch aus. Dieses Haus gehörte wirklich zugeschissen.

Hier funktionierte überhaupt nichts. Die Heizung in seiner Wohnung war ständig im Arsch und gluckerte zu jeder Tages- und Nachtzeit, das Licht im Hausflur ging beinahe jede Woche kaputt und das Fenster im dritten Stock hatte mittlerweile seit Monaten keine Scheibe mehr, sodass es bei dieser Witterung wie Hechtsuppe zog. Auf dem Weg nach unten verfluchte er sich nicht zum ersten Mal für die scheußliche Angewohnheit des Qualmens, wegen der er zu dieser späten Stunde noch vor die Tür musste, und nahm sich vor, so schnell wie möglich von dem Dreck wegzukommen. Doch jetzt musste er unbedingt noch eine rauchen, um einen klaren Kopf zu bekommen, bevor er sich an seine Arbeit setzte.

Er war schon fast an der Haustür, als er einen merkwürdigen Gestank wahrnahm. Eine Mischung aus süßlich beißendem Schweiß und … Er runzelte die Stirn, überlegte, wo er diesen seltsamen Geruch schon einmal wahrgenommen hatte, doch es wollte ihm partout nicht einfallen. Plötzlich nahm er einen eisigen Luftzug im Nacken wahr. Nichts, was in irgendeiner Art und Weise mit der Kälte da draußen zu tun hatte, sondern viel mehr eine Art düstere Vorahnung, er neigte fast dazu, es Intuition zu nennen, eben ein Gefühl, das in seinem Innern flüsterte, dass irgendetwas Bösartiges im Begriff war, in seine Komfortzone zu platzen, ihm nahezukommen und ihm wehzutun. Vielleicht sogar Schlimmeres. Die feinen Härchen im Nacken stellten sich auf, sein Mund fühlte sich wie ausgedörrt an, die Zunge pappte an seinem Gaumen fest. Alles Symptome der Panik, die er bereits kannte, jedoch nicht in diesem Ausmaß. Instinktiv zog er die Schultern nach oben, schluckte gegen die Angst an. Ein Rascheln ließ ihn erzittern. Sein Herz fing an zu rasen. Was war hier los? Sein gesamter Körper fühlte sich an, als befände er sich in akuter Alarmbereitschaft. Bereit zum Sprung oder viel mehr zur … Flucht. Doch vor wem?

Er hörte ein leises Zischen in der Nische hinter sich und zuckte zusammen. War das ein Tier? Eine verletzte Katze oder ein Hund? Dann könnte es sich bei dem komischen Geruch um Angst handeln. Ein Tier in Todesangst. Doch dann fiel ihm ein, dass Tiere nicht nach Schweiß stanken, was bedeutete, dass es sich bei der Ursache des Geruchs um einen Menschen handeln musste. Jemand war hier. Ganz in seiner Nähe. Alles in ihm schrie danach, wegzulaufen, doch das konnte er einfach nicht. Er musste wissen, was hier los war.

»Ist da jemand?«, fragte er stattdessen und ärgerte sich darüber, dass seine Stimme genau das wiedergab, was er in seinem Innern empfand. Langsam und zögernd ging er immer weiter auf die stockdunkle Nische zu, bis sich vor ihm ein dunkler Schatten aufbaute.

Er schnappte nach Luft und wich zurück, doch es war zu spät.

Mit dem Rücken prallte er gegen einen harten Widerstand, spürte einen scharfen Schmerz am Hinterkopf, begriff schließlich, dass der dunkle Schatten vor ihm zu der Person gehörte, die hinter ihm stand und ihm eins übergebrettert hatte.

Er riss den Mund auf, wollte schreien, doch er brachte keinen Ton heraus, musste gegen den plötzlichen und überwältigenden Drang ankämpfen, loszukotzen.

Verzweifelt rang er nach Luft, begriff erst jetzt, dass dieser Jemand dabei war, ihn mit Chloroform zu betäuben.

Dann ging ihm ein Licht auf.

Das Chloroform war die Ursache des seltsamen Geruchs gewesen …

Er wollte die Hand von seinem Gesicht wegreißen, doch der Schlag auf den Kopf und das Betäubungsmittel hatten seine Kraftreserven längst gedrosselt.

