Jedes Jahr im Juni

LIA LOUIS, 32 Jahre alt, lebt mit ihrer großen Liebe und ihren drei kleinen Kindern in England. Bevor sie sich voll und ganz der Familie und dem Schreiben widmete, arbeitete sie freiberuflich als Werbetexterin und Bloggerin. 2015 gewann sie den jährlichen Schreibwettbewerb der Zeitschrift Elle. Jedes Jahr im Juni ist ihr erster Roman in Deutschland.

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LIA LOUIS

ROMAN

Aus dem Englischen
von Veronika Dünninger

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Dear Emmie Blue
bei Trapeze, einem Imprint der Orion Publishing Group Ltd, London.

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Copyright © 2020 by Lia Louis
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Penguin Verlag,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Cover: Favoritbuero
Covermotiv: © djmilic; Sunlike; Lauritta; Natali Samorod/shutterstock
Redaktion: Angela Kuepper
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-26069-9
V005
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Für Juliet.
Dieses Buch könnte für niemand anderes sein.

Fortescue-Lane-Luftballonflug 2004:
Wir feiern 50 Jahre exzellenten Unterricht!

Emmie Blue, 16 Jahre alt, Klasse 11 R,
Fortescue-Lane-Sekundarschule,
Ramsgate, Kent, Vereinigtes Königreich
Emmeline. Blue.1999@fortescue.kent.sch.uk
1. Juli 2004

Wenn dieser Luftballon je gefunden wird, werden Sie der einzige Mensch auf der Welt sein, der es weiß. Ich war es. Ich bin das Mädchen vom Sommerball. Und ich habe die Wahrheit gesagt.

Kapitel 1

Ich war bereit, so bereit dafür, dass er mich fragte. So bereit, dass ich geradezu strahlte und meine Wangen glühten, als wäre ich eines der Straßenkinder in einem Charles-Dickens-Roman – eine Tomate mit einem schlagenden Herzen. Noch vor fünf Minuten war alles perfekt, und ich verwende dieses Wort nicht oft, denn nichts, egal wie wundervoll es auch ist – Leute, Küsse, Specksandwiches –, ist je wirklich perfekt. Aber diesmal war es das. Das Restaurant, der von Kerzen erhellte Tisch, der Strand hinter der Terrasse mit den sanft plätschernden Wellen und der Wein, der fast genauso schmeckte wie das Zeug, das wir vor neun Jahren tranken, am Vorabend unseres einundzwanzigsten Geburtstags, und an dessen Namen wir uns seitdem nicht erinnern können. Die Lichterketten, die sich um die Säulen des Holzpavillons ringelten, unter dem wir saßen. Die Meeresbrise. Selbst meine Haare saßen genau richtig, zum ersten Mal seit, na ja, vermutlich diesem einen, einzigen Mal, als sie es taten, und das war zu einer Zeit, als ich Walkman hörte und überzeugt war, Jon Bon Jovi würde sich irgendwie auf einem Kurzurlaub in Ramsgate befinden, mir über den Weg laufen und mich auf einen Burger und Pommes frites ins Wimpy einladen. Und Lucas. Natürlich Lucas, aber er sieht schließlich immer annähernd perfekt aus.

Jetzt schließe ich die Augen, eine Hand an die Stirn gepresst, auf den Fliesen dieses kalten Bodens in der Damentoilette kniend, und denke an ihn im Raum nebenan. Gut aussehend, auf seine adrette englische Art. Die Haut leicht bronzefarben von der französischen Sonne. Das frische weiße Hemd, gebügelt und am Kragen offen. Als wir ankamen, vor einer Stunde erst, rasch Wein bestellten und uns zwei Vorspeisen teilten, sah ich zu ihm hinüber und fragte mich verträumt, wie wir wohl auf andere Essensgäste wirken mochten, vor der Kulisse der untergehenden Sonne. Wer waren wir in den Augen der Fremden, die über den Strand und an der Veranda, auf der wir saßen, vorbeischlenderten, während ihre Schuhe von ihren Händen herabbaumelten? Wir sahen aus wie füreinander bestimmt, nehme ich an. Wir sahen aus wie ein glückliches Paar beim Dinner am Strand. Ein Jahrestag vielleicht. Eine Feier von irgendetwas. Oder einfach ein Ausgehabend, ohne die Kinder. Zwei Kinder. Ein Junge, ein Mädchen.

»Ich bin ein bisschen nervös, Em«, sagte Lucas kichernd, während seine Hände auf dem Tisch herumspielten und seine Finger den Ring an seinem Zeigefinger drehten, »dich das zu fragen.« Und ich glaube, in diesem Moment, an diesem Tisch, in diesem Restaurant – auf dessen Toilette ich mich jetzt verstecke – war ich mir sicherer als je zuvor, egal bei was. Bereit und darauf wartend, Ja zu sagen. Ich hatte sogar geplant, wie ich es sagen würde, auch wenn Rosie meinte, wenn ich es zu sehr einstudierte, würde ich verkrampft klingen und den Eindruck erwecken, als wollte ich nicht wirklich Ja sagen. »Heute Abend ist nicht der Abend, um so zu reden, als ob dir irgendein Irrer einen Pistolenlauf in den Rücken drückt, Emmie«, erklärte sie mir. »Denn das tust du manchmal, wenn du nervös bist, stimmt’s?« Aber ich studierte es trotzdem ein, nur ein klein wenig, auf der Fähre hierher heute Morgen. Ich würde irgendetwas Süßes, irgendetwas Cleveres sagen wie zum Beispiel: »Warum hast du so lange dafür gebraucht, Lucas Moreau? Ich könnte mir nichts Schöneres wünschen.« Und er würde über den Tisch – über die Tischdecke mit dem gewellten Rand, die im Le Rivage seit jeher auf jedem der kleinen runden Tische liegt – hinweg meine Hand drücken, und draußen, auf dem Weg nach Hause, würden wir über den Strand spazieren, und Lucas würde, wie er es immer tut, stehen bleiben, um mir zu zeigen, wo er vor all den Jahren meinen Luftballon gefunden hat. Und er würde mich küssen, da war ich mir sicher. Bei seinem Wagen würde er vermutlich innehalten und sich langsam, zögernd hinunterbeugen, um mich zu küssen, einen Finger und den Daumen an mein Kinn gelegt. Lucas würde mich zum ersten Mal in vierzehn Jahren küssen, wir würden beide nach moules marinières und den in Goldfolie gewickelten Pfefferminzbonbons schmecken, die zusammen mit der Rechnung in der Schale lagen, und ich würde endlich wieder atmen können. Denn das alles wäre es wert gewesen. Vierzehn Jahre Freundschaft und sechs Jahre, in denen ich den Drang hinuntergeschluckt habe, ihm zu sagen, was ich wirklich fühle, würden heute Abend endlich ihren Abschluss finden.

