Zum Autor
Geert Mak, geboren 1946, ist einer der bekanntesten Publizisten der Niederlande und gehört nach drei großen Bestsellern zu den wichtigsten Sachbuchautoren des Landes. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen »Amsterdam« (1997), »Das Jahrhundert meines Vaters« (2003) und »In Europa« (2005). Zuletzt erschienen »Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten« (2013) sowie »Die vielen Leben des Jan Six« (2016). Für sein Werk erhielt Geert Mak 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Seine Bücher sind internationale Bestseller und wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Zum Buch
Von den Küsten Lampedusas bis zu Putins Moskau, vom störrischen Katalonien bis zu den muslimischen Vororten Kopenhagens: Unser Kontinent ist zum Zerreißen gespannt. Was ist, dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, aus dem alten europäischen Traum – Frieden, Freiheit und Wohlstand – geworden, der immer mehr zum Albtraum wird? Geert Mak, der geniale Erzähler unter den Historikern unserer Zeit, schrieb 2004 mit seinem Buch »In Europa« einen Klassiker – ein Reisebericht, zugleich die Bestandsaufnahme Europas am Ende eines katastrophenreichen Jahrhunderts, samt all der Euphorie zu Beginn des neuen Millenniums. Wo stehen wir heute, zwanzig Jahre später? Was ist aus den großen Erwartungen geworden? Wie keinem Zweiten gelingt es Mak, das fragile Wesen Europas zu ergründen, es in zahllosen Geschichten sichtbar und sinnlich wahrnehmbar zu machen. Und den Menschen dieses Kontinents eine Stimme zu verleihen.
Geert Mak
Große Erwartungen
AUF DEN SPUREN
DES EUROPÄISCHEN TRAUMS
(1999–2019)
Aus dem Niederländischen
von Andreas Ecke
Siedler
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Grote verwachtingen.
In Europa 1999–2019« bei Uitgeverij Atlas Contact B. V., Amsterdam.
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Copyright: © Geert Mak. Lizenz vermittelt durch Bee Rights (www.beerights.com) Copyright der deutschsprachigen Ausgabe: © 2020 by Siedler Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagabbildung: © Ixefra/Getty Images
Lektorat und Satz: Peter Palm, Berlin
Karten: Peter Palm, Berlin
ISBN 978-3-641-26328-7
V002
www.siedler-verlag.de
Für Emile und Ellen
Wir kommen weit her
Liebes Kind
Und müssen weit gehen
Keine Angst
Alle sind bei Dir
Die vor Dir waren
Deine Mutter, Dein Vater
Und alle, die vor ihnen waren
Weit weit zurück
Alle sind bei Dir
Keine Angst
Wir kommen weit her
Und müssen weit gehen
Liebes Kind
HEINRICH BÖLL
Prolog – 2018
Aus dem Vollen geschöpft – 1999
Frieden – 2000
Aydin
Angst – 2001
Größe – 2004
Zahlen – 2004
Nee, non – 2005
Steven
Brothers – 2008
Anna
Wahrheit – 2010
Kostas und Efi
Solidarität – 2012
Geister der Vergangenheit – 2014
Umayya
Intermezzo I – 2019
Das gelobte Land – 2015
Wigan – 2016
Allein – 2017
Intermezzo II – 2017
Bart
Große Erwartungen – 2018–2019
Epilog – Frühjahr 2020
Nachwort
Literatur und Quellen
Personenregister
Aus der Luft sieht man eine braungraue Landschaft. Als hätte es auf dem Mond gerade einen Platzregen gegeben. Zernarbte Erde mit Tausenden Seen und Flüsschen. Sie erinnern an die Tümpel und Priele, die sich im Schlick abzeichnen, wenn das Meer sich zurückzieht, zweimal täglich, in Ewigkeit. Felsen und Flechten, tiefste Einöde.
Wir sind fast da. Ein einsamer Baum – leuchtend gelb zu Anfang des Winters. Ein grellrotes Haus. Plötzlich Fabrikgebäude, eine große Werft, eine Ansammlung von Läden und Wohnhäusern rings um einen Platz, ein paar Kräne, ein Hafen. Die Stadt. Vom Nordpolarmeer kehrt ein Trawler zurück, blau-schwarz, Königskrabben fängt man hier, riesige Schalentiere, begehrt bei den Luxusrestaurants Europas.