In seinem jetzigen Zustand hätte ihn wahrscheinlich sogar ein Kind K.O. schlagen können …

Der stinkende Lappen auf seinem Gesicht begann, erste Wirkung zu zeigen. Sander spürte, wie seine Glieder immer schlaffer wurden, befahl sich in Gedanken, ja nur keinen weiteren Atemzug zu nehmen, doch er kam einfach nicht gegen seinen Überlebenstrieb an. Gierig sog er die von der Chemikalie vergiftete Luft durch den Lappen tief in seine Lunge, spürte, wie ihm mehr und mehr die Sinne schwanden.

Die Person hinter ihm stieß ein bösartiges Kichern aus und als er begriff, um wen genau es sich bei seinem Angreifer handelte, hatte er für einen Augenblick das Gefühl, sein Herz würde aussetzen.

»Du weißt, dass du hier und heute sterben wirst?«

Die Stimme klang kalt und unnachgiebig, auf beängstigende Weise dunkel und auch irgendwie höhnisch, eben völlig anders, als er sie in seiner Erinnerung gespeichert hatte.

Resigniert schloss er die Augen, fragte sich, was er in der Vergangenheit getan haben mochte, um etwas so Furchtbares zu verdienen.

»Warum?«, stieß er aus letzter Kraft und durch den Lappen beinahe unverständlich aus, wohl wissend, dass er sowieso keine Antwort auf seine Frage mehr erhalten würde. Ein letztes Mal sog er die verpestete Luft ein, dann war es vorbei.

2

ÅLESUND

DEZEMBER 2018

»Hast du heute viel zu tun, mein Schatz?« Isak beugte sich zu ihr hinunter, küsste sie zärtlich auf den Nacken, berührte wie beiläufig die Stelle links von ihrer Wirbelsäule, an der sie empfindlich war und ihr Körper sofort reagierte. Sie schloss die Augen einen Moment, genoss den Duft ihres Mannes, eine Mischung aus Moschus und seinem Duschgel, das nach Meeresalgen roch. Sie öffnete die Lider, sah ihn an. »Tut mir leid wegen gestern Abend. Ich weiß auch nicht, was mit mir los war. Aber wenn du willst, könnte ich mir jetzt ein wenig Zeit nehmen«, schnurrte sie wohl wissend, dass Isak in weniger als einer Stunde in der Schule sein musste, wo er als Grundschullehrer unzähligen Kindern dabei half, einen guten Start in ihre Schulzeit hinzulegen, während sie ihrer Arbeit als freie Online-Redakteurin für ein Werbemagazin zumeist vom Homeoffice aus nachgehen durfte.

Sie sah zu ihm auf, ließ sich bereitwillig ein weiteres Mal küssen – diesmal auf den Mund –, bevor Isak sich auf den Weg in den Flur machte, in Mantel und Schuhe schlüpfte und zur Arbeit verschwand.

Als sie schließlich allein im Haus war, die Stille sich beinahe drückend anfühlte, glitt ihr Blick wie von selbst vom Bildschirm ihres Laptops weg auf den Kalender an der Wand. Sie spürte, wie sich ihr Innerstes verkrampfte. In weniger als einer Woche war es wieder so weit. Dann würde sich herausstellen, ob sie diesmal Glück gehabt hatten und es für Isak und sie einen Grund zum Feiern gab.

Es grenzte schon fast an Ironie, dass ihrem gutaussehenden Ehemann, dem beliebtesten Lehrer der Schule, das Vaterwerden bislang verwehrt geblieben war.

Nicht, dass es an ihm liegen würde. Bei Isak war gesundheitlich alles im grünen Bereich, wie die zahlreichen Tests, denen er sich ihr zuliebe unterzogen hatte, bestätigten.

Das Problem lag viel mehr bei ihr selbst, doch waren die Spezialisten sich bisher nicht sicher, ob es nicht doch eine hormonelle Ursache gab oder ob der psychische Druck, unter dem sie wegen ihres bisher unerfüllten Kinderwunsches stand, dafür verantwortlich war, dass sie einfach nicht schwanger wurde. Vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet, da waren sich die Ärzte einig, war bei ihr alles in Ordnung. Sie hatte weder eine Endometriose oder Myome, noch verklebte Eileiter und auch um ihren Hormonhaushalt war alles bestens bestellt.