Das habe ich zumindest erwartet. Und nicht das hier. Nicht, dass ich zusammengesackt auf diesem Toilettenboden kauern würde, an einem perfekten Abend, in unserem perfekten Restaurant, an unserem perfekten Strand, nach einem perfekten Dinner, das jetzt, gekaut und wieder hochgewürgt, aus der Toilettenschüssel des Restaurants zu mir zurückstarrt wie die künstlerische Impression eines absolut beschissenen, seelenzerstörenden Desasters. Ich hatte erwartet, Ja zu sagen. Noch vor wenigen Minuten hatte ich – den einstudierten, perfekten Spruch auf der Zungenspitze, den Rücken durchgedrückt und die Augen voller Sterne – erwartet, Ja zu sagen, den Schritt von den »besten und längsten Freunden« zu »Freund und Freundin« zu tun. Zu einem Paar. Am Vorabend unseres dreißigsten Geburtstags. Denn was sonst hätte Lucas mich fragen sollen, was er nicht am Telefon sagen konnte?

Ich glaube, ich habe ihn gut verborgen, den Schock, der sich wie eine harte Ohrfeige anfühlte, als ich seine Frage hörte, und auch den ekelerregenden, anhaltenden Schmerz, der sich durch meinen Magen zog, während seine Worte langsam, wie klebriger Sirup auf einem Kuchen, in mein Bewusstsein drangen. Ich starrte Lucas mit offenem Mund an. Das muss ich getan haben, denn sein Lächeln schwand, und seine Augen verengten sich, so wie immer, wenn er anfängt, sich Sorgen zu machen.

»Emmie?«

Dann sagte ich es. Denn ich wusste, dass ich nichts anderes sagen konnte, während ich ihn über diesen Tisch hinweg ansah.

»Ja.«

»Ja?«, wiederholte er, die sandblonden Brauen hochgezogen, während seine breiten Schultern vor Erleichterung herabsanken.

»Ja«, sagte ich noch, und bevor ich ein weiteres Wort herausbringen konnte, kamen die Tränen. Tränen, die ich, wie ich sagen muss, meisterhaft recycelte. Für Lucas waren es in diesem Augenblick keine Tränen der Bestürzung, des Liebeskummers, der Panik. Es waren Tränen des Glücks. Tränen übergroßer Freude, denn ich war stolz auf meinen besten Freund und diese bedeutungsschwere Entscheidung, die er getroffen hatte; gerührt, ein Teil davon zu sein. Deswegen grinste er vor Erleichterung. Deswegen stand er von seinem Stuhl auf, kam um den runden, von Kerzen erhellten Tisch, hockte sich neben mich und schlang die kräftigen Arme um mich.

»Ach, komm schon, Em«, lachte er mir ins Ohr. »Jetzt heul nicht. Die anderen Gäste werden denken, dass ich irgendein Idiot bin, der einem Mädchen beim Dinner das Herz bricht oder so.«

Komisch. Denn genau so fühlte es sich an.

Und dann kam es: dieses brennende Gefühl, das mir vom Magen in die Brust hochstieg. »Ich muss aufs Klo.«

Lucas lehnte sich zurück, noch immer in der Hocke, und ich beschwor ihn im Stillen, mich nicht zu hinterfragen, mir nicht in die Augen zu sehen. Er würde es wissen. Er würde es sehen können.

»Ich fühle mich schon seit heute Morgen ein bisschen komisch im Kopf«, log ich. »Etwas migränig, du weißt doch, wie ich bin. Muss ein paar Schmerztabletten nehmen, mir Wasser ins Gesicht spritzen …« Als ob. Als ob ich mir mein Make-up ruinieren würde. Aber so heißt es doch immer in Filmen, oder? Und er fühlte sich überhaupt nicht wie im richtigen Leben an, dieser Moment. Das tut er noch immer nicht, während ich jetzt über dieser öffentlichen – wenn auch blitzblanken – Toilette kauere, die Schüssel mit dem Wein und Essen vollgespritzt, das wir erst vor einer Stunde mit einem strahlenden, aufgeregten Grinsen bestellt haben.

Heiraten. Lucas wird heiraten.

In neun Monaten wird mein bester Freund seit vierzehn Jahren, der Mann, in den ich verliebt bin, eine Frau heiraten, die er liebt. Eine Frau, die nicht ich bin. Und ich soll genau dort stehen, vor dem Altar, an seiner Seite, als seine Trauzeugin.

Kapitel 2

Es klopft an der Toilettentür.

»Excusez-moi? Ça va?«

Ich hatte schon immer die Angewohnheit, mich geräuschvoll zu übergeben und so laut zu würgen, dass es klingt, als ob mein Innerstes vom Geist eines Profi-Wrestlers nach außen befördert würde, und ich nehme an, diese Person – diese besorgt klingende Weltverbesserin auf der anderen Seite der Tür – will sich vergewissern, dass es nicht das ist, was passiert, während sie sich die Hände wäscht.

»Ja«, rufe ich. »E-es geht mir gut. Mir ist nur, ähm … schlecht – malade. Ja. Ähm, je suis malade

Die Frau fragt mich etwas auf Französisch, was ich nicht verstehe, aber ich schnappe die Wörter »Partner« und »Restaurant« auf. Sie hält kurz inne, dann höre ich ihre Schuhe über die Fliesen scharren, und meine verriegelte Tür knarrt ganz leicht, als ob sie näher herangetreten wäre, um ein Ohr dagegenzupressen.

»Soll ich jemanden holen? Geht es Ihnen gut da drin?« Sie klingt jung. Ruhig, aber besorgt. Einer dieser hilfsbereiten Menschen vermutlich, wie Marie. Marie ist immer diejenige, die stehen bleibt, um dem stolpernden Betrunkenen auf der Straße zu helfen, bei dem die meisten Leute zu misstrauisch wären, um sich ihm zu nähern. Sie redet in einem ruhigen, warmen Ton, ohne Angst, ohne dass ihr ein »Der Kerl könnte ein gottverdammtes Messer haben, und ich würde sehr gern noch mindestens bis zum Rentenalter leben, schönen Dank auch« durch ihren ganz und gar guten Kopf geht. Es ist eigentlich kein Wunder, oder? Kein Wunder, dass sie wieder zusammen sind. Kein Wunder, dass er sie heiratet.

»Hallo?«, sagt die fremde Frau noch einmal.