Der Abend naht, die Straßen sind still und leer, man hört nichts als den Wind. Nur im Rathaus brennt noch Licht und in dem großen, gelb gestrichenen russischen Konsulat mit den vergitterten Fenstern. Im Restaurant gibt es Walsteak oder Nudeln mit Rentierfleisch und Pilzen. Vor dem Eisenwarenladen am Kai steht noch die komplette Auslage, drei triefende Aluminiumleitern, kurz, lang und mittellang. Im kleinen Supermarkt besprechen zwei junge Frauen ausführlich, was sie nehmen sollen: Milchshake oder einen moderneren Drink? Heute ist ihr wöchentlicher Ausflug.
In wenigen Minuten wird das Tor an der Grenze, ein paar Kilometer von hier entfernt, für heute geschlossen. Der Soldat auf dieser Seite wird den beiden auf der anderen die Hand schütteln, wobei er höchstens 30 Zentimeter auf das fremde Territorium vordringen darf; das Ritual ist streng geregelt, um Zwischenfälle auszuschließen.
Morgen ist wieder ein Tag.
Was ich jetzt am Anfang brauche, ist Abstand. Räumlicher Abstand, aber auch zeitlicher – soweit möglich. Es hat ja etwas Widersprüchliches, die Geschichte eines Zeitabschnitts, einer Welt, deren Teil man ist, zu schreiben, während man selbst mittendrin steckt. Geschichtsschreibung ist auf Abstand angewiesen, Zeit vergehen zu lassen ist immer noch die beste Art, Überblick zu gewinnen. Eine Gestalt wie Napoleon hat erst nach Jahrzehnten ihren Platz in der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts gefunden. Bis heute wird über die tieferen Ursachen der beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts diskutiert, über das Wesen und die Folgen des Kolonialismus, die eingefrorene Gewalt des Kalten Krieges, den Zusammenbruch des Sowjetimperiums im Jahr 1989. Und hier geht es nun um unsere Zeit, um diese ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts, in denen die Geschichtsfabrik wieder auf Hochtouren produziert und unsere geordnete europäische Welt des Friedens und verdienten Wohlstands erneut ins Wanken zu geraten scheint.
Vor knapp zwei Jahrzehnten habe ich ein Buch über Europa im 20. Jahrhundert geschrieben; damals habe ich im Jahr 1999 aufgehört. Es schreit geradezu nach einer Fortsetzung: Was ist beim turbulenten Start ins 21. Jahrhundert mit der europäischen Welt geschehen? Wie gern würde ich der klugen Geschichtsstudentin über die Schulter blicken, die im Jahr 2069, ein halbes Jahrhundert später, über unsere Zeit schreiben darf. Eine besonders erfreuliche Lektüre wird es nicht sein, fürchte ich, aber auf jeden Fall eine interessante. Sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch, später, die Europäische Union konnte man schließlich als große historische Projekte betrachten, als Projekte, mit denen freie Bürger den Verlauf der Geschichte selbst zu bestimmen versuchten, statt ihn passiv zu erdulden, als Projekte außerdem, deren Ursprünge in den Idealen der Aufklärung lagen, in der Idee der Menschenrechte, der Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – auch internationaler Brüderlichkeit. Wie ist der Niedergang von etwas so Schönem zu erklären?
Meine junge Historikerin hat dank des zeitlichen Abstands einen guten Überblick. Ich nicht. Ich beneide sie.
Hier, am nördlichen Ende Europas, ist alles klar wie der Himmel. Wenn man nicht aufpasst, erfriert man. Frühling, Sommer und Herbst werden blitzschnell abgewickelt. »Der Winter dauert endlos, und zack, plötzlich ist es Sommer«, sagen die Leute hier. »Und dann, zack, ist der Sommer wieder vorbei.« Die Kälte kommt meistens im Oktober mit Schnee, der bis Mai liegen bleibt. Ende November beginnt die Polarnacht. Dann flackern Polarlichter am schwarzen Himmel, darunter gefriert alles bei 20, manchmal 30 Grad unter Null. Am 18. Januar kann man von einem der Hügel wieder die ersten Sonnenstrahlen sehen. Das wird ausgelassen gefeiert, als wäre noch einmal Weihnachten, die Schulkinder haben frei. Danach richtet sich das Leben erneut nach dem täglichen Rhythmus des Postbootes – am Hafen, auf der Werft, in den Läden, bei den Grenzposten, auf dem Flugplatz. Die übrige Zeit verbringt man im Haus. Centrum Kafé, das sprechende Herz der Stadt, schließt nachmittags um fünf.