Also blieb am Ende nur die Psyche übrig, wie Isak ihr schonend beizubringen versucht hatte. Oder die Tatsache, dass sie seit mehr als zehn Jahren auf starke Schmerzmittel angewiesen war und diese sich negativ auf eine Empfängnis auswirkten. Frida seufzte. Seit ihrem 15. Lebensjahr litt sie unter heftigsten Migräneattacken, die oftmals so schlimm waren, dass sie nicht arbeiten konnte. Ursache ihres langjährigen Schmerzmartyriums war der Unfalltod ihrer Eltern, den sie bis heute nicht verwunden hatte.

Am Tag ihrer Hochzeit vor sechs Jahren hatte sie sich so mies und elend gefühlt wie lange zuvor nicht mehr, was vor allem daran lag, dass sie sich für diesen so wichtigen Tag ihres Lebens gewünscht hätte, dass ihr Vater sie zum Altar begleitete. Stattdessen hatte diese Aufgabe ihr Schwiegervater übernommen, den sie zwar sehr mochte, der nun mal aber nicht ihr leiblicher Vater war.

Um genau zu sein, gab es von ihrer Familie niemanden mehr, den zu besuchen oder überhaupt Kontakt zu halten auch nur ansatzweise Sinn ergeben hätte. Eine entfernte Cousine ihrer Mutter lebte in Deutschland, eine weitere in den USA, doch keine von beiden hatte Frida in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen.

Deswegen beschränkte sich ihre Familie auf Isak und seine Eltern, was zwar nett war, jedoch hin und wieder dafür sorgte, dass sie sich einsam fühlte, allein gelassen.

Denn so nett Isaks Mutter auch war, fühlte Frida zu ihr bei Weitem nicht dasselbe wie für ihre verstorbene Mutter, der sie alles hatte anvertrauen können. Sie erinnerte sich gern an ihre Kindheit in Kråkmo. An das kleine Häuschen am Fuße des Kråkmotinden, eines 916 Meter hohen Berges, von dessen Gipfel man eine atemberaubende Sicht auf das Tal und den Kråkmovatnet – einen kristallklaren See – genießen konnte. Als Kind war Frida oft mit ihren Eltern zum Baden an den See gegangen. Mutter und sie hatten es sich auf einer Decke beim Picknick gemütlich gemacht, während Vater sich um das Abendessen gekümmert und geangelt hatte.

Es war eine schöne Zeit gewesen, doch die Erinnerung daran schmerzte, weil sie wusste, dass diese Zeiten unwiederbringlich vorbei waren, niemand ihr ihre Eltern zurückbringen konnte.

Frida zwang sich, an etwas anderes zu denken, als das Telefon klingelte. Sie warf einen Blick auf das Display und augenblicklich spürte sie, wie ein warmes Gefühl sie durchströmte. Sie hob den Hörer von der Station und lächelte beim Klang der Stimme ihrer besten Freundin. Tuva und sie hatten sich vor knapp sieben Jahren durch ihre Männer kennengelernt und waren seither nahezu unzertrennlich. Ihre Freundschaft war von Anfang an etwas ganz Besonderes gewesen. Zwischen ihnen gab es keinerlei Geheimnisse. Sie waren wie Schwestern, Seelenverwandte im Grunde, konnten einander alles anvertrauen und sei es noch so intim. Vor Tuva empfand Frida weder Scham noch Zurückhaltung, deswegen war sie die Einzige, der sie bisher anvertraut hatte, dass sie sich in die Hände einer sündteuren Fruchtbarkeitsklinik begeben hatte, in der Hoffnung, endlich schwanger zu werden. Tuva, die mit Herz und Seele in ihrer Mutterrolle aufging und Aurora vergötterte, verstand Fridas Schmerz, der mit jedem Einsetzen der monatlichen Periode einherging, weil dies bedeutete, dass sie wieder wochenlang umsonst gehofft und gezittert hatte. Tuva war es, die sie immer wieder aufrichtete und tröstete, ihr sagte, dass sie niemals aufgeben solle. Genau wie Aksel, ihr Mann, den Frida ebenfalls auf Anhieb in ihr Herz geschlossen hatte. Sie waren ein lustiges Vierergespann und es tat Frida und auch Isak gut, Zeit mit Tuva und Aksel zu verbringen. Sie verbrachten gelegentlich sogar ihre Jahresurlaube miteinander. Erst letzten Sommer waren sie zusammen in Italien gewesen, hatten sich die Sonne auf die Bäuche scheinen lassen und jeden Abend Pizza und Pasta gegessen und viel zu viel Rotwein getrunken, bis sie schließlich angesäuselt in ihre Betten gefallen waren. Sie trafen sich auch an so vielen Wochenenden im Monat wie möglich, kochten gemeinsam, aßen miteinander, saßen anschließend bis spät in die Nacht beisammen, quatschten über Gott und die Welt. Im Laufe der Jahre waren Tuva und ihr Mann zu so etwas wie Fridas zweite Familie geworden und seit Aurora – Tuvas und Aksels kleine Tochter – auf der Welt war, hatte sich das Band zwischen ihnen nur noch mehr verfestigt. Es war auch nicht so, dass Frida, weil sie selbst bislang nicht hatte Mutter werden können, ihrer Freundin dieses Glück missgönnte. Stattdessen hatte sie es von Anfang an genossen, Tuva bei der Herausforderung um ihr erstes Kind unter die Arme zu greifen, ihr zu helfen, dabei war ihr das kleine Mädchen mehr und mehr ans Herz gewachsen.