»Oh. Oh, nein, es geht mir gut«, antworte ich in einem angespannten, schrillen Ton. »Kein Grund zur Besorgnis. Es geht mir gut. Merci. Merci beaucoup

Sie zögert. »Sind Sie sicher?«

»Ja. Aber trotzdem danke. Vielen Dank.«

Sie sagt noch irgendetwas anderes, das ich nicht verstehe, und dann höre ich das Quietschen einer Angel, und die Tür fällt leise ins Schloss, zu romantischen Klängen klassischer Musik, die aus dem Lautsprecher herbeischwebt. Ich betätige die Spülung und ziehe mich langsam hoch. Meine Knie kribbeln, als das Blut wieder in meine Beine sickert, und die Spitzen einer verirrten Locke kleben feucht an meinem Kinn. Ich kann nicht glauben, dass mir schlecht war. So plötzlich. So heftig. Genau wie in der Seifenoper Emmerdale, wo sich die Leute nach einer schockierenden Nachricht gewöhnlich in die Küchenspüle übergeben und danach für einen Moment ins Abflussloch starren. Wie theatralisch, wie übertrieben und völlig anders als im richtigen Leben, würde ich jetzt denken, wenn dies hier nicht ich, sondern eine Figur in einer Soap wäre. Anscheinend habe ich einfach nur fast dreißig Jahre überlebt, ohne je einen solch heftigen Schlag in die Magengrube zu kriegen.

Ich zücke mein Handy, entsperre es und finde unser WhatsApp-Fenster. Ein Instinkt, dem meine Finger gehorchen, bevor mein Gehirn einschreiten kann. Eine Gewohnheit. Meine erste Anlaufstelle, immer. Lucas, zuletzt online um 18.57 Uhr. Offline. Natürlich ist er offline. Er sitzt auf der anderen Seite dieser Toilettentür, auf der von Lichterketten erhellten Veranda am Strand, gegenüber einem leeren Stuhl und einer halb gegessenen Schüssel Knoblauchmuscheln, und wartet auf mich. Ich starre auf unsere letzten Nachrichten, erst sieben Stunden her.

Ich: Hier sitzt ein Mann neben mir auf der Fähre, der Tintenfisch aus einem Gefrierbeutel isst. Was zum Teufel???? HILF MIR!

Lucas: Hahaha, im Ernst?

Ich: Ich werde gleich ohnmächtig von dem Geruch.

Lucas: Ich werde im Hafen mit Riechsalz auf dich warten. Du schaffst das, Emmie Blue! Du bist aus hartem Holz geschnitzt.

Das sagt er immer. Es ist Lucas’ Antwort auf so viele meiner Zweifel, meiner Sorgen. Als ich siebzehn und an Weihnachten allein zu Hause in meiner winzigen Wohnung war, rief ich ihn vom Festnetz aus an und betete, er möge abnehmen, damit ich eine menschliche Stimme hören konnte. Damals waren genau das die Worte, die er zu mir sagte. Als ich Ramsgate verließ und zwei Städte weiter zog, um dem Getuschel, den Rippenstößen und den mich ignorierenden Blicken auf den Schulkorridoren zu entkommen. Vor vier Jahren, als mein Ex Adam mich und die kleine Wohnung, die wir zusammen angemietet hatten, verließ. Das letzte Mal – abgesehen von dem Tintenfisch-im-Gefrierbeutel-Moment – sagte er es vor fast achtzehn Monaten, als ich schließlich den Versuch aufgab, die kleine Wohnung allein zu behalten, und ihren Inhalt in ein winziges, bei jedem Wetter glühend heißes Erdgeschosszimmer verfrachtete, dessen Vermieterin sich als eine leicht mürrische, zurückgezogene ältere Dame entpuppte. »Du schaffst das«, sagte er über FaceTime von seinem Bett aus zu mir, während ich auf meinem saß. »Du bist aus hartem Holz geschnitzt, Emmie Blue. Vergiss das nie.« Ich frage mich, was er jetzt sagen würde, wenn nicht er es wäre, der mich dazu gebracht hätte, mitten beim Hauptgang auf die Damentoilette zu flüchten. Vermutlich würde er lachen und sagen: »Gott, Em, wie ist das denn passiert?« Und dann: »Aber hör zu, der Witz geht auf seine Kosten, weißt du. Wenn er nicht sehen kann, wie brillant du bist …«

Ich stecke mein Telefon wieder ein, wasche mir die Hände mit reichlich Seife, die nach Weichspüler riecht, und richte mich vor der Reihe mit Spiegeln auf. Man würde es niemals ahnen. Ich sehe überhaupt nicht so aus, wie ich mich fühle – flau im Magen und zitterig. Todunglücklich. Ich sehe genauso herausgeputzt und strahlend aus wie vor zwei Stunden, als ich von Lucas’ Elternhaus losfuhr – bis auf eine kleine Mascaraspur am Augenwinkel, die ich wegtupfe. Gut. Er kann es nicht wissen. Schon gar nicht jetzt.

Ich schwinge die Tür auf, bleibe kurz stehen, um zwei lächelnde, parfümierte Frauen vorbeizulassen, und gehe weiter – langsam, ruhig und so aufrecht, wie ich mich halten kann. Leise plaudernde Stimmen vermischen sich mit dem Klirren von Gläsern, dem Schaben von Besteck auf Tellern und den verlorenen Klängen allzu leiser Musik. Die Luft ist, so wie immer im Le Rivage, schwer von dem Geruch nach Knoblauch und Zitrone und dem Salz des Meeres draußen. Es ist einer meiner Lieblingsorte. Das war es schon immer. Erinnerungen stecken hier tief in den Wänden, in den Holzplanken der Terrasse. So viele endlose Sommertage und ziellose Strandspaziergänge in den letzten dreizehn Jahren haben hier geendet. Diese »Traumhaus-Touren«, auf denen wir oft meilenweit fuhren, Lucas frisch von der Uni und ich neuerdings fest angestellt als Bürohilfe. Wir hielten an, wenn wir an riesigen Châteaus und baufälligen, vierhundert Jahre alten Cottages vorbeikamen, zeigten auf unser künftiges Zuhause und sagten uns, was wir ändern und was wir beibehalten würden, wenn es uns gehörte. Und natürlich, jedes Mal, fast als wäre es eine Tradition, verfuhr sich Lucas in Honfleur so hoffnungslos, dass er am Straßenrand anhalten und Bauern nach dem Weg fragen musste. Und hier, zwischen dem Brutzeln des Grills in der offenen Küche und dem ruhigen Plätschern der Wellen, tankten wir immer auf. Mit reichlich Vorspeisen, Schalen mit salzigen, mit Rosmarin bestreuten Pommes frites und manchmal mit nichts als einem Bier. Wir redeten über alles auf diesen Touren und innerhalb dieser Wände. Aber hauptsächlich über die Zukunft und all die Dinge, die in den Jahren, die sich vor uns ausdehnten, auf uns warten mochten. Jetzt frage ich mich, ob wir uns das hier je vorgestellt haben. Nicht so sehr die Tatsache, dass Lucas heiraten wird, sondern … das hier. Haben wir je gedacht, das hier sei eine Möglichkeit? Dass letztendlich irgendetwas zwischen uns steht und die Landschaft von allem verändert. Von uns.