Kirkenes hat knapp 3500 Einwohner, es ist ein Stecknadelkopf auf der Karte und doch ein geopolitischer Brennpunkt. Schon wegen seiner Lage weniger als 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist der entlegene Ort strategisch außerordentlich bedeutsam. Außerdem hat Kirkenes den nördlichsten eisfreien Hafen Europas, es liegt an der Barentssee mit ihren bedeutenden Gasfeldern – einem besonders großen im russischen Teil – und ist das Tor nach Murmansk, einem der wichtigsten Häfen Russlands. Im Polargebiet gibt es nach vorläufigen Schätzungen 13 Prozent der weltweiten Erdölreserven und 40 Prozent der Gasvorräte, dazu große Mengen an Eisen, Kupfer, Gold und anderen Mineralien. Weil die arktische Eiskappe schmilzt, stehen also zwangsläufig große Veränderungen ins Haus. Alle bereiten sich darauf vor. Gerade auf russischer Seite werden schon heute gewaltige Summen investiert, die militärischen Aktivitäten nehmen entsprechend zu.
Der Hafen von Kirkenes ist darüber hinaus von entscheidender Bedeutung für die künftige arktische Schifffahrtsroute von Asien nach Europa, der Alternative zur Route über den Sueskanal. Der Bürgermeister sieht seine Stadt schon als nordeuropäisches Singapur: »Ich habe hier jede Woche eine chinesische Delegation zu Besuch.« Der Chefredakteur der örtlichen Internetzeitung, Thomas Nilsen, bezeichnet Kirkenes lieber als »das Zentrum der Peripherie Europas«. Für ihn ist es vor allem eine Art Testlabor, besonders für das Verhältnis zwischen Russland und Europa. »Alle Veränderungen spüren wir hier zuerst, viel früher als die Menschen in Berlin, Washington oder Moskau.«
Ich bin heute mit einem Kameramann unterwegs. Meine Europareise von 1999 hatte ein zweites Leben als Fernsehserie des niederländischen Senders VPRO geschenkt bekommen – wobei das Buch und die Serie zwei völlig verschiedene Projekte blieben. Jetzt fangen wir noch einmal von vorn an, und diesmal arbeiten wir schon in einem frühen Stadium zusammen. Die Zeit drängt.
Wir gehen am Hafen entlang. Der Trawler, die Salacgriva, kommt aus Murmansk. Aus der Nähe erweist sich das Schiff mit seinem triefenden Gewirr von Trossen, den Kränen, Auslegern und Krabbenkurren als schwimmende Fabrik. Die Männer, schweigsam unter dicken Kapuzen, von einem Dasein auf See gezeichnet wie ihr Schiff und ihre Netze, sitzen in der Ecke eines Schuppens, bis es Zeit ist, wieder auszufahren. Wortlos reichen sie die Kaffeekanne herum, der Fernseher zeigt tanzende Frauen.
Den Hügel hinauf. Der letzte Krieg ist nicht weit weg. Früher müssen auch hier die schönen Holzhäuser gestanden haben, die man sonst überall in den norwegischen Handelsstädtchen sieht, aber in Kirkenes ist in der Endphase des Zweiten Weltkriegs fast jedes Haus dem Erdboden gleichgemacht worden. Bei einer großen Offensive der Roten Armee im hohen Norden, bei der es hauptsächlich um die nahe gelegenen Nickelbergwerke und die strategisch bedeutsame Marinebasis Kirkenes ging, wurde die Stadt mehr als hundert Mal bombardiert. Zwischen Kirkenes und Murmansk starben über 60000 Soldaten. Die Bevölkerung lebte sieben Monate lang in den Höhlen und Stollen, den ganzen Winter 1944/45. In dieser Zeit wurden 20 Kinder geboren. Im Frühjahr 1945 standen in Kirkenes noch drei Häuser.
All die ordentlichen weißen Wohnhäuser und Läden sind also neu, weshalb Kirkenes ein wenig einer amerikanischen Vorstadt ähnelt. Eines der ältesten Gebäude ist ein Bunker, der heute an den Mut der Einwohner erinnert. Ganz in der Nähe steht auf einem Sockel ein russischer Soldat. Vor dem Befreiungsdenkmal liegen immer bunte Sträuße und Kränze, frisch geflochtenes Kunstgrün; an echte Blumen ist in diesem Klima nicht zu denken. Schon immer wurden die Russen hier als Befreier gefeiert. Als Stalin starb, gab es auch in Kirkenes Leute, die weinten.