Es erfüllte Frida heute noch mit Freude und Dankbarkeit, dabei gewesen zu sein, als Aurora ihre ersten Schritte gemacht und die ersten Worte gesprochen hatte. Jetzt war die Kleine vier Jahre alt und ein stolzes Kindergartenkind, wie sie ihr immer und immer wieder voller Freude mitteilte, wann immer sie einander sahen.

Eine Weile lauschte Frida dem Geplapper ihrer Freundin, bis ihr auffiel, dass deren Stimme seltsam abgehackt und heiser klang.

»Was ist mit dir?«, fragte sie besorgt und sog die Luft ein. Tuva war vor etwas mehr als einem Monat in einen Unfall verwickelt worden, bei dem sie sich eine schwere Gehirnerschütterung und einen mehrfach gebrochenen Unterschenkel zugezogen hatte. Seither hatte sie damit zu kämpfen, ihr Familienleben trotz eines bis zum Knie eingegipsten Beines in den Griff zu bekommen.

»Ach, es ist schon okay«, wehrte Tuva ab, doch Frida wusste, dass dem nicht so war.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte sie, jetzt vehementer, ihr Ton ließ durchblicken, dass sie eine weitere Beschwichtigung nicht akzeptieren würde. Schließlich gab die Freundin nach, seufzte tief. »Aksel muss heute länger arbeiten, weil ein paar seiner Kollegen krank sind. Er hatte Aurora versprochen, mit ihr nach dem Kindergarten noch auf den Spielplatz zu gehen, damit sie ein wenig schaukeln kann.«

Frida lächelte. Jetzt wurde ihr klar, worum die Freundin sie bitten wollte, es aber nicht fertigbrachte, weil sie wusste, dass sie momentan viel zu viel Arbeit hatte. »Das geht in Ordnung«, sagte sie daher, ohne zu zögern, denn wenn sie sich jetzt bis zum frühen Nachmittag gehörig ins Zeug legte, wäre sie locker mit der Arbeit fertig, ehe sie die Kleine der Freundin aus der Tagesstätte abholen musste. Danach noch ein wenig mit ihr auf den Spielplatz bei der Aussichtsplattform zu fahren, käme ihr sogar mehr als gelegen, weil es ihr nach einem Tag ausgefüllt mit etlichen zu schreibenden Werbetexten sicher guttäte, ein bisschen an die frische Luft zu kommen. »Es ist absolut in Ordnung«, sagte sie daher noch einmal. »Ich hole Aurora ab und danach lassen wir uns noch ein bisschen frische Luft um die Nase pusten.«

Sie spürte, dass Tuvas Anspannung nachzulassen schien, und freute sich, der Freundin hatte helfen und ein wenig von dem zurückgeben zu können, was diese in letzter Zeit für sie getan hatte.