Ich trete durch die offenen Glastüren in den Essbereich im Freien und sehe Lucas, bevor er mich bemerkt. Hier draußen ist es stiller, mit der seidigen Sanftheit des Meeres und der wunderschönen Aussicht, die mit der untergehenden Sonne verblasst, wie ein alter Film. Dorthin ist Lucas’ Blick gerichtet, auf den violetten Horizont. Er hat einen Ellenbogen auf den Tisch gestützt und reibt sich mit einer Hand das Kinn. Dann dreht er sich um, sieht mich, und ein breites, strahlendes Lächeln zeigt sich auf seinem Gesicht. Und Besorgnis. Ich sehe sie, nur eine Spur.

»Hey«, sagt er. »Geht’s dir gut?«

Ich stelle mich hinter meinen Stuhl und umklammere das geschwungene Holz der Rückenlehne. Dann nicke ich ihm zu und setze ein Lächeln auf, aber ich glaube nicht, dass ich es über mich bringen kann, mich hinzusetzen – zu dieser halb aufgegessenen Mahlzeit, ihm gegenüber. Ich dachte, ich könnte es, aber es geht nicht. Meine Kehle ist wund. Mein Mund schmeckt nach Galle. Und wenn ich ihn so ansehe, hier, in diesem Restaurant, mit den schiefergrauen Augen, den Sommersprossen, deren Anordnung ich so genau kenne, könnte ich in Tränen ausbrechen. Ein Desaster. Ohne dass Lucas es ahnt, ist der heutige Abend genau das: ein absolutes Desaster. Das Gegenteil von allem, was ich auf der verträumten, brechend vollen, tintenfischigen Überfahrt geplant habe.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich zurückfahre?«

Sogleich steht er auf und streicht mit seiner sonnengebräunten Hand das weiße Hemd glatt. »Nein. Nein, natürlich nicht. Im Ernst, Em, geht es dir gut?«

»Ich fühle mich einfach richtig schlecht. Ehrlich gesagt denke ich, ich sollte mich ins Bett legen. Ausschlafen. Verdammte Migräne!« Das Kichern, zu dem ich mich zwinge, klingt ein bisschen wie ein Motorrad.

»Die hattest du doch schon seit einer ganzen Weile nicht mehr«, sagt er. »Das letzte Mal war in London, vor dem Kino, oder? Hast du dein Zeug dabei? Deine Tabletten?«

Ich starre ihn an und spüre, wie mein Herz schlingert, als hätte jemand soeben die Bremsen durchgetreten. Vor zwei Jahren kam Lucas beruflich wegen irgendeiner Architekturkonferenz, zu der ihn seine Firma in Frankreich einmal im Jahr schickt, nach London. Wir trafen uns im Julisonnenschein an der South Bank, und in der Schlange fürs Kino begannen plötzlich diese im Zickzack tänzelnden Lichter am Rande meines Blickfelds, und dann, wie aufs Stichwort, auch der dumpfe Schmerz hinter meinen Augen. Wir verließen die Schlange und gingen zurück zu Lucas’ Hotelzimmer im zehnten Stock, wo ich die megastarken Schmerzmittel nahm, die ich immer in meiner Tasche bei mir habe. Ich schlief, die Vorhänge sperrten das Sonnenlicht aus, und Lucas arbeitete leise neben mir, das Gesicht von seinem Laptop bläulich erhellt. Als ich Stunden später aufwachte, ließ er mir ein Bad ein, und dann rief er mir durch die Tür Quizshow-Fragen zu, während ich in der Wanne lag und ihm antwortete. Und danach, mit einem Tablett vom Room Service zwischen uns, ohne Licht bis auf den Fernseher, sagte ich ihm – dort auf dem Bett, während wir Quizshows aus den Neunzigern schauten –, dass ich jenem »Zuhause«-Gefühl, nach dem ich mein Leben lang gesucht hatte, noch nie so nahe gewesen sei wie in diesem Moment. Und er erinnert sich. Er erinnert sich an diesen Abend, so wie ich – wie an so viele unserer gemeinsamen Zeiten –, und doch stehen wir jetzt hier.

»Ich habe meine Tabletten im Gartenhaus gelassen«, sage ich. »Vermutlich muss ich mich nur ein bisschen ausruhen.«

Lucas nickt, die Augen besorgt zusammengekniffen. »Lassen wir uns die Rechnung bringen. Ah …« Er hält einen vorbeikommenden Kellner leicht am Arm fest, entschuldigt sich und fragt, ob er zahlen könne. Auf Französisch natürlich. Dem perfekten Französisch, das er mir immer wieder lachend beizubringen versucht hat, während ich, wie er oft sagte, die Wörter aussprach »wie eine betrunkene Deirdre Barlow aus Coronation Street, die sich in Marseille verlaufen hat«. Im Laufe all der Jahre habe ich nur die Grundlagen gelernt. Mehr ist nie hängen geblieben.

»Luke, ich könnte mir einfach ein Taxi nehmen.«

Lucas furcht die Stirn, als hätte ich irgendetwas völlig Unbegreifliches vorgeschlagen. »Soll das ein Witz sein? Sei nicht albern, wir werden einfach nach Hause fahren. Wir haben das ganze Wochenende.«

»Aber … Marie«, sage ich. »D-du hast gesagt, sie würde uns danach zum Dessert treffen wollen, um zu feiern.«

»Das ist doch keine große Sache, Em. Ich kann sie anrufen.«

Die Rechnung kommt; Lucas reicht dem Kellner ein Bündel Geldscheine und sagt ihm, dass er den Rest behalten solle. Seit zwölf Jahren übernehmen wir es abwechselnd, unser Geburtstagsessen zu bezahlen, und heute Abend ist Lucas dran. Ich ignoriere die traurige, leise Stimme, die mir sagt, dass ich jetzt – wo eine Hochzeit, eine junge Ehefrau und ein gebrochenes Herz ins Spiel gekommen sind – vielleicht nie wieder dran sein werde.

»Okay.« Lucas schlüpft in seinen marineblauen Blazer und streicht das Revers glatt. »Können wir?«

Ich nicke, und Lucas, die Augenbrauen hochgezogen und ein winziges Lächeln auf den Lippen, streckt die Hand aus. Und während mir wieder ganz schwer ums Herz wird, ergreife ich sie. Denn was könnte ich anderes tun? Ich liebe ihn. Ich habe Ja dazu gesagt, seine Trauzeugin zu sein, weil ich ihn liebe. Meinen besten Freund. Meinen einzigen Freund, vor langer Zeit einmal. Den Jungen, der vor vierzehn Jahren meinen Luftballon gefunden hat und, gegen jede Wahrscheinlichkeit, durch Regen und Stürme und über das weite Meer hinweg, auch mich gefunden hat.

Kapitel 3

Rosie: Genau so ist es passiert, oder? Genau so (habe ich zumindest gehört) bitten die Franzosen jemanden, mit ihnen zu gehen.

Rosie: Oh, ja. Ich habe »mit ihnen zu gehen« gesagt. Was wirst du tun?

Rosie: PS: Ich hoffe, alles ist perfekt gelaufen!

Rosie: PPS: Vögelt ihr jetzt?

Ich halte mir das Handy hoch übers Gesicht, blinzele aus verquollenen, brennenden Augen auf das grell beleuchtete Display. Rosie hat, zusammen mit ihren vier WhatsApp-Nachrichten, ein Foto geschickt, und ich muss, trotz allem, was ich fühle, unwillkürlich lachen. Auf dem Foto steht Rosie auf dem klinisch weißen Fliesenboden der Hotelküche, die Hände in gespieltem Schock vor dem Mund, und Fox, unser Boss, unser größter Pantoffelheld und Freund, kniet in einer Anzughose auf einem seiner langen Beine vor ihr und hält ihr ein Croissant am ausgestreckten Arm hin, ungefähr so, wie jemand einen Verlobungsring präsentieren würde. Ironischerweise ist die Szene nah dran. Angeblich hat Lucas Marie nämlich seinen Antrag beim Frühstück im Bett gemacht. »Mit einem Ring, über ungefähr siebzehn Gebäckstücke hinweg«, hat er lachend erzählt.

Ich schließe mein Handy. Ich kann es noch nicht über mich bringen, ihr zu antworten. Ich werde es morgen tun oder alles erklären, wenn ich die beiden am Dienstag sehe, wenn ich wieder auf der Arbeit bin. Bis dahin werde ich bestimmt irgendeinen Sinn in all dem sehen können, die tiefere Bedeutung erfasst haben. Denn alles passiert aus einem Grund, oder? Selbst wenn einem am Anfang alles hoffnungslos oder falsch oder verdammt katastrophal erscheint. So weit bin ich in den drei Stunden gekommen, seit ich das Restaurant verlassen und verzweifelt versucht habe, mich aus dem Treibsand herauszukämpfen, in den ich offenbar einsinke: Es gibt einen Grund für das hier. Ich kann ihn nur noch nicht sehen.

Die Autofahrt vom Restaurant zu Lucas’ Elternhaus in Le Touquet kam mir länger vor als sonst. Lucas plapperte die ganze Zeit fröhlich, während ich dazu nickte, die passenden Laute ausstieß und die vertrauten grünen Felder und winzigen, kopfsteingepflasterten französischen Dörfer verschwommen an meinem Fenster vorbeiflogen. Er begleitete mich von der Auffahrt des efeuumrankten Cottages seiner Eltern durch die Seitenpforte und weiter zum Ende ihres Gartens bis zur Bauernhaustür des Gartenhauses. Ich schloss sie rasch auf, in einem Wettlauf mit den Tränen, die ich auf der Autofahrt mit aller Macht in Schach gehalten hatte. Der Schlüssel, den Amanda, Lucas’ Mum, mir bei meiner Ankunft jedes Mal in einem weißen DIN-A5-Umschlag überreicht, als wäre ich ein Gast in einem Landgasthof, lag feucht in meiner Hand. Lucas wollte mit hereinkommen. Das konnte ich sehen, während ich ihm zugewandt im Türrahmen stand – es war die Art, wie er die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte, die Schultern steif, einen Fuß auf der Türschwelle, während er an mir vorbei zu der kleinen Kochnische sah. Er erwartete, mit hereinzukommen, wie er es für gewöhnlich tut. Sich aufs Bett fallen zu lassen, die Schuhe von sich zu kicken, durch die Fernsehsender zu zappen, zuzuhören, während ich im Bad in meinen Pyjama schlüpfe und ihm die neuesten Geschichten von schrulligen Gästen bei der Arbeit erzähle, die Tür angelehnt, aber nicht geschlossen. Stattdessen bedankte ich mich bei ihm für das Dinner, entschuldigte mich dafür, dass ich es verkürzt hatte, und schwafelte wieder etwas von Migräne.

»Na, dann ruh dich aus, Em«, sagte er. »Und ruf mich an, wenn du irgendetwas brauchst, okay? Ich bin gleich drüben im Haus, oben. Ich kann den Room Service spielen.«

»Ich komme schon klar.«

»Im Ernst«, sagte er und beugte sich dann vor, um seine warme Wange an meine zu legen. »Alles Gute zu unserem letzten Tag als Neunundzwanzigjährige. Haben wir nicht jahrelang darauf gewartet, als Dreißigjährige aufzuwachen, die genau wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen?«

»Na klar«, erwiderte ich mit einem breiten Lächeln, und dann schloss ich die Tür, lehnte mich mit dem Rücken dagegen und brach in der leeren Dunkelheit in heiße, stille Tränen aus. Das ist alles, was ich seitdem getan habe. Weinen. Und das tue ich auch jetzt, in dieses dicke Federbett gepackt, mit lodernden Wangen und verquollenen Augen, den Schoß voller Krümel von dem zerknüllten, zerbröselnden Taschentuch, das ich mir in den letzten paar Stunden unter die Nase gehalten habe.

Trauzeugin des Bräutigams. Geht das denn überhaupt? Trauzeugen des Bräutigams, na klar. Brautjungfern, natürlich. Aber eine Trauzeugin des Bräutigams? »Das ist doch selbstverständlich«, meinte Lucas in dem etwas verworrenen Vorfeld der Frage, als ich ihm mit glühenden Wangen gegenübersaß. »Denn niemand – im Ernst, keine Menschenseele – kennt mich so gut wie du, Emmie. Es könnte niemand anders sein.« O Gott. Und ich war so bereit. So sicher – so absolut sicher, dass ich meine verdammte Antwort einstudiert hatte.

»Wir werden heiraten, Em.« Er strahlte, während er sprach. »Marie und ich. Und ich … wünsche mir, dass du meine Trauzeugin bist. Mehr als alles andere. Du. Die dort vorne steht. Bei mir. Was sagst du dazu?« Du. Die dort vorne steht. Bei mir. Jetzt zittere ich so heftig, dass ich mit den Zähnen klappere, und ich ziehe mir die Decke über den Kopf. Erbrechen. Unkontrolliertes Schluchzen. Geschwollene Gesichtszüge. Und jetzt auch noch Zittern. Davor warnt einen in Liebesliedern niemand, oder? Dr. Hook hat nicht darüber gesungen. Beim staatlichen Gesundheitsdienst gibt es keine Webseiten für gebrochene Herzen, so wie für Nagelbettentzündungen und Harnwegsinfektionen, aber die sollte es geben.

Wann Sie ärztliche Hilfe suchen sollten:

Auf der anderen Seite des Betts rumort die Klimaanlage an der Wand wie ein blubbernder Wasserkocher und schließt die klebrige, sommerliche Hitzewelle draußen aus. Mein muffiges Zimmer zu Hause im Fishers Way ist im Vergleich dazu ein kleiner Hochofen. So heiß, dass ich in der Sekunde, in der die Temperatur die Dreiundzwanzig-Grad-Marke übersteigt, mit der Überzeugung ins Bett gehe, dass ich am nächsten Morgen verschrumpelt, wie eine Rosine in einem Pyjama, von meiner Vermieterin gefunden werde. Aber hier bei den Moreaus besteht für mich keine solche Gefahr. Ich nehme an, das ist immerhin etwas. Selbst in den dunkelsten Zeiten ist es wichtig, sich auf das Positive zu konzentrieren, wenn man kann. Egal wie winzig. Egal wie wenig.

Ich schlage die Decke zurück und setze mich im Bett auf, presse einen Handballen gegen die Stirn, die ironischerweise vor richtigen Kopfschmerzen zu pochen beginnt, und schalte die Nachttischlampe ein. Auf der Fähre hierher habe ich ausgerechnet, an den Fingern abgezählt, dass ich dreizehn meiner Geburtstage – unserer Geburtstage – hier im Garten der Moreaus verbracht habe. Meinen ersten, als Lucas und ich siebzehn wurden. Am 9. Juni 2005. Es war das erste Mal überhaupt, dass ich hier übernachtete, und erst unser zweites persönliches Treffen, aber Lucas’ Eltern behandelten mich wie ein Familienmitglied, das schon tausendmal zu Besuch gewesen war. »Lucas spricht nur von dir«, sagte Jean, als er mir das Gartenhaus zeigte, und dann zog er die Schultern bis zu den Ohren hoch und lächelte, fast besiegt, als wollte er sagen: »Und wenn du meinem Sohn wichtig bist, dann bist du uns auch wichtig.« An jenem Wochenende kauften Lucas’ Eltern uns beiden je einen Geburtstagskuchen und luden uns zum Essen ins Le Rivage ein, das damals neu eröffnet hatte und nach frischer Farbe und frisch gesägtem Holz roch. Es war eines der ersten Restaurants, die ich je besuchte, auch wenn es mir viel zu peinlich war, das vor ihnen zuzugeben. Am nächsten Tag gingen Lucas und ich mit seinem älteren Bruder Eliot und einigen ihrer Freunde zu einem Gig, und obwohl ich überhaupt nicht tanzte, nicht ein einziges Mal, war es einer der schönsten Abende, die ich je erlebt hatte. Nicht weil es Spaß machte. Sondern wegen der Art, wie alle mich ansahen. Als eine von ihnen. Als eine ganz normale Siebzehnjährige, der die Welt zu Füßen lag. Nicht »dieses Mädchen von der Fortescue Lane«. Einfach nur Emmie Blue, einen Cocktail in der Hand, unterwegs, um ein bisschen Spaß zu haben, bevor sie endlich der Schule entkam und mit dem College anfing. Und morgen, an unserem vierzehnten gemeinsamen Geburtstag, werden wir dreißig sein. Dreißig Jahre alt. Das Alter, das ich in all den Jahren immer fest im Blick hatte, wie einen Preis in der Ferne, wie eine sichere Zuflucht, ein warmes Licht in der Dunkelheit am Horizont. Denn mit dreißig ist jeder sesshaft geworden, oder? Mit dreißig ist man ein Erwachsener – voll entwickelt –, und jeder weiß, wer er ist. Oder jeder weiß zumindest, wohin genau er geht, auch wenn er das Ziel noch nicht ganz erreicht hat.

Ich strecke mich, hieve meinen Koffer aufs Bett und ziehe den Reißverschluss auf. Alles liegt noch immer ordentlich zusammengefaltet darin, genau so, wie ich es gestern Abend gepackt habe, als mein Magen vor Aufregung kribbelte und ich mir genau vorstellte, was passieren würde, nachdem er mich gefragt hätte. Nachdem das Luftballonmädchen über diesen Tisch an dem Strand, der sie beide zusammengeführt hatte, geblickt und Ja zu dem Luftballonjungen gesagt hätte, vierzehn Jahre später.

Ich hole die schwarze Geschenkschachtel heraus, die zwischen meinen Kleidern eingebettet liegt, und nehme den Deckel ab.

»Das heißt, Augenblick, Lucas hat allen Ernstes gesagt, ihr beide würdet irgendwie zusammen sein? An Silvester?«, fragte Rosie bei der Arbeit. Auf die Weise haben wir in den vergangenen zwei Jahren Dinge übereinander erfahren, Rosie und ich: komprimierte Geschichten, Anekdoten, Sorgen, Hoffnungen und Erinnerungen, in einer dreißigminütigen, gut verdaulichen Dosis während unserer Mittagspausen.

»Ja, er hatte einen beschissenen Abend und kam um kurz nach Mitternacht französischer Zeit nach Hause. Ich war in meinem Zimmer und habe mir Jools Holland angesehen, daher haben wir uns über FaceTime gesprochen. Von unseren Betten aus.«

Rosie starrte mich mit weit aufgerissenen Augen lächelnd an. »So heiß. Du hast doch gesagt, einer deiner Vorsätze für dieses Jahr sei es, jemanden kennenzulernen.«

»Mich zu verlieben«, stellte ich richtig, und sie klimperte mit den Wimpern und bat: »Erzähl mir noch mal, was Lucas gesagt hat.«

»Er hat mich mutig genannt«, erwiderte ich lachend. »›Scheiße, Em, das ist echt mutig‹ – genau das hat er gesagt. Und dann war er irgendwie kurz davor wegzupennen, weil er ungefähr eine Million Whiskey Sours getrunken hat, doch er hat gesagt – er hat mich gefragt, ob ich je darüber nachgedacht hätte, warum wir beide in Sachen Liebe so hoffnungslose Fälle wären. Weil er eine Theorie hätte. Dass wir es seien … Wir seien vermutlich schon immer füreinander bestimmt gewesen.«

Rosie kreischte und umklammerte meine Handgelenke. »O Gott, Emmie, er wird dich fragen, das ist dir schon klar, oder?«, meinte sie. »Deshalb hat er gesagt, dass er dich nicht am Telefon fragen kann, nur für den Fall, dass du auflegst oder ausflippst oder so. Das ist doch wunderschön, oder? Ich meine, total. Nach all den Jahren …«

Jetzt starre ich auf die offene Geschenkschachtel, die vor mir auf dem Bett liegt. Das lederne Skizzenbuch, das ich ein paar Wochen zuvor gekauft hatte, mit Lucas’ Initialen, die auf den Deckel und innen auf eine Ecke jeder leeren Seite geprägt waren, schien nach dem Gespräch mit Rosie nicht mehr genug zu sein. Sie hatte recht. Es war wunderschön – wäre es gewesen. Zwei Leute, die sich, gegen jede Wahrscheinlichkeit, genau in dem Augenblick kennenlernten, in dem sie einander brauchten. Gleiches Alter, gleiche Geburtstage, gleiche Besessenheit von Marmite auf Toast und Footballers’ Wives. Durch Zufall, würden manche vielleicht sagen, aber ich nahm es nicht an. Und ich wollte es mit mehr als nur einem »netten« Geburtstagsgeschenk feiern. Das war der Moment, in dem ich mich entschied, die Geschenkschachtel zu kaufen, die jetzt vor mir liegt. Bei der Arbeit in der Küche erstellte ich auf der Rückseite einer Serviette aufgeregt eine Liste mit den wichtigen Dingen, die hineinmussten. Jetzt nehme ich einen Umschlag heraus, der die allererste E-Mail enthält, die Lucas mir geschickt hat, als wir noch Fremde waren. Betreff: Ich habe deinen Luftballon gefunden! Ich nehme auch das Glas Marmite heraus, es liegt wie ein Briefbeschwerer in meiner Hand. Neu gekauft, aber eine Dublette des ersten Gegenstands, den ich Lucas je geschickt habe (zusammen mit der Tonbandkassette mit meinem mündlichen Französisch, damit er sie sich anhörte und auf Genauigkeit überprüfte, bevor ich sie bei meinem Sprachlehrer abgab). Ich schickte ihm das Glas, da er gesagt hatte, neben den EastEnders und Erbsenpüree von einer Pommesbude sei das etwas von zu Hause, das er vermisste, und sein Zuhause war, vor Frankreich, Nord-London gewesen. Das war die Zeit, als die Mix-CDs anfingen. Er schickte mir die erste im Gegenzug für das Marmite – ein kleines Dankeschön, aus dem sich nach und nach ein Ritual entwickelte, eine Sprache zwischen uns beiden: Ich schickte ihm etwas von zu Hause, und er schickte mir im Gegenzug eine seiner Mix-CDs, die selbst wie kleine Briefe waren. Acht insgesamt. Die neunte ist er mir immer noch schuldig. Das ist der letzte Gegenstand in der Schachtel, die erste CD. Und obwohl die Plastikhülle einen Sprung hat und die Karte darin sich an einem der Ränder einrollt, ist sie noch immer perfekt. Die Tinte von Lucas’ Handschrift marineblau und nicht verwischt. Lauter ordentliche Großbuchstaben, ruhig, selbstsicher, langsam geschrieben. Nicht wie Lucas jetzt schreibt, mit einer flatterhaften, energischen Handschrift, so wie er selbst ist, immer mit irgendetwas Größerem und Wichtigerem beschäftigt.

Ich kann nicht. Ich kann ihm diese Dinge – unsere gemeinsame Geschichte, wie wir hier, an diesem Punkt, angelangt sind, eine Geschichte in Gegenständen – nicht morgen über den Frühstückstisch auf Amanda und Jean Moreaus Bilderbuch-Terrasse überreichen. Daher stecke ich alles bis auf die CD in meinen Koffer und schließe die Geschenkschachtel über dem einzigen harmlosen, netten Gegenstand darin – dem Skizzenbuch. Ich lege sie auf den Nachttisch, bereit für den nächsten Morgen, und kuschele mich ins Bett.

Mein Handy erhellt den Raum mit Fußball-News. Ich wünschte, ich wüsste, wie man die Benachrichtigungsfunktion ausschaltet, und sehe auf die Uhr. 00.33 Uhr. Na bitte. Da haben wir’s. Ich bin offiziell dreißig. Ich bin dreißig Jahre alt, und man kann mit Sicherheit sagen, dass ich in genau diesem Moment nicht die geringste Ahnung habe, was mein Ziel ist.

Ich schließe die Augen und ziehe die Knie bis zum Bauch hoch. Ich hätte nie gedacht, dass ich meinen dreißigsten Geburtstag so verbringen würde. Mit dem Gefühl, winzig klein zu sein. Bedauernswert. Bedeutungslos. Denn tief in mir weiß ich, dass ich tatsächlich aus hartem Holz geschnitzt bin. Zumindest damit wiederaufgebaut, so wie wir alle, im Laufe der Jahre, mit dem Alter und der Erfahrung, während die Haut dicker und das Herz weicher wurde, doppelt geflickt an den Stellen, die zum Brechen neigen. Eine Summe all der Dinge, die uns verletzt, verängstigt, beschützt und entzückt haben.

Und das ist, was Lucas für mich ist, nehme ich an. Entzücken, ja, natürlich. Aber auch Schutz. Sicherheit. Nach diesem Sommerball, als ich sechzehn war, habe ich eine neue Emmeline – eine neue Emmie – mühsam wiederaufgebaut. Und von der allerersten E-Mail an war er derjenige, der mir dabei geholfen hat. Der jede Entscheidung unterstützt hat, bei jedem winzigen Schritt applaudiert hat, als wäre es ein riesiger Sprung.

Jetzt brennen Tränen hinter meinen Augenlidern. Denn ich weiß, auf diese gewisse Art, auf die man etwas nur dann weiß, wenn das Bauchgefühl die Kontrolle übernommen hat, dass ich ihn jetzt unterstützen muss. Ich weiß, dass ich bei diesem Schritt, den Lucas tut – diesem gewaltigen, riesigen Sprung –, applaudieren muss, denn egal, wie schmerzlich es ist, das bin ich ihm schuldig. Das ist, was eine beste Freundin tut. Eine Trauzeugin.

Ich halte die CD in der Hand. Die Tracklist ist das Letzte, was ich sehe, bevor mir die Augen zufallen und ich einschlafe.

Mix-CD. Vol. 1

Liebes Luftballonmädchen,

Track 1. Weil du dein mündliches Französisch super hingekriegt hast.

Track 2. Weil dein Geschmack für Boybands dringender Hilfe bedarf.

Track 3. Weil dein Nachname Blue ist.

Track 4. Weil du nur Spiegeleier und Pommes frites isst.

Track 5. Weil ich immer da sein werde.

Luftballonjunge

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Kapitel 4

Der von einem Sonnenschirm beschattete Terrassentisch der Moreaus sieht heute Morgen aus, als stammte er aus Schöner Wohnen. Die frische weiße Tischdecke wird beschwert von Tellern mit noch warmen goldgelben Gebäckstücken, Kaffeekannen, Schalen mit rubinroten Erdbeeren und taubenetzten Blaubeeren – und natürlich, im Einklang mit der Tradition, zwei Geburtstagskuchen, die hoch und stolz auf Keramikkuchenständern ruhen. Jeweils einer an jedem Ende der kleinen Tafel. Einer für Lucas. Einer für mich. Und jeder, wie jedes Jahr, mit einer Geschichte.

»Ich weiß, ein schwarzer Kuchen ist nicht unbedingt fröhlich«, lächelt Amanda, während sie den Turm aus Croissants so arrangiert, dass alle perfekt Jenga-mäßig angeordnet sind, »aber alles, wovon ich im Moment höre, ist die neue Lederausstattung von Lucas verdammten Wagen, und ich dachte, na ja, wenn Fondant mein Ding wäre, dann könnte ich ihm einen Wagen backen. Ihr wisst schon, den Wagen aus Biskuitteig zurechtschneiden …«

»Nein, nein, nein«, murmelt Jean über seinem Espresso und hebt den Blick über den Rand seiner Brille. »Ich hätte den Stress nicht ertragen, während du dich an so etwas versuchst, meine Liebe.«

Amanda verdreht die Augen, aber sie lächelt, ihre schmalen Lippen wie immer in der Farbe rosiger Perlen bemalt. »Aber dann dachte ich, das hier sei das Zweitbeste. Und ich dachte, wenn ich ihn mit einem Steppmuster verziere, wirst du wissen, dass es nicht nur …«

»… ein tintenschwarzer Kuchen ist«, kichert Lucas.

»Und keine Darstellung deiner Seele«, ergänze ich. Amanda bricht ab, fährt sich mit einer Hand an den Mund und lacht – dieses typische Lachen, das ein Aufschrei ist, bevor es zu einem Kichern wird –, und Jean, der in seinem ganzen Leben höchstens zweimal gelacht hat, und beide Male unbeabsichtigt, grinst hinter seiner winzigen weißen Espressotasse.

»Hey, es ist mein Geburtstag.« Lucas lehnt sich zur Seite, um mich anzustoßen. »Du musst nett zu Leuten in mittleren Jahren sein.«

»Das sagt ja der Richtige«, entgegne ich. »Du hast mich heute Morgen begrüßt, indem du mich Mondgesicht genannt hast.«

»Mondgesicht«, lacht Amanda wieder, eine angebissene Erdbeere zwischen den Fingerspitzen. »Du meinst dieses Foto von euch beiden, stimmt’s? Das wir in … Honfleur aufgenommen haben, am Geburtstag deines Bruders, richtig? Als das Blitzlicht eure Gesichter leichenblass gemacht hat.«

Lucas nickt. »Eliots einundzwanzigster. Das ist jetzt Jahre her.«

»Und mein Gesicht war einfach so rund und so weiß«, werfe ich ein, und Lucas lacht.

»Als ob ich mit dem echten Mond in einer Jeansjacke zu Mittag essen würde.«

Ich sehe ihn finster an, und er grinst.

»Ich kann nicht glauben, dass du sie noch immer so nennst«, lächelt Amanda, setzt sich und breitet eine schneeweiße Serviette auf ihrem Schoß aus.

Lucas lacht. »Nur zu besonderen Anlässen.«

»Wie zum Beispiel dreißigsten Geburtstagen«, ergänze ich.

»Genau«, meint Lucas und nickt. »Also, würdest du mir bitte dieses Marmelade-Dings reichen, Mondgesicht? Was denn? Ich will es möglichst oft sagen, solange ich kann. Ich werde dich nicht wieder so nennen können, bis du vierzig wirst oder heiratest oder schwanger wirst oder etwas ähnlich Bedeutsames passiert.«

Bei dem Gedanken, heute Morgen hierherzukommen, war mir schlecht. Die Angst davor, die Augen aufzuschlagen, um die Sonne hinter den schweren cremefarbenen Vorhängen des Schlafzimmers hervorschauen zu sehen, und zu wissen, dass es Morgen war, zu wissen, dass es unser Geburtstag war, war in der vergangenen Nacht so schwer, dass sie mich tief in die Matratze drückte. Wenn ich am 9. Juni hier, in Le Touquet, in diesem Schlafzimmer aufwachte, umgeben von zerknüllten Taschentüchern, mit brennenden und verquollenen Augen, hieß das, dass es passiert war. Es war echt. Der Mann, den ich liebe, hat mir gesagt, dass er die Ewigkeit mit einer anderen verbringen will, und er wünscht sich, dass ich dabei bin, an seiner Seite, im Rampenlicht, während er es der Welt verkündet.

»Du brauchst eine Tonight-Matthew-Dusche.« Rosies warme und vertraute Stimme wirbelte durch mein Gehirn, als wäre sie am Telefon, als ich heute Morgen im Bett lag und mit brennenden Augen an die Zimmerdecke starrte. Ich hatte ihr gestern Abend nicht mehr zurückgeschrieben – aus Sicht der echten Rosie lagen Lucas und ich verheddert zwischen weißen Laken, die Finger ineinander verhakt, mit einem schläfrigen Lächeln und Plänen für den Morgen. Freund und Freundin. Aber ich wusste, wenn sie hier gewesen wäre, dann hätte sie genau das gesagt. »Beweg deinen Hintern, Em. In diese Dusche. Geh als die trübsinnige, todunglückliche Emmie Blue hinein, aber komm als die starke und unabhängige Frau, die du bist, wieder heraus. Im Ernst. Als ob du einen Auftritt in Stars in Their Eyes hättest und die Moreaus dein verdammtes leichtgläubiges Publikum wären.« Und genau das tat ich. Ich stemmte mich hoch und duschte geschlagene zwanzig Minuten, wusch mir die Haare, rasierte mir die Beine und gönnte mir ein Peeling aus einem dieser Glasfläschchen mit goldenem Deckel, die Amanda mir immer ins Bad stellt. Ich föhnte mir die Haare, cremte mich ein und versuchte mich sogar mithilfe eines Tutorials, das Rosie ausgearbeitet und in der Notizen-App auf meinem Handy gespeichert hatte, am Konturieren. Dann ging ich den Weg hinunter zu dem saftig grünen Bilderbuchgarten der Moreaus, als wäre mein Herz von Freude und nicht von Schmerz erfüllt. Als wäre ich dreißig Jahre alt, mir über alles im Klaren und nicht verloren. Nicht allein.

»Emmie?«

Als ich den Kopf hebe, sehe ich, dass Amanda mir den Teller mit Gebäckstücken hinhält.

»Mandel, Darling? Ich besorge für dich immer die mit Mandeln.«

Ich nehme mir eines, und ein Schauer von Krümeln fällt auf den Teller. »Danke, Amanda.« Mein Appetit ist nicht existent, mein Magen rumort ununterbrochen, aber wenn ich jetzt nichts esse, wird mir nicht nur schlecht werden, sondern Lucas könnte es bemerken und mich fragen, ob es mir gut geht, und diesen Lucas will ich heute nicht. Den freundlichen, besorgten Lucas, der mir eine Hand auf den Arm legt. Dieser Lucas könnte mich prompt wieder in die Pfütze aus Tränen stürzen, in der ich gestern Nacht war.

»Das riecht köstlich«, sage ich zu Amanda und reiße ein spitzes Ende des warmen Croissants ab.

»Ja, nicht wahr? Ich bin ja so froh, dass du nicht auf irgendeiner albernen Diät bist, so wie der hier«, sagt sie mit einem Blick auf Lucas. »Er ist nur Haut und Knochen, und er lebt praktisch in seinem Fitnessstudio.«

gesund