An hölzernen Veranden und einigen Sportplätzen vorbei steigen wir weiter hinauf, bis wir unten den Hafen liegen sehen. Wir setzen uns auf eine Bank. Bis zum Horizont erstreckt sich die große, leere Bucht, zuerst ist kein Schiff zu erkennen, dann erscheint in der Ferne wie jeden Tag das Postboot. Ein Mann mit Hund geht vorbei, schaut auf die Uhr. »Es ist spät dran heute, mindestens eine Viertelstunde.« Alles in diesem Städtchen ist solide, die Autos glänzen, die Häuser sind großzügig, man lebt anscheinend gut hier. Unter einigen der raren Bäume liegt der Friedhof, vergoldete Schriftzüge blinken grell in der Sonne. Bescheidenheit ist die Norm, nirgends stehen pompöse Grabmale. Bald, vor Gott, sind wir alle gleich, eigentlich aber schon jetzt.
Der Bürgermeister heißt Rune Rafaelsen. Er erzählt von seiner Großmutter. Ihr erster Mann kam bei einem Sturz im Sägewerk ums Leben. Ihr zweiter Mann starb, kaum dass sie geheiratet hatten, als sein Schiff von einem U-Boot torpediert wurde. Runes Vater war der jüngste Widerstandskämpfer Norwegens. Mit 16 meldete er sich zur norwegischen Armee. Sein Onkel war als junger Mann in einem Straflager interniert und verliebte sich in eine russische Gefangene auf der anderen Seite des Stacheldrahts. Sie verschwand, und er sah sie nie wieder. Noch auf seinem Sterbebett fragte er nach ihr. Rune selbst ist in einem hoffnungslos überfüllten Haus aufgewachsen. »Nach dem Krieg gab es nichts mehr. Alles musste neu aufgebaut werden.« Das ist die Geschichte dieses Ortes.
Während des Kalten Krieges kam es besonders im hohen Norden immer wieder zu brandgefährlichen Situationen. Hier lag jahrelang die einzige direkte Grenze zwischen Russland und der NATO. Im Jahr 1969 schickte die Sowjetunion als Reaktion auf eine NATO-Übung eine Infanteriedivision samt 200 Kampfpanzern und 500 anderen gepanzerten Fahrzeugen in die Grenzregion. Dennoch blieb Kirkenes eigensinnig, die Beziehung zu Russland ungewöhnlich eng. Es war eine Grenze, an der »immer flexibel gelebt wurde«, sagt der Bürgermeister. »Sami [Einwohner Lapplands], Norweger, Finnen, Russen, alles wimmelte hier früher durcheinander.« Angst vor den Russen hatte niemand. »Wenn sie kommen, sacken sie zuerst Oslo ein, dann Bergen und dann Trondheim. Und dann kommen sie zum Kaffeetrinken nach Kirkenes.« So dachte man hier.
Rafaelsen ist mit dieser Stadt verwachsen, sein Leben lang. Sein Büro im Rathaus ist streng und schlicht eingerichtet, die Gitter, Kameras und Antennen des nahen russischen Konsulats sind von dort nicht zu übersehen. Die NATO ist übrigens mindestens so präsent: Mehrmals pro Woche macht am Kai ein geheimnisvolles Schiff fest, das nicht einmal der Bürgermeister betreten darf. Auf den ersten Blick ist die Marjata ein ziemlich normales Passagierschiff mit einigen Antennen mehr als üblich, in Wirklichkeit aber eines der modernsten Abhörzentren der Welt. »Sie zapfen alle unsere Telefone und Laptops an«, hört man im Centrum Kafé. Andererseits sind russische U-Boote bei den Seekabeln im Nordpolarmeer unterwegs, was wiederum die Amerikaner nervös macht.
In Kirkenes blickt man quasi aus großer Höhe auf Berlin, Brüssel, London und Rotterdam hinunter. Alles ist weit weg. Trotzdem hat sich die jüngste Geschichte auch auf Kirkenes ausgewirkt, immer wieder: der Bankenzusammenbruch von 2008, die darauf folgende Krise, die russische Annexion der Krim, die Massenimmigration, der Brexit, Trump.
Das Eisenbergwerk, früher der Stützpfeiler der lokalen Wirtschaft, musste 2015 während der Nachwehen der Krise Konkurs anmelden, rund 400 Menschen verloren ihre Arbeitsplätze. Die Stadt konnte diesen Verlust abfedern. Der eisfreie Hafen von Kirkenes ist heute die wichtigste Basis für die russische Fischerei, die große Werft arbeitet zu drei Vierteln für Russland. Und der Tourismus blüht, jährlich bringen Kreuzfahrtschiffe etwa 100000 Besucher. »Das Leben ist schon weniger hart«, meint der Bürgermeister.
Er zeigt mir seinen Terminkalender für die kommende Woche. Die Eröffnung eines »Open-Screen«-Filmfestivals in Murmansk – er kennt den dortigen Gouverneur seit 1992. Eine Besprechung mit dem Bürgermeister von Nikel, wenige Kilometer jenseits der Grenze – schon seit Jahren ein guter Freund. Die Gay Pride Parade in Kirkenes selbst, mit einer starken Delegation aus Murmansk, wo dergleichen natürlich undenkbar wäre. Grenzregionen faszinieren ihn, er verbringt seinen Urlaub immer mal wieder auf der anderen Seite.
Dennoch hat sich selbst in Kirkenes das Verhältnis zu Russland abgekühlt. Putins Regime verhärtete sich, unabhängige Medien wurden mit allen Mitteln in ihrer Arbeit behindert, Russland besetzte die Krim und weitere Teile der Ukraine, der Westen reagierte mit schmerzlichen Sanktionen. Die Folgen spürte man hier sofort. Die russische Fischerei geriet in eine Krise, Fußballspiele zwischen Mannschaften beiderseits der Grenze wurden abgesagt, in den Läden schossen die Umsätze mit französischem Wein und Käse in die Höhe, weil die Russen beides zu Hause nicht mehr bekamen.
Und dann ist da noch die unerfreuliche Sache mit dem alten Frode Berg, der im Städtchen sehr beliebt ist, Vorsitzender des Kirchenvorstands, Mitglied im Vorstand des Orchesters und des Crossing Border Festival und vor allem ein aktiver Verfechter guter Beziehungen zu Russland. Ausgerechnet er wurde im Dezember 2017 in Moskau plötzlich vom FSB festgenommen. Spionage. Niemand hier begreift das – seine Freunde im Centrum Kafé sind fassungslos, sie können sich nicht vorstellen, dass er wirklich spioniert hat. Allerdings hört man nun so manches, auch andere sind schon einmal vom norwegischen Geheimdienst angesprochen worden. Frode Berg ist immer noch in Haft.
»Auf regionaler Ebene haben wir business as usual«, sagt der Bürgermeister. »Aber die Atmosphäre hat sich schon verändert. Vor 2014 hatten wir Gespräche wie zu Hause am Küchentisch, über alles Mögliche, auch über Politik. Wenn ich heute sage, dass ich mir Sorgen um Russland mache, blocken sie gleich ab. ›Ich mache mir Sorgen um meine Großmutter‹, sagen sie dann. ›Die braucht Medikamente. Also hör auf mit deinem Gerede über Demokratie.‹«
Kirkenes war nie ein Ort für Populisten. Hier ist man der Zukunft zugewandt. Es gibt nur vier Länder, die seit je großes Interesse an der Arktis haben: die Vereinigten Staaten, Kanada, Russland und Norwegen. »Und hier funktioniert alles, selbst im tiefsten Winter«, versichert der Bürgermeister.
Auch um den Nordpol steigen die Temperaturen, sogar dreimal so schnell wie anderswo; die Durchschnittstemperatur ist hier drei Grad höher als 1971. Immer größere Flächen im Nordpolarmeer bleiben eisfrei. Alle hier merken es: Nicht erst im Juni, sondern schon im Mai wird es grün, in diesem Sommer gab es sogar zum ersten Mal eine Hitzewelle. Infolge des Eisverlusts verändert sich der sogenannte Polarwirbel, ein stationäres Tiefdruckgebiet in großer Höhe, das auch Einfluss auf das Wetter in anderen Teilen des Kontinents hat. Weiter südlich kann es plötzlich ungewöhnlich kalt werden, im Norden wird es merklich wärmer und nasser.
Während diese klimatischen Veränderungen vielen Europäern zunehmend Sorgen bereiten, sieht man in Kirkenes auch einzigartige Perspektiven: Um das Jahr 2030 wird die Nordostpassage vermutlich zwölf Monate im Jahr befahrbar sein, und auf diesem Seeweg dauert die Fahrt von Schanghai nach Rotterdam nur etwa 20 Tage statt 30 bis 40 auf der Route über den Sueskanal. Es gibt Pläne für einen riesigen Containerhafen, der Bürgermeister träumt schon von einer direkten Bahnverbindung nach Helsinki.
»Hier ist der geopolitische Brennpunkt Norwegens«, sagt er. »Mit Russland wird intensiv über das Gas in der Barentssee verhandelt. Lawrow ist mehrmals hier gewesen. Die Chinesen sprechen schon von der nördlichen Variante der Neuen Seidenstraße, der New Polar Ship Road. In Oslo passiert nichts, hier passiert alles.«
Das ist nicht übertrieben. In diesem Moment, Oktober 2018, haben die Vereinigten Staaten angekündigt, aus dem historischen INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen auszusteigen – übrigens ohne Rücksprache mit den NATO-Partnern. Russland hat sofort mit Gegenmaßnahmen reagiert. Nach dreißig Jahren Frieden kann der Rüstungswettlauf erneut beginnen, und diesmal ist China mit im Rennen. Außerdem schicken die Amerikaner einen Flugzeugträger samt zugehörigem Marineverband zum Polarkreis, zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten. Russland hat dort in den letzten Jahren sieben alte Militärbasen aus der Sowjetzeit wiedereröffnet, der erste militärische Eisbrecher ist unterwegs, auch das hat es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben.
Norweger und Amerikaner bauen unterdessen beim Fischerdorf Vardø eine neue Radarstation, GLOBUS III, zur Beobachtung der russischen Atom-U-Boot-Flotte. Im Februar haben elf russische Jagdbomber vom Typ Suchoi SU-24 einen Scheinangriff auf Vardø geflogen, eine Einschüchterungsaktion, die beim norwegischen Geheimdienst sämtliche Alarmglocken läuten ließ, denn solche Situationen können leicht außer Kontrolle geraten.
Schweden hat in diesem Frühjahr begonnen, die alten Bunker zu reaktivieren, und eine neue Zivilschutz-Broschüre herausgegeben. Ein Zitat: »Wenn Schweden von einem anderen Land angegriffen wird, werden wir niemals aufgeben. Jede Nachricht von einer Beendigung des Widerstandes ist falsch.« In Norwegen beginnt jetzt Trident Juncture 18, das größte NATO-Manöver seit dem Kalten Krieg mit 50000 Soldaten, 10000 Fahrzeugen, 250 Flugzeugen und 65 Schiffen. Die Frage lautet: Können britische Truppen den Norwegern bei einem russischen Angriff schnell genug zu Hilfe kommen? Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden solche Fragen jahrelang nicht mehr gestellt, nun müssen vor allem die Straßen und Brücken in den Niederlanden und Deutschland getestet werden. Sind sie noch für umfangreiche Militärtransporte geeignet? »Ein realistischer Stresstest«, sagt der amerikanische Kommandeur gegenüber der Presse.
Man hatte einmal geglaubt, die westliche Freiheit und Demokratie würden langsam den Osten und den Rest der Welt erobern. Inzwischen scheint die Entwicklung eher in die andere Richtung zu gehen. Europa ist desorientiert, gespalten und geschwächt. Russland ergreift jede Gelegenheit, neue Zwietracht zu säen, China nutzt die entstehenden Lücken, um die Europa sich nicht kümmert, ob in Mitteleuropa oder auf dem Balkan und in Griechenland. Weiter im Westen gibt es nun einen amerikanischen Präsidenten, der im Großen und Ganzen die gleiche Destabilisierungspolitik betreibt wie die Russen und der innerhalb kurzer Zeit die Regeln und Institutionen der Nachkriegsweltordnung aushebelt. Der New-York-Times-Kolumnist Roger Cohen drückte es so aus: Die alte transatlantische Welt des späten 20. Jahrhunderts sei »gone, man, solid gone«.
Wie konnte das optimistische Europa des Jahres 1999 all das geschehen lassen? Vor langer Zeit, als ich ein allwissender Student war, schrieb mir ein alter Journalist und ehemaliger Widerstandskämpfer: »Ihr habt leicht reden, ihr seht alles im Licht von heute. Aber was konnten wir tun, in den dreißiger Jahren? Wir tappten im Dunkeln, eine Kerze in der Hand, tastend und stolpernd, in einem völlig fremden Haus.«
Nun taumele ich selbst mit einer solchen Kerze in der Hand umher.