»Wann soll ich dir Aurora spätestens zurückbringen?«

Tuva am anderen Ende schluckte. »So gegen fünf Uhr? Und ich wäre dir dankbar, wenn du sie anschließend noch ein bisschen beschäftigen könntest, das ist mit Krücken nämlich eine ziemliche Herausforderung. Normalerweise ist Aksel dafür zuständig, bis ich wieder ganz fit bin«, erklärte sie.

»Geht klar«, gab Frida zurück. »Ich bringe sie um fünf Uhr und spiele noch mit ihr, bis Aksel kommt. Am besten machen wir jetzt Schluss, damit ich mein Zeug noch geschrieben bekomme, bis ich Aurora abhole.«

»Und was ist mit Isak? Wird es ihm nicht langsam zu viel, dass du so viel bei mir rumhängst?«

Frida schmunzelte und schüttelte den Kopf. Dann wurde ihr klar, dass Tuva das nicht sehen konnte. »Quatsch«, sagte sie schnell. »Isak weiß doch, dass du für mich dasselbe tun würdest, ginge es mir momentan so schlecht. Und außerdem? Wozu sind Freunde da, wenn nicht, um einander in brenzligen Situationen aus der Patsche zu helfen?«


Als sie ihren Wagen um halb sechs, statt fünf Uhr vorm Haus der Freundin parkte, wusste sie, dass Tuva ihr die halbstündige Verspätung nicht übel nehmen würde. »Heute waren eine Menge Kinder da«, sagte sie daher nur, als die Freundin ihr mit Krücken und schmerzverzerrtem Gesicht die Tür öffnete. »Du legst dich gleich wieder zurück aufs Sofa und ich kümmere mich um die Kleine. Wenn du willst, kann ich euch anschließend eine Kleinigkeit zum Abendessen vorbereiten. Aksel hat sicher Hunger, wenn er von der Arbeit kommt.«

Tuva schüttelte abwehrend den Kopf. »Du hast mir schon genug geholfen. Ich hab ihn vorhin angerufen und gesagt, dass er was zu essen besorgen soll, bevor er heimkommt. Ich schätze, dass er beim Italiener halten wird und uns heute Abend mit einer riesigen Pizza beglückt.« Sie schmunzelte, gab ihrer Tochter ein dickes Küsschen auf die Wange, verzog wieder das Gesicht.

»Dein Bein?«, wollte Frida wissen.

Tuva verneinte. »Meinem Bein geht es super, solange ich es nur schone. Mein Rücken ist es, der mich umbringt. Bestimmt hab ich mir durch das Laufen mit den Krücken einen Nerv im Rücken eingeklemmt. Wenn das bis zum Ende der Woche nicht besser wird, bleibt mir nichts anderes übrig, als zum Orthopäden zu gehen, um mir die berühmte Pferdespritze abzuholen.«

Frida starrte die Freundin erschrocken an. »Was soll das denn bedeuten?«

Tuva lachte, als sie Fridas Gesichtsausdruck bemerkte.

»Die ist längst nicht so schlimm, wie ihr Name uns glauben lassen will. Aksel nennt sie so, weil er Spritzen nicht ausstehen kann und wegen seines Bandscheibenvorfalls schon ein paar Mal das zweifelhafte Vergnügen hatte.«

Nachdem Frida Tuva ins Wohnzimmer begleitet hatte und sichergestellt war, dass sie bequem lag, setzte sie Teewasser auf, bereitete der Freundin eine Kanne ihres Lieblingstees zu. Anschließend verkrümelte sie sich zu Aurora ins Kinderzimmer, um ein paar Runden Memory mit ihr zu spielen. Als Aurora nach vier Runden die Lust verlor, kam Frida eine Idee. Sie würde das Mädchen noch schnell in die Wanne setzen, um Aksel zu entlasten. Sicher wäre er froh, wenn er seine kleine Prinzessin nach dem Essen sofort ins Bett stecken konnte, um ein bisschen mehr Zeit mit Tuva verbringen zu können. Sie strich Aurora über die Wange. »Kannst du dich ein paar Minuten allein beschäftigen? Ich lass dir in der Zeit das Badewasser ein.« Aurora klatschte begeistert in ihre kleinen Hände. »Nimmst du meinen Lieblingsschaum? Den in der rosafarbenen Flasche